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Geiserich - Vandale ohne Vandalismus
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Ebook318 pages4 hours

Geiserich - Vandale ohne Vandalismus

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Zweite, komplett überarbeitetete Auflage.
Im populärwissenschaftlichen Stil spannend geschrieben, will diese historische Reportage mit dem (allzu) festsitzenden Zerrbild der »blindwütigen, zerstörerischen Vandalen« aufräumen und es als historisch nicht haltbar entlarven. Die Vandalen sollen vielmehr so gezeigt werden, wie sie wirklich waren: Zwar nicht gerade eine antike »Friedensbewegung«, aber immerhin ein Volk, das sich mit den üblichen Motiven und Mitteln seiner Zeit - nicht »humaner«, aber auch nicht blutrünstiger als andere - unter der umsichtigen Führung ihres legendären Königs Geiserich inmitten einer fremden Umwelt ein solides Reich schuf. Das, im übrigen, auch den angestammten Bewohnern Nordafrikas einen fairen Anteil an innerem Frieden und Wohlstand bot, sodaß diese gar nicht so ungern die römische Herrschaft gegen den »Vandalismus« tauschten.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateMay 1, 2013
ISBN9783944663210
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    Geiserich - Vandale ohne Vandalismus - Helmut W. Quast

    Vandalismus

    Erstes Buch. Der Eroberer (428 - 439)

    I. Der große Aufbruch

    Gleichmütig schlagen die Wellen der Meerenge von Gibraltar an den felsigen Küstenstrich bei Tarifa. Hier, vom südlichsten Zipfel der spanischen Halbinsel aus, kann man über dem Wasser in nicht einmal fünfzehn Kilometer Entfernung den fremden, geheimnisvollen Kontinent sehen: Afrika! Majestätisch, aber doch zum Greifen nahe ragen die gewaltigen Bergmassive des Atlas, Wahrzeichen der römischen Provinz Tingitana (heute Marokko) im flirrenden Sonnenlicht aus den tanzenden Schaumkronen der tiefblauen Fluten hoch.

    Die Luft ist herrlich. In den vom Meer herauf wehenden Salzgeruch mischt sich unverkennbar der berauschende Duft farbensatter Blüten. Es sind die milden Tage zwischen Mai und Juni des Jahres 429 n. Chr. Eine Zeit, die Menschen und Natur im südlichen Mittelmeerraum noch einmal tief und befreiend durchatmen lässt, bevor die brütende Hitze des nahen Sommers alles Leben unter ihren lähmenden Gluthauch zwingt.

    Doch hier, an den Felsen von Tarifa, lässt sich niemand von dieser Stimmung verzaubern. Was sich seit einigen Wochen auf der schmalen, die beiden Nachbarkontinente Europa und Afrika gleichzeitig trennenden und verbindenden Wasserstraße abspielt, ist alles andere als von gelassener Erwartung der kommenden heißen Jahreszeit geprägt. Denn 80 000 Menschen versuchen in einer verzweifelten Kraftanstrengung, möglichst geordnet und ohne große Verluste die nasse Grenze zu überwinden und nach Afrika überzusetzen.

    Ein ganzes Volk geht über das Meer!

    Zahllose Schiffe jeden Typs und in jedem Erhaltungszustand dümpeln wie schwerfällige Wasservögel vor der steil abschüssigen Küste. Schnelle Ruderer, Triremen, Frachtsegler und immer wieder Fischerboote bieten ein verwirrendes, quirliges Bild, in dem die einheitliche Dreiecksform der lateinischen Segel das einzige verbindende Element zu sein scheint. An den Uferfelsen hält nervöse Hektik eine schier unübersehbare Menschenmenge in ständiger Bewegung. Männer, Frauen, Kinder, schwerbewaffnete Krieger und lastenschleppende Sklaven wimmeln durcheinander.

    Für zusätzliche Behinderungen sorgen in diesem Meer aus Ungeduld und Aufbruchschaos immer wieder kleine Inseln aus verschreckt brüllenden Rindern und ängstlich meckernden Schafen. Wieselflink huschen geduckte, dunkelhäutige Gestalten auf struppigen Pferden an der Peripherie dieser aus Menschen und Tieren gebildeten riesigen Herde umher. Ungeduldige, in einer rauen, kratzigen Sprache gebrüllte Befehle sollen offenbar so etwas wie eine relative Ordnung aufrechterhalten. Und immer wieder, in einem seltsam entschlossenen Rhythmus, besteigt eine Handvoll der Wartenden, bepackt mit Bündeln und Körben, die schwankenden Planken eines Kampfruderers oder einer winzigen Nußschale, die irgendeinem Fischer von der Küste der Baeticae (Andalusien) bis vor kurzem seinen Lebensunterhalt sicherte. An Bord rigoros zusammengepfercht, denn jeder Quadratzentimeter Schiffsfläche ist in diesen Tagen kostbarer als Gold, streifen die skeptischen Blicke der Reisenden noch einmal die langsam kleiner werdende spanische Küste, während das Schiff mühsam, aber unbeirrbar den Kurs auf Tingis (Tanger), die Hauptstadt der westlichsten römischen Afrikaprovinz, hält.

    Der Name dieses Volkes, das in den Spätfrühlingstagen des Jahres 429 n. Chr. einen bis dahin beispiellosen gemeinsamen Aufbruch über das Meer in ein völlig unbekanntes Neuland riskierte, ist uns heute noch allzu geläufig. Und das, wie man in diesem Fall bedauernd sagen muss, nicht aus den Geschichtsbüchern! Es sind die Vandalen unter ihrem gerade ein Jahr regierenden König Geiserich, die hier einen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, ihre Existenz als Volk durch eine neue Landnahme und die Gründung eines eigenen, soliden und vom - immer noch als politischen Übervater des Mittelmeerraumes angesehenen - römischen Imperium unabhängigen Reiches zu retten.

    Begriff und Philosophie der »Landnahme« sagen es schon: Die Vandalen waren Germanen, die zu eben diesem Zwecke wie so viele andere Eroberer aus dem nordischen Raum seit Jahrhunderten kreuz und quer durch Europa zogen, bis die Wirren der Völkerwanderungszeit sie an die Pforten Afrikas verschlagen haben. Während ihres Zuges handelten sie wie alle anderen germanischen Landnehmer auch, erfuhren aber im krassen Gegensatz zu jenen niemals das Augenzwinkern der historischen Verklärung, die ja bekanntlich im Nachhinein gern die positiven Aspekte eines geschichtlichen Prozesses ins Mythische erhöht und die negativen Seiten schlicht unter den Tisch fallen lässt.

    Auch das Schlagwort von der Zeit, die angeblich alle Wunden heilt und - was man nach mehr als 1500 Jahren eigentlich als selbstverständlich annehmen sollte - Platz macht für eine emotionsfreie, rein an den tatsächlichen Vorkommnissen orientierte Geschichtsbetrachtung, hat bei den Vandalen wieder einmal kläglich versagt. Denn sie traf das sogenannte »Urteil der Geschichte« von allen Germanen der Völkerwanderungszeit am grausamsten. Ihr Name ist bis auf den. heutigen Tag ein Synonym für sinnlose Zerstörungswut und unmenschliche Brutalität. Und wie zu befürchten ist, werden sie wohl, solange es Menschen gibt, stellvertretend weiter für alle Gräuel und Ungerechtigkeiten der Völkerwanderungszeit büßen müssen.

    Denn vieles von dem, was man ihnen heute in die Schuhe schieben will, geht wahrlich auf andere Konten!

    Weil die Vandalen sich nicht mehr wehren können, keine Gegendarstellungen verlangen oder Beleidigungsprozesse anstrengen, konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass ihr Name als billige und bequeme Abscheu-Vokabel symbolisch für viele Sauereien auch der späteren Geschichte herhalten muss. Hier ein historisch gerechtes Umdenken zu bewirken, ist nicht zuletzt eines der Ziele dieses Buches. Es will an der überragenden Führungspersönlichkeit ihres Königs Geiserich und seiner Politik, die fast 50 (!) Jahre das Schicksal der Vandalen lenkte, belegen, dass dieses germanische Volk zwar keinen Deut besser, aber auch in nichts schlechter war als die anderen nordischen Landnehmer der Völkerwanderungszeit.

