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HUSSERLIANA
EDMUND HUSSERL
MATERIALIEN
BAND IX
ULLRICH MELLE
EDMUND HUSSERL
HERAUSGEGEBEN VON
HANNE JACOBS
Editor
Hanne Jacobs
Department of Philosophy
Loyola University
Chicago IL, USA
ANHANG
Aus den Vorlesungen „Einleitung in die Philosophie“ von 1916 und 1918
Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Erkenntnistheorie und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Berkeley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
Nachweis der Originalseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
EINLEITUNG DER HERAUSGEBERIN
1 Husserl hielt diese Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags jeweils von 17–18
Uhr. Die erste Vorlesung wurde am Montag, den 22. September 1919, gehalten. Die Vorlesung
wurde von etwa 300 Studenten gehört. Vgl. Karl Schuhmann: Husserl-Chronik. Denk- und
Lebensweg Edmund Husserls, Husserliana Dokumente i, Den Haag 1977, S. 236 (im Folgenden
zitiert als Husserl-Chronik).
2 Auch diese Vorlesung war vierstündig, und Husserl trug montags, dienstags, donnerstags und
freitags jeweils von 17–18 Uhr vor. Die erste Vorlesung wurde, wie Husserl auf f i 40/8a (unten
S. 1, Z. 4–22) vermerkt hat, am Dienstag, den 2. Mai 1916, gehalten. Vgl. Husserl-Chronik, S. 200
und unten Fußnote 3, S. ix.
3 Diese Vorlesung war ebenfalls vierstündig und Husserl trug wiederum montags, dienstags,
donnerstags und freitags jeweils von 17–18 Uhr vor. Die erste Kollegstunde fiel, wie Gerda
Walther in ihrer Nachschrift der Vorlesung angibt, auf Montag, den 29. April 1918. Vgl. Husserl-
Chronik, S. 225. Die letzte Kollegstunde, für die Walther eine Mitschrift angefertigt hat, hielt
Husserl am Freitag, den 26. Juli 1918. Die Nachschriften von Gerda Walther sind unter der
Signatur n i 15 im Husserl-Archiv Leuven archiviert; sie haben einen Umfang von 257 Seiten.
Es gibt verschiedene Hinweise, dass die Vorlesung von 1918 eine überarbeitete Wieder-
holung der Vorlesung von 1916 war. Husserl betrachtete die Einleitungen von 1916 und 1918
offenbar als eine Einheit. So vermerkt er z. B. auf dem Umschlag der Vorlesung von 1919/20:
„Das erste Stück stammt aus den Vorlesungen über Einleitung 1916 und 1918“ (f i 40/8a).
Auf dem Gesamtumschlag (f i 42/1 + 207), in den Husserl das erste Stück der Vorlesung von
1916 eingelegt hat, verweist er auch auf die beiden Vorlesungen: „Bruchstücke von Kant-
vorlesungen (Hume) und verschiedene Einleitungen in die Philosophie. Freiburg. Hume,
Descartes, Leibniz“. Auf dem Umschlag des Vorlesungsstückes selbst wird nur die Vorlesung
von 1916 angegeben: „Einleitung in die Philosophie im ersten Freiburger Sommersemester
1916“ (f i 42/112a). Husserl hat außerdem auf dem Umschlag des zweiten Vorlesungsstückes
folgendermaßen auf die beiden Vorlesungen verwiesen: „Stück der ersten Freiburger Einleitung
in die Philosophie Sommersemester 1916 (und 1918)“ (f i 30/1a). Dass es sich bei der
1918 gehaltenen Vorlesung wahrscheinlich um eine Wiederholung der Vorlesung von 1916
handelt, kann auch dem Schreiben an Winthrop Bell vom 13.xii.1922 entnommen werden: „Ich
lese, hier in Freiburg zum 4ten Male, ‚Einleitung in die Philosophie‘ und zum 3ten Male in
völlig neuer Gestalt.“ (Edmund Husserl: Briefwechsel, Husserliana Dokumente, in Verbindung
mit Elisabeth Schuhmann hrsg. v. Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, III, S. 43;
im Folgenden zitiert als Briefwechsel mit Bandnummer und Seitenzahl). Es geht hier um
viii einleitung der herausgeberin
des Vorlesungsmanuskriptes von 1916 und 1918, den Husserl nicht für die
Vorlesung von 1919/20 benutzt hat und der teilweise im Nachlass vorhanden
ist, wird im vorliegenden Band als Anhang abgedruckt.1
Husserl, der zum Sommersemester 1916 zum ordentlichen Professor der
Philosophie an der Universität Freiburg ernannt worden war, hielt in diesem
und in den darauffolgenden Jahren vier Mal Vorlesungen unter dem Titel
„Einleitung in die Philosophie“.2 Da die letzte der Einleitungsvorlesungen,
die vom Wintersemester 1922/23, bereits veröffentlicht ist3 und die vorlie-
gende Edition die gesamte „Einleitung“ vom Wintersemester 1919/20 sowie
die restlichen, zu den Einleitungsvorlesungen der Sommersemester 1916 und
1918 gehörigen Manuskripte enthält, sind Husserls Freiburger Einleitungen
in die Philosophie nun vollständig in der Husserliana veröffentlicht. Obgleich
Husserl seine Vorlesung von 1922/23 mit fast denselben Worten wie seine
anderen Freiburger Einleitungen beginnt,4 das Problemfeld der Philosophie
in gleicher Weise wie 1919 absteckt und wiederum für die Notwendigkeit
einer Bewusstseinslehre als Teil einer allgemeinen Wissenschaftslehre argu-
mentiert, hat die Einleitung von 1922/23 einen ganz anderen Charakter als
die Einleitungsvorlesungen von 1916, 1918 und 1919/20.5
Auch die Einleitung von 1919/20 ist keine bloße Wiederholung der zwei äl-
teren Vorlesungen; Husserl betrachtete sie geradezu als eine „völlig
neue“ Einleitung.6 Dass Husserl die Periode der Abfassung der Einleitungs-
vorlesung von 1919/20 als eine besonders fruchtbare Zeit empfunden hat,
wird in einem Brief an Winthrop Bell vom 11. viii. 1920 deutlich, in dem
die „Einleitung“ von 1922/23 (Edmund Husserl, Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen
1922/23, hrsg. von Berndt Goossens, Husserliana xxxv, Dordrecht 2002; im Folgenden zitiert
als Husserliana xxxv); diese Vorlesung stellt im Vergleich mit der Einleitungsvorlesung von
1919/20 und der Vorlesung, die Husserl 1916 gehalten und 1918 wahrscheinlich wiederholt hat,
eine ganz neue Vorlesung dar.
1 Es ist wahrscheinlich, dass Husserl diese Bruchstücke später für andere Vorlesungen benutzt
führung in die Philosophie kämpft mit Schwierigkeiten, wie sie die Einführung in keine an-
dere Wissenschaft kennt.“ (unten S. 1). 1922 lautet der erste Satz: „Eine Einführung in die
Philosophie kämpft mit Schwierigkeiten, welche die Einführung in die sogenannten positiven
Wissenschaften, die man der Philosophie gegenüberzustellen pflegt, nicht kennt.“ (Husserliana
xxxv, S. 3).
5 Vgl. Husserliana xxxv, S. xv–xviii.
6 So schreibt Husserl am 12.iii.1920 an Roman Ingarden: „Ich las eine völlig neue ‚Einlei-
Husserl schreibt: „Ich lebte ganz der Lehrthätigkeit und hielt 3 Semester1
nacheinander neue 4stündige Vorlesungen, die für mich selbst viel Frucht
einbrachten. Ich war in guter ‚Form‘, ja ich stehe wieder, und eigentlich schon
seit 3 Jahren, in einer Periode neuen, mächtig fortschreitenden Werdens; es
ist als ob sich meine Lebenssehnsucht, die nach einer aus principiellen Ein-
sichten gefestigten, nach allen systematischen Hauptlinien vorgezeichneten
Philosophie erfüllen soll.“2
Ein Vergleich des von Husserl zusammengestellten Vorlesungstextes der
„Einleitung in die Philosophie“ von 1919/20 mit den Nachschriften, die
Gerda Walther im Sommersemester 1918 von der gleichnamigen Vorle-
sung gemacht hat, zeigt, dass der Anfang der Vorlesung von 1919/20 (f i
40/8a–f i 40/91b; S. 1, Z. 1–S. 88, Z. 4) und der Anfang der Vorlesung
von 1918 (n i 15/1–51) zu großen Teilen übereinstimmen.3 In diesen Vor-
lesungen thematisiert Husserl die eigentümliche Problemsphäre der Philo-
sophie im Vergleich zu anderen Wissenschaften, die Entstehung der grie-
chischen Philosophie in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft, Sokrates’ Re-
aktion gegen die Sophisten (Gorgias und Protagoras), sowie Platons Ide-
enlehre. In der geschichtlich orientierten Herausarbeitung der Entdeckung
des Apriori bei Platon beschreitet Husserl in der Vorlesung 1919/20, wie
er einige Jahre später anmerkt, den Weg in die transzendentale Phäno-
menologie durch die Ontologie,4 und zeigt, wie die formale und materiale
Ontologie und die formale Logik der Sätze ihre Vervollkommnung in ei-
ner apriorischen Erkenntnistheorie bekommen (unten S. 65, Z. 33–S. 86,
Z. 14).
1 Im Sommersemester 1919 liest Husserl „Natur und Geist“ und im Sommersemester 1920
„Einleitung in die Ethik“. Die Vorlesung von 1920 ist veröffentlicht in Edmund Husserl, Ein-
leitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, hrsg. von Henning Peucker,
Husserliana xxxvii, Dordrecht, 2004 (im Folgenden zitiert als Husserliana xxxvii); die Vorlesung
von 1919 ist veröffentlicht in Edmund Husserl, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester
1919, hrsg. von Michael Weiler, Husserliana Materialien iv, Dordrecht, 2001.
2 Briefwechsel, iii, S. 14.
3 Vgl. auch Husserl-Chronik, S. 236. Auf dem Umschlag der Vorlesung von 1919/1920 (f i
40/1a) hat Husserl mit Blaustift geschrieben „Das erste Stück stammt aus den Vorlesungen
über Einleitung 1916 und 1918“. Auf der Seite f i 40/4a, wo Husserl eine zweite Inhaltsangabe
niedergeschrieben hat, steht oben mit Tinte geschrieben: „Anfang aus der ersten Freiburger
Einleitung in die Philosophie“. f i 40/8a trägt die Aufschrift: „In Freiburg die erste Vorlesung.
2.V.1916. Einleitung in die Philosophie“.
4 So schreibt Husserl in einem Manuskript aus dem Jahre 1923: „Weg in die transzendentale
Phänomenologie als die absolute, alle Relativitäten überwindende Ontologie, im Ausgang von
den positiven Ontologien und der universalen positiven Ontologie (Weg der Vorlesungen von
x einleitung der herausgeberin
In der Vorlesung von 1919/20 sind wahrscheinlich folgende Teile ganz neu
ausgearbeitet: der Abschnitt über Aristoteles (S. 91, Z. 7–S. 104, Z. 24), die
Reflexionen über teleologische Welterklärung in ihrer Relation zur Natur-
wissenschaft, in denen Husserl auch die Relation zwischen dem Bewusstsein
einer „bloßen“ Natur und den Akten des Gemüts und Willens beschreibt
(unten S. 104, Z. 26–S. 118, Z. 29), sowie der sich daran anschließende Exkurs
über apriorische Wertelehre und Ethik (unten S. 118, Z. 31–S. 181, Z. 11).
Bei einer späteren Durchsicht und Überarbeitung des Manuskriptes der
Vorlesung von 1919/20 verweist Husserl auf seine Einleitung in die Ethik,
die er im Sommersemester 1920 gehalten und später, im Sommersemester
1924, wiederholt hat (unten S. 153, Anm. 1).1
Wie die vorliegende Edition des restlichen Teiles des Vorlesungsmanu-
skriptes von 1916 und 1918 zeigt, sind die Überlegungen Husserls in diesem
Teil der Vorlesung überwiegend an der Entwicklung bestimmter philoso-
phischer Ideen in der Geschichte der modernen Philosophie orientiert, z. B.
an der Entwicklung der Idee einer apriorischen Erkenntnistheorie und des
sogenannten Transzendenzproblems.2 Diese historisch orientierten Ausfüh-
rungen setzen den Gang des Anfangs der Vorlesung von 1919/20, den Husserl
aus der älteren Vorlesung übernommen hat, fort.
Husserl hat sich in diesen Jahren auch in anderen Vorlesungen mit der
Geschichte der Philosophie auseinandergesetzt. So hat Husserl im Som-
mersemester 19153 und im Wintersemester 1916/1917 über „Allgemeine Ge-
schichte der Philosophie“,4 im Sommersemester 1917 über „Kants Transzen-
dentalphilosophie“5 und im Wintersemester 1918/19 über „Geschichte der
1919/20)“, Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänome-
nologischen Reduktion, hrsg. von Rudolf Boehm, Husserliana viii, Den Haag 1959, S. 219. Vgl.
auch S. 225.
1 Vgl. Husserliana xxxvii. Husserl hat in der Ethik-Vorlesung von 1920 auch auf die Vorlesung
vom Sommersemester 1918 geschrieben: „Ich fand meine Einleitung in die Philosophie
hinsichtlich der ideengeschichtlichen Entwicklung des Ideals strenger Wissenschaft aus den
methodologischen Conceptionen Platons nicht klar genug u. musste eine Vorlesungsreihe
neu ausarbeiten. (Es handelt sich dabei auch um die Urmotive der Vernunftkritik bezogen auf
Gorgias’ 2. Argument, dann auf Descartes’ Feld der reinen cogitatio – im Contrast zur antiken
Entwicklung, die logisch-wissenschaftstheoretisch u. ontologisch lief, für die Neuzeit aber die
bleibende Frucht der exakten Wissenschaften brachte).“, Briefwechsel, iv, S. 130 f. Vgl. auch
Husserliana xxxv, S. xvi.
3 Vgl. Husserl-Chronik, S. 194.
4 Vgl. Husserl-Chronik, S. 204.
5 Vgl. Husserl-Chronik, S. 209.
einleitung der herausgeberin xi
Philosophie von den ersten Anfängen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts“1
gelesen. Vom 4. Februar bis zum 16. April 1919, während des Kriegsnotse-
mesters,2 hielt er eine Vorlesung über „Geschichte der neueren Philosophie
von Descartes bis Kant“.3 Im Sommersemester 19214 und 19225 sowie im
Sommersemester 19266 hielt Husserl eine Vorlesung über die „Geschichte
der neueren Philosophie“. Auch der erste Teil der Vorlesung „Erste Philo-
sophie“ von 1923/24 behandelt die Geschichte der Philosophie.7
Wenn man die im Nachlass vorliegenden Manuskriptblätter, die Husserl
als Unterlagen für die Einleitungen von 1916 und 1918 gekennzeichnet
hat,8 mit Gerda Walthers Nachschrift von 1918 vergleicht, wird deutlich,
dass das Manuskript, das im vorliegenden Band als Anhang abgedruckt ist,
ausführlicher und umfassender ist als das, was wir in der Nachschrift von
Walther vorfinden. Während die Behandlung von Descartes und Locke im
Manuskript Parallelen mit der Nachschrift von Walther zeigt, finden wir in
der Nachschrift keine Behandlung von Berkeley, Hume, Spinoza, Leibniz
und Kant.
Da sich im Nachlass keine Nachschrift der Vorlesung von 1916 befindet
und die Nachschrift von Gerda Walther von der Vorlesung von 1918 nur teil-
weise mit den von Husserl dieser Vorlesung zugeschriebenen Manuskripten
übereinstimmt, ist es nicht völlig gesichert, dass alle im vorliegenden Band
im Anhang veröffentlichten Texte tatsächlich aus den Vorlesungen von 1916
und 1918 stammen.9 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Husserl den Text, wie
Husserliana vii, hrsg. v. R. Boehm, Den Haag 1956 (im Folgenden zitiert als Husserliana vii).
8 Siehe oben S. ix, Fußnote 3.
9 Eine Datumsangabe im Manuskript („26.6.“ auf der Seite f i 42/186a; S. 370, Z. 11–35) spricht
für eine Datierung auf das Jahr 1916. Der Text dieser Seite befindet sich auf der Rückseite eines
Briefes des Ministeriums des Kultus und Unterrichts, der aus dem Juni 1916 stammt (f i 42/187b
und f i 42/186b). Inhaltlich verweist dieses Vorlesungsstück auch auf Teile der Vorlesungen von
1916 und 1918, die in die Vorlesung von 1919/20 aufgenommen sind. So verweist Husserl z. B.
auf den Abschnitt über Gorgias (S. 303 Fn. 2); Husserl behandelte Gorgias am Anfang der
Vorlesung (S. 12 ff.) und, wie wir der Nachschrift von Walther entnehmen können, auch im Jahr
1918 (n i 15/14 ff.).
xii einleitung der herausgeberin
er jetzt vorliegt, später zusammengestellt1 oder paginiert hat2 und als Unter-
lage für andere Vorlesungen über die Geschichte der modernen Philosophie
benutzt hat. Dies könnte beispielsweise für das Kriegsnotsemester von 19193
oder für die Sommersemester 1921, 1922 und 1926, als Husserl die Vorle-
sung „Geschichte der neueren Philosophie“ gehalten hat,4 der Fall gewesen
sein.
*
Das Manuskript der Vorlesung von 1919/20 befindet sich in dem Konvolut
f i 40. Der Text ist in gabelsbergerscher Stenographie mit schwarzer Tinte
geschrieben; die Blätter sind größtenteils in der Mitte gefaltet. Der Text
ist zusammengestellt aus Blättern, die aus den Vorlesungen von 1916 und
1918 stammen, und 1919/20 geschriebenen Blättern. Husserl hat den Text
mehrmals durchgesehen5 und überarbeitet; darauf deuten seine wohl zu
verschiedenen Zeiten entstandenen Unterstreichungen, Streichungen, Ver-
änderungen, Hinzufügungen und Randbemerkungen mit unterschiedlichen
Schreibmaterialien (schwarzer Tinte, Bleistift, Blaustift und Rotstift).
1 Der erste Teil des Vorlesungsbruchstücks liegt in einem Umschlag vom 29. März 1921 (f i
42/112 + 205) und der zweite Teil in einem Umschlag datierend vom 24. November 1919 (f i
30/1 + 78). Vgl. die Manuskriptbeschreibung unten S. xviii ff.
2 Die Paginierung ist nicht durchlaufend. So hat Husserl mit einer Paginierung von „1“
bis „43“ begonnen (f i 42/114–155) und diese dann auf Seite f i 42/155a mit einer zweiten
Paginierung von „301“ bis „421“ fortgesetzt (f i 42/155–204; S. 333, Z. 17–S. 388, Z. 10 und f i
30/2–77; S. 388, Z. 11–S. 477, Z. 8).
3 Auf einem Umschlag im Konvolut f i 42, in den Husserl auch das erste der Bruchstücke
der Vorlesung 1916 und 1918 eingelegt hat, notiert er mit Bleistift: „Abfälle aus ‚Einleitung‘
in die Philosophie. Vorlesungen 1916–1919“. Er verweist hier wahrscheinlich, neben der
Vorlesung von 1916 und 1918, auf die Vorlesung des Kriegsnotsemesters von 1919. Vgl. die
Manuskriptbeschreibung unten S. xviii ff.
