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Abriss Leipzig
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Abriss Leipzig

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About this ebook

Nach einem Hip-Hop-Konzert im Haus Auensee wird der 17-jährige Steven Bärnstorff auf offener Straße erstochen. Vieles deutet auf einen Raubüberfall hin. Dann erhält die Polizei Hinweise, dass Steven seinen Körper für Liebesdienste verkaufte. Als ein weiterer Junge nach einer Feier brutal zusammengeschlagen wird, fahndet die zweite Leipziger Mordkommission nach einem Serientäter, der sich seine Opfer unter jungen Männern sucht. Die Medien machen mobil, die Stadt gerät immer mehr in Panik. Und plötzlich stößt Hauptkommissar Lars Kohlund unvermittelt auf Spuren, die sogar bis in seine eigene Familie führen.
»Ein richtig guter Krimi, weil er uns etwas über das Leben und die Menschen erzählt: offen, ehrlich, in einer Sprache, die die Widersprüche der Figuren und ihrer Geschichten nicht verleugnet, sondern sie auf den Punkt bringt.« (Reinhard Jahn, WDR 5)
LanguageDeutsch
Release dateMar 21, 2016
ISBN9783867896047
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    Abriss Leipzig - Henner Kotte

    immer.

    1

    Licht verschob die Szenerie ins Unwirkliche. Scheinwerfer. Blaulicht. Fotoblitze. Schatten erhoben das Kopfsteinpflaster zum Relief. Das Fabrikgebäude zeigte hinter zerschossenen Fenstern markantes Weiß, das sich im Inneren verlor. Davor alles Gebüsch wirkte bedrohlich. Die wechselnde Beleuchtung ließ Gestalten vermuten, die manchmal auch Schatten waren. Auf Gehweg und Fahrbahn hasteten Menschen ohne erkennbares Ziel. Zurufe hallten. Am gegenüberliegenden Straßenrand sammelten sich Schaulustige. Vielleicht nahmen sie an, ein Film würde gedreht. Stets drehten Fernsehteams an makaberen Orten in dieser Stadt. Ein Beamter in Uniform sperrte mit rot-weißem Band ab. Ohne hörbaren Protest verfügten sich die Betrachter zum Pfarrfelde und in Richtung Eisenbahnbrücke. Hinter der Absperrung bezogen sie Stellung und waren sich sicher, dass ihnen nichts entgehen würde. Und ihren Augen entging nichts. Erst recht nicht die Ankunft des Stars.

    Für den ankommenden Wagen hoben Polizisten das Absperrungsband. Fehlte noch, dass sie einem die Autotür öffnen. Lars Kohlund traf ohne gute Laune am Ort des Geschehens ein. Es war April, Freitag, Nacht. Noch nie in seinem Beruf war es Kohlund passiert, dass er zur Dienstzeit an einen Tatort gerufen wurde. Das ersehnt freie Wochenende war nicht mehr frei. Das wusste Kohlund beim Klingeln des Handys und der angezeigten Nummer. Seine Kinder waren vielleicht froh, dass sie Vaters Anwesenheit daheim nicht ertragen mussten. Die Gattin lächelte nicht, als er ihr den Kuss auf die Wange setzte. Die Familie hatte einen Ausflug in die Heide beschlossen mit Oma, Opa und einem Festessen am Sonntag. Warum passieren die Katastrophen im Leben nie am Montag 7 Uhr 30?

    »Links am Pfeiler.«

    Der Kommissar hätte sagen können, das sähe er selber, aber er schob Kollegin Schabowski ohne ein Wort zur Seite. Sie folgte ihrem Chef langsam. Der Knabe saß auf dem Bürgersteig, unbeweglich, starr, saß wie erfroren. Der Oberkörper lehnte am steinernen Sims eines Zauns. Ein dazugehörendes Eisengitter hatte wahrscheinlich der letzte Verwalter des maroden Betriebes vor der Insolvenz oder danach noch zu Geld gemacht. Die Männer der Schnellen Medizinischen Hilfe konnten nicht mehr helfen. Sie standen ohne Aufgabe umher und im Weg. Man hatte den Arzt gebeten, zu bleiben und nach dem Tod Diagnosen weiterzugeben. Doch bislang hatte keiner den Doktor gefragt.