    Lässt man nämlich die historischen Tatsachen sprechen und unterzieht die zeitgenössischen Quellen einer kritischen Analyse, erscheinen die Vandalen in aller nüchternen Klarheit plötzlich so, wie sie wirklich waren: Keinesfalls eine antike »Friedensbewegung«, aber auch keine dümmliche, blutrünstige und zerstörerische Räuberbande! Den Begriff »Vandalismus« jedenfalls hat keiner der zeitgenössischen Geschichtsschreiber benutzt, sei er auch noch so anti-vandalisch eingestellt gewesen (wie übrigens die meisten, deren Quellen uns erhalten geblieben sind). Nein, als Schlagetot-Parole im heutigen Sinne kam der »Vandalismus« erst sehr viel später auf.

    Dazu an anderer Stelle mehr!

    Kehren wir zunächst zurück an den Strand bei Tarifa im Frühsommer des Jahres 429. Den Vandalen dort dürfte die Geschichte und deren Urteilsfähigkeit noch ziemlich egal gewesen sein, denn sie hatten bei ihrem Aufbruch ins Unbekannte andere Sorgen genug. Mit der mühsam zusammengestoppelten Flotte von mehr oder minder seetüchtigen Galeeren, Seglern und vor allem Fischerbooten, die an der gesamten Küste zwischen Cartagena und Algeciras beschlagnahmt worden waren, galt es, einen gut funktionierenden Pendelverkehr zwischen Europa und Afrika aufzubauen.

    80 000 Menschen mit allen Habseligkeiten, Waffen und Gepäck geordnet, zügig und ohne nennenswerte Verluste über eine - wenn auch recht schmale - Meerenge zu transportieren, war ein für die damaligen Verhältnisse unerhörtes, noch nie dagewesenes Projekt. Uns mag dies nicht besonders bemerkenswert erscheinen, die wir moderne Massenvölkerwanderungen per Straße, Wasser und Luft als etwas Alltägliches erleben. Schließlich können wir heute 80 000 Menschen ohne viel Aufhebens in wenigen Stunden zu einer großen Sportveranstaltung auf einen anderen Kontinent bringen. Auch der reguläre, motorisierte Fährverkehr bewegt sich an allen einschlägigen Punkten der Welt längst in ganz anderen Dimensionen. Wofür die Vandalen noch vier bis fünf Wochen brauchten, wäre heute mit wenigen Fahrten erledigt.

    Geiserich aber ging mit seiner Überfahrt bewusst ein höchst riskantes Abenteuer ein. Da waren ja nicht nur die 80 000 Menschen überzusetzen. Auch die bewegliche Habe der Vandalen wollte mitgenommen werden. Und die musste beträchtlich gewesen sein, denn nach Jahrhunderten der Irrfahrt durch das zivilisierte römische Europa stand dieses Volk wie die anderen germanischen Eroberer auf einer weit weniger primitiven Entwicklungsstufe, als wir heute gerne annehmen. Neben dem gesamten Hausrat, den Waffen und Werkzeugen, den Belagerungsmaschinen (denn man hatte ja einiges vor!), den Wasser- und Lebensmittelvorräten, dem Brenn- und Bauholz sowie einem beachtlichen Wagenkonvoi stellten noch die Pferde der Krieger, die Zugtiere sowie das Milch- und Fleischvieh Geiserichs Transportoffiziere vor besondere Probleme. Die Vierbeiner gerieten auf den schmalen Planken der Schiffe und Fischerboote nur allzu leicht in Panik, was das ohnehin riskante Übersetzen noch um einige Grade gefährlicher machte.

    Erfolg oder Scheitern der Operation hing also ausschließlich von der generalstabsmäßigen Präzision ab, mit der Geiserich vorging. Und die dürfte auch unter heutigen Maßstäben nur als vorbildlich zu bewerten sein. Als gründliche Vorbereitung darauf ließ er zunächst rechtzeitig vor dem »Tag X« eine exakte Volkszählung abhalten, um den für die Aktion benötigten Transportraum ausrechnen zu können. Insgesamt ergab diese Registrierung jene aus den Quellen bekannten »80 Tausendschaften«, darunter nicht mehr als 20 000 Krieger. Ob es nun in der Realität des Jahres 429 einige Seelen mehr oder weniger waren als 80 000, darüber streiten sich heute noch manche Gelehrten. Aber für die historische Beurteilung des Vorgangs dürfte dies völlig unerheblich sein.

    Wichtiger ist auf jeden Fall, sich vor Augen zu halten, dass hier ein ganzes Volk »mit Mann und Maus« den gefährlichen Weg ins Unbekannte wagte. Geiserich teilte seine Vandalen, den Ergebnissen der Volkszählung entsprechend, in Tausendschaften ein. In Familienverbänden waren dort Kinder, Frauen und Greise zusammengefasst, die jeweils von einer Schar Krieger in Kompaniestärke militärisch gestützt wurden.

    Das Weitere lief dann wie nach Fahrplan. ab: Eine Vorausabteilung besetzte gegenüber von Gibraltar in Tanger Landeköpfe, bevor der Pendelverkehr der Transportschiffe begann. Eine andere Spezialtruppe sicherte auf spanischem Boden den Rücken und ging als letzte ans Übersetzen. Ihre Aufgabe war lebenswichtig und trug entscheidend zum Gesamterfolg von Geiserichs Geniestreich bei. Denn sie hatte die heftig nachdrängenden Westgoten und Sueben in Schach zu halten. Diese Germanenvölker standen schon bereit, um endlich ganz Andalusien von den Vandalen zu übernehmen, an denen sie sich bereits seit Jahrzehnten auf das Grausamste und Blutigste rieben.

    Dass die Vandalen das alles in Kauf nahmen und den großen Aufbruch dennoch wagten, zeigt das unbedingte Vertrauen in die Führungskompetenz ihres Königs Geiserich. Obwohl dieser zum Zeitpunkt der Überfahrt erst ein Jahr im Amt war, folgten sie ihm ohne Murren, diszipliniert und - letztendlich - auch zuversichtlich.

    Es ging auch alles glatt.

    Zu größeren Katastrophen während des fünfwöchigen Übersetzens kam es nicht. Im Gegenteil: Das Unternehmen verlief anscheinend so reibungslos, dass nach dem noch heute gültigen Prinzip der journalistischen Informationsaufbereitung (»Eine gute Nachricht ist eigentlich gar keine...!«) die zeitgenössischen Chronisten auffallend wenig Worte darüber verloren.

    Isidor, Bischof von Sevilla, berichtet beispielsweise in seiner »Geschichte der Goten, Vandalen und Sueben« knapp und trocken: »Vom Gestade der Provinz Baetica verließ er (Geiserich) mit allen Vandalen, mit Kind und Kegel Spanien und fuhr hinüber nach Mauretanien und Afrika«. Und Prokopius von Caesarea, der einen der umfassendsten, farbigsten und detailliertesten Augenzeugenberichte über die Vandalen verfasst hat (er wird uns später noch eine weite Strecke durch dieses Buch begleiten), macht es noch kürzer: Die Vandalen »überschritten ... die Meerenge von Gades (Cadiz, Straße von Gibraltar) und kamen nach Afrika« ist alles, was der sonst so wortreiche Sekretär des byzantinischen Feldherrn Belisar zu diesem logistischen Super-Coup zu sagen hatte.

    Doch das außergewöhnliche Wagnis, der gewaltige Umfang und das präzise Ablaufen von Geiserichs Transportoperation legen zwingend die Vermutung nahe, dass die ihr zugrundeliegende Idee keinesfalls aus dem Augenblick geboren wurde. Ebensowenig dürfte die Volkszählung zur Ermittlung des Transportraums der eigentliche Beginn des Countdowns gewesen sein. Und in der Tat: Es gibt Belege genug, die nachweisen, dass Geiserich mit dem Gedanken der Auswanderung nach Afrika und den Möglichkeiten ihrer praktischen Durchführung schon lange, bevor die Königswürde für ihn überhaupt in Sicht war, mehr als nur gespielt haben muss. Er führte nämlich als »Zweiter« unter König Gunderich, seinem älteren Halbbruder, die Vandalen ganz gezielt und bewusst nach Jahrhunderten der Wanderschaft über die europäische Landmasse wieder zurück ans Meer, indem er seinem Volk eine schlagkräftige Flotte aufbaute: Leistungsstarke Transport- und Kriegsschiffe, vorwiegend den Römern abgejagt. Damit machte er aus manchem seiner Vandalen wieder einen Seefahrer - nach mehr als vierhundert Jahren Reiterkrieg und Städtebelagerung.

    Wie erfolgreich er auch hier war, zeigen die Chroniken. So wird beispielsweise schon im Jahr 425 berichtet, dass vandalische Flottenvorstöße die Balearen erreichten und im Ostatlantik vor den Küsten Mauretaniens operierten. Der Grund für Geiserichs Hinwendung zur See ist nicht schwer auszumachen: Die reiche Beute aus diesen frühen Piratenzügen dürfte nicht mehr als ein willkommenes Abfallprodukt von Expeditionen gewesen sein, die im Hinblick auf das spätere Übersetzen nach Afrika mehr als deutlich den Charakter von Testfahrten haben.

    Geiserich kannte die - fehlgeschlagenen - Versuche anderer Germanenfürsten, nach Nordafrika zu gelangen. Und obwohl er noch der Zweite unter König Gunderich war, hat er seinem Charakter entsprechend die Übernahme des höchsten Amtes der Vandalen für seine Person sicher nie völlig ausgeschlossen. Deshalb arbeitete er zielbewusst auf die »Zeit danach« hin. Er wollte, als König, nicht nur die Fehler der anderen germanischen Afrika-Träumer wiederholen. Er wollte hin! Und kaum trug er die Krone der Vandalen, setzte er auch schon zum großen Aufbruch an.

    Damit das beispiellose Unternehmen so verlaufen konnte, wie es verlaufen ist, mussten sich in Geiserichs Person und Charakter drei unabdingbare Voraussetzungen vereinigen: Mut, scharfe Intelligenz - und vor allem ein triftiger Grund, um das Ganze überhaupt in. Angriff zu nehmen. Dass Geiserich die beiden erstgenannten Charaktereigenschaften in überdurchschnittlichem Maße besaß, bewies er an der Meerenge von Tanger genauso gut wie in den späteren Jahren seiner langen, fast fünfzig Jahre dauernden Regierungszeit als »Rex Vandalorum et Alanorum«, wie sein hochgeachteter und gleichzeitig gefürchteter Ehrentitel hieß.

    Der Grund, der als drittes Element die starke Motivation für Geiserichs Handeln lieferte, war an Triftigkeit allerdings nicht zu überbieten. Denn es ging ganz einfach um das Weiterleben oder den gnadenlosen Untergang seines Volkes inmitten einer Welt, die auf so etwas nicht die geringste Rücksicht nahm. Denn nach Jahrhunderten unsteter - und oft auch räuberischer - Wanderung durch Europa standen die Vandalen jetzt, nach nur zwanzig Jahren in Spanien, auf dem Trümmerfeld ihrer Existenz. Nahezu die Hälfte der vandalischen Nation - der begabte, aber unkriegerische Zweig der Silingen - war in ihrem andalusischen Siedlungsgebiet von den Westgoten unter König Wallia nahezu ausgerottet worden. In Schlachten übrigens, die zum Mörderischsten gehören, was aus der ganzen Völkerwanderung berichtet wird. Die wenigen überlebenden Silingen hatten beim zweiten vandalischen Hauptvolk, Geiserichs Hasdingen, Zuflucht gesucht. Mit ihnen auch die Alanen, ein skythisch-sarmatisches Reitervolk aus Innerasien, das schon jahrzehntelang Seite an Seite mit den Vandalen in Europa kämpfte und fortan als treuer Verbündeter unter Geiserich das weitere Schicksal dieses Germanenvolks teilen sollte.

    Geiserich stand somit mit dem Rücken zur Wand. Nach dem Untergang der Silingen ist das eigene Reich in Andalusien (»Vandalusien«; der Name hält heute noch die Erinnerung an die kurze vandalische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel wach) im Jahre 1 seiner Herrschaft pure Illusion geworden. Was vielmehr drohte, war ein aussichtsloser Dreifrontenkrieg gegen Sueben, Westgoten - und Römer!

    Denn das Imperium gab sich noch nicht geschlagen. Wann immer es dem in Ravenna residierenden Kaiser des Westreiches einfallen würde, musste mit neuen Vernichtungsfeldzügen gerechnet werden, in denen Germanen gegen Germanen standen. Denn in der Kunst, »Barbarenvölker« aufeinander loszuhetzen, waren die Römer auch am Anfang des fünften Jahrhunderts noch wahre Meister. Schließlich war selbst der Völkermord an den Silingen durch die Westgoten nichts anderes als eine Auftragsarbeit des Kaisers, die mit der Sonnenlandschaft Gallia Narbonensis (heute Languedoc und Roussillon) im Süden Frankreichs belohnt wurde.

    Den Entschluss zum Verlassen Andalusiens fasste Geiserich also nicht aus einer bloßen Laune oder Abenteuerlust heraus. Es war, nach allem, was um ihn herum vorging, wirklich die von einem starken Herrscher bewusst ergriffene letzte Chance zum Überleben seines Volkes.

    Dabei war die Stoßrichtung Nordafrika genauso klar und logisch. Das übrige Europa war, was die inneren Zustände betrifft, nicht anders als inzwischen Spanien: Unsicher, von ständigen Wirren geschüttelt und der Willkür vieler Herren unterworfen. Dazu waren die Landstriche, weil seit Jahrhunderten immer wieder geplündert, arm - und wurden immer ärmer. Wer mag es da den Vandalen verdenken, dass ein anspruchs- und rechtloses Leben als Ackerbauer im kalten Mitteleuropa für sie keine Zukunftsaussicht war, um deretwegen man die Strapazen einer neuen Wanderung auf sich nahm?

    Nordafrika dagegen war zu Anfang des fünften Jahrhunderts das totale Gegenteil seines heutigen Erscheinungsbildes. Kornkammer der römischen Welt, ruhig, steinreich und von den Eruptionen der Völkerwanderung bislang noch weitgehendst verschont. Sozialer Sprengstoff drohte allerdings in Form einer brutal geknechteten Bevölkerung, die auf den Plantagen der Großgrundbesitzer in der Sonnenglut bis zum Umfallen schuften musste und jeden, der versprach, sie von diesem Joch zu erlösen, als Befreier jubelnd begrüßen würde.

    Eine solche Konstellation musste wie ein satter Nährboden auf Geiserichs Eroberungspläne wirken. Angesichts dessen scheint eine gängige, schon von den Römern aufgestellte Theorie wenig glaubhaft, die Geiserichs Entschluss zum Einfall in Nordafrika und seinen dortigen beispiellosen Siegeszug im wesentlichen schnödem Verrat zuschreibt. Diese antike Dolchstoßlegende behauptet nichts anderes, als dass der damalige römische Befehlshaber Bonifatius Geiserich selbst ins Land gerufen hat. Sogar die Schiffe für die Überfahrt soll er bereitgestellt haben. Er wollte damit angeblich seinen mächtigen Widersacher am kaiserlichen Hof in Ravenna, dem späteren Hunnenbezwinger Aëtius, eins auswischen.

    Moderne Historiker ziehen diese Geschichte allerdings stark in Zweifel und weisen darauf hin, dass die Berichte über den »Verrat« des Bonifatius nicht bei den unmittelbar zeitgenössischen Chronisten auftauchen, sondern erst von späteren Historikern der Antike kolportiert werden, darunter natürlich auch von dem intrigenverliebten Prokopius von Caesarea.

    Die heutige Geschichtsbetrachtung hat sich daher weitgehend darauf geeinigt, dass diese Begründung der Eroberung offensichtlich nur zu dem Zweck in die Welt gesetzt wurde, um die eigene Schwäche und das militärische Unvermögen des spätantiken Roms vor der Nachwelt zu kaschieren und die Schuld an dem nordafrikanischen Desaster einem bequemen Sündenbock, dem im Privatleben recht exzentrischen Bonifatius, anzuhängen.

    Es ist jedoch nicht völlig auszuschließen, dass die Vandalen in den Jahren vor ihrem großen Aufbruch tatsächlich einen konspirativen Brief des Bonifatius erhalten haben. In dem der Römer auch, wie etwa Prokopius berichtet, vorgeschlagen haben mag, das nordafrikanische Römerreich in drei Sektoren zwischen ihm, Geiserich und Gunderich (der damals noch lebte; er fiel erst 428 vor Sevilla) aufzuteilen. Zwei wichtige Gründe sprechen aber gegen eine tatkräftige Mithilfe des Militärbefehlshabers beim Vandaleneinfall: Zum einen hatte sich Bonifatius bereits vor Geiserichs Überfahrt mit seinem römischen Hauptquartier wieder arrangiert. Als Folge davon, so Prokopius, »reute ihn seine Tat und der Vertrag mit den Barbaren, und er versuchte, sie mit unzähligen Versprechungen dahin zu bringen, dass sie Afrika wieder aufgäben«.

    Wenn der bewusste Brief also wirklich geschrieben worden und an die Vandalen gegangen war, hatte er für Geiserich höchstens einen gewissen Aufmunterungscharakter. Der Vandalenkönig konnte daraus entnehmen, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt war, überzusetzen und loszuschlagen. Denn die Römer waren untereinander im Streit, so dass er relativ unbelästigt seine eigenen Pläne verfolgen konnte. Und die sahen nun mal vor, nach Nordafrika zu gehen, um dem drohenden Dreifronten-Vernichtungskrieg in Spanien zu entkommen! Dazu brauchte Geiserich nicht erst die Einladung eines verräterischen Römers. Und er brauchte erst recht nicht dessen Hilfe oder gar fremde Schiffe. Dank seines vorausschauenden Flottenaufbaus und der Beschlagnahme aller erreichbaren Fischerboote hatte er Transportraum genug.

    Geiserich wird die Informationen aus dem Brief von Bonifatius in seine strategischen Kalkulationen mit einbezogen haben. Seine endgültige Politik allerdings, das Ziel, das er sich und seinem Volk setzte, legte er mit Sicherheit ganz alleine fest. Dies beweist nicht zuletzt seine weitere Handlungsweise, die stets extrem autokratisch geprägt war und nie jene kompromisslose Linie verließ, deren Richtung sich schon in den Tagen von Tarifa ganz klar vor dem verschwommenen Dunst der Atlasberge abzeichnete: Der Übermacht in Andalusien weichen, alle Brücken hinter sich abbrechen und dem römischen Adler im afrikanischen Teil seines Reiches eine eigene, unabhängige, auf solidem Grund gebaute - und in der Planung letztendlich wohl auch friedliche - Existenz für sein Volk abringen.

    Gewiss war dies ein Spiel, bei dem er neben seinen Charaktereigenschaften wie Mut und Intelligenz auch noch sehr viel Glück brauchte. Aber die Waghalsigkeit einer Afrika-Expedition war von allen die Vandalen umgebenden Übeln immer noch das kleinste!

    Es ist nicht überliefert, wann genau der große Vandalenkönig persönlich eines der Boote am Felsenstrand von Tarifa bestiegen hat, um nach Afrika übergesetzt zu werden. Man kann aber als sicher annehmen, dass Geiserich einer der letzten Vandalen gewesen sein wird, der die spanische Küste verlassen hat. Denn dass konsequente, persönliche Führungsstärke immer dort zu sein hat, wo es am brenzligsten ist - dieser Devise hat sich Geiserich nie verweigert. Und so handelte der Vandale noch im spanischen Feindesland erstmals aktenkundig so, wie es künftig von den Chronisten teils bewundernd, zum größten Teil aber erschauernd berichtet wird: In einem blitzartigen Überraschungscoup schlug er mitten in den Vorbereitungen zur großen Überfahrt bei Merida im westlichen Andalusien vernichtend die Sueben. Unter ihrem jungen Feldherrn Hermigar hatten sie die Vandalen in einem Handstreich einfach überrannt. Wohl um den armen Reisenden das Gepäck etwas zu erleichtern, indem man sie vor allem von dem schweren Gold befreit!

    Geiserich aber, mit den Gedanken wahrscheinlich schon lange in Afrika, spielte souverän seine unnachahmliche Taktik aus, die fürderhin als Markenzeichen seiner Regentschaft gelten sollte: Das intelligente Pendeln zwischen undurchschaubarer Täuschung und dem glasharten, gezielten Einsatz geballter militärischer Macht. Die Wut des Vandalenkönigs über den hinterhältigen Abschiedsgruß der Sueben muss grenzenlos gewesen sein, denn er wütete mit seinen Kriegern dermaßen unter ihnen, dass sich das suebische Volk nie mehr richtig von diesem Debakel erholen sollte. Jung-Feldherr Hermigar ertrank auf der Flucht vor dem rasenden Geiserich im Fluss Guadiana, womit die Sueben noch ihren Kronprinzen verloren.

    Die Vandalen jedoch begrüßten ihren König bei der Rückkehr an die Küste mit frenetischem Jubel. Er hatte seine erste Bewährungsprobe glänzend bestanden und sich damit als Führer ins afrikanische Abenteuer seinem Volk bestens empfohlen.

    Die Sonne versinkt hinter den bizarren Felsen, färbt das ruhige Meer blutigrot. Sanft verschmelzt sie ihren Zauber, der auch heute noch in dieser Landschaft zu spüren ist, die unsere Zeit die Costa del Sol nennt. Nur noch wenige Dutzend Wartende stehen zwischen den erloschenen

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