4 Dass Husserl die Manuskriptunterlagen für die Vorlesungsreihe „Geschichte der neueren
Philosophie“ benutzt und überarbeitet hat, ist möglich, da er auf dem Gesamtumschlag des
Konvoluts f i 41 mit Blaustift schrieb: „Anfangsstück des ii. Teils der ‚Einleitung‘ 1916. Ra-
tionalismus und Empirismus. Vgl. die neue Einleitung zur Geschichte der neueren Philosophie
(Vorlesungen)“. Es könnte also sein, dass Husserl hier auf den Text verweist, welcher im Anhang
des vorliegenden Bandes abgedruckt wird (S. 288–S. 477) und der von Husserl in den Konvoluten
f i 42 und f i 30 hinterlegt wurde, nachdem er das Anfangsstück dieses zweiten Teils überarbeitet
hat. Der Umschlag von f i 41 ist ein Dokument vom 6. November 1919 (vgl. Husserl-Chronik,
S. 237).
5 Husserl hat die Vorlesung offenbar 1924 und 1925 erneut durchgesehen. Dafür gibt es zwei
Indizien. 1) 1924 hat er eine „Note zu den Ausführungen des Einleitungskollegs Winterse-
mester 1919/20. Seite 228 ff. = S. 271 ff.“ geschrieben, die in b iv 6/48–73 zu finden ist.
Die Blätter 48–73 liegen in einem Umschlag (b iv 6/47 + 74), auf den Husserl mit Blau- und
Bleistift geschrieben hat: „Ad 1919/20“, darunter mit Tinte „Analyse zu der Herausstellung
des Widersinnes des transzendentalen Realismus“ und mit Blaustift „1924“. Die Blätter 48–59
einleitung der herausgeberin xiii
Das Konvolut f i 40 besteht aus 277 Blättern. Husserl hat die Blätter der
Vorlesung in einen Umschlag gelegt, der aus einem braunen Briefumschlag
einer an ihn gerichteten Drucksache der Buchdruckerei des Waisenhauses
mit Poststempel vom 07.03.1922 besteht. Die zweite Hälfte des Umschlages
(Blatt f i 40/277) ist unbeschrieben. Die Vorderseite der ersten Hälfte des
Umschlages (f i 40/1a) trägt die Blaustiftaufschrift: „Wintersemester
1919/20. Vorlesungen über Einleitung in die Philosophie. Systematisch. Das
erste Stück stammt aus den Vorlesungen über Einleitung 1916 und 1918.“
Rechts oben auf dieser Vorderseite hat Husserl mit schwarzer Tinte eine
grobe Inhaltsangabe (mit Angabe der Blattnummern) geschrieben: „Über-
gang zur Phänomenologie: von der Frage der Möglichkeit einer teleologi-
schen Weltanschauung (also einer Metaphysik) und von Bl. 165 = S. 196,
Z. 23–S. 197, Z. 30 ab Unterschied von Natürlichem und dem Geistigen
(verstehenden Erklärens). Schon Bl. 168 = S. 200, Z. 12–S. 201, Z. 19,
der Hauptsache nach von Bl. 171 = S. 204, Z. 1–S. 205, Z. 1 ab. Verste-
hende Erklärung vgl. besonders Bl. 171 ff. = S. 204, Z. 1 ff..“ Darunter
findet sich der mit Bleistift geschriebene Hinweis: „Metaphysik und teleo-
logische Weltanschauung Bl. 158 = S. 188, Z. 38–S. 190, Z. 3.“ Auf der
unteren Hälfte der Vorderseite finden sich folgende mit schwarzer Tinte
geschriebene und auf die jeweiligen Blattnummern bezogenen Aufschriften:
„ ‚Philosophie‘ Bl. 180 = S. 213, Z. 39–S. 215, Z. 16. Rationalismus und
Empirismus, Positivismus Bl. 191–199 = S. 226, Z. 30–S. 236, Z. 4. Positiv
erklärende Naturwissenschaften gegenüber den antiken teleologischen.
Dann Phänomenologie. Rückgang zur Idee der Wissenschaftslehre und zu
dem Aufbau der ontologischen Disziplinen Bl. 222 = S. 263, Z. 13–S. 264,
Z. 7. Ausgezeichnete Stellung der transzendentalen Phänomenologie Bl.
225 = S. 268, Z. 4–S. 269, Z. 4.“ Darunter schrieb Husserl mit schwarzer
Tinte: „Formale Ontologie“ und daneben mit Bleistift: „Bl. 43 ff. = S. 55,
Z. 17 ff.“. Darunter mit Blaustift „Formenlehre der Sätze“ und mit Bleistift
„Bl. 62 = S. 76, Z. 32–S. 78, Z. 2“ und darunter mit schwarzer Tinte:
„Reale Ontologie Bl. 74 = S. 91, Z. 7–S. 92, Z. 2. Formale Axiologie
sind veröffentlicht in Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil:
1921–1928, Husserliana xiv, hrsg. v. Iso Kern, Den Haag 1973, S. 341–356 als Text Nr. 17. Die
Blätter 61–68 sind veröffentlicht in Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana
xxxvii, hrsg. v. Robin Rollinger in Verbindung mit Rochus Sowa, Dordrecht 2003, S. 174–182
als Text Nr. 10. – 2) Die Blätter f i 40/228–232 (Fußnote 1, S. 236–S. 239), die Husserl später in
die Vorlesung eingeschoben und f i 40/233a zugeordnet hat (S. 235, Z. 16–S. 236, Z. 4), können
mit Sicherheit auf 1925 datiert werden, da das letzte Blatt ein Schreiben der Oberrheinischen
Automobil-Gesellschaft von Januar 1925 ist. Husserl hat die Vorlesung also auch 1925 noch
einmal zur Hand genommen und zumindest teilweise gelesen.
xiv einleitung der herausgeberin
1 So ist zum Beispiel das auf 1916 datierte Blatt f i 40/8 (S. 3) nicht liniert. Andererseits ist
der Abschnitt über Ethik teils auch auf nicht liniertem Papier geschrieben, und dieser ist nicht
1916 und 1918 vorgetragen worden.
2 Es handelt sich um K. Groos, „Untersuchungen über den Aufbau der Systeme“, Zeitschrift
für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abteilung. Zeitschrift für Psychologie, 71.
Band, Leipzig 1915, S. 54–137.
xvi einleitung der herausgeberin
als „16a “ paginiert und wird, da der Text nahtlos anschließt, in den Haupttext
zwischen die mit „16“ und „17“ paginierten Blätter aufgenommen. Blatt f i
40/27 (S. 20, Fußnote 1) ist als Beiblatt „ad 172 “ gekennzeichnet; der Text
dieses Blattes wurde als Anmerkung zu Blatt f i 40/26 (S. 20, Z. 31–S.21, Z. 9)
aufgenommen, wo Husserl auf dieses Beiblatt als „Beilage“ verweist. Blatt
f i 40/28 (S. 21, Z. 9–S. 22, Z. 29) hat Husserl als „17b “ bezeichnet; es wurde,
da sein Text an den des vorangehenden Blattes anschließt, in den Haupttext
nach dem mit „17“ paginierten Blatt aufgenommen. Auf dieses eingefügte
Blatt schrieb Husserl mit Bleistift: „Cf. die neue Vorlesung“. Diese neue
Vorlesung fängt wahrscheinlich auf dem folgenden Blatt f i 40/29 (S. 22,
Z. 29–S. 23, Z. 37) an, da es nicht paginiert ist und Husserl rechts oben mit
Bleistift „Recapitulation“ geschrieben hat. Die Paginierung geht auf Blatt
f i 40/30 (S. 23, Z. 9–S. 31, Z. 8) mit „18“ weiter. Blatt f i 40/32 (S. 26,
Z. 17–S. 27, Z. 20) ist nicht paginiert, der Text schließt jedoch an den Text
des Blattes f i 40/31 (S. 25, Z. 8–S. 26, Z. 17), das mit „19“ paginiert ist, an
und läuft weiter auf Blatt f i 40/33 (S. 27, Z. 21–39), paginiert mit „20“.
Die Blätter f i 40/36 (S. 30, Z. 9–S. 31, Z. 8) und 37 (S. 31, Z. 8–S. 32, Z. 35)
hat Husserl mit „22a “ und „22b “ paginiert. Auf Seite f i 40/35b (S. 29, Z. 25–
S. 30, Z. 8) hat Husserl unten rechts am Rand mit Bleistift angemerkt: „Den
Übergang zur nächsten Vorlesung neu ausarbeiten“. Auf Seite f i 40/36a
(S. 30, Z. 9–31) hat er am Rand mit Blaustift geschrieben: „Vgl. nächste
Vorlesung. Eingeklammertes über Gorgias’ und Protagoras’ Wirkung auf
Platon. Dieses Blatt gelesen, aber wertlos. Vgl. nächste Vorlesung“. Seite f i
40/37a trägt einen ähnlichen Vermerk: „Wertlos. Vgl. nächste Vorlesung“.
Diese neue Vorlesung fängt wohl auf Blatt f i 40/38 (S. 33, Z. 1) an und ist
mit Bleistift mit „23“ paginiert.
Blatt f i 40/41 ist nicht paginiert und ist teilweise gestrichen. Der gestri-
chene Text dieses Blattes schließt an einen gestrichenen Absatz auf Seite f i
40/45b an; der nicht gestrichene Text bricht nach einem Absatz auf Seite 41b
ab; dieses Textstück wurde als Fußnote in den Editionstext aufgenommen
(S. 39, Fußnote 2). Blatt f i 40/46 (S. 41, Z. 1–29) ist als „29a“ gekennzeichnet;
es bildet den Anfang einer neuen Vorlesung und liegt zwischen den mit „29“
und „30“ paginierten Blättern. Blatt f i 40/53 ist von Husserl als „Beilage
zu 35“ gekennzeichnet und wurde als Anmerkung dem Editionstext des
Blattes f i 40/52 (S. 47, Fußnote 1) an der Stelle eingeordnet, an der Husserl
auf diese Beilage verweist. Blatt f i 40/59 kennzeichnete Husserl als „zu
40“ und paginierte es dann auch als „41“; der Text dieses Blattes ist unten
in den laufenden Text aufgenommen (S. 53, Z. 12–S. 54, Z. 25), weil der
Text der Seite 59b an den Text der Seite 60a anschließt. Blatt f i 40/66 hat
einleitung der herausgeberin xvii
Husserl als „ad 48“ gekennzeichnet; es wurde in die Fußnoten des zu Blatt
65 (paginiert mit „48“), gehörigen Textes aufgenommen (S. 61, Fußnote 2).
Blatt f i 40/69 (S. 62, Z. 28–S. 63, Z. 13) ist mit „49a “ paginiert; sein Text ist
in den laufenden Editionstext aufgenommen und zwischen die Texte der mit
„49“ und „50“ paginierten Blätter eingefügt. Blatt f i 40/95 (S. 93, Fußnote 1)
ist ein halbiertes Blatt, das Husserl als „ad 75“ gekennzeichnet hat; sein Text
wurde als eine Fußnote dem Text des Blattes „75“ zugeordnet.
Das rückseitig mit Vorlesungstext beschriebene Blatt f i 40/103 (S. 100,
Z. 36–S. 101, Z. 10) ist ein von Husserl ausgefülltes Zeugnisformular der
philosophischen Fakultät Freiburg „zur Vollendung der Strassburger Dok-
torprüfung des Kandidaten Ludwig Lampert“ vom 6. November 1919. Blatt
f i 40/107 ist mit Rotstift als Blatt „86“ paginiert; es wird im vorliegenden
Band nicht abgedruckt. Dieses Blatt ist weniger als ein Viertel eines norma-
len Blattes groß; auf der Vorderseite (f i 40/107a) hat Husserl die folgende
Angabe niedergeschrieben: „Naturwissenschaftliche – teleologische (natura-
listische – geistige) Welterklärung. Bl. 86–152 = S. 104, Z. 29–S. 181, Z. 11
wird nicht davon, sondern vom System der formalen Disziplinen gehandelt.
Rekapitulation Bl. 152 = S. 181, Z. 13–31 zu lesen. Da wird nachträg-
lich erst die richtige Scheidung zwischen Natur und Geist herangebracht“.
Auf der Rückseite hat Husserl mit Tinte angemerkt: „Also eigentlich der
nachträgliche Versuch, in den Gedankengang Ordnung hineinzubringen“.
Die Blätter f i 40/125 und 126, paginiert als „1031 “ und „1032 “, wurden
in den laufenden Text zwischen die Blätter „102“ und „104“ eingefügt
(S. 125, Z. 4–S. 127, Z. 14). Blatt f i 40/127 ist ein nicht paginiertes, mit
Bleistift beschriebenes Blatt; sein Text ist unten als Anmerkung zu Blatt 126
aufgenommen (S. 127, Fußnote 2). Die Blätter f i 40/144 und 145 sind von
Husserl nicht paginiert worden; der Text dieser Blätter wurde, da er sich nicht
in den fortlaufenden Vorlesungstext einfügen ließ, in die Fußnoten zu Blatt
143 aufgenommen (S. 146, Fußnote 1). Blatt f i 40/148 wurde von Husserl als
Beilage bezeichnet; er war aber selbst unschlüssig, ob es als Beilage dem als
„123“ paginierten Blatt oder dem mit „130“ paginierten Blatt zugewiesen
werden sollte; im vorliegenden Band findet sich der Text als Fußnote zu dem
Text des als „130“ paginierten Blattes f i 40/156 (S. 256, Fußnote 1). Blatt
f i 40/153 wurde, Husserls Zuweisung folgend, dem mit „126“ paginierten
Blatt 152 als Fußnote zugeordnet (S. 153, Fußnote 2). Auf Blatt f i 40/178,
das Husserl als „150a “ paginiert hat, hat er einen „Zusatz“ zu Blatt 177
geschrieben, der in die Fußnoten zu dem Text dieses Blattes aufgenommen
ist (S. 180, Fußnote 1). Blatt f i 40/183 ist ein nicht paginiertes Blatt; es findet
sich als Fußnote zu Blatt 182 abgedruckt (S. 184, Fußnote 1).
xviii einleitung der herausgeberin
Die fünf mit „1“ bis „5“ nummerierten Blätter f i 40/228–232, die mit
„Problematik des Rationalismus. Descartes – Spinoza“ überschrieben sind,
wurden von Husserl erst 19251 in die Vorlesung eingeschoben und mit dem
Vermerk „ad 199“ dem Blatt f i 40/233 zugewiesen; diese Blätter sind als
Fußnoten in den Editionstext aufgenommen (S. 236, Fußnote 1).
Blatt f i 40/258 hat Husserl als „Beilage ad 223b“ gekennzeichnet; sein
Text wurde an der von Husserl bezeichneten Stelle von Blatt 257 als Anmer-
kung eingefügt (S. 266, Fußnote 1). Blatt f i 40/268 hatte Husserl ursprünglich
mit „236“ paginiert, diese Paginierung aber später gestrichen und das Blatt
mit dem Vermerk versehen: „besser als Beilage zu 232“; dieses Blatt ist
unten als Beilage zu Blatt „232“ aufgenommen (S. 277, Fußnote 2). Es gibt
also kein als „236“ paginiertes Blatt mehr. Das als „237“ paginierte Blatt
f i 40/272 bildet wahrscheinlich den Anfang einer neuen Vorlesung (S. 281,
Z. 14).
Die Bruchstücke der Vorlesung von 1916 und 1918 wurden von Husserl
in die Konvolute f i 42 und f i 30 gelegt. Der Text dieser Bruchstücke ist
mit schwarzer Tinte geschrieben und weist Unterstreichungen, Streichun-
gen, Veränderungen, Hinzufügungen und Randbemerkungen mit schwar-
zer Tinte, Bleistift, Blaustift und Rotstift auf.2 Wie der Vorlesungstext im
Konvolut f i 40 ist auch dieser Text von Husserl nicht mit Überschriften
versehen oder nach Vorlesungen eingeteilt worden; die Einteilung und die
Überschriften im Drucktext des vorliegenden Bandes stammen von der
Herausgeberin; bei den Überschriften wurden wiederum Husserls Randtitel
berücksichtigt.
Das erste Bruchstück der Vorlesung befindet sich im Konvolut f i 42, dort
hat Husserl zusammengelegt: „Abfälle aus ‚Einleitung‘ in die Philosophie
Vorlesungen 1916–1919“ (f i 42/2a–21b)3 und „Kantvorlesung. Herausge-
nommene Bruchstücke“ (f i 42/41a) aus der Vorlesung „Kant und die nach-
kantische Philosophie“ vom Wintersemester 1905/064 und Wintersemester
1 Blatt „232“ ist ein Schreiben von Januar 1925; vgl. auch oben S. xii, Fußnote 5.
2 Wie schon oben erwähnt (vgl. S. xii), ist es wahrscheinlich, dass Husserl diese Manuskripte
nach der Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“ vom Sommersemester 1916 und 1918 auch
für andere Vorlesungen benützt hat.
3 Diese „Abfälle“ werden im vorliegenden Band nicht abgedruckt. Es handelt sich bei ihnen
um fragmentarische Stücke, die Husserl wahrscheinlich 1916 geschrieben hat und die er, als
er später (nach der Wiederholung in 1918) die Einleitung dieses zweites Teiles der Vorlesung
überarbeitet hat, weggelassen und neu ausgearbeitet hat (vgl. auch S. xii).
4 Husserl hielt diese Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags von 17–18 Uhr
für 38 Hörer. Die erste Vorlesungsstunde fällt auf den 26. Oktober 1905. Vgl. Husserl-Chronik,
S. 93. Auf Seite f i 42/75b findet sich die Datierung „6.xi.05“.
einleitung der herausgeberin xix
1907/08.1 Die „Abfälle“ hat Husserl wohl nach der Vorlesung von 1919/20
in dieses Konvolut gelegt; das wird dadurch nahegelegt, dass Husserl für
den Innenumschlag der Bruchstücke der Kantvorlesung (f i 42/41–111) ein
Schreiben von Franz Josef Brecht vom 3. Juli 1921 verwendet hat und der
Innenumschlag des ersten Bruchstückes der Vorlesung von 1916 und 1918
(f i 42/112–205) eine Todesanzeige vom 29. März 1921 ist. Auf diesen letzten
Umschlag hat Husserl mit Blaustift geschrieben: „Aus den Vorlesungen über
Einleitung in die Philosophie im ersten Freiburger Sommersemester
1916.“ Darunter gibt er folgende kurze Inhaltsangabe: „Bl. 3 = S. 290,
Z. 9–S. 291, Z. 18 Descartes Meditationes. Kritischer Realismus Bl.
16 = S. 304, Z. 35–S. 305, Z. 37. Bl. 37 = S. 328, Z. 5–S. 329, Z. 6
Locke – Hume, sensualistischer Psychologismus. Leibniz (kurz) konstruktiv-
regressive metaphysische Erkenntnistheorie“. Leibniz wird jedoch erst im
zweiten Bruchstück behandelt (f i 30/43a–70a; S. 435, Z. 4–S. 467, Z. 39).
Das zweite Manuskript, das Husserl der Vorlesung von 1916 und 1918 zu-
geordnet hat, liegt im Konvolut f i 30. Auf den Gesamtumschlag von f i 30 hat
Husserl mit Blaustift geschrieben: „Stück der ersten Freiburger Einleitung
in die Philosophie Sommersemester 1916 (und 1918). Leibniz Bl.
400–414b = S. 449, Z. 18–S. 467, Z. 39 = formale Ontologie und materiale
Ontologie. Bl. 414b = S. 468, Z. 1–Bl. 416 = S. 469, Z. 27 Kant (gut),
Bl. 416 ff. = S. 469, Z. 16 ff. Kritik Kants. Bl. 431 ff. Husserliana vii,
S. 395 ff. Schlussblick auf die nachkantische Philosophie“. Den letzten Teil
hat Husserl in das Konvolut b iv 10 hineingelegt; er ist als Beilage xxi in
Husserliana vii veröffentlicht.2
Das erste Bruchstück der Vorlesung von 1916 und 1918 ist mit Bleistift
durchgehend von „1“ bis „43“ paginiert (f i 42/114–155); mit Blatt f i 42/155
(S. 333, Z. 17) beginnt eine zweite Paginierung mit Bleistift, die von „301“
bis „347“ läuft (f i 42/155–204).3 Diese Paginierung setzt sich fort im zweiten
Bruchstück der Vorlesung von 1916 und 1918, das sich im Konvolut f i
30 befindet. f i 30/2–77 ist durchgehend mit Bleistift von „348“ bis „421“
paginiert. Die Paginierung geht aber von „422“ bis „433“ weiter auf den
bereits veröffentlichten Blättern, die sich im Konvolut b iv 10 befinden.
1 Husserl hielt die Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags jeweils von 17–
18 Uhr für 60 Hörer. Die erste Vorlesungsstunde wurde am 25. Oktober 1907 gehalten. Der
vorliegende Manuskripttext f i 42/53–110 ist durchgehend von „32“ bis „92“ paginiert (mit
Ausnahme von „44“ und „52“).
2 Husserliana vii, S. 395–408.
3 f i 42/156a ist doppelt paginiert als „44“ und „302“, das anschließende Blatt f i 42/157a als
„45“ und „303“. f i 42/158 ist paginiert als „46“; von f i 42/159 an wird die Paginierung mit
„304“ fortgesetzt.
xx einleitung der herausgeberin
Das erste Blatt des ersten Bruchstückes (f i 42/113) ist ein Blatt, das Hus-
serl aus dem Textzusammenhang genommen hat; der Paginierung folgend
(„47“) wurde dieses Blatt wieder in den Textzusammenhang eingeordnet
(S. 338, Z. 1–S. 339, Z. 6). Wie oben schon erwähnt, tragen die Seiten f i
42/162b (S. 343, Fußnote 2) und 186a (S. 370, Fußnote 2) jeweils eine Datie-
rung (5.6.1916 und 26.6.1916). Blatt f i 42/164 (S. 321, Z. 31–S. 322, Z. 9)
ist als „31“ paginiert, aber von Husserl verlegt worden; in der vorliegenden
Edition findet sich dieses Blatt wieder zwischen „30“ (f i 42/142; S. 320, Z.
28–S. 321, Z. 30) und „32“ (f i 42/144; S. 322, Z. 10–S. 323, Z. 23) eingeordnet.
Auf der Seite f i 42/187b findet sich ein Schreiben, das vom 13. Juni 1916
datiert. Die Blätter f i 42/197 und 198 (S. 351, Z. 13–S. 353, Z. 30), welche als
„214“ und „215“ paginiert sind, sind von Husserl ebenfalls verlegt worden;
sie finden sich im Drucktext dieser Edition wieder an ihrem richtigen Ort
zwischen den Blättern „213“ (f i 42/170) und „216“ (f i 42/171).
Das zweite Bruchstück der Vorlesung 1916 und 1918 umfasst 76 Blätter,
die mit Bleistift von „348“ bis „421“ paginiert sind; als Umschlag (f i
30/1 + 78) hat Husserl einen Brief von Max Küner benutzt, der vom 24.
November 1919 datiert. Wie oben erwähnt, liegen die Blätter, die Husserl
von „422“ bis „433“ paginiert hat, im Konvolut b iv 10. Das zuerst mit
„361“ paginierte Blatt f i 30/13 (S. 400, Fußnote 1) wurde von Husserl
später stark überarbeitet, nach Streichung der ursprünglichen Paginierung
mit dem Vermerk „zu 359, Ergänzung“ versehen und nach dem Blatt f i 30/14
(paginiert mit „359“; S. 401, Z. 3–S. 402, Z. 2) eingeordnet; daher folgt im
Konvolut f i 30 auf das mit „360“ paginierte Blatt f i 30/15 (S. 402, Z. 3–S. 403,
Z. 10) direkt das mit „362“ paginierte Blatt f i 30/16 (S. 403, Z. 10–S. 404,
Z. 8). Blatt f i 30/18 (S. 405, Z. 11–S. 406, Z. 15) ist als „363a “ dem Blatt f i
30/17 (S. 404, Z. 8–S. 405, Z. 11) zugeordnet, das Husserl mit „363“ paginiert
hat. Das Blatt f i 30/47 ist von Husserl nicht paginiert worden; es kommt in
der vorliegenden Edition in den Fußnoten zum Abdruck (S. 439, Fußnote 1).
*
Der im vorliegenden Band abgedruckte Text der Vorlesung von 1919/20
sowie der Text des Bruchstückes der Vorlesung von 1916 (und 1918) werden
letzter Hand ediert; jedoch werden inhaltlich bedeutsame Stellen, die Hus-
serls gestrichen hat, als Fußnoten abgedruckt. Neben Husserls Randbemer-
kungen werden auch die von Husserl am Rand angebrachten kommentieren-
den Zeichen, insbesondere Nullen und Fragezeichen, dem Drucktext zuge-
ordnet und als Fußnoten wiedergegeben. Die zahlreichen Unterstreichungen
Husserls wurden nur in den Fällen berücksichtigt und durch Sperrdruck
einleitung der herausgeberin xxi
*
Zum Schluss einige Worte des Dankes. Zunächst möchte ich dem Direktor
des Husserl-Archivs Leuven, Professor Dr. Ullrich Melle, sowie dem ehema-
ligen Direktor, Professor Dr. Rudolf Bernet, für das Vertrauen danken, das
sie in mich gesetzt haben, als sie mich mit dieser Edition beauftragten. Ferner
möchte ich Professor Melle, Dr. Rochus Sowa und Dr. Thomas Vongehr für
ihre zahlreichen Ratschläge, für das Lösen letzter Transkriptionsrätsel und
für ihre Korrekturarbeit an verschiedenen Versionen des Textes danken. Im
Besonderen möchte ich aber Dr. Rochus Sowa danken, der den gesamten
Editionstext abschließend korrekturgelesen, die Zeichensetzung besorgt so-
wie diese Einleitung grammatikalisch und stilistisch überarbeitet hat.
brairie J.-B. Ballière et Fils, Paris 1877, tome premier 1830 ff. – S. 42.
die eigentümliche problemsphäre der philosophie 5
Ich sagte in der ersten Vorlesung, dass mit dem Erwachen eines rein
theoretischen, sich mit eigenen Kulturleistungen verselbständigenden In-
teresses eine neue Epoche in der Menschheitsentwicklung beginnt. Ge-
nauer bezeichnet: Ein reines Wahrheitsstreben erwacht, das kein anderes
Motiv kennt als die reine Freude am Besitz der Wahrheit aus einsichtiger
8 einleitung in die philosophie
Ziel. Am Anfang gibt es natürlich keine Skrupel und Zweifel, welche die
im rein theoretischen Trieb eo ipso liegende Absolutheit hemmen könnten.
Ferner: In seiner universalistischen Allgemeinheit nicht differenziert, ist
das theoretische Streben natürlich noch nicht mit dem Bewusstsein einer
Mannigfaltigkeit, ja vielleicht Unendlichkeit im Universum beschlossener
Erkenntnisgebiete, als Gebiete eigener theoretischer Interessen, verbunden.
Nennen wir „Philosophie“ eine allgemeine, von der Idee absoluter Erkennt-
nis geleitete Wissenschaft, so können wir also sagen: Wissenschaft überhaupt
fängt an als Philosophie.
Wie kommt es nun zur Entwicklung der mannigfaltigen Wissenschaf-
ten und wie zur Entwicklung philosophischer Disziplinen, und insbeson-
dere philosophischer in einem spezifischen Sinne, der sie scharf von nicht-
philosophischen unterscheidet? Die Frage werden Sie als historische, als
Frage der wirklich vergangenen Entwicklungen verstanden haben. Wir wer-
den später hören, dass sie auch in einem idealen sachlichen Sinne und
ganz unhistorisch verstanden werden kann. Aber es ist vielleicht nützlich
zunächst Ihre historische Neugier zu stillen. Selbstverständlich, eine Ge-
schichte der Philosophie und Wissenschaft kann ich hier nicht geben. Was
ich aber versuchen möchte, ist, in einigen schematischen Strichen den Gang
der historischen Entwicklung und rein als ideengeschichtliche Entwicklung
zu zeichnen und diesen Gang dazu zu benützen, Sie selbst von der Stufe
des philosophisch naiven Anfängers, die auch Stufe der anfangenden grie-
chischen Wissenschaft ist, durch Vertiefung in die innerste Ideentendenz zur
Stufe der Philosophie zu erheben und Ihnen damit die innere Notwendig-
keit einer Philosophie nach Problematik und Forschungsart begreiflich zu
machen.
Also beginnen wir von Neuem. Am Anfang der Entwicklung (wir stehen
an der Wende des 7. und 6. Jahrhunderts in der griechischen Geschichte, die
hierbei in der Tat die Weltgeschichte repräsentiert) ist Philosophie und Wis-
senschaft eins; die Wissenschaft fängt an als Kosmologie, als beschreibende
und erklärende Wissenschaft vom gesamten Universum des Seins. Die Ent-
wicklung ging nun nicht in dem Sinne weiter, den Sie vielleicht nun erwarten
werden, nämlich so, als ob in schrittweiser Bereicherung der Erkenntnis das
theoretische Interesse sich nach Teilgebieten der Wirklichkeit spezialisierte,
dass demzufolge Fachwissenschaften sich verselbständigten, aus universalen
Weltweisen Spezialisten, Fachmänner wurden, deren theoretisches Interesse
auf ihr Gebiet ausschließlich fixiert war, dass sich nun die uns von der Dar-
stellung der Mach’schen oder Paulsen’schen Auffassungen wohlbekannten
Schäden des Spezialistentums einstellten, also eine Rückwendung zu den
10 einleitung in die philosophie
gebracht, es wird ihr der Boden unter den Füssen weggezogen. Uns interes-
sieren hier nicht die historischen Motive, durch welche in der allgemeinen po-
litischen und kulturellen Entwicklung Griechenlands nach den Perserkriegen
eine solche Umwendung in Athen begünstigt wurde. Genug, es treten gegen
die Philosophen die „Sophisten“ auf, an der Spitze Männer wie Protagoras
und Gorgias, die gleichsam mit diabolischer Freude die Widersprüche in
und zwischen den neuen Philosophien gegen diese ausspielten, aber nicht
dabei stehen blieben, ihre objektive Untriftigkeit zu erweisen, und nichts
weniger als darauf ausgingen, neue bessere Philosophien herauszubilden.
Vielmehr gingen sie sogleich dazu über, die Möglichkeit jedweder Philoso-
phie und Wissenschaft zu bestreiten und mit angeblicher wissenschaftlicher
Stringenz die Unmöglichkeit zu erweisen. Es handelt sich also um eine
Antiphilosophie, die selbst in Form einer Philosophie auftritt, deren ganzes
Thema es ist, dass es keine Philosophie geben könne, um Ausbildung einer
Antilogik, die logisch begründen will, dass keine Logik gelten könne, die
beweist, dass kein Beweis von Wert sein kann, dass nur das eine behauptet
werden könne, dass keine Behauptung objektiv bedeutsam sein kann usw.
In eine hohle Eristik lief das Ganze schließlich aus.
Die ungeheure historische Bedeutung dieses Skeptizismus liegt darin,
dass zuerst in ihm Blickwendungen in jene von uns gesuchte neue Di-
mension, sagen wir die vernunftkritische, eine wesentliche Rolle spielen,
dass er es zuerst war, der, wenn auch in sehr unvollkommener Form, die
auf alle Erkenntnis und Wissenschaft wesentlich bezogenen Schwierigkeiten
des Verhältnisses von Sein und Bewusstsein fühlbar machte. Eben aus der
universalen Beziehung dieser Schwierigkeiten auf alle Erkenntnis schöpft er
seine wirksamsten Gründe, um die Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt
in Frage zu stellen, ja zu bestreiten. Und in wissenschaftlichen Formen will er
begründen, dass so etwas wie objektiv geltende Erkenntnis ein schlechthin
unerreichbares Ziel, eine Chimäre sei.
Mochte die Sophistik auch des großen und reinen Ethos entbehren, das
die vorsophistische Philosophie durchherrscht, mochte sie von jener idealen
Weisheitsliebe noch so fern sein, die das Wort „Philosophie“ selbst ausprägen
sollte, mochten die Sophisten sich also zu dem Dienst gesellschaftlicher und
politischer Barbarei herabwürdigen und es praktisch bloß darauf abgesehen
haben, eine Rhetorik und Eristik herauszubilden, durch die der Streber in
der Volksversammlung am leichtesten blenden, überreden und durch seine
dialektischen Kunststücke die Gegner verstören und niederzwingen konnte,
und weiter, mochten die Sophisten sogar ihre eigenen Theorien vielleicht
selbst nicht ganz ernst nehmen, – Epoche machend waren diese Theorien
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 13
darum doch, und zwar dadurch, dass sie die Philosophen in der wirksams-
ten Form skeptischer Argumentation zwangen, auf die im Wesen aller Er-
kenntnis liegenden radikalen Schwierigkeiten den Blick zu fixieren. Höchst
schwierige und sich immer weiter verzweigende Probleme traten dadurch zu
Tage, von deren wissenschaftlicher Formulierung und Lösung das Schicksal
echter Wissenschaft und der durch sie zu erzielenden höchsten Erhöhung
des Menschentums abhängig war: die Frage der Erkenntnismöglichkeit,
des Sinnes der Erkenntnisintentionen und der Methode. Diese Probleme
mussten freilich erst von der Form frivolen Spiels befreit und in ernster
Besinnung auf ernste Form gebracht werden, und sie mussten vor allem
nach verschiedenen Richtungen differenziert und ausgestaltet werden, was
zum Teil erst nach jahrtausendelangen Bemühungen vollkommen gelang.
Aber einmal erwachsen, konnten sie doch nicht mehr verloren gehen, zumal
ihr Übergreifen in die ethisch-praktische und religiöse Sphäre für alle edler
Gesinnten seelische Erschütterungen zur Folge hatte und die Gefahr eines
Zusammenbruchs der ganzen griechischen Kultur inmitten ihres größten
Aufschwungs vor ihre Augen stellte. Zu diesem Übergreifen möchte ich hier
einige Worte anfügen.
Zunächst bezogen sich die Probleme nur auf die Sphäre der theoreti-
schen Erkenntnis. Es lag aber in der Natur der Sachen, dass, nachdem ein
Protagoras und Gorgias, die Führer der älteren sophistischen Generation,
die Geltung der theoretischen Erkenntnis skeptisch in Frage gestellt hatten,
sich diese Skepsis alsbald übertrug auf die Geltung der ästhetisch wertenden,
aber auch der praktischen und religiösen Stellungnahmen des menschlichen
Bewusstseins. Allgemein können wir ja sagen: Die geistigen Betätigungen, in
denen sich alles geistige Leben des Menschen, des Ich-Subjekts, vollzieht und
die wir als Bewusstseinsbetätigungen zusammenzufassen pflegen, haben das
Eigene, dass sie insgesamt unter dem Gegensatz von Vernunft und Unver-
nunft stehen oder ihre Bedeutungsgebilde unter dem Gegensatz des wirklich
und vermeintlich Geltenden. Wir als Subjekte eines geistigen Lebens sind
nicht ein bloßer Strom eines bloß sachlichen Seins, sondern ein Ich lebt,
indem es erfährt, indem es wahrnimmt, sich erinnert, erwartet, indem es
denkend begreift, urteilt, schließt, indem es für schön oder hässlich hält, für
angenehm oder unangenehm, für nützlich, gut, gerecht, sittlich usw.
Versetzen wir uns in die Gedanken der letzten Vorlesung: Die anfangende
griechische Wissenschaft oder Philosophie (beides ist noch ungeschieden)
richtet sich in schrankenloser Betätigung des Erkenntnistriebes auf das
Weltall, sie war Kosmologie. Aber die Stufe strenger, endgültig begründender
Wissenschaft konnte sie noch nicht erreichen. Anfängerhaft bewegte sie sich
14 einleitung in die philosophie
von Abdera (480 vor Chr.) und seinen Zeitgenossen Gorgias. Beginnen
wir mit dem ersteren und machen wir uns in freier Weise seine berühmten
Argumentationen zu eigen, die in den Sätzen gipfelten: „Alles ist ein ρπς
τι, alles ist relativ.“ „Für jedermann ist ein jedes so, wie es ihm gerade
erscheint.“ „Aller Dinge Maß ist der Mensch.“
Der Sophist hat vor sich den von der vorangegangenen Philosophie scharf
herausgebildeten Gegensatz von bloßer Erscheinungswelt und wirklicher
Welt; die Erscheinungswelt ist die in der gemeinen Erfahrung gegebene und
in ihr schlechthin als wahre Wirklichkeit hingenommene Welt, während die
Philosophie erst es sein soll, die in ihren philosophischen Erkenntnissen die
an sich wahre Welt erkennt. Demgegenüber nun fragt der Sophist: Wie soll
die Philosophie so etwas leisten können? Woher wissen wir denn überhaupt
etwas von einer Wirklichkeit? Doch nur mittels der Sinneswahrnehmung.
Ohne sie wären ja Dinge für unser Bewusstsein überhaupt nicht da, also
von solchen überhaupt keine Rede. Mag also das viel gepriesene Denken
des Philosophen hinterher leisten, was es immer mag, es setzt schon die
Wahrnehmung und ihre Geltung voraus. Aber wie steht es dann mit der
objektiven Geltung der Wahrnehmung? Die Dinge geben sich uns in ihr
als so und so gestaltet, so und so gefärbt, als roh oder glatt, als warm oder
kalt usw. Aber diese und überhaupt alle Beschaffenheiten, die wir da wahr-
nehmungsmäßig gegeben haben und die durchaus das dingliche Sein nach
Aussage der Wahrnehmung ausmachen, sind undenkbar als für die Dinge
an sich gültig, sie sind vom Wahrgenommen-Werden unabtrennbar, sie sind
subjektiv. Die Farbe gehört zum Sehen, sie ist nichts ohne das sehende Auge.
Der Ton gehört zum Hören, er ist nichts ohne das hörende Ohr usw. Würde
das Auge anders empfinden, so hätte ich eine andere Farbe oder vielleicht
etwas total anderes als Farbe; würde das Ohr anders empfinden, so wäre ein
anderer Ton da usw. Es hängt ganz von der zufälligen Subjektivität ab und der
Weise, wie sie sich empfindend oder wahrnehmend verhält. Und werden wir
sagen, dass sie sich dabei immerfort identisch verhalten muss oder wirklich
verhält? Also, wie kann es einen Grund haben, dass verschiedene Subjekte
von demselben Ding sprechen, das an sich rot ist, an sich warm oder sonst-
wie beschaffen ist? Das eine Subjekt ist in dem Zustand, das andere in
einem anderen; das eine empfindet so, das andere anders. Jedes hat seine
Sinnesorgane, und jedes Sinnesorgan fungiert im jeweiligen Moment gerade
in der Weise. Es könnte anders fungieren.
Dabei nimmt, was wir übergehen können, Protagoras aus der vorange-
gangenen Philosophie konkrete Motive für seine Wahrnehmungstheorie mit
auf, spricht von einer vom Objekt an sich ausgehenden Bewegung zu dem
16 einleitung in die philosophie
würde Gorgias vermutlich geantwortet haben: Es mag sein, dass eine Wahr-
nehmung als Erlebnis des Bewusstseins anders charakterisiert ist als eine
Phantasie; die Wahrnehmung ist doch klarer, standhaltender, inhaltsreicher,
die Phantasie matter, zerfließender, flüchtiger usw., und es mag überhaupt
sein, dass die subjektiven Erlebnisse, die wir unter dem Titel „Vorstellung“
oder unter dem Titel „Erkenntnis eines Objektiven“ erfassen, sich durch
verschiedene Charaktere voneinander unterscheiden, es steht uns auch frei,
bei den einen zu sagen, sie hätten den Charakter der Vernünftigkeit, bei den
anderen den Charakter der Blindheit; aber was sie scheidet, sind eben doch
nur subjektive Erlebnischaraktere, nur von diesen können wir wirklich etwas
wissen. Meine eigenen Erlebnisse, die dahinströmenden Wahrnehmungsbil-
der, Phantasiebilder, Denkerlebnisse usw., sind mir allein direkt gegeben.
Sie erlebend, kann ich sie betrachten, unterscheiden, vergleichen; aber sie
sind doch in sich selbst etwas ganz Subjektives. Wie könnte ich je dazu kom-
men, über sie hinauszugehen und mich rechtmäßig davon zu überzeugen,
dass sie als getreue Vorstellungsbilder einer außer ihnen angeblich seienden
Wirklichkeit gelten dürften?
Tue ich es, setze ich in der Vorstellung ein ihr jenseitiges An-sich, eine
außerbewusste Objektivität, Dinge, Welten, die vorgestellt, aber nicht selbst
Vorstellung sind, wie könnte ich mich je von der Übereinstimmung zwischen
Vorstellung und Vorgestelltem überzeugen? Das wäre doch nur verständ-
lich, wenn ich das vorgestellte Ding in die Ebene des subjektiven Erlebens
brächte und es selbst zu einem Erleben im Bewusstsein würde. Es ist aber
doch an sich draußen, außerhalb. Sagt man nun aber, ein „vernünftiges
Denken“ könne das Verlangte leisten, anknüpfend an das wahrnehmende
Erfahren könne es über objektive Wirklichkeit des vermeinten Dinglich-
Äußeren entscheiden, so wiederholt sich nur das alte Bedenken. Wie sol-
len die sogenannten Denkerlebnisse durch ihr Hinzutreten das Wunder
zustande bringen, den subjektiven Wahrnehmungsbildern rechtmäßig ob-
jektive Angemessenheit zuzusprechen oder abzusprechen? Gewiss hat mein
Denken manchmal einen eigenen Charakter der Einsichtigkeit, der licht-
vollen Evidenz, der Vernünftigkeit. Aber warum muss, so oft mein Den-
ken diesen gepriesenen, aber immer noch subjektiven Erlebnischarakter
hat, das als objektiv Gedachte wirklich existieren? Was bräuchte sich ein
Sein oder Nicht-Sein außerhalb meines Bewusstseins um die mir impo-
nierenden Evidenzcharaktere an meinen subjektiven Erlebnissen zu küm-
mern?
So ergibt sich der skeptische Schluss: Ich komme über meine Subjektivi-
tät, über den Bereich meines dahinströmenden Bewusstseinserlebens nicht
18 einleitung in die philosophie
hinaus; ich kann nicht den leisesten Vernunftgrund haben, ein Bewusst-
seinstranszendentes, eine an sich existierende Dingwelt zu setzen. Besteht
aber kein erdenklicher Vernunftgrund dafür, so kann und muss ich sagen: Es
gibt nichts, nämlich nichts Objektives. Vernünftigerweise kann ich nur sagen:
Ich bin und meine Erlebnisse sind, eben die ich im Moment des Erlebens
vorfinde, und nichts sonst, ich – ich allein, solus ipse.
Sie sehen aus dieser Darstellung, aus dieser Herauswicklung der kurzen,
auf Gorgias zurückgeführten Argumentationen, wie radikal diese Skepsis ist
und wie sie ihren Motiven nach an ein tiefstes Problem rührt, an die radi-
kalen Probleme des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein. So nahe sich,
äußerlich betrachtet, Protagoras und Gorgias stehen, so ist doch innerlich ein
wesentlicher Unterschied. Protagoras richtet sein Augenmerk auf den Wech-
sel und Fluss der Wahrnehmungserscheinungen von äußeren Dingen und auf
die Abhängigkeit dieser wechselnden Erscheinungen vom wahrnehmenden
Menschen und seinen wechselnden Zuständen und Lagen. Es gibt kein Ent-
rinnen aus der Relativität aller Aussagen über die objektive Welt, nichts kann
ihr als an sich oder objektiv zugehörig ausgesprochen werden. Gorgias aber
geht auf das Radikalste zurück, auf das Bewusstsein, darauf, dass alles und
jedes Erkennen subjektives Erleben ist. Mag Bewusstsein in sich auch ein
Außerbewusstes vorstellen, meinen, evident oder nicht evident erkennen,
so ist dieses Sich-auf-Äußeres-Beziehen eben nur ein im Ich-Bewusstsein
selbst aufweisbarer Charakter, der nie zulangen kann, uns ein transzenden-
tes An-sich wirklich zuzueignen. Alle Unterschiede des Erkenntniswertes,
die der Erkennende hinsichtlich seiner Erkenntniserlebnisse macht unter
den Titeln „normale Wahrnehmung“, „Illusion“, „Traum“, „verworrenes
Denken“, „einsichtig begründendes Denken“ usw., sind geschöpft aus sub-
jektiven Charakteren der Erlebnisse. Aber was bräuchte ein an sich seiendes
Objektives sich nach unseren subjektiven Unterschieden und Bewertungen
innerhalb unserer Bewusstseinssphäre zu kümmern?
Die Auseinanderwicklung des Sinnesgehaltes der paradoxen und wie im-
mer spielerisch gemeinten Argumentation des Gorgias hatte uns zu Tage ge-
fördert eine höchst merkwürdige Scheidung, nämlich die Scheidung zwischen
dem rein immanenten Fluss der Ich-Erlebnisse, der subjektiven Wahrneh-
mungen, Erinnerungen, Phantasien, Denkerlebnisse usw., und der in diesen
Erlebnissen vorgestellten, gedachten, angeblich erkannten Welt. Würden
wir uns noch tiefer denkend hineinbohren, so könnte hier schon der Grund-
gedanke des historisch so viel späteren Bewusstseinsidealismus aufkeimen,
der, statt eine objektive Welt zu leugnen, zu zeigen sucht, dass der Sinn der
Objektivität rechtmäßig gedeutet werden muss als eine in der erkennenden
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 19
1 Beilage Übrigens zeigt sich hier eine schöne und wohlverständliche Teleologie in der
historischen Entwicklung. Die erste, natürlich naive Entwicklung objektiv gerichteter Wis-
senschaften musste gelähmt, unterbunden werden durch eine skeptische Gegenwirkung; es
musste das theoretische Interesse von seiner naiven Hingegebenheit an die objektive Wirklich-
keit abgelenkt werden in die korrelative Gegenrichtung, in die Richtung auf die erkennende
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 21
Vernunft und die Erkenntnismethode. Denn strenge Wissenschaft, eine Wissenschaft, die in
einer allen Einwänden, Unklarheiten, skeptischen Zweifeln gewachsenen Weise theoretische
Wahrheiten endgültig herausstellt, ist nicht ein naives Gewächs der theoretischen Wissbegier. Es
bedarf der Reflexion über die Erkenntnisleistung und ihre Möglichkeit, der Reflexion über den
Sinn der Erkenntnisarbeit, über die Gründe und Formen triftiger Methode, um zu methodisch
sicherer Leistung in aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis durchdringen zu können. Im Bild
könnte man sagen: Die schlimmsten Feinde sind die, die vom Rücken her angreifen können,
der forschende Blick darf also nicht bloß geradehin auf die Sachen, sondern muss auch
rückblickend auf das Bewusstsein, auf Erkenntnisform und -methode gerichtet sein. Und in
der Tat sind die skeptischen Angriffe der Sophistik und ist alle spätere Skepsis der Wissenschaft
gar sehr zum Heil gediehen. Nur dadurch, dass die Angriffe die abwehrende philosophische
Energie so sehr anspannten, ist objektive Wissenschaft möglich und mächtig geworden. Man
kann danach also auch sagen: Alle Wissenschaft verdankt ihre methodische Kraft und somit ihr
wahrhaftes Sein als echte und strenge Wissenschaft der Philosophie: der negativen als Skepsis,
der positiven als Überwindung der Skepsis.
1 Randbemerkung Cf. die neue Vorlesung = S. 22–32.
22 einleitung in die philosophie
Wissenschaft war. Das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft gegenüber der
bloßen Erfahrung beschloss nach der ersten Entwicklung der Philosophie,
wenn auch unausgesprochen, die Überzeugung, dass der Fortschritt der Er-
kenntnis im beschreibenden und urteilenden Denken ein an diese Form der
Theorie, an bestimmte Bildungsformen der Urteilsinhalte gebundener sei.
Und eben diese Überzeugung schien mit entwertet. Das theoretische Denken
erschien wie ein Spiel, als wie ein nach beliebigen praktischen Zwecken
willkürlich zu gestaltendes. Feste Normen für die Zusammenfügung der
Aussage-Inhalte in Absicht auf Erzielung einer jedermann und unbedingt
bindenden Wahrheit schienen zu fehlen; jedenfalls sie waren bestritten.
Der skeptischen Erlahmung, die der griechischen Philosophie und der
ganzen griechischen Kultur drohte, ward eine Grenze gesetzt durch die
ewig denkwürdige Reaktion, die von Sokrates (470–399) ausging. Sie war
zunächst und in erster Linie Reaktion gegen den praktischen und ethisch-
religiösen Skeptizismus der Sophistik, die ja auch aller sittlichen, morali-
schen, religiösen Autorität den Krieg erklärt hatte und die nicht bloß der
Autorität der historisch-faktischen Sitte und Religion zu Leibe ging, sondern,
im Radikalismus der prinzipiellen Negationen, auch jeder idealen Autorität
prinzipieller Normen, die in der Idee objektiver Geltung irgendwelcher
Werturteile (ethischer, ästhetischer, religiöser) beschlossen sein konnten.
Schon dem Protagoras wird nicht nur der Satz zugeschrieben „Wahr ist
für einen jeden, was ihm als wahr erscheint“, sondern auch „Gut ist für
einen jeden, was ihm als gut erscheint“. Aber wie sehr Sokrates ethischer
Reformator sein wollte und wie sehr er dabei in rein praktischer Wirksamkeit
aufging, ohne je eine philosophische Zeile geschrieben zu haben, so hat er
doch eine neue Epoche der Philosophie, und das sagt der Wissenschaft,
inauguriert. Am stärksten nachgewirkt hat er durch die Art, wie er das
Vertrauen auf die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkenntnis wieder-
herstellte.
Wir waren am Schluss der letzten Vorlesung im Übergang begriffen gewe-
sen zu einer neuen Richtung unserer ideengeschichtlichen Betrachtungen.
Ehe ich fortsetze, möchte ich an die methodische Art meiner Einleitung
in die Philosophie erinnern. Die Naivität, mit der in der Geschichte das
anfangende philosophische Denken der Welt gegenübersteht und mit der
es, von rein theoretischer Wissbegier getrieben, Fragen an sie stellt, hat
Verwandtschaft mit der philosophischen Naivität eines jeden Anfängers.
Die kritische Anknüpfung an die Geschichte der Philosophie und an pas-
send ausgewählte Entwicklungslinien ihrer Probleme und Theorien ist also
geeignet, den Anfänger zum philosophischen Denken zu erziehen und ihm
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 23
Hier nun hefteten sich die Sophisten an. Leicht gelang es ihnen, die Unvoll-
kommenheit der Begriffe, ihre Vieldeutigkeit und Verschiebbarkeit, frivol
auszunutzen und nach Beliebem Trugschlüsse zu konstruieren und damit
scheinbar zu zeigen, dass man alles beweisen und alles widerlegen könne. In
dieser Praxis entwerteten sie die ganze kunstmäßige methodische Leistung
des wissenschaftlichen Denkens. Fast schien es dadurch zu Tage zu treten,
dass das Ziel der Vernunft, durch die Kraft logischer Formung objektiv
geltende wissenschaftliche Wahrheit zu erzeugen, ein Chimärisches sei. Ganz
besonders leicht musste dieses frivole Spiel den Sophisten im Bereich der
Grundvorstellungen der ethischen, praktischen und politischen Sphäre ge-
lingen, die bisher am wenigsten in eine logische Zucht genommen waren;
und so drohten die das natürliche praktische Leben regelnden normativen
Ideen ihre Autorität einzubüßen, alle Unterschiede zwischen Recht oder
Gerechtigkeit im ideal-ethischen Sinne und positivem, aus zufälligen Macht-
verhältnissen entspringendem Recht verloren zu gehen.
Dieser Entartung, die nicht nur der griechischen Philosophie, sondern
auch der gesamten griechischen Kultur drohte, ward eine Grenze gesetzt
durch Sokrates. In erster Linie wendet sich die sokratische Reaktion ge-
gen den praktischen und ethischen Skeptizismus der Sophistik, sie wendet
sich gegen ihre Zersetzung aller normgebenden Ideen in Sittlichkeit, Recht,
Politik, gegen ihre Bekämpfung nicht nur aller empirischen, sondern auch
aller idealen Autoritäten, die in Form prinzipieller, idealer Normen den
Ansprüchen der Vernunft ihren Halt geben. Gut ist für einen jeden, was ihm
als gut erscheint, so hatte schon Protagoras kühn behauptet, und spätere
Sophisten hatten den Begriff des Rechtes einfach auf den der Macht und des
selbstsüchtigen Interesses zurückgeführt.
Wie sehr aber Sokrates im Grunde nur ethischer Reformator sein wollte
und wie sehr er dabei aufging in einer rein praktischen Wirksamkeit, ohne
je eine Zeile Literatur geschrieben zu haben, so hat er doch auch für die
Philosophie als Wissenschaft die Rolle des Bahnbrechers. Am stärksten
nachgewirkt hat er durch die Art, wie er das Vertrauen auf die Möglichkeit
einer objektiv gültigen Erkenntnis wiederherstellte. Durch ihn wird jenes
reine Wahrheitsstreben erneuert, das vom Ethos der Hingabe an absolute
Werte getragen ist. Freilich war die Überzeugung vom Sein solcher Wertung
und ihrer überindividuellen Geltung für Sokrates eine im Voraus feste, ihn im
Voraus leitende. Aber er hob sie über den Stand der Naivität hinaus; er zuerst
hat sie in vollkommenste Einsicht verwandelt. Und nicht nur für sich selbst.
Er hat Wege aufgezeigt, solche Einsicht jedermann zugänglich zu machen.
Eine geistige Hebammenkunst hat er ausgebildet (so nennt er selbst seine
26 einleitung in die philosophie
sonst Vorstürmenden, etwa gar einem Tier gemein hat? In der Intention des
„tapfer“ liegt eine Wertintention beschlossen. Also fragen wir: Könnte dann
das Vorstürmen noch tapferes heißen? Oder wir achten auf die Besonderheit
des Krieges und des Kriegers. Ist das wesentlich? Gibt es nur soldatische
Tapferkeit? Also holen wir andere Beispiele heran, modifizieren wir usw.
In dieser Weise wird in nachprüfender Analyse oder auch Verallgemeine-
rung unter Zuzug von Beispielen, in willkürlicher und doch geregelter Modi-
fikation der Beispiele schrittweise Begriffsbestimmung, Heraushebung von
Wesensmomenten, feste Umgrenzung der zusammengehörigen Merkmale,
Unterscheidung allgemeiner Gattungsbegriffe und untergeordneter Arten
vollzogen; und an Stelle der vagen Wortintention, die im uneigentlichen
Verstand „Begriff der Tapferkeit“ heißt, tritt der eigentliche Begriff, er wird
neu begriffen, er wird aus den Anschauungen und durch eine geregelte
zeugende Tätigkeit neu produziert und steht schließlich da als evidente,
normgebende Regel der Beurteilung und als eben dasselbe, was dunkel,
vieldeutig, unbestimmt verschiebbar mit dem Wort gemeint war, als das
worauf wir im Grunde hinauswollten. Und wer muss nicht zugestehen, dass
nur so ursprünglich gezeugte Begriffe jenes Licht der Klarheit, Bestimmt-
heit, Einsichtigkeit ausstrahlen, das einsichtig-vernünftige Urteile ermög-
licht?
In dieser schlichten, aber in der konkreten Ausführung höchst wirkungs-
vollen Methode der Begriffsbestimmung lag ein wichtiger Anfang. Echte
wissenschaftliche Erkenntnis darf sich nie in der bloßen Sphäre vager Vor-
stellungen bewegen und bei den schattenhaften aus früherer Erfahrung, aus
Konvention, aus vager Analogisierung, psychologisch blind und passiv er-
wachsenen Meinungen verbleiben. Vielmehr bedarf es überall, und zunächst
hinsichtlich der die wissenschaftliche Urteilstätigkeit leitenden Begriffe, des
Rückganges auf die letzte Quelle aller Geltung: auf die Einsicht. Und diese
selbst erwächst aus einer produktiven Denktätigkeit, die von den vagen
Vorstellungen sozusagen aus zweiter Hand uns den Weg sucht zu den aus den
Urquellen der Anschauung durch Wesensbestimmung zu schöpfenden Ur-
gestalten des Sinnes, zum wahren und echten Begriff. Durch die sokratische
Dialektik, so können wir auch sagen, tritt der grundwesentliche Unterschied
zwischen vager Meinung und Einsicht, zwischen passiver Vorstellungsbil-
dung und Wahrheit erzeugender Vernunfttätigkeit zuerst in seiner ganzen
Bedeutung zu Tage, und zwar als ein nicht bloß im Reich des Denkens,
sondern auch des ästhetischen und praktischen Verhaltens wirksamer, für
alle Fragen der Geltung bestimmender. Denn einsichtig handeln können wir
nur, wo wir einsehend vorstellen und denken.
28 einleitung in die philosophie
die Veredlung der Menschheit, durch Hinordnung der Seele auf die reinen
Ideen, in denen der wahre, objektive Sinn der Welt und des Menschenlebens
beschlossen ist. Seine nie erlahmende Denkarbeit gilt also vor allem der
vollkommenen Klärung, reinen Erfassung, begrifflich festen Gestaltung der
Ideen und der in ihnen gründenden Normensysteme, die eine im höchsten
Sinne humane Kultur allein möglich machen. Damit sollten der Menschheit
die ewig gültigen Ziele und Wege für ihre ins Unendliche fortgehenden
Lebenstätigkeiten dargeboten werden, denen gemäß einzig und allein ein
wahrhaft befriedigendes und beglückendes Leben, ein Leben nach Ideen
reiner Vernunft bestehen kann. Ein solches Leben aber entfaltet sich in
wahrhaft wertvollen Persönlichkeiten und Gemeinschaften, und es wirkt
sich aus in wahrhaft wertvollen Taten und Werken. In immer höheren Stufen
gestaltet sich so eine Welt des Geistes.
Man kann übrigens auch mit einem einzigen Ausdruck, der nur entspre-
chend weitherzig verstanden werden muss, die gesamten Intentionen Platons
umspannen und sagen: Die platonische Lebensarbeit geht auf eine universale
methodologische Reform, nämlich auf wahre und echte Methode, die er
begrifflich zu gestalten sucht, nicht nur die wahre Methode der Wissenschaft,
die nach Umfang und Strenge vollkommene Wissenschaft, sondern die wahre
Methode des gesamten Lebens nach allen, unter Ideen der Vernunft stehen-
den Formen von Ich-Tätigkeiten. Ja, ihm, dem Schüler des Sokrates, stehen
sogar die Werte der Gemüts- und Willenssphäre denen der intellektuel-
len Sphäre voran. Das oberste intellektuelle Ideal, das einer universalen
wissenschaftlichen Philosophie, ist ihm nur darum so unsagbar wichtig und
teuer, weil es das schlechthin unentbehrliche Fundament ist für die Ermög-
lichung des obersten praktischen Ideals (das als konkret vollständiges nach
seiner Überzeugung jenes theoretische mit umschließt). Der Mensch kann
nicht ein bloßer Denker sein und ein bloßes Denkerleben führen wollen.
Wie sein Leben beständig ein vorstellendes und denkendes, ein fühlendes,
begehrendes und wollendes Leben ist, so ist auch das oberste normative
Ideal des vollkommenen Lebens wesentlich bezogen auf a ll diese Gestalten
bewussten Lebens und untrennbar eins. Das ideale Subjekt eines absolut
vollkommenen personalen Lebens projiziert sich ins Metaphysische als Idee
der Gottheit, die, wie sie für jede strebende Menschenseele als Leitstern
fungiert und teleologisch ihre edlen Tätigkeiten regelt, so gedacht wird als der
teleologische Pol, der das Weltall, seinen gesamten Werdens- und Entwick-
lungsgang regiert und so die ganze Welt als idealer göttlicher Sinn beseelt. In
dieser Richtung bewegen sich in der Tat die platonischen Überzeugungen;
die Weltanschauung, die Platon mit all seinem leidenschaftlichen Streben
30 einleitung in die philosophie
Treten wir nun an die Behandlung der viel beredeten, viel verkannten
und bestrittenen Ideenlehre heran. Man wird sie trotz mancher, bei bahn-
brechenden Anfängen unvermeidlichen Mängel zu den größten Entdeckun-
gen aller Zeiten rechnen müssen. Also was sind das: Ideen im platonischen
Sinne, wie entspringen sie als methodologische Funktionen und welche Rolle
spielen sie für die Ermöglichung echter Wissenschaft? In dieser Hinsicht ist
Platon zunächst nur der geniale Theoretiker, der, sich vertiefend in den
Sinn der praktisch-konkreten Leistungen der sokratischen Maieutik, eben
dem theoretisch Gestalt und Kraft gab, was bei seinem großen Lehrer bloß
praktische Übung gewesen war. Die erste und ursprüngliche Konzeption
der platonischen Ideenlehre und Methodologie vollzog sich also in Hinblick
auf die sokratischen Themen und ihre begrenzte ethisch praktische Sphäre.
Welche Motivationen im Geist Platons sich dabei abspielten, müssen wir
also vor allem zu zeichnen versuchen, und welchen begrenzten Sinn „Idee“
da hatte. Nachher werden wir zu zeigen haben, wie Platon dazu kam, in
Gebieten, für die Sokrates seine Methode nicht angewendet hatte, die er
sogar für außerhalb des Rahmens der Tragweite seiner Methode liegend
ansah, verwandte Gebilde als Ideen zu erschauen und damit in höchst
genialer Weise die ursprüngliche Konzeption zu erweitern. Wie erwuchs,
fragen wir also, die ursprünglich platonische Konzeption der Idee? Wie
wird ihr Sinn verständlich an der Auswirkung der im sokratischen Verfahren
nächstbeschlossenen Motive?
(Sie werden auch verstehen lernen, warum sie, die Ideen, zugleich
wahre Grundpfeiler sein müssen für eine Philosophie in jenem ältesten und
unentbehrlichen Sinne einer absoluten Wissenschaft vom Universum des
Seienden. Es ist also nicht ein zufälliger, sondern notwendiger Zusammen-
hang, der sich in der historischen Tatsache ausspricht, dass Platon nicht
nur der Entdecker der Idee ist, sondern in eins damit der Entdecker
jenes neuen Typus universeller Weltanschauung, Weltphilosophie, den wir
als teleologischen Idealismus bezeichnet haben. Aber was besagt zunächst
das Erstere, was sind das: „Ideen“ im platonischen Sinne, was sind sie me-
thodologisch und worin besteht ihre Funktion für die Ermöglichung echter
Wissenschaft?
Ich will versuchen, Ihnen den Kern der Sachen in einfacher Weise so
klarzulegen. Alles Ich-Leben oder, ins Natürlichmenschliche gestellt, alles
menschliche Leben ist, wie früher schon ausgeführt, als Bewusstseinsleben
ein beständiges Stellungnehmen und ein für seiend, wahr, schön, gut, nütz-
lich, zweckvoll usw. Halten. Das, was im Jeweiligen, in diesen Lebensfor-
men des Stellung nehmenden Ich bewusstseinsmäßig vor Augen steht, ist
platon und die entdeckung des apriori 37
darum nicht eigentlich und wirklich schon ein Seiendes oder ein Wahres,
nicht wirklich ein Schönes, ein Gutes (Begehrenswertes), ein Nützliches,
ein Zweckvolles. Es ist zunächst nur ein Vermeintes und alles Vermeinen
steht unter dem Gegensatz der Vernunft und Unvernunft. Mit Rücksicht
darauf sprechen wir in gewissen Fällen auszeichnend von einem im echten
und wirklichen Sinne Seienden, Schönen, Guten usw., und zwar da, wo die
Vernunft, und das sagt nichts anderes als die nachprüfende und begründende
Einsicht, das Vermeinte bestätigt und in seiner „Echtheit“ erschaubar macht.
Anderenfalls tritt im Rückgang auf die Einsicht das Nichtsein, das Unwahre,
das Unschöne, das Wertlose, Zwecklose als Negativum zu Tage. Verstehen
wir unter Begriffen die Bedeutungen von Worten, so drücken die Begriffe
„wahr“, „schön“, „gut“ usw. also eigentümliche Prädikate aus, die total ver-
schieden sind von sonstigen Prädikaten, etwa „rot“, „rund“ etc. Nämlich sie
drücken aus, wie das Stellung nehmende Subjekt in seinen Stellungnahmen,
und zwar im vollkommenen Vollzug derselben (den das Wort „vernünftige
Einsicht“ andeutet), bewertet und Werte selbst als absolut gültige sich zu-
eignet. Was dabei aber als Wert, als an sich gültig vermeint und erfasst
ist, das sind jeweilige Themen der Wertung. Zum Beispiel im vollkommenen
Urteilen, das wir das einsichtige nennen, steht ein Urteilsinhalt, etwa 2 × 2 = 4,
da im ursprünglichen Charakter vollkommener Wahrheit; im vollkommenen
ästhetischen Bewusstsein steht ein erschauter Kunstinhalt da im Charakter
der vollkommenen Schönheit etc.)
Nach den früheren Darlegungen spürte Sokrates dem ursprünglichen
Sinn der Wertbegriffe nach, die in den das praktische Verhalten regelnden
Prädikationen eine beständige Rolle spielen, zum Beispiel in Fragen der
Echtheit einer Freundschaft, einer rechten Haushaltung, einer Tapferkeit
und Gerechtigkeit. Er brachte den Sinn dieser Echtheit zu Tage (also die Ur-
quelle aller Normierungen) durch Übergang von Verworrenheit zur Klarheit,
von passiv übernommenen Wertsuggestionen zu ursprünglich anschaulich
und spontan vollzogenen wertenden Stellungnahmen. Und dadurch gewann
er und vermittelte er allen die ihm nachfolgten zunächst ein lebendiges,
aus der selbsttätigen Leistung vollkommener Vernunft entspringendes Ver-
ständnis dessen, was eben im eigentlichen Sinne des Wortes „Vernunft“
eigentlich besagt:1 eine Art denkende, schätzende, abzweckende Tätigkei-
ten in freier und echter Aktivität Vollziehen und so Vollziehen, dass die
schon im verworrenen Denken, Werten, Wollen verborgene, aber noch vage
1 Randbemerkung Vernunftakt.
38 einleitung in die philosophie
Intention auf das Echte, Wahre, Gute, Schöne sich in vorgezeichneter Weise
bekräftigt, erfüllt, zu reiner Befriedigung auslebt, sich (wie es auch heißt)
ihres wahr machenden Grundes bemächtigt und das Gründende in das vollste
Licht erhebt. Oder aber im Gegenteil: Es tritt in der Einsicht Abweisung
ein. Was ins Licht tritt als Echtes und Rechtes, das ist in Widerstreit mit
der Intention der Vormeinung, des Vorurteils, der blinden Vorwertung, der
blinden Zwecksetzung.1
Aus Sokrates’ Verfahren lernt man Art und Leistung der Begründung
im weitesten Sinne und der Licht gebenden und im vollsten Licht aus-
weisenden Evidenz verstehen und kennen. Das war ein Ungeheures und
es war eine Erkenntnis, dass das Licht der Vernunft nicht ein zufällig aus
solchen Gründen in die Meinung hineinleuchtendes Licht ist, sosehr der
Vergleich mit einer Erleuchtung sich aufdringen mag, vielmehr dass der
Gegensatz der ist zwischen psychologisch irgendwie erwachsenem (und in
natürlicher Denkfaulheit als bequeme Gewohnheit hingenommen) Zwang
und andererseits Autonomie, deren Wesen überall Freiheit ist. Und Frei-
heit wieder liegt überall in Selbsttätigkeit: in Verwandlung verworrener
Intentionen in freie, sie auswertende, nachprüfende tätige Handlungen, in
zielstrebige Akte des Beziehens, des Verknüpfens, des Zergliederns und des
Veranschaulichens und des immerfort Zusehens, was für Stellungnahmen
in den Gliederungen und Beziehungen des Anschaulichen die geforderten
sind.
(Nur2 in der freien und sinnvoll geleiteten Selbsttätigkeit der Entfaltung
dunkler Intentionen hört das Ich die Stimme der Sachen, es vernimmt ge-
wissermaßen ihre Aufforderungen, so und so Stellung zu nehmen, so und so
sich zu entscheiden in Anerkennung und Verwerfung, in Zwecksetzung und
Zweckabweisung. Vollkommene Vernunfttätigkeit ist ein oft sehr komplexes
System von Aktivitäten, in dem das Subjekt durchaus als Subjekt von ge-
richteten Intentionen waltet und zielstrebig das in diesen vorgedeutete Telos
in reiner Befriedigung und nach allen Komponenten der Intention erreicht.
Vernünftig sein ist in reiner Aktivität bis ans „Ende“ gehen: Die rein theo-
retische, wertende, praktische Befriedigung zeigt das Ende als immanentes
Telos an. Das war das durch Sokrates praktisch Verständliche. Sie verstehen,
was diese Rede von praktischer Verständlichkeit besagt. Dem Handwerker
ist im wohlgeübten Vollbringen der Leistung, im geordneten Vollzug der
machenden und gestaltenden Tätigkeiten ihr Sinn und Wert ohne weiteres
klar, auch ohne dass er das mindeste theoretische Verständnis von den dabei
fraglichen mechanischen und psychologischen Gesetzen hätte. So ist es auch
hier. Das sokratische Verfahren ist die Entdeckung einer Praxis der Evidenz,
der theoretischen und ethischen Evidenz, aber ohne jede Theorie dieser Sorte
von Aktionen.)1
Das war also das Eine, höchst Wichtige. Aber ein Zweites kommt noch
in Betracht und muss hier geschieden werden. Der Denkende in solcher
evidenzzeugenden Spontaneität vollzieht in seiner „Seele“ eine Reihe von
subjektiven Tätigkeiten; aber nicht ein bloß psychisches Erlebnis ist das
Ende, das im zweiten und dritten Wiedervollzug der Evidenz ein eben neues,
ein zweites und drittes Erlebnis wäre. Der Erfahrende erfährt etwas, ein
vermeintlich Objektives, der Wertende wertet und wird dabei bewusst eines
Etwas, eines vermeinten Wertes, der Urteilende urteilt etwas und wird dabei
bewusst eines Etwas, eines Sachverhaltes usw. Auf dieses Etwas bezieht sich
die Rede von vermeintlich und wirklich sein. Im Vollzug der Evidenzak-
tionen ist das, was im Modus des nicht bloß Vermeinten, sondern wahrhaft
Seienden hervortritt, ein „Objektives“, das ist etwas das in beliebig wieder-
holtem Vollzug solcher Akte als absolut identisch dasselbe dasteht, als etwas,
was nicht das Psychische, das Bewusstseinsleben, das Vorstellen, Urteilen,
Werten, Wollen ist, sondern etwas Über-Psychisches, Über-Subjektives: et-
was, das im passiven, verworrenen, unvollkommenen Meinen eben das bloß
Vermeinte und im evidenten das wahrhaft und zweifellos Seiende ist: der
wahrhaft bestehende und in der Evidenz selbst gegebene Sachverhalt, der
wahrhaft bestehende und in der Evidenz selbst gegebene Wert usw.2 Im
Exempel des Mythos und der Dichtung benützte. Ob wir uns Freundschaften in fingierender
Anschauung willkürlich gestaltet vor Augen halten und an ihnen im sokratischen Verfahren
die Wesensmomente einer echten Freundschaft überhaupt herausarbeiten und die allgemeine
Idee einer echten Freundschaft konstruieren oder ob wir Freundschaften wirklicher Erfahrung
heranziehen, ist gleichgültig. Zudem liegt es in diesem Verfahren, dass wir auch das wirklich
Erfahrene in freier Phantasie-Aktion ummodellieren, ähnlich wie der Geometer in geome-
trischer Phantasie seine Linien und Flächen sich biegen lässt, sich ins Unendliche recken
lässt usw., ohne zu fragen, ob in wirklicher Erfahrung so etwas vorgekommen sei. Gleichwohl
wird dabei etwas gewonnen, was nicht ein Nichts ist, ein bloßes Fiktum, sondern eine „Idee“.
Sie ist eo ipso sogleich eine allgemeine Norm des echten, für Beurteilung jedes möglichen
vorzulegenden Einzelfalls. Was dabei gewonnen wird ist: das Wesen, die Idee von Wahrheit
überhaupt, von Freundschaft überhaupt, von Gerade überhaupt usw. Und diese Ideen sind
Gegenstände, insofern als man über sie selbst, über ihren konstitutiven Gehalt, über die ihnen
zugehörigen Gesetze – Wesensgesetze – wieder urteilen und höchst wichtige Wahrheiten für sie
bzw. zur Normierung möglicher Einzelfälle feststellen kann.
Randbemerkung Gut. Text geht ungestrichen weiter Platon macht durch Entfaltung des in
der sokratischen Dialektik Geleisteten die Entdeckung, dass es nicht nur überhaupt allgemeine
und reine (von allen Zufälligkeiten tatsächlichen Vorkommens in individueller Wirklichkeit
freie) „Ideen“, sondern dass seine reinen Ideen, und weit über die sokratischen Gruppen
von Fällen hinaus, in allem und jedem vernünftigen Urteilen, Werten, Wollen, praktischen
Leisten die entscheidende Rolle spielen als der Erfahrung vorangehende Normen. Er machte
die Entdeckung (und entdeckte damit ein allgemeines Ziel einer Unendlichkeit menschlicher
Forschung), dass, wenn wir uns über das zufällige Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Werten, Handeln
erheben und Kultur im höchsten humanen Sinne erringen wollen und speziell Wissenschaft im
höchsten Sinne, wir in vollbewusster Forscherarbeit allen Ideen und Idealgesetzen nachgehen
und ihre reine Systematik erforschen müssen. Denn mit dem System der Ideen, der Ideen,
die jeder Domäne von möglichen Objektivitäten bzw. jeder Domäne von Stellungnahmen
zugeordnet sind, gewinnen wir das System der Normen, denen sie genügen müssen, um nicht
bloß vermeinte, sondern echte Objektivität zu haben. Das Verfahren der sokratischen Dia-
lektik war zwar bahnbrechend, aber die sokratische Dialektik selbst war unwissenschaftlich.
Sie verlief in einzelnen zusammenhanglosen Unterscheidungen und Untersuchungen, sie ging
vereinzelten Ideen nach und entbehrte systematischer Ziele. Platons Dialektik will unendlich
viel mehr sein und ganz anders sein als die sokratische; nicht uns, diese konkreten praktischen
Menschensubjekte, zur Redlichkeit in Leben und Denken erziehen, zu freier Selbsttätigkeit im
Herausarbeiten des im gegebenen praktischen Fall Vernünftigen und Richtigen, ist ihr Ziel.
Vielmehr, sie will eine universale Wissenschaft schaffen und zunächst die Vorbedingung einer
universellen, echten Wissenschaft schaffen, einer Erkenntnis dessen, was die Welt ist, was der
Mensch soll, was menschliche Gemeinschaft soll, was überhaupt in ein Universum objektiven
Seins hineingehören mag. Gibt es so etwas wie eine Wahrheit, die an sich, übersubjektiv gültig
ist, wie durch Sokrates klar geworden ist, wie unendlich würde sich die Menschheit Text bricht
ab.
platon und die entdeckung des apriori 41
jene reinen Wesenheiten, das reine Wesen der Schönheit als solcher, das reine
Wesen der Tapferkeit usw., nach denen sich als ewige Gültigkeiten Denken
und Handeln zu richten haben, wo immer es in concreto über Schönheit,
Tapferkeit urteilt.
Wir beobachten dabei, dass die von Sokrates gesuchten und erarbeite-
ten jeweiligen Wesenheiten den Charakter von Allgemeinheiten hatten und
nicht von individuellen konkreten Besonderheiten, wie denn korrelativ sein
Verfahren den Charakter eines generellen Denkens und Begründens hatte.
Was in Frage war, war nicht ein individuell Gutes oder Schönes, eine indivi-
duelle Tapferkeit usw., sondern Güte überhaupt, als solche, Schönheit über-
haupt und als solche. Die in der Methode dienenden individuellen Beispiele
waren eben bloße Beispiele, die, im Bewusstsein der Gleichgültigkeit des in-
dividuellen Faktums, benützt wurden. Auf Allgemeines, auf generelle Wesen
ging das beständige Absehen, und es war dieses Allgemeine eben das Thema,
das Untersuchungsobjekt als Ganzes und nach seinen Wesensstücken, die
schließlich, in der Definition zusammengefasst, die endgültige Bestimmung
des ganzen Wesens aus seinen elementaren Bestimmungsstücken ergeben
sollten.
Das sind also die Richtungen der ersten platonischen Reflexionen über die
sokratische Dialektik, und sie waren es, die seine im ersten Moment paradox
anmutende Lehre von einer reinen Ideenwelt gegenüber der Sinnenwelt
als der Welt bloß subjektiv-relativer Erfahrungsgegenstände bestimmten.
Für uns, nach den gegebenen Überlegungen, kann sie nicht mehr so sehr
paradox sein, und ihr höchst bedeutsamer – recht begrenzt – zweifellos
wahrer Kern muss uns einleuchten. Also gar nicht mehr so verwunderlich
und paradox muss uns der große Schritt erscheinen, den Platon aufgrund
der umschriebenen Reflexionen fasst, indem er die von Sokrates jeweils
herausgearbeiteten Echtheiten oder Wesenheiten als Gegenstände, als eine
eigene Sphäre des Seins, ja des Seins in einem reinsten und strengsten Sinne
fasste und sie nun als „Ideen“ bezeichnete (δ
α, εδος sind seine Namen).
In der Tat, wer sich im sokratischen Verfahren zu voll erfüllter Klarheit
bringt, worin echte Freundschaft, echte Tapferkeit als solche bestehe oder
was generell, in reiner Allgemeinheit, eine echte Schönheit, Güte ausmache
oder, was dasselbe, wer in diesem Verfahren das Wesen der Freundschaft,
der Schönheit, des Guten herausarbeitet und sich zu einsichtig-schauender
Selbstgegebenheit bringt, der erschaut damit ein eigenes Sein, etwas was an
sich ist, an sich gilt, unabhängig von aller Empirie, unabhängig von allem
Fluss des zufälligen Seins der Sinnenwelt, in die alles individuell faktische
Dasein verflochten ist.
platon und die entdeckung des apriori 43
das Apriori, ist das an sich Exakte, und später wird sich herausstellen und
stellte sich sehr viel später auch in der Entwicklung heraus, dass, nur so-
weit alles im realen empirischen Sinne Seiende sich dem Exakten annähert
und Ideen der Exaktheit in sich realisiert, es objektiv und logisch exakt
bestimmbar ist. Die Ideenwissenschaft ist die methodische Voraussetzung
für alle empirisch-exakten Wissenschaften, das Empirische unter Ideen der
Exaktheit erforschenden und bestimmenden Wissenschaften. Diese Sätze
werden im Weiteren erst ganz verständlich werden. Vorläufig deuten sie,
auch zeitlich, vor. Und vorläufig stehen wir nur bei der Tatsache, dass Platon
der Entdecker des „Apriori“ war und es kommt alles darauf an, uns den
Sinn der Apriorität, der Seinsart des Idealen bis ins Letzte und im Einzelnen
zur Klarheit zu bringen.
Die Idee der Schönheit, die Idee der Freundschaft, Tapferkeit, was besagt
das? Wir antworteten wie im Anschluss an das sokratische Verfahren nichts
anderes als das in diesem zu vollendeter Klarheit oder Einsicht kommende
Wesen. Die echte Schönheit als solche. Die Idee, das Wesen ist, wie Platon
zum Beispiel im Gastmahl ausführt, natürlich nicht irgendeiner der empiri-
schen Einzelfälle von schön genannten Objekten, etwa einer von jenen, von
denen sich das sokratische Verfahren leiten ließ. Die konkreten individuellen
Objekte, die wir schön, die konkrete Verbindung zweier Persönlichkeiten, die
ihre individuelle Freundschaft, etwa die des Achill und Patroklos, ausmacht,
sind nicht die Idee der Schönheit, die Idee der Freundschaft. Die Idee ist nicht
das einzelne Faktum, ist auch nicht an einzelnen Fakten durch empirische
Vergleichung zu gewinnen. Dadurch würden wir nur gemeinsame empirische
Eigenschaften finden wie die, dass alle Menschen zweibeinig sind, aber nie
Ideen. Das einzelne schöne Objekt entsteht und vergeht, sagt Platon weiter,
und es wechselt die Eigenschaften. Aber die Idee der Schönheit entsteht
nicht und vergeht nicht. Sie ist nicht wie das empirische Objekt im Raum
oder in der Zeit, nicht bald hier, bald dort, sie verändert sich nicht, sie ist, was
sie ist, als ein An-sich, sie ist etwas, das zeitlich zur Erkenntnis kommt oder
nicht zur Erkenntnis kommt, vom Subjekt erschaut oder nicht erschaut wird,
aber darum nicht erst wird mit dem Erschauen und nicht vergeht, wenn das
Erschauen aufhört. Die Schönheit an sich, die Idee, ist was sie ist, mag es in
der Welt ein im wahren Sinne Schönes geben oder nicht geben, und wieder,
mag es Menschen geben, die sie erschauen oder nicht.
Wir fügen, und wie wir meinen ganz in platonischem Sinne, bei: Im sokra-
tischen Verfahren der allgemeinen Herausstellung einer Idee, die als Norm
einer Sorte von Echtheit gesucht ist, dienen konkrete Exempel, und diese
können Exempel aus wirklicher Erfahrung sein. Aber ebenso gut können
platon und die entdeckung des apriori 45
ihr dienen Exempel der Mythologie, der Kunst, der freien Phantasie. Wol-
len wir uns das Wesen einer Freundschaft überhaupt, also die Idee echter
Freundschaft herausarbeiten, so ist es offenbar ganz gleichgültig, ob wir in
der Erfahrung einen Fall schon kennengelernt haben, den wir als „echte
Freundschaft“ ansprechen können; vielleicht gibt es in der wirklichen Welt
einen solchen Fall, eine ganz reine und echte Freundschaft, überhaupt nicht.
Und selbst wenn wir meinten, einen solchen Fall in der Erfahrung gegeben zu
haben, ist es gleich, ob wir uns in der Beurteilung dieses Falles getäuscht und,
wie wir sagen, diese Freunde „idealisiert“ hätten, und ebenso gut könnte
uns ein völlig fingierter Fall dienen. Zudem liegt es, genau besehen, im
Sinne des Verfahrens, dass das im Exempel wirklich Vorgegebene oder schon
Vorfingierte, in freier Phantasie-Aktion ummodelliert wird. Wir erwägen in
concreto, wie die Freunde sich gegeneinander benehmen; wir denken uns
den Fall verändert, wir fingieren ihn um und fragen: Würde das noch echte
Freundschaft sein, wenn zum Beispiel der Freund den Freund um Ehr oder
Geld verlassen würde, etc. Der Vollzug solcher freien Wandlungen in Fällen
lebendiger exemplarischer Anschauung soll ja dazu dienen, die notwendigen
Abwandlungen der Wertprädikate sichtlich zu machen. Und im Allgemein-
heitsbewusstsein springt dann am Exempel hervor: Ein solches Verhalten
ist überhaupt und allein das zu billigende, so charakterisiert sich überhaupt
und notwendig ein gutes und schönes Verhalten, so bestimmt sich überhaupt
das Wesen der echten Freundschaft, und ein anderes, abweichendes ist ein
unschönes Verhalten und gehört zur falschen, unechten Freundschaft.1
Überempirische2 Wesenheiten sind die Ideen, sie sind „a priori“. Dieser
Ausdruck, der erst viel später gebräuchlich geworden ist, besagt nichts an-
deres als ein gegenüber der Erfahrung „Früheres“. Der Gegenausdruck
lautet „a posteriori“, der Erfahrung nachgehend, das der Erfahrung ge-
genüber Spätere. Der Anfänger muss gleich zu Beginn den eigentlichen
Sinn dieses Gegensatzes, des aus der Erfahrung und des nicht aus der Er-
fahrung Geschöpften, „Entsprungenen“ bzw. Entspringenden, sich zuzueig-
nen; zumal diese Begriffe verfälschende Verschiebungen leicht erfahren und
1 Gestrichen Es verhält sich also hier ähnlich wie in der Geometrie, wo wir generelle und reine
Einsichten gewinnen, während doch das geometrische Verfahren ein freies Phantasie-Verfahren
als Unterlage hat. Zwar mag der Geometer ausgehen von Zeichnungen auf dem Papier, aber
die gezeichneten Figuren lässt er in der Phantasie sich frei wandlen, die Linien sich ev. ins
Unendliche recken, ohne zu fragen, ob wirkliche Erfahrung so abgewandelte Gestaltungen je
gezeigt hat. Doch wir werden hören, dass das mehr als ein Gleichnis ist.
2 Randbemerkung Der Unterschied zwischen Apriori und Aposteriori.
46 einleitung in die philosophie
1 Beilage Es ist dabei völlig gleichgültig, ob es sich um Menschen dieser Welt handelt oder
Menschen und sonstige Wesen in einer anderen wirklichen oder auch nur möglichen Welt.
Denken wir uns überhaupt ein Wesen, das liebt und hasst, begehrt und flieht, will und handelt,
so steht es, wie immer es sonst beschaffen und in einer wie gearteten Welt es immer leben möge,
unter Ideen als reinen und absolut gültigen Normen, nach denen sein jeweiliges Verhalten
als richtig oder unrichtig, als praktisch vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen ist. Diese
Ideen und ihre absolut verpflichtende Geltung sind im sokratischen Verfahren vollkommen
einsichtig zu erfassen und ebenso die mannigfachen, aus ihnen entspringenden normativen
Gesetze als Gesetze einer „apriorischen“, überempirischen Wahrheit. Solche Gesetze sind zum
Beispiel: dass Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun; dass jede Einmengung von Motiven
der Selbstsucht den reinen Wert der einem Nächsten erwiesenen Liebesdienste erniedrigt; oder
dass ein genusssüchtiges Leben bei einem Vernunftwesen verwerflich ist; dass Sinnlichkeit nur
die mittelbare Wertfunktion einer sinnlichen Notdurft hat, deren begrenzte Befriedigung nur so
weit und nur mit Rücksicht darauf wert sein kann, als sie zur Sicherheit der psychophysischen
Kraftfülle dient, deren ein Vernunftwesen bedarf zur Ermöglichung eines Lebens im Geiste,
eines Lebens, das sich nach reinen Ideen und Idealen orientiert. Solche und viele ähnliche Sätze
leuchten in ihrer überempirischen Geltung und nach ihrem praktischen, absolut verpflichtenden
Charakter ein, sowie ihr Sinn und insbesondere der Inhalt der in ihnen spielenden Grundbegriffe
nach sokratischer Methode zu letzter Klarheit und Reinheit gebracht worden ist. Man sieht dann,
dass sie nicht zufällige Eigenheiten der zufälligen naturhistorischen Spezies homo ausdrücken,
sondern in der Tat für jedes wirkliche oder zu imaginierende Wesen, das auf Unterlage einer
Sinnlichkeit freie Vernunftakte zu üben vermag, das fähig ist, sich Ziele zu stellen und ihre
Werte aneinander zu wägen. Solche Sätze sind, was die Quelle ihrer Geltung anlangt, also total
verschieden von allen empirisch allgemeinen Sätzen, von Sätzen, die durch Beobachtung und
Experiment und nach Methoden der „Induktion“ in den sogenannten induktiven Wissenschaf-
ten gewonnen werden. Es gilt das für die Sätze, wie es für die sie bestimmenden Begriffe gilt.
Ideale Sätze, Sätze von normativer Idealität sind völlig frei von empirischen Begriffen.
48 einleitung in die philosophie
aufzuweisen und daher auch nicht aus ihr zu entnehmen ist. Ja, selbst in
der sinnlichen Phantasie kommt dergleichen eigentlich nicht vor. Und doch
schöpft der Geometer aus einsichtigen Quellen. Sinnlich zu sehen ist eine
Gerade, eine Linie im Sinne der Geometrie nicht, und doch in gewisser Weise
schauend zu erfassen. Man denkt sich die dicken Striche feiner und immer
feiner gezogen und konzipiert einsichtig das Ideale, die reine Idee einer
Grenze, die reine Linie. Sobald die empirisch-räumlichen Begriffe durch
die idealisierende Intuition in reine Begriffe, die empirischen Raumgestal-
ten in ideale verwandelt sind, wird ein rein apriorisches und deduktives
Denken möglich. Unmittelbar einsichtig sind unbedingt gültige apriorische
Wahrheiten zu erfassen, Axiome der Geraden etc., und dann kann man
rein deduktiv fortschreiten in immer neuen Schlüssen und Beweisen zu
neuen. Alles ist von absoluter Exaktheit und von einer beispiellos durch-
sichtigen Klarheit und alle Wahrheit ist hier apriorische, ideale Wahrheit,
unbedingt allgemeingültige, jede eine Norm für mögliche Erfahrungswahr-
heit. Ebenso in der Arithmetik. Mag hier auch die Begriffsbildung eine
andere sein. Die Zahlen der Zahlenreihe kann man in überempirischer
Reinheit fassen, als gelöst und rein von allem Empirischen, und eine rein
apriorische, absolut exakte und unendlich fruchtbare Arithmetik begrün-
den.
Hiermit sind also zwei neue große Sphären reiner Apriorität eröffnet
und es ist Platons unsterbliches Verdienst, dass er zuerst diese erkannt
und die Mathematik aus der Empirie oder aus der Verworrenheit, die das
Apriorische für Empirisches hält, auf die Stufe der vollbewussten Gestalt
apriorischer Wissenschaft erhoben hat. Ihm ward klar, dass hier unendliche
Felder einer reinen und echten πιστμη vorliegen, die sich mit keiner
Voraussetzung der empirischen Doxa behaftet. Die mathematischen Begriffe
sind in der Tat a priori und haben alle Grundeigenschaften der Ideen der
ersten Gruppe der Vernunftideen, wiederum überräumlich und überzeitlich,
auch wenn sie Ideen „von“ Räumlichem und Zeitlichem sind. Die Idee
einer Gerade ist keine empirische Allgemeinheit. Da sich so etwas wie ein
rein Gerades in der Erfahrung nicht ausweisen lässt, so kann keine empi-
rische Vergleichung von Gestalten faktischer Dinge je so etwas wie reine
Gerade oder geometrische Gestalt sonst ergeben. All die geometrischen
Wahrheiten haben demgemäß, wie alle arithmetischen nicht minder, eine
nicht an das hic et nunc der Erfahrung gebundene, eine überzeitliche,
eine ewige Geltung. Von allem Subjektiven, speziell von aller fließenden
menschlichen Sinnlichkeit und der mit ihr gegebenen Relativität sind sie
frei. Das Dreieck hat zur Winkelsumme 2 R, das gehört zum Wesen der Idee
52 einleitung in die philosophie
Dreieck. Gäbe es keine faktische Welt und hätte es nie in ihr ein Dreieck
gegeben, der Satz hat doch absolute Geltung, wofern wir nur das fingierte
Dreieck als Dreieck desselben idealen Sinnes verstehen, den wir im Auge
haben. Ein rein mathematischer Satz hat eine ideale absolute Geltung, ganz
so wie der normative Satz absolute Geltung hat, „dass Unrecht leiden besser
ist als Unrecht tun“ oder sonstige ethische Wesenswahrheiten mit ewiger
Gültigkeit.
Ja, in gewissem Sinne sind auch die geometrischen Begriffe „Normbe-
griffe“, obschon sie nicht in sich selbst Begriffe sind, die Ideen der Geltung
ausdrücken und zu den Grundarten der Stellungnahmen die nahe korrelative
Beziehung haben wie Wahrheit zum Urteilen, wie Wert zum Werten, wie
Zweck und Mittel zum Wollen. Die reine Gerade, die reine Ebene, die
reine Linie oder Fläche überhaupt in allen besonderen Gestaltungen, das
sind Ideale, in Bezug auf welche alle wirklichen und möglichen empirischen
Gestaltungen als bloß mehr oder minder vollkommene Annäherungen auf-
gefasst werden können. Ideale sind aber keine nichtigen Fiktionen sondern,
und das ist eben die platonische Entdeckung, in sich feste objektive Normge-
bilde der Vernunft, die man sich in Denkarbeit erarbeiten muss. Ferner, dem
Empirischen in seinem kontinuierlichen Fluss derartige Ideale unterlegen
und sie in Bezug auf diese als Annäherungen auffassen, das ist ein selbst a
priori als notwendig einzusehendes Mittel, um im Fluss Posto zu fassen und
ein objektiv gültiges Urteil in ihm zu ermöglichen. Das Vage birgt in sich nur
in der Form Regel und Gesetze, dass es unter Ideen zu fassen ist, die den Fluss
begrenzen. Exakte Wissenschaft auf dem Boden der fließenden Erfahrung in
der sinnlich gegebenen Natur ist nur dadurch möglich, dass wir methodisch
lernen, dem Vagen als idealen Grenzfall ein Gesetzlichkeit bestimmendes
Exaktes zu unterlegen. Ohne Mathematik gäbe es keine Möglichkeit die
sinnliche Natur in ihren räumlichen Beschaffenheiten und dann weiter auch
in ihren Raum füllenden, spezifisch physikalischen Beschaffenheiten exakt
wissenschaftlich zu bestimmen.
Man muss sagen: Die Konzeption der geometrischen Begriffe, so wie
andererseits der arithmetischen, als apriorische ideale Begriffe, als der Gel-
tung nach aller Empirie vorangehende Begriffe ist ein Fortschritt mensch-
licher Erkenntnis von einer geradezu beispielslosen Tragweite; das haben
leider weder die Historiker der Philosophie noch der Mathematik und der
Naturwissenschaften hinreichend betont oder sich zur Klarheit gebracht.
Die Mathematik, die wir heutzutage alle wie eine selbstverständliche Sache
vor Augen haben, und die auf sie gebaute exakte Naturwissenschaft sind
erst durch die platonische Entdeckung des Apriori und seine entsprechende
platon und die entdeckung des apriori 53
Natur mit beliebiger Annäherung berechnen kann. Aber freilich über dunkle
Ahnungen ist Platon da nicht hinausgekommen, nur die reine Geometrie als
ein Grundstück möglicher echter Naturwissenschaft tritt zu Tage.1
Die erste exakte Wissenschaft tritt als rein apriorische Wissenschaft auf
den Plan. Nun sieht man und zum ersten Mal, wie eine echte Wissenschaft
aussieht, ein geordnetes System von absolut strengen Wahrheiten an sich,
aus reinster Evidenz geschnitten, frei von aller Subjektivität und Relativität,
systematisch aufgebaut auf unmittelbar einsichtigen Wesenswahrheiten, den
Axiomen, aufgebaut in strengsten Schlussfolgerungen, in geordneten Be-
weisen, die sich ihrerseits zusammenschließen zu übersichtlichen Theorien
und Partial-Disziplinen. Keine Tatsache in der Geschichte der Wissenschaf-
ten kann größer, kann folgenreicher eingeschätzt werden, als diese erste
Schöpfung einer strengen Wissenschaft, und dies ermöglichte der platonische
Idealismus.
Platon selbst erkannte oder mindestens erschaute aber auch schon, was
wir vorhin bereits angedeutet haben, dass in der empirischen Welt, der Welt
unserer Sinnlichkeit, nur durch Mittel mathematischer Exaktheit, also durch
Anwendung der Mathematik, durch Methoden einer Mathematisierung der
Erscheinungen (einer Substruktion reiner Ideen, in Bezug auf welche das
Sinnliche als bloß fließende Annäherung und Bekundung anzusehen sei) eine
echte, strenge Wissenschaft der Natur möglich sein könnte. Aber über die
allgemeine Vorerschauung kam er nicht hinaus zu einem wirklichen Anfang
einer exakten physikalischen Theorie. Hier waren viel größere Schwierig-
keiten zu überwinden, methodischer und sachlicher Art; und so hat es denn
überhaupt das Altertum in dieser Hinsicht nur zu kleinen Anfängen gebracht,
deren bedeutendste sich, wenn wir von der Astronomie absehen, an den
Namen Archimedes anschließen. Gehen wir wieder einen Schritt weiter.
Nahe2 verwandt mit dem mathematischen und speziell dem arithmeti-
schen Apriori ist das Apriori einiger Begriffe, die Platon öfters heranzieht
und sich an ihnen die Bedeutung der Idealität klar macht, Begriffe, die eine
universellste Bedeutung haben und auf eine formale Ontologie weisen3.4
tologie ist eine Wissenschaft, die von den allerallgemeinsten Bestimmungen handelt, ohne die
Seiendes überhaupt, irgendetwas überhaupt, von dem in Wahrheit und in allerallgemeinstem
Sinn gesagt werden kann „es ist“, nicht gedacht werden kann.
platon und die entdeckung des apriori 55
Gehen wir aus vom Begriff des Gegenstandes überhaupt. Ein Haus ist ein Ge-
genstand, aber auch die Idee der Schönheit ist ein Gegenstand, und die Zahl
Zwei ist ein Gegenstand usw. Von all dem kann man in Wahrheit etwas aus-
sagen. Ein rundes Viereck ist kein Gegenstand, ein fingierter Zentaur ist kein
Gegenstand usw.1 Gegenstand ist mit sich Identisches, und zwar identisches
Substrat von ihm in Wahrheit zukommenden Prädikaten. Unstimmigkeit,
Widerspruch hebt die Identität auf. „Identität“ ist solch ein Begriff, den Pla-
ton in Erwägung zieht, ebenso der Gegenbegriff der Verschiedenheit, ebenso
die Begriffe „Gleichheit“ und „Ungleichheit“. Offenbar sind das formale, in
jedes mögliche Gebiet von Gegenständen hineingehörige Begriffe. Alles und
jedes ist mit allem und jedem zu vergleichen und die Relationsprädikate
„gleich“ oder „ungleich“ müssen überall Anwendung finden können. Es
sind aber diese allgemeinsten Gegenstandsbegriffe offenbar a priori, sie
sind nicht aus der Erfahrung zu schöpfen. Identität kann man nicht sehen,
nicht mit Auge, Ohr, usw. Die Sinnlichkeit kann uns nie dahin führen, im
strengen Sinne zu sagen, je von diesem und jenem Baum, mögen sie auch
zum Verwechseln ähnlich sein, sie seien wirklich und im strengen Sinne
gleich. In der Erfahrung gibt es nur größere oder geringere Ähnlichkeit, sie
ist eine Sphäre des Fließenden, Vagen, Ungefähren; absolute Gleichheit ist
eine Idee, ebenso wie das absolut Gerade der Geometrie, eine Idee, in Bezug
auf welche eben von Annäherung zu sprechen ist, die aber aus der Erfahrung
nie geschöpft, in ihr nie wirklich im Einzelfall konstatiert werden kann.
Es gibt, was uns hier besonders interessieren soll, eine ganze Reihe von
Begriffen, die mit den eben genannten Begriffen zusammengehören und
sich um den Begriff des Gegenstandes überhaupt gruppieren, nämlich die
unaufhebbar zu seinem Wesen gehören und daher in den für alle Gegen-
stände möglichen Prädikationen eine Rolle spielen. Sie bilden ein eigenes
Begriffsgebiet, und zwar ein rein apriorisches. Dahin gehören, genau bese-
hen, offenbar auch die sämtlichen arithmetischen Begriffe und daher die
ganze Arithmetik, also was wir für so inhaltsleere Begriffe zunächst nicht
erwartet haben werden, eine große Wissenschaft. So geht es aber auch mit
anderen Begriffen dieser Sphäre, und alle hierhergehörigen Wissenschaften
sind innerlich zur Einheit einer Wissenschaft verbunden, so wie die betreffen-
den Begriffe selbst verbunden sind durch ihre allgemeinste Wesensbeziehung
zur weitesten Idee des Gegenstandes überhaupt.
identisch Setzbares.
56 einleitung in die philosophie
Knüpfen wir an die Arithmetik bzw. an den Begriff der Zahl an. Wir
sind alle gemäß uralter Tradition geneigt, die Arithmetik mit der Geometrie
zusammenzutun und als gleichgeordnete Disziplinen der Mathematik anzu-
sehen. Näher besehen, hat aber die Arithmetik eine grundwesentlich andere
Stellung im Reich der Wissenschaften als die Geometrie, die Wissenschaft
von Raum und räumlichen Gebilden, und gehört mit dieser nicht zusammen.
Das aber zeigt sich schon an der ganz anderen und ungleich umfassen-
deren Universalität möglicher Anwendung für den Zahlbegriff gegenüber
dem Raumbegriff und gegenüber allen anderen Begriffen, die eben nicht
dem Zahlbegriff darin gleichstehen, dass sie eine notwendige Beziehung
zur formalsten und allgemeinsten aller Ideen haben, nämlich zur Idee des
Gegenstandes überhaupt. Durch Zählen erfassen wir eine Zahl, und zählen
können wir Häuser, Bäume und sonstige sinnliche Dinge. Zählen können
wir aber auch Ideen wie die Ideen „Gerade“, „Dreieck“ und sonstige
geometrische reine Gestalten oder ethische Ideen, wie wenn wir von der
Anzahl der kardinalen Tugenden sprechen. Zählen können wir alles und
jedes. Zur reinen Idee der Zahl überhaupt kommen wir, wenn wir nicht nur
überhaupt alles Empirische, Sinnliche ausscheiden, was die gezählten Einhei-
ten empirisch binden würde, sondern wenn wir, darüber hinausgehend, auch
die höchsten und selbst schon ideal reinen Gattungsbegriffe ausscheiden,
welche die Einheiten noch irgend sachhaltig bestimmen könnten. Die Idee
eines Raumobjektes, eines materiellen Dinges, eines organischen Wesens,
einer Seele, eines vernünftigen Subjekts – das alles sind sachhaltig bestimmte
Ideen, sie haben eine ideale, aber umgrenzende und umgrenzte Univer-
salität. Denn nicht alles und jedes ist ein Raumgegenstand. Ein Urteilen,
ein Wollen ist es nicht, es hat keinen Sinn, ihm Raumgröße, Raumgestalt,
räumliches Dasein nach Art eines physischen Dinges zuzuschreiben. Und
ebenso ist nicht alles und jedes ein Lebewesen, eine vernünftige Persönlich-
keit.
Wenn wir aber die Idee einer reinen Zahl im Sinne der Arithmetik bilden,
so ist die zu zählende Einheit, die Idee des als Anzahleinheit Gezählten
als solchen, in der universalsten und leersten Allgemeinheit genommen,
und diese Allgemeinheit bestimmt alle Begriffe wie 2, 3, 4, wie alle Zah-
len der Zahlenreihe. Da ist zu merken, dass die arithmetisch erforderli-
che Verallgemeinerung und Reinigung, die uns Ideen wie Zahlen ergibt,
eine wesentlich andere ist als diejenige welche uns andere, wie wir sagen
„sachhaltig bestimmte“, Ideen wie Dreieck, Raumfigur überhaupt, Ding,
organisches Wesen u. dgl. ergibt. Freilich, zu allen Ideen gehören aprio-
rische Wahrheiten, und so gehören, um den Kontrast im viel verkannten
platon und die entdeckung des apriori 57
heiten hat; da tritt also der Begriff der Beschaffenheit auf. Jeder ist zu
jedem in Beziehung zu setzen, jeder mit jedem anderen kollektiv zu ver-
knüpfen, die kollektive Verknüpfung wieder zu verknüpfen mit irgendwel-
chen anderen möglichen Gegenständen, die so gebildeten Vielheiten oder
Mengen sind zählbar, sind in Reihen zu ordnen, in den Reihen sind Ord-
nungszahlen zu etablieren usw. So gehören untrennbar zur universalsten
Lehre Ideen: die des Gegenstandes, Ideen wie Eigenschaft, Beschaffen-
heit, Beziehung, Verbindung, Ordnung, Menge, Anzahl, Ordinalzahl, Größe,
Ganzes und Teil und noch manche andere Begriffe.1 Man kann nun die
Aufgabe stellen, die Gesamtheit der in reinem Denken sich ergebenden
Grundwahrheiten festzustellen, die mit Beziehung auf diese reinen Be-
griffe zu allen erdenklichen Gegenständen überhaupt gehören, und aus die-
sen Grundwahrheiten in rein deduktivem Denken die darin beschlossenen
Folgewahrheiten abzuleiten. Dann erwachsen apriorische Disziplinen wie
reine Anzahlenlehre, reine Ordinalzahlenlehre, reine Größenlehre, reine
Kombinations- und Relationslehre usw., Disziplinen, die in der heutigen
hochentwickelten analytischen Mathematik (unter dem Titel „reine Ana-
lysis“) beschlossen sind. In der Tat hat sich die neue Mathematik immer
mehr zu einer rein apriorischen Wissenschaft umgebildet, die alle zur
Idee des Gegenstandes überhaupt gehörigen Wahrheiten zu behandeln ten-
diert oder auf dem Weg dazu ist, sie nach und nach alle in sich aufzuneh-
men.
Scheinbar ist der Begriff des Gegenstandes überhaupt in seiner formalen
Leere unfruchtbar als Thema für Fragestellungen. Sagen wir von irgendetwas
es sei ein Gegenstand, so haben wir ja eigentlich gar nichts Wertvolles ausge-
sagt. Gegenstand zu sein, das ist etwa dasselbe wie etwas sein. Und wir wollen
doch wissen, was jeweils einem vorgelegten Gegenstand zukommt. Aber es
ist nun das Merkwürdige, dass mit der leeren Form der Gegenständlichkeit
ein unendliches Formensystem zusammenhängt, als ein formales Gerüst
von Begriffen und Wahrheiten, ohne das kein Gegenstand widerspruchslos
gedacht werden kann oder in das jeder Gegenstand als Gegenstand des be-
ziehenden und verknüpfenden Denkens a priori und notwendig einbezogen
gedacht werden kann.
Die Erkenntnis dieser formalen Denkmöglichkeiten und Denknotwen-
digkeiten, die für jeden Gegenstand bestehen, erweist sich (und nicht zu-
lichkeit überhaupt.
platon und die entdeckung des apriori 59
fällig) als unendlich fruchtbar für alle sachhaltige Erkenntnis von Gegen-
ständen. Für die Disziplinen der modernen Analysis weiß das heute jeder
Naturforscher und Techniker sehr wohl. Das rein apriorische Denken ist
nicht nur in der raum-körperlichen Sphäre, sondern in der allgemeinsten
formalen Sphäre (trotz seiner Weltabgewandtheit) unendlich reich an frucht-
baren Erkenntnissen zur Anwendung auf die gegebene Welt. In welcher
sachhaltig bestimmten Gegenstandssphäre sich je eine Wissenschaft eta-
blieren mag, wo immer da Anlass ist, zu zählen, Größenvergleichungen zu
vollziehen, Beziehungen herzustellen, aufgrund der Beziehungen zu ordnen
nach einfachen und mehrfältigen Reihenordnungen, oder Ganze zu teilen,
Gegenstände zu Ganzen zu verbinden, da werden die mathematischen Ge-
setze der Menge, der Anzahl, der Ordnung und Ordinalzahl, der Größe,
usw. ihre freie Anwendung finden. Die formale Mathematik, die, universell
gefasst, eine formale Wissenschaft von Gegenständlichkeit überhaupt ist,
ist ein unendlicher Fond von apriorischen Wahrheiten, die allen möglichen
Wissenschaften frei zu Gebote stehen und allen a priori vorangehen. Ich
nenne diese in einer Anzahl von Disziplinen der modernen Mathematik,
aber noch unvollständig, realisierte Wissenschaft „formale Ontologie“. Sie
ist „Ontologie“, das heißt Wissenschaft vom Seienden überhaupt, aber for-
male Ontologie. Das heißt: Alles Sachhaltige, alles, was uns an ein be-
sonderes, inhaltlich so und so bestimmtes Seinsgebiet bindet, lässt diese
Wissenschaft außer Betracht. Die reine Arithmetik fragt nicht nach dem
Was des zu Zählenden. Ob es im Anwendungsfall Physisches oder Psychi-
sches, Reales oder Ideales sein wird, das bleibt in ihr völlig unbestimmt-
allgemein. Die reine Kombinationslehre fragt nicht, was kombiniert, was
kombinatorisch geordnet wird; sie handelt von den Formen möglicher kom-
binatorischer Ordnungen überhaupt. Die reine Größenlehre fragt nicht, ob
die Größen Raumgrößen oder Größen in idealen Sphären sind. Und so
überall.
Die formale Ontologie handelt aber nicht bloß, wie die ältere Mathema-
tik, von Größe und Zahl. Denn wenn sie sich von der Idee einer Relation
überhaupt, einer Verbindung überhaupt, von Verhältnissen zwischen Gegen-
ständen und Beschaffenheiten überhaupt u. dgl. leiten lässt, gibt es vielerlei
apriorische Gesetze, die nicht im gewohnten Sinne mathematische und doch
von gleicher formaler Allgemeinheit sind und vom gleichen wissenschaftli-
chen Typus. Zu all dem hat Platon sozusagen das Tor eröffnet. Freilich, in
aller Klarheit hat das erst Leibniz erkannt und demgemäß den Begriff der
mathesis verallgemeinert. Von dem Anfang bis zur vollen Entwicklung liegen
die Jahrtausende rein mathematischer Forschung, die Platons wunderbarer
60 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Die Geometrie bindet uns an das Reich möglicher Raumobjekte und ebenso eine
ebenso hinsichtlich der Musik, in Bezug auf welche er die kühne Forderung
einer überempirischen Musik stellt.1,2
In3 den bisher durchgeführten Betrachtungen haben wir uns einen reinen
und völlig zweifellosen Wertgehalt der platonischen Ideenlehre zugeeignet.
Zum Verständnis ist uns gekommen die in ihr beschlossene Entdeckung
apriorischer Erkenntnis, mit a priori geschöpften Begriffen und Urteilen, sich
auswirkend in apriorischen Disziplinen. Platonische Ideen, wenn wir sie frei
halten von jederlei nur allzu leicht sich eindrängenden mythischen Beimen-
gungen, sind allgemeine Wesenheiten, nicht aus der Erfahrung, sondern in
einem reinen Schauen, in einer generalisierenden Intuition zu schöpfen und
in ihr dann auch gegenständlich gegeben. Ihre methodologische Funktion in
der Erkenntnis war klar: Als reine und generelle Wesenheiten sind sie zur
Normierung berufen.
In welcher Hinsicht wir Gegenstände auch betrachten, welche Begriffe
wir auch benützen, um über sie rechtmäßige Aussagen zu machen, diese
Begriffe, aussagbare Prädikate jeder Art, weisen auf Ideen zurück.4 Immer
muss es möglich sein, diese Begriffe zu reinigen und von aller Bindung an
1 Gestrichen In der Begeisterung für die Entdeckung des reinen Apriori sucht er nach immer
neuen Domänen apriorischer Erkenntnis und nach immer neuen in ihnen normgebend fun-
gierenden Ideen. Er kommt noch nicht dazu, die schon erschaute fundamentale Sonderung im
Reich des Apriorischen, die Scheidung des formal-ontologischen und des sachhaltigen Apriori
in den Brennpunkt zu stellen und nach der ersteren Seite eine abgeschlossene Wissenschaft für
sich auszubauen, eine Wissenschaft, welche darauf abzielt, in systematisch geordneter Weise alle
Ideen und idealen Gesetze herauszustellen, die allen möglichen Wissenschaften vorangehen und
in allen anwendbar sind, weil sie eben das betreffen, ohne was eine Gegenständlichkeit über-
haupt gar nicht gedacht werden kann. Er ahnte noch nicht, was für eine gewaltige Wissenschaft
und mit wie vielen, unendlich fruchtbaren Disziplinen die von ihm berührte Idee einer forma-
len Gegenstandslehre umspannen würde, Disziplinen, die heute den Stolz der analytischen
Mathematik ausmachen, wie Algebra, Zahlentheorie, Funktionstheorie, Mannigfaltigkeitslehre
usw. Auf der anderen Seite stehen Wissenschaften, die immer noch a priori, aber an inhaltlich
bestimmte Ideen möglicher Gegenständlichkeiten gebunden sind, so die Idee eines Raumdinges
und die zugehörige Idee der räumlichen Gestalt oder die Idee der Bewegung und wieder die
Idee der Seele u. dgl.
2 Eingelegtes Blatt Die dreifache Wissenschaftstheorie. Ist natürlich stark vergröbert. Ich
habe sie nach dem logischen Denken orientiert und nach den fundierenden Akten. Dann käme
aber doch die Stufenbildung auf noematischer Seite in reinster differenzierter Betrachtung,
also auf gegenständlicher Seite die konstitutiven Unterstufen der Gegenständlichkeit, auf
apophantischer Seite die Unterstufen der Sinnesgebilde, also für Gegenstände die eventuellen
Phantome, Aspekte und dergleichen „Erscheinungsmodi“. Und für die Sätze? Da käme wohl
das Allgemeinste über die Lehre von der Explikation, Kollektion, etc.? (Note: während der
Vorlesungen über dieses Kapitel Vereinfachungen zugunsten der Anfänger).
3 Randbemerkung Rekapitulation und Ergänzungen.
4 Randbemerkung Alle Begriffe weisen auf Ideen zurück.
62 einleitung in die philosophie
digung verschafft. Begreiflich ist also in den Anfängen und so bei Platon
in eins mit einer überschwänglichen Schätzung der Ideenerkenntnis eine
Herabschätzung, ja Verachtung der empirischen Erkenntnis. Kann sie im
Reich des Vagen und Fließenden je die Gestalt exakter Naturwissenschaft
annehmen?
Um Ihnen die gewaltige Bedeutung der platonische Ideenlehre recht
eindringlich zu machen, habe ich, weit vorgreifend, Ihnen, den schon in der
neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften Erzogenen, gesagt, dass nur die
Ideenlehre und die aus ihr entsprossenen apriorischen Wissenschaften wie
Geometrie, Analysis, Mechanik, solche mathematisch exakten Naturwissen-
schaften ermöglicht haben und dass dabei der Gedanke der Approximation,
der bei Platon als „Verähnlichung“, als ungefähre „Anteilnahme“ auftritt,
wesentlich mitspielt. Aber damit sollte nicht gesagt sein, dass Platon schon so
weit war, in dieser Hinsicht eine bestimmte Idee solcher Naturwissenschaft
konzipieren zu können; wie es ihm ja auch schon gewaltige Mühe machte,
den rein methodologischen Sinn der Idee und die Eigenart ihres Seins als
begrifflichen Wesens von allen mythischen Beimengungen frei zu bekom-
men. So weit er auch kam, letzte Unreinigkeiten verblieben noch, die die
historische Wirkung seiner Entdeckungen genug geschädigt haben.
Jedenfalls muss man sagen: Eine für die Entwicklung strenger Natur-
wissenschaft unentbehrliche Vorarbeit hat er nicht nur in der Begründung
apriorischer Disziplinen überhaupt gegeben, sondern durch seine beständige,
mit der Ideenforschung verflochtene methodologische Forschung. Die Mög-
lichkeit einer streng wissenschaftlichen physischen Naturerkenntnis musste
ja für ihn ein beständiges Problem sein, da die Sophisten sie geleugnet
hatten, da insbesondere ein Protagoras in wirksamster Weise alle Prädi-
kation in der sinnlich-anschaulich gegebenen Welt als bloß subjektiv-relativ
hingestellt hatte. Mit der sokratischen Position, dass diese Unvollkommen-
heit der Naturerkenntnis nichts schade für unsere ethische Vernunftpraxis –
denn um uns als redliche, gerechte, wahrhafte Menschen zu bewähren,
als gute Bürger, als im wahren Sinne tapfere Soldaten, dazu brauchte es
keine naturwissenschaftlichen Spekulationen –, möchte sich ein Platon nicht
begnügen. Die hierhergehörigen platonischen Untersuchungen haben den
Charakter wissenschaftstheoretischer Untersuchungen. Sie betreffen We-
sen oder Möglichkeit objektiver Wissenschaft von der Natur, sie suchen nach
einer Theorie dieser Möglichkeit. Diese auf Natur bezogenen Untersuchun-
gen nahmen aber bei ihm stets zugleich die Gestalt universell wissenschafts-
theoretischer Untersuchungen an. Denn in seinem Radikalismus machte
Platon das methodologische Problem in seiner größten Allgemeinheit zum
64 einleitung in die philosophie
Formale Wissenschaftslehre
hinaus zur epistēmē, zur echten Erkenntnis, in der wir die echte Wahrheit
haben, hinführt. Kunstmäßig geregelt werden dabei die Urteilstätigkeiten
mit all den Tätigkeiten, die diesen wesentlich zugehören, sie notwendig even-
tuell fundieren, worüber wir Näheres natürlich vor der Untersuchung nichts
wissen. Soll diese „Kunst“ selbst einsichtig begründet sein, so muss sie es in
Form einer wissenschaftlichen Kunstlehre sein. Haben wir uns schon mit dem
platonischen Geiste vollgesogen, so werden wir hier, kühn vorwärts gehend,
doch sagen müssen, dass auch diese, wie jede Wissenschaft, ihr Apriori haben
muss.
Aber fangen wir lieber zunächst umgekehrt an. a) Soweit diese Kunst
uns faktischen Menschen mit unseren faktischen seelischen Vermögen im
Erkennen helfen will, wird die wissenschaftliche Kunstlehre die Wissen-
schaft von den menschlichen Seelenkräften (ja vielleicht auch von seinen
leiblichen) voraussetzen. Es bedürfte also vorher einer wissenschaftlichen
Anthropologie und insbesondere Psychologie und noch enger einer Psy-
chologie der Erkenntnistätigkeiten und aller seelischen Eigenheiten, die im
urteilenden Erkennen in Frage sind. So weit wäre eine logische Kunstlehre
also tatsachenwissenschaftlich fundiert, auf die faktische Wirklichkeit, in der
faktisch die Spezies homo mit bestimmten Eigentümlichkeiten vorkommt,
bezogen. b) Andererseits, in jeder anschaulichen Sphäre gibt es Ideen zu
schöpfen;1 wie aufgrund von Exempeln äußerer Sinnlichkeit können wir auch
aufgrund innerer Anschauungen eine reine Ideenschau üben und apriorische
Erkenntnis gewinnen.2
1 Gestrichen durch die in der fließenden Empirie die Strenge des Wesens, durch die eben
zwingende Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in sie hineingebracht wird, die eben nur
Wesenswahrheiten in Reinheit eigentümlich ist und die sich von diesen angenähert auf die
Tatsachensphäre überträgt.
2 Gestrichen [72b] c) Innerhalb der apriorischen Disziplinen ergibt sich dann aber gemäß
unseren früheren Ausführungen weiter die Scheidung zwischen den Disziplinen der formalen
Ontologie, in denen das Apriori auf die bloß notwendige Form der Gegenständlichkeit über-
haupt und als solcher sich bezieht, und den sachhaltigen Ontologien. Wobei sich zum Beispiel
Geometrie und Arithmetik voneinander trennen. Wie wichtig diese Scheidungen sind und
wie notwendig zur zweckbewussten Leitung jenes unter dem Titel „Philosophie“ erwachsenen
Strebens nach absoluter Erkenntnis, das die ganze Entwicklung menschlicher Wissenschaft
beherrscht, wird sich in unserem ganzen weiteren Gang bewähren. Hier möchte ich zunächst
diese Bewährung durchführen (und Sie damit ein Stück weiter führen) an der näheren Be-
trachtung der Idee der formalen Ontologie in ihren bedeutsamen Verflechtungen. Ihr zentraler
Begriff ist „Gegenstand überhaupt“ in der weitesten, also auch leersten Allgemeinheit. Um ihn
gruppieren sich „die formalen gegenständlichen Kategorien“ als die in gleicher Allgemeinheit
verstandenen Bestimmungsformen, ohne die Gegenstände überhaupt nicht gedacht werden
können, wie „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Sachverhalt“, „Beziehung“, „Verbindung“
usw. Wie verhält sich, fragen wir, nun diese formale Ontologie zu den Ideen „Logik“ und
formale wissenschaftslehre 67
Also fühlen wir hier ein Desiderat: Es bedarf der Herausarbeitung der
Idee des urteilenden Meinens und Vorstellens überhaupt und dann spezieller
der Idee der Erkenntnis im prägnanten Sinne und in weiterer Folge der
apriorischen Wahrheiten, welche aussagen, was im Wesen der Erkenntnis
notwendig liegt, ohne was sie also schlechthin nicht gedacht werden kann,
wenn sie echte Erkenntnis soll sein können.1 Das führt also auf die reinen
Normen, die an jede Aussage anzumessen sind: Jede Aussage will wahr sein,
sie prätendiert, Erkenntnis zu sein, jede muss den apriorischen Bedingungen
der Möglichkeit echter Erkenntnis genügen. In der Tat zielen in diese Rich-
tung manche der tief bohrenden dialektischen Erörterungen Platons, wie
zum Beispiel solche im Theaitetos, wie sehr sie auch noch in Allgemeinheiten
stecken bleiben.
Gehen wir nun weiter, so stellt sich gleich eine merkwürdige Beziehung
dieser apriorischen Erkenntnislehre zur formalen Ontologie her. Denn Er-
kenntnis bzw. Urteil und Gegenstand stehen doch – in formaler, also univer-
sellster Allgemeinheit – in einem Verhältnis notwendiger Wechselbeziehung.
Wir urteilen über Steine, Tiere, Dreiecke, Kräfte. Immer und notwendig ist
ein Urteil, Urteil über etwas, über irgendeinen Gegenstand. Und anderer-
seits, jeder erdenkliche Gegenstand ist prinzipiell Gegenstand möglicher
Beurteilung, und jeder ist Substrat möglicher echter Erkenntnis. Sprachlich:
Jeder mögliche Gegenstand ist Subjekt möglicher wahrer Aussagensätze.
Alles, was ein Gegenstand ist, spricht sich innerhalb eines ideellen Systems
wahrer Aussagen aus. Es ist nun klar, eben vermöge dieser Korrelation
zwischen Urteil bzw. Erkenntnis und Gegenstand, dass eine apriorische
Erkenntnislehre, die in Absicht auf eine Erkenntniskunst aufgebaut wird,
nicht nur auf das Erkennen, die Urteilstätigkeit selbst wird hinblicken und
nach ihrem Apriori forschen wird. Jede formal-ontologische Wahrheit über
Menge und Zahl, über Relation usw. ist ja offenbar von vornherein mit
eine Norm für das Erkennen; sie darf unter keinen Umständen verletzt
werden und in keinem Erkenntnisgebiet. Also gehört eigentlich, und der
Idee nach, die ganze Reihe formal-ontologischer Disziplinen, darunter zum
Beispiel die reine Mathematik, in den Kreis einer logischen Kunstlehre,
wenn diese letztere eben in vollster Allgemeinheit alles Apriorische be-
fassen soll, was für Erkenntnisregelung überhaupt dienlich ist, noch vor der
Spezialisierung der Erkenntnis nach sachhaltig gesonderten Gebieten. Für
„Wissenschaftstheorie“ die wir früher schon berührt haben? Auf sie hatten, wie ich von Anfang
an gesagt habe, Platons methodologische Bemühungen vorgewiesen, obschon Platon auch da
nicht Vollender, sondern Bahnbrecher war.
1 Randbemerkung α) Erkenntnis überhaupt im weitesten Sinne β) „echte“ Erkenntnis.
68 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Es ist nur eine kleine Wendung, wenn wir sagen, zur Idee einer reinen Wis-
senschaftstheorie oder Wissenschaftslehre gehört mit die gesamte formale Ontologie. Statt
von dem praktischen Gesichtspunkt auszugehen und zunächst die Idee einer universellen
Erkenntniskunst zu bilden, gehen wir dann von der Idee einer Wissenschaft überhaupt aus
und konzipieren weiter die Idee einer Wissenschaft, welche das gesamte zum Wesen einer
Wissenschaft gehörige Apriori nach Begriffen und Gesetzen auseinanderlegt, und das ist die
Wissenschaftslehre, die sich offenbar nach dem wesentlichsten Stück mit der Kunstlehre der
Erkenntnis decken muss, nämlich nach dem zum Wesen der Erkenntnis als solcher und zu
ihrem Bezug auf Gegenständlichkeit gehörigen Apriori.
formale wissenschaftslehre 69
Stellen wir uns nun auf den rein theoretischen Boden, lassen wir den
Gedanken einer Erkenntniskunst zurücktreten, so können wir die Frage
aufwerfen: Welche theoretischen Problemgruppen gehören notwendig zur
Idee der Erkenntnis? Da alle Erkenntnis auf Wissenschaft abzielt und alle
echte und strenge Erkenntnis sich in irgendwelche Wissenschaften einordnet,
so ist mit der gestellten Frage nahe verwandt die Frage: Welche theoretischen
Problemgruppen sind vorgezeichnet durch die Idee der Wissenschaft? Die
Kunstlehre von der Erkenntnis und näher der wissenschaftlichen Erkenntnis
weist uns also zurück auf eine theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis
und auf eine theoretische Wissenschaft von Wissenschaft überhaupt, auf eine
Wissenschaftslehre.
Natürlich wird sich damit der Begriff der Logik selbst ins Theoretische
wenden. Von vornherein sei gesagt, dass wir diese Wissenschaftslehre als
apriorische Wissenschaft verstehen wollen. Es handelt sich darum, Erkennt-
nis und Wissenschaft als reine Ideen und in größter Allgemeinheit zu konzi-
pieren und die auf sie bezügliche apriorische Erkenntnis zu gruppieren. Dies
vorausgesetzt, fragen wir nun: Reichen wir mit den beiden bisher aufgezeig-
ten Richtungen möglicher Ideenbildung aus, der Richtung auf das Erkennen
und der Richtung auf die Gegenstände? Genügt es, zu scheiden Wahrheiten,
die für alles Erkennen gelten, ohne die Erkennen überhaupt nicht gedacht
werden kann, und Wahrheiten, die für alle Gegenstände gelten, ohne die
Gegenstände nicht gedacht werden können? Sicherlich, beiderlei Wahrhei-
ten gehören zu einer universalen Wissenschaftslehre. Weil jede Wissenschaft
sich erkennend betätigt und Erkennen seinem Wesen nach einerseits als
Erlebnis, als Bewusstseins- und Tätigkeitsweise, betrachtet werden kann,
andererseits hinsichtlich des in ihr vorgestellten, gedachten, erkannten Ge-
genständlichen. Aber mit dieser schlichten Korrelation von Erkenntnisakt
als Erkenntnisbewusstsein und Erkenntnisgegenstand reichen wir nicht aus.
Zunächst, wir werden scheiden müssen zwischen dem Gegenständlichen
schlechthin, das jeweils als das Gedachte und Erkannte bezeichnet wird, und
dem im Denken gleichsam mit mannigfachen logischen Formen Umspon-
nenen, dem gedachten Gegenständlichen als solchen, dem gedanklichen
Gegenstand, der immer nur ist in einer gewissen gedanklichen, logischen
Gestalt.1 Die Erkenntnistätigkeit, wie mannigfache seelische Tätigkeiten
und Zustände sie auch in sich befassen oder in denen sie sich abspielen
möge, vollendet sich immer wieder in Urteilsakten, die inhaltlich ihren
Gedachten etc.
70 einleitung in die philosophie
tischen Sinne.
formale wissenschaftslehre 71
Was auch als Satz. Der Satz von der Winkelsumme ist ein einziger Satz, wie oft
ich auch urteile und jemand sonst auch urteilt „die Winkelsumme ist gleich
2 R.“ Dabei meinen wir aber natürlich nicht den deutschen grammatischen
Satz, der ein anderer wäre in der Übersetzung ins Französische etc. Sie
verstehen es, wenn ich sage, der Satz von der Winkelsumme ist derselbe,
möge er deutsch oder französisch oder etc. ausgedrückt werden. Ein Satz in
diesem Sinne ist das, worauf es ankommt. Es ist Korrelat des Urteilens.
Jedes Urteil hat als seinen identischen ideellen Inhalt einen Satz, der-
art, dass eine ideelle Unendlichkeit möglicher Urteilsakte ihr identisches
Korrelat hat in dem identischen und numerisch einen Satz; der Satz ist
die identische noematische Bedeutung der grammatischen Aussagen ver-
schiedener Sprachen, der noematische Gehalt aller möglichen Urteilsakte.
Der Satz hat offenbar kein reales, individuelles Dasein wie das jeweilige
Urteilen. Das Urteilen ist gegebenenfalls ein empirisches Faktum, es weist
zurück auf das jeweilige Ich-Subjekt, das faktisch urteilt und ist wie jedes
Ich-Erlebnis ein zeitliches Vorkommnis. Keineswegs aber gilt dasselbe von
dem geurteilten Satz. Dieser hat nur insofern Anteil an der Realität und
Zeitlichkeit, als er je von dem, bald von jenem urteilenden Subjekt und bald
in den oder in jenen Urteilsakten geurteilt sein kann, obschon nicht geurteilt
sein muss. Er ist danach kein Stück des Urteilens, er müsste ja sonst mit
dem Urteilen entstehen und vergehen, anfangen und enden. (Es verhält sich
also hier hinsichtlich der Beziehung von Urteilen und geurteiltem Satz ganz
ebenso, wie hinsichtlich der Beziehung zwischen subjektivem Vorstellen,
etwa Wahrnehmen, Erinnern usw., und dem vorgestellten Gegenstand als
solchen, der auch kein Stück des Vorstellens ist,1 gleichgültig ob er objektiv
existiert oder irriger Schein ist.)
Im2 Urteilen aber haben wir nicht nur einen Gegenstand als vorgestellten
Gegenstand, sondern wir sehen, dass es das Wesen des Urteilens ist, einen
denkmäßig geformten Gegenstand, schließlich einen ganzen Satz bewusst
1 Gestrichen wieder ebenso, wie im Verhältnis des Zählens als des tätigen Bewusstseins, in
dem eine Zahl bewusst wird, und der Zahl selbst, die „zu Bewusstsein kommt“, aber nicht
selbst Stück des Bewusstseins ist, mit ihm anfängt und endet. Allgemein beobachten wir
ferner als zum unaufhebbaren Wesen des Urteilens gehörig, dass ihm in verschiedenem Sinn
ein Gegenständliches als sein identisches Was zugesprochen werden muss, dass Bewusstsein
und bewusste Gegenständlichkeit so aufeinander bezogen sind, dass diese Gegenständlichkeit,
obschon bewusst, doch nicht ein reelles Stück des Bewusstseins ist, vielmehr ein Identisches
in einer ideellen Mannigfaltigkeit wirklicher oder möglicher Bewusstseinsakte sein kann. Jedes
Bewusstsein hat seinen noematischen Gehalt, gewissermaßen seinen vermeinten „Sinn“.
2 Am Rande dieses Absatzes eine Null.
72 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Jeder Gegenstand kann dabei als Gegenstand-worüber fungieren für diese auf
von solcher Materie enthält, also dieselbe formale Allgemeinheit hat, von
der wir früher sprachen, diejenige Allgemeinheit, die über alle Bindung an
besondere Urteilsgebiete erhoben ist. Sehr einfach bringt man die reine
Satzgestalt als eine Idee, die eine Unendlichkeit möglicher bestimmter Sätze
in sich fasst, zu klarer Bezeichnung.
Nehmen wir das primitive Beispiel „Sokrates ist weise“, so können wir
die sachhaltigen Worte durch unbestimmt bezeichnende Buchstaben setzen
und erhalten die Form „E ist α“, ebenso können wir aus Beispielen ableiten
die Formen „ein A ist α“, „dieses A ist α“, „ein A ist ein B“, „alle A sind
B“, „einige A sind B“, „wenn A B ist, so ist C D“, „wenn irgendetwas a ist,
so ist es b“ und so ins Unendliche. Das sind lauter Bezeichnungen für reine
Artungen von Sätzen, die nur formal bestimmt gedacht sind, Ideen mögli-
cher Sätze. Und Sätze solcher ungezählter, ja offenbar ins Unendliche zu
erweiternder Gestalten, treten als logische Inhalte des urteilenden Denkens
auf. (Sie sind logische Inhalte, darin liegt überall, dass sie ideale und nicht
reale Inhalte sind, sie haben in der räumlich-zeitlichen Welt keine Stelle,
ungleich dem urteilenden Denken selbst, das jeweils ein zeitlicher Vorgang
ist in der Seele des Urteilenden.)
Zum urteilenden Denken gehört natürlich auch das schließende Den-
ken. Schließen wir daraus, dass eine Zahl mit 5 endet, dass sie durch 5
teilbar sein muss, also in der Form: „Alle mit 5 endenden Zahlen sind durch
5 teilbar, diese gegebene Zahl hier endet mit 5, also ist sie durch 5 teilbar“,
so haben wir offenbar in der Einheit eines Urteils mehrere Urteile verknüpft
in der Verbindungsform des „weil und so“. Die gesamte Satzverknüpfung
ist dann ein zusammengesetzter Satz. Und auch er untersteht einer idealen
Satzform, als einer Gattungsidee zusammengesetzter Sätze.
So eröffnet sich uns ein unendliches Reich von Ideen, von denen wir früher
noch nicht gesprochen hatten, das Reich der idealen Urteilsbedeutungen,
der Sätze, und näher das Reich der Ideen, die wir „ideale“ und „reine“
Satzformen nennen, als eigentümlich gebildete, durch formalisierende Ge-
neralisation erwachsene Gattungsideen zweiter Stufe.
Fügen wir gleich folgende evidente Unterscheidung bei: Im Reich der
Sätze gibt es wahre und falsche. Jeder Urteilende als solcher „meint“, was
er urteilt, und das sagt, er hält es für wahrhaft seiend. Sagt er „so ist es“, so
meint er eben, es sei so, ganz so, wie der bloß Vorstellende und noch nicht
in den Formen des urteilenden Logos Denkende, als Wahrnehmender oder
Erinnernder, nicht nur etwas, einen Gegenstand vorschweben hat, sondern
ihn im Wirklichkeitsbewusstsein bewusst hat. Aber das vermeinte Wirkliche
braucht nicht wahrhaft wirklich zu sein, und der vermeinte Satz braucht nicht
74 einleitung in die philosophie
ein wahrer Satz zu sein. Es ist also eine Auszeichnung eines Satzes, dass er
ein wahrer ist, und eine Auszeichnung gegenüber der Gegenmöglichkeit,
dass er ein unwahrer, ein falscher ist. Im eigentlichen Sinne kommen die
Prädikate „Wahrheit“ und „Falschheit“ Sätzen zu. Ich sage „im eigentli-
chen Sinne“ hier mit besonderer Rücksicht darauf, dass auch das urteilende
Denken, der Urteilsakt, in dem der jeweilige wahre oder falsche Satz der
Urteilsinhalt, das geurteilte bzw. ausgesagte Was ist, selbst als wahr oder
falsch bezeichnet wird. Wir sagen ja alle beispielsweise, dass etwa der Satz
von der Winkelsumme wahr sei, nicht minder aber sagen wir etwa zu dem
Schüler, der ihn urteilend zur Aussage bringt, „Du urteilst wahr“. Es ist
aber der Deutlichkeit wegen gut, den uns sichtlich gewordenen Unterschied
terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Wir sprechen danach besser von
richtigen oder unrichtigen Urteilen gegenüber wahren und falschen Sät-
zen.
Wir haben in dieser Art einige wichtige Unterscheidungen gewonnen, von
denen wir Gebrauch machen können für unsere Absicht, die Hauptgruppe
apriorischer Gesetze zu kennzeichnen, auf die uns der Leitgedanke einer
normativen und praktischen Kunstlehre der Erkenntnis oder auch der in
ihm beschlossene Gedanke einer universellen Wissenschaftstheorie hinweist.
Als Hauptunterschied hatten wir den zwischen Erkennen und Erkanntem.
Und des Näheren hat das denkende Erkennen (das sich ausspricht in einem
einfachen Aussagesatz oder einem denkmäßig verbundenen Ganzen von
Aussagesätzen, wie in einem Schluss, einem Beweis, einer Theorie) Bezie-
hung auf einen Denkinhalt, das Urteilen auf einen Urteilsinhalt, den Satz. In
anderer Weise wieder finden wir beide notwendig bezogen auf irgendwelche
Gegenständlichkeiten.1 Diese Beziehung ist eine apriorische. In sich selbst
ist das Denken ein Bewusstsein und Bewusