Briefe eines russischen Starzen an seine geistlichen Kinder - Igomen Nikon

Die heutigen russischen Starzen schreiben nicht Bücher (das hat es auch früher nur selten gegeben). Ein Buch ist etwas Abstraktes, die Starzen aber sind die Liebe, die nicht verallgemeinert, nicht analysiert und nkht theoretisiert. Die Starzen schreiben Briefe. Sie wenden sich stets an eine konkrete Person und schreiben aus einem konkreten Anlaß. Wer immer einem Starzen begegnet ist, weiß, wie bedeutsam diese Konkretbeit ist. Wenn wir die Briefe des 19umen Nikon nach 30 Jahren lesen, vermögen wir leider manches nicht mehr zu wür· digen, ich meine besonders das unsichtbare Geheimnis der wärmespendenden Liebe, welche die direkte Begeg· nung kennzeichnet. leh kann sagen, daß es keine tiefere, echtere und heilw samere Beziehung gibt als diejenige zwischen dem Starzen und seinem Schüler. Namentlich ist diese Beziehung; un11littelbar, sie vollzieht sich "von Angesicht zu Angesicht". Die HeiUgkeit hat keine Vermittler; deshalb ist sie auch in einer Welt, wo die Erfahrung durch Fernse· hen und Video ersetzt wird, so rar geworden. Der Starez ist voll und gegenwärtig, hier und jetzt, und er liebt so, daß er ganz Auge und ganz Ohr wird und sich vollstän· dig in den Andern hineinversetzt. Von daher auch die Scharfsinnigkeit des Starzen, der in Gesichtern liest wie in Büchern. Ein großes Glück ist es, einen solchen Lenker zu haben: der Starze kann Dir aUes sagen, ohne Dich zu beleidigen oder zu verletzen. Die Starzen schreiben gerade deshalb keine Bücher, weil sie so großartige JYadagogen sind. Ihre Antwort ist stets die einzig mögliche, die absolut genaue und nOt· wendige. Ich habe selbst gesehen, wie russische Starzenseien sie nun gebildet oder halbe Analphabeten - niemals die Fassung verlieren, weder vor dem zeitgenössischen, intellektuellen Neophyten noch vor dem einfachen Mütterchen noch vor dem Yogi, auch nicht vor dem gottsuchenden Gelehrten oder vor dem Atheisten. Niemand verläßt die Zelle des Starzen ohne Trost, ohne Vollendung: die ÄngstUchen fassen Mut, die Stolzen erwerben Sanftmut und die Prahler werden st ill - der Hl. Geist, der Tröster, schafft in ihnen aUen Harmonie und Frieden. Bisweilen sammeln sich vor der Zelle eines Starzen Menschen, die sich um die herauskommenden Besucher drängen, um sie, die von der Gnade der Begegnung Getroffenen, zu sehen, ja zu berühren. Die Starzen sind rradagogen, mehr noch: sie wissen, daß jeder Mensch zur Vergötdichung aufgerufen ist.