    Der tote Junge am Rande des Bordsteins zählte kaum vierzehn. Das Gesicht zeigte noch alle kindlichen Züge. Den Bart hatte sich der Knabe wohl niemals gestutzt, Haare kräuselten an den Schläfen, am Kinn zwirbelten sie schüchtern, über der Lippe waren sie Flaum. Seine Augen blickten groß, aber leer auf den Straßenverkehr, der nicht mehr durchkam. Die Beine ausgestreckt in weiten, blauen, fleckigen Jeans. Turnschuhe, an denen man sich die Schnürsenkel sparen konnte, an der großen Zehe links mit einem Riss. Brauner Strumpf. Gelber Gürtel. Weites Sweatshirt. Darunter noch ein Shirt, schwarz. Pelle Pelle, las Kohlund, was auch immer das hieß. Eine Hand des Knaben lag auf dem gelben Klinker des Mauersimses. Die andere befand sich zwischen den Beinen. Oberbauch rechts eine Wunde. Der Fleck im Shirt war klein, unauffällig und vergrößerte sich nicht. Drei Spuren waren im Fleece herunter gelaufen. Mit Fantasie wäre ein dreibeiniges Pferd oder ein Reh im Blutfleck zu erkennen. Auch auf dem Bürgersteig Blut, eine Lache, die langsam trocknete.

    »Als wir kamen, war es zu spät.«

    »Womit hat man es getan?«

    »Messer. Vermutlich. Die Wundränder sind glatt. Die Klinge nicht sehr breit. Ein Zentimeter. Eins Komma fünf. Kann man schwer sagen. Nicht breiter als zwei.«

    »Gefunden? Das Messer.«

    »Ich nicht, Herr Kommissar.«

    Es war der Arzt, der Kohlund die Fragen beantwortete. Die Schabowski stand mit Berger von der Technik und gestikulierte. Ihn beachtete sie nicht. Er hätte sie als Erstes um die Details bitten müssen, das wusste Kohlund genau. Aber er mochte Agnes Schabowskis herablassende Art nicht. Schon gar nicht am Wochenende und in der Freizeit. Danke, sagte Kohlund zum Doktor.

    »Irgendetwas Auffälliges?«

    »Nein … außer Mord.«

    »Ja, sicher.«

    Der diensttuende Retter konnte sein Diplom noch nicht lang in der Tasche haben, so wie der ausschaute: Brille. Fehlge­knöpfte Jacke. Die Arzttasche offen im Rinnstein. Kohlund blickte in die hektischen Augen. Der Doktor senkte den

    Blick.

    »Gut denn, dann wünsche ich weiter ruhigen Dienst.«

    »Ein Protokoll?«

    »Ja, sicher. Machen Sie im Funkwagen die notwendigen Angaben. Es gibt einen Vordruck.«

    Der junge Doktor schaute verständnislos.

    »So selten sind in Deutschland Leichenfunde nun auch wieder nicht, als dass es keine Formulare dafür gäbe.«

    Mit der Hand wies Kohlund auf einen Beamten.

    »Protokoll und unterschreiben!«

    Der Beamte nickte. Der Doktor rückte die Brille und ging. Beruflich wahrscheinlich sein erster Kontakt mit der Kriminalpolizei, wenn nicht überhaupt in seinem jungen Leben.

    »Und?«

    Kohlund hatte Grischa Mergenthin nicht kommen hören. Jetzt stand er neben ihm: Lächelnd. Frisch. Voller Elan. Der fühlt sich niemals gestört, stellte Kohlund unwillig fest, dabei

    ist der Mann doch liiert und hatte gewiss Pläne für diesen Abend gehabt. Lars Kohlund zuckte die Schultern.

    »Die Schabowski war als Erste vor Ort.«

    Agnes Schabowski hatte Berger von der Technik eingewiesen und kam mit einem fragenden Blick auf die Kollegen zu.

    »Er hat selbst noch die Rettung gerufen.«

    Ihre Hand zeigte auf Handy und Discman, beides lag exakt parallel und rechtwinklig vor dem Sims. Vielleicht hatten die Männer der Ersten Hilfe es so sorgsam abgelegt. Der Junge hatte schwerverletzt noch die Nummer getippt. Schnell! Ich verblute! Linkelstraße Fabrik! hatte die Leitstelle vermerkt, dann hatte am anderen Ende niemand mehr gesprochen. Nur Atmen war noch zu hören. Der Rettungswagen war unverzüglich gestartet.

    Zwischenzeitlich hatte ein Ehepaar, angetrunken, wohl auf dem Heimweg von einer Fete und in Jubiläumsstimmung, den Jungen gefunden. Sie hatten der Rettung nochmals die genauen Daten telefonisch vermittelt, sie mussten ihrer menschlichen Pflicht nachkommen. Ohne Frage. Ohne Verzögerung. Neben dem Jungen gekniet hätten sie, und der hätte noch in Richtung Müllplatz, Rathaus Wahren gedeutet, sagten sie aus. Sie hatten nicht verstanden, was dies bedeuten könnte. Der junge Mann lag allein. Kein anderer Mensch war auf der Straße zu sehen. Der Gatte war jedoch einige Meter in die gewiesene Richtung gelaufen, gefunden aber hatte er nichts. Außer diesen Kopfhörern. Die lagen genau unter der nächsten Laterne. Die brannte, sagte er tonlos, die anderen brannten hier nicht. Die Frau hatte sich den Jungen an die Brust gelehnt und gesagt und immer wieder gesagt: Hilfe kommt. Hilfe ist unterwegs. Halte aus! Doch der Junge hätte das Bewusstsein verloren und immer noch stärker geblutet, gespuckt, schwallweise, sodass ihr Mantel viel abbekommen hätte, nicht zu reinigen und zum Wegschmeißen sei. Die Gattin zeigte Kohlund das teure Stück.

    »Und dann?«

    »Kam die Schnelle Medizinische Hilfe. Aber der Junge hat nicht mehr gelebt. In meinen Armen ist er gestorben. In meinen Armen!«

    »Hat er noch etwas gesagt?«

    »Er wollte … aber immer nur Blut … es war schrecklich.«

    Die Frau kämpfte sichtbar mit ihrer Erinnerung. Lars Kohlund bat die Schabowski, sich um die Zeugen zu kümmern, das Protokoll aufzunehmen und für einen schnellen Heimweg zu sorgen. Den Kopfhörer steckte er ins Gerät, das noch lief. Er passte. Kohlund schaltete ab. Nicht das neuste Modell, aber unabdingbar in diesem Alter der Jugend. Nur einen Walkman ließ die Mode nicht zu. Kohlunds Tochter lag ihm jeden Tag in den Ohren, dass ihrer nicht mehr die volle Lautstärke erreichte. Das musste sich ändern.

    Der Gatte hatte zwischenzeitlich der weinenden Gattin den Arm um die Schultern und den blutigen Mantel gelegt. Sie liefen langsam. Die Schabowski schritt stumm hinterher. Grischa Mergenthin lächelte nicht mehr und wandte sich ab.

    Ein junger Mann, ein Knabe noch: tot. Jemand trug Schuld an diesem Sterben, da waren die Kriminalisten sich sicher. Es konnten keine natürlichen Gründe sein, die dieses Leben beendet hatten, selbst wenn die Indizien nicht eindeutig wären. Woran starb man denn mit vierzehn, wenn einen die Pest, Autos, Blutkrebs nicht eingeholt hatten? Natürlich konnte die Todes-

    ursache nicht sein. Äußerlich hatte der Arzt nur einen Stich festgestellt. Der Einstich kaum sichtbar, erstaunlich schmal muss die Klinge gewesen sein. Die Kommissare standen auf offener Straße und wurden begafft. Alle anderen Beteiligten wussten zumindest, was sie zu tun hatten.

    »Ausweis? Weiß man, wer’s ist?«

    »Sie haben bislang nichts gefunden. Auch kein Geld.«

    »Aber wenn er überfallen worden ist …«

    »Danach sieht es aus, ja …«

    »… ist das vielleicht nicht genau hier geschehen.«

    »Schauen wir mal. Die Kopfhörer lagen unter dieser Laterne.«

    Kohlund und Mergenthin bückten sich unter der Absperrung durch. Die Schaulustigen machten ihnen Platz. Noch gab es für sie etwas zu sehen: Der Wagen des Bestattungsinstituts war gekommen. Der Knabe wurde sorgsam auf eine Trage gebettet, ein Laken legte man ihm übers Gesicht. Selbst jetzt noch färbte es sich stellenweise rot. Kohlund glaubte ein unterdrücktes Weinen zu hören, konnte aber nicht feststellen von wem. Mehrere Frauen kneteten Taschentücher in ihren Händen. Das Blitzlicht des Fotografen erhellte in Sekundenabstand die bröckelnde Front der Fabrik. Polizisten suchten die nähere Umgebung der Leiche ab. Zwei kratzten auf der Straße nach Vergleichsmaterial.

    Kohlund und auch Mergenthin wussten, dass sie kurz Ruhe und Ablenkung suchten. Es war der Beginn eines Mordfalles, und bereits jetzt verursachte er ihnen ein schlechtes Gefühl. Alles sah nach einem Zufallstäter aus, der sich an Geld und Schmuck oder anderen Werten bereichern wollte. Die Chancen einer Festnahme des Täters stehen gering in solchen Fällen, wenn nicht ein Indiz ihn eindeutig und schnell überführt. Die Kommissare hofften und suchten, als wollten sie solch einen Hinweis erzwingen. Sie kamen damit den Kollegen zuvor, denn die Straße, die ganze Gegend würden Polizeikräfte höchst sorgfältig absuchen müssen.

    Unter der leuchtenden Laterne gab es keine weitere Spur. Am Pfahl ein Plakat. Werbung für einen freundlich lächelnden Mann, der mit ausgebreiteten Armen um Wählerstimmen bat: Ihr Thilo Mütze.

    Hinter dem Klinkerbau war eine Fabrik renoviert. Angestrichen wie ehemals die Kulturhäuser der Sowjetarmee prangte sie frisch gemalert in Gelbweiß. Der Zaun davor war Maschendraht und unbeschädigt. Aber trotzdem sah es nicht so aus, als würde man da drinnen produzieren. Das schwere Eisentor wurde mit einem Vorhängeschloss gesichert.

    Sport tut Deutschland gut war an fast jede Plakatwand geklebt. Olympia sucht eine Heimstadt für 2012. Sport tut Deutschland gut – Welcher Sport denn, hing Kohlund in Ge­danken nach. Tabletten- und ruhmsüchtig wie Boris Becker? Blutig gedroschen um den Rekord gebracht wie Dariusz Michalczewski, unser polnischer Tiger? Oder Klitschko der Jüngere? So reinlich wie Heike Henkel und Dieter Baumann? Im Seniorenalter aktiv wie die Damen Fischer, Drechsler, van Almsick? Auch der Sport war nix als Geschäft. Kohlund fielen nur Namen ein, die er nicht mochte. Ob Ost oder West. Die Zeiten der Spartakiaden mit echter Freude am Sieg, wenn auch sozialistischer, waren endgültig vorbei. Lars Kohlund war Meister seines Kreises, gar Bezirks gewesen, wenn auch nie einzeln, sondern nur in der Staffel 4 × 400 Meter. Seine Kinder gaben allen Sport wieder auf, als absehbar war, dass sie darin nicht zum Star reifen würden. So wie er aussah, der tote Bub, skatete er oder bikte oder spielte Fußball. Um sein Leben gerannt war er augenscheinlich nicht. Hatte er seinen Mörder gekannt?

    Auf einer weiteren Wand meldete sich nochmals die Politik und forderte zur Wahl auf. Damit es den Menschen besser geht lächelte ein Gerhard Felber. Fehlt nur das unser vor Mensch, und wir wären im Sozialismus, dachte Kohlund. Wählt die Kandidaten der Nationalen Front. An das Geschwätz, was täglich über die Bildschirme scrollte, mochte Kohlund nicht denken. Er wusste, was er nicht wählte.

    Mergenthin stieß unablässig gegen Steinchen. Sein Fuß fuhr übers Pflaster, als ob das den Namen des Täters freilegen würde. Die nächste Fabrikhalle war gräulich, ein Flachbau aus Presspappe und Zeiten schwacher Finanzen. Der Platz davor war ohne Zaun, uneben und zeigte schüchternes Grün. Die Gastronomie hatte ihr Schild vergessen oder sie servierte noch: Lammbraten 6,20. Schnitzel mit Spargel 5,80. Kohlroulade 4,40. Gulasch mit Rotkohl und Klößen 4,60. Dazu Kaffee und Kuchen in reichlicher Auswahl.

    »In dieser Gegend kann doch keiner auf reiche Beute hoffen.«

    »Dass der Junge voll Geld steckte, glaube ich nicht, so sieht er nicht aus. Hinter der Brücke sind schmucke Einfamilienhäuser. Vielleicht hat er da gewohnt.«

    »Dann wären Täter und Opfer bekannt.«

    »Möglicherweise.«

    »Oder der Tod hatte ein ganz andres Motiv.«

    »Auch das kann sein.«

    Sie blieben stehen und blickten die Linkelstraße zur Kreuzung hinab. Keine Reklame an den Häuserwänden war erleuchtet. Gegenüber konnte man in der Straßenbeleuchtung matt Wella, Blumen, Elektrik lesen. Weit vorn sprang die Ampel von Rot-gelb auf Grün. Die Kommissare sahen keine fahrenden Autos.

    »Hier finden wir nichts, und bei diesem Licht schon gleich gar nicht.«

    Auf der anderen Straßenseite waren die Container voll Müll. In Glas, Papier, Verpackungen sollte der Bürger sortieren. Nicht alles hatte Platz in den unförmigen Plastebehältnissen gefunden. Es stank, auch wenn keine Biotonne im Geviert stand. Kohlund beneidete die Kollegen nicht, aber auch hier würden sie suchen, keine 150 Meter vom Toten entfernt. Offensichtliche Spuren eines Kampfes bemerkten die Kommissare nicht, und vor ihnen war der Bürgersteig breit, übersichtlich, ohne Baum und Gebüsch.

    »Der Junge war doch kaum vierzehn.«

    »Widersinnig.«

    »Aus welchem Motiv tötet man Kinder?«

    Viele der Schaulustigen waren gegangen. Auch der Einsatzwagen der SMH war nicht mehr vor Ort. Der junge Arzt hatte seine Aussage gemacht und unterschrieben: Todesursache unnatürlich. Überweisung ins gerichtsmedizinische Institut. Die Lampen der Kriminaltechnik leuchteten noch. Die Schabowski war im Gebüsch. Das Blut auf dem Gehweg funkelte. Einsam lagen am Sims noch Discman und Handy. Mergenthin griff nach dem Abspielgerät: The Eminem Show. Der ist hipp, taff, megacool wusste Kohlund vom eigenen Nachwuchs. Dann eine Melodie aus den deutschen Top Ten. Das Handy des Toten läutete. Mergenthin und Kohlund sahen sich an, die Initiative ergriff keiner. Agnes Schabowski drückte den Knopf: Ja, bitte?

    »Steven bin ich nicht … keine Ahnung, und wer sind Sie … so am Telefon ist mir das unrecht … Nein, und ich bin nicht befugt … Polizei … Auch ich muss Ihnen glauben, dass Sie die Eltern sind …«

    Der Finger der Schabowski zeigte auf den Boden, ihre Augen fragten Chef Kohlund. Der schüttelte vehement seinen Kopf. Nein! Nicht. Was konnten Eltern hier tun? Lars Kohlunds Lippen formten: Adresse?

    »… kämen bei Ihnen vorbei … nein, keine Umstände bitte … nun, schlimm … und wo wohnen Sie … Zeisigweg, Äußerer

    Zeisigweg … wir werden ihn finden … ja, danke, und Ihnen auch.«

    Die Schabowski atmete die Luft hörbar ein und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

    »Das ist grad bei, in der Siedlung hinter der Brücke.«

    »Bei den schmucken Einfamilienhäusern.«

    »Bärnstorff der Name. Ihr Sohn Steven ist noch nicht daheim. Sie machen sich Sorgen.«

    »Einer muss.«

    Grischa Mergenthin befand sich auf dem Schritt zu Berger von der Technik, um noch Genaueres zu erfragen. Kohlund blickte Agnes Schabowski in die Augen, die stellte fest: Eine muss!

    »Sie müssen nicht.«

    »Ich gehe.«

    2

    Agnes Schabowski musste nach den Hausnummern schauen. Manche waren zugewachsen, unleserlich oder gar nicht vorhanden. Dann war sie sich sicher, nur in einem der Häuser brannte noch Licht. Versehentlich trat sie noch einmal aufs Gas, der Wagen heulte auf. Vielleicht war das der Grund, dass sich die Haustür nun öffnete, wahrscheinlich aber hatten die Bärnstorffs am Fenster auf die Polizei gewartet.

    Die Mutter stand auf der Treppe zum Vorhaus in Filzlatschen, die schienen Agnes Schabowski zu warm, zu bunt und überbetont heimelig. Rock und Bluse saßen exakt, das Gesicht schien übernächtigt, die Haare nicht in Frisur. Von hinten beleuchtet war Mutters Silhouette gespenstisch. Die Polizistin nahm die Hand vors Gesicht, ihr in den Weg wuchsen Buchsbaum, Forsythien, Liguster.

    »Was ist denn passiert?«

    Es war der Vater, der sprach. Agnes Schabowski hatte ihn noch gar nicht ausmachen können. Der Mann war groß, stattlich und müde. Barfuß stand er auf den Kacheln, die Hosen schnell drübergezogen, Hosenträger, kein Hemd. Seine Frau krallte mit einer Hand das Geländer, die andere schob sie der Schabowski zur Begrüßung entgegen. Warm. Kräftig. Vielleicht ein bisschen feucht.

    »Hatte er einen Unfall?«

    »Bärnstorff, Maik-Elias, meine Frau Solveig.«

    »Wir wissen nicht, ob es überhaupt Steven ist.«

    »Papa, das Foto vom Schreibtisch!«

    Der Vater verschwand, Treppe nach oben, die Mutter bat Agnes Schabowski ins Heim und ging ihr voraus.

    »Grad durch, da ist unsre gute Stube.«

    »Danke.«

    »Schuhe können Sie anlassen, ich saug sowieso.«

    Die Tür war geriffeltes Glas, von Holztapete umrahmt. Drinnen war die Beleuchtung gelbwarm. Der Fernseher lief ohne Ton. Barbara Salesch, Monika Herz oder Friedrich Karl Kaul sprachen Recht. Die Gardinen mit Borte hingen halbhoch. Beobachteten die Bärnstorffs von dieser Stube, was auf der Straße passierte? Dorfgewohnheiten hatte die Kommissarin nicht in der Großstadt vermutet. Sie nahm Platz in einer Sitzgarnitur, die ums Eck gestellt war. Echt Leder, kein Imitat.

    »Darf ich Ihnen was anbieten? Cognac, Apfelsaft, Wasser?«

    »Ein Wasser. Gern.«

    Die Kommissarin nahm Platz und schaute: Bücherregal. Schallplattensammlung. CD-Turm. Monstera. Couchtisch. Glä­ser im Schrank. Darauf der Nippes. Sessel, Sessel, Esstisch und Stühle. Ein Hocker mit alten Zeitungen. Im Fernsehen wurden sie laut, bemerkte die Kommissarin, auch ohne die Reden zu hören. Die Worte konnte sie den Lippen ablesen.

    Mutter und Vater betraten gemeinsam das Zimmer. Frau Bärnstorff reichte Agnes Schabowski das Glas. Das Wasser kam aus der Leitung, war nicht einmal kalt. Der Vater legte das Bild des Sohnes auf den Tisch. Kein Zweifel. Die Eltern sahen es ihrem Gesicht an. Agnes Schabowski nahm einen kräftigen Schluck.

    »Was hat Steven getan?«

    Agnes Schabowski suchte nach Worten.

    »Was ist passiert?«

    »Man hat Steven heut Nacht in der Linkelstraße gefunden. Sein Leben war nicht mehr zu retten.«

    Pause. Die Schabowski hörte den Atem. Im TV sprach der Richter ein Machtwort.

    »Ein Unfall?«

    Pause. Die Schabowski scheute die Wahrheit.

    »So sagen Sie doch. Ist er betrunken vors Auto gerannt, vor den Bus?«

    »Nein.«

    »Nein?«

    »Ein Überfall wahrscheinlich.«

    »Da gibt man Geld, umgebracht wird man nicht.«

    »Steven ist tot. Eine Rettung war den Ärzten unmöglich.«

    Weiter kein Wort, keine Fragen. Wie in Zeitlupe sank die Mutter in einen der Sessel, Beine über die Lehne. Der Vater

    setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch. Und Agnes Schabowski musste die Eltern befragen, fand aber keinen passen­den Anfang. Sie schob Solveig Bärnstorff ihr Wasserglas in die Hand. Als Aufforderung begriff diese das nicht.

    »Wie ist er gestorben?«

    »Wahrscheinlich erstochen.«

    Die Mutter schwieg, und der Vater knetete die Tischdecke, fast, dass die Blumenvase fiel.

    »Wohin wollte Ihr Sohn denn heut Abend?«

    »Haus Auensee, ein Konzert … Ich hab keine Ahnung.«

    »Von dort abgeholt wollt er nicht werden. Das war ihm zu kindisch.«

    »Nein, und so weit ist es ja nicht. Und was wir schon mit siebzehn …«

    »Steven war siebzehn?«

    »Keine sechs Wochen mehr, Pfingsten, dann ist er volljährig, achtzehn. Na ja, er sieht nicht aus wie die markanten Kerle, die ein Superstar werden wollen. Aber Steven wär noch gewachsen. Bei meinem Mann hat’s auch gedauert, sagt er.«

    »Ist er allein in dieses Konzert gegangen?«

    »Nö.«

    »Die Jungs der Clique sind zusammen gegangen. Abgeholt haben sie Steven halber sechs. Und der Junge hatte noch gar nichts gegessen.«

    »Gesoffen wird er schon haben.«

    »Gesoffen! Zweimal betrunken war er. Denk doch an unsere Zeiten zurück.«

    »Was du nicht sehen willst, siehst du nicht.«

    Agnes Schabowski hörte und sah. Im Fernsehen schlugen sie mit der Faust auf den Tisch. Im Zimmer ging Maik-Elias Bärnstorff um den Esstisch herum, nahm ein Zierfläschchen in seine Hände, stellte es zurück und blieb am Fenster stehen, aber sah nicht hinaus. Die Mutter nahm die Beine von der Sessellehne und ordentlich Platz. Füße, Rock und Rücken sehr gerade. Dann war es mit aller Haltung vorbei. Solveig Bärnstorff konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

    »Steven ist achtzehn. Man kann doch erwachsene Kinder nicht anbinden.«

    »Aber alles gestatten muss man ihnen nicht!«

    »Vielleicht könnte ich sein Zimmer …«

    »Bitte.«

    »Wo ist Steven jetzt?«

    »Wir geben Bescheid. Sie können ihn sehen.«

    Agnes Schabowski dachte daran, wie die Leiche des Knaben nach der Sektion aussehen würde. Die Schnitte grob vernäht. Ein Kreuz im ganzen Körper. Die Kommissarin lächelte zur Mutter zurück, als sie in der Tür stand. Der Vater ging voran die Treppe hinauf. Der Eintritt in Stevens Zimmer war allen Unbefugten verboten, war an der Tür zu lesen, und Cleaning Out My Closet. Das Schloss schloss nicht. Die Tür war eingetreten. Die Presspappe gesplittert. Ein Stück Eisen fiel herunter, als Agnes Schabowski die Tür ganz öffnete.

    »Da hatte er seinen Schlüssel vergessen. Wer’s bezahlt, hat ihn nicht interessiert.«

    Die Kommissarin fragte nicht nach. Die Eltern mussten ohnehin ihre Aussagen zu Protokoll geben und unterschreiben. Die Matratze lag mitten im Raum. Rechts, links in Griffweite Gitarre, Fernbedienung TV, Fernbedienung CD, Gameboy. Ein Regal voller Wäsche. Ein Regal voll mit Technik und Werkzeug. Davor ein Tisch, auf dem selten geschrieben wurde. Kein Blatt Papier, kein Kuli, kein Buch. An den Wänden martialische Menschen. Keanu Reeves als Held in der Matrix. Hulk Hogan und Gandalf. Ein Dartspiel. Die Pfeile lagen noch auf dem Bett.

    »Sogar nachts hat er die Pfeile stundenlang in die Tür geknallt.«

    »Damenbesuch?«

    »Welche Mädchen stehen schon auf Bubis mit Milchbart?«

    Mehr als du denkst, sagte die Kommissarin nicht. Der Rucksack in der Ecke sah unbenutzt aus. Darinnen Federmappe, Lineal und eine Bescheinigung vom Arbeitsamt. Darauf stand es schriftlich: Steven Bärnstorff, am 29. 04. 1986 in Leipzig geboren, Schulbesuch. Ausbildung: keine.

    »Was tat Steven tagsüber?«

    »An der Schule rumhängen. Rauchen. Saufen. Uns Werktätigen sämtliche Nerven töten.«

    »Keine Arbeit?«

    »Was denn? Ganz fort nach drüben wollte er nicht. Industriemechaniker! Zerspaner hätte der Job früher geheißen. Bohren. Sägen. Feilen. Dafür weg von den Freunden, der Familie und freiem Essen und Wohnung? Und nach der Ausbildung hätte er sowieso keine Arbeit gefunden. Ich konnt Steven verstehen. Arschkarte gezogen. Also hat er gewartet und dem Amt vertraut. Aber von da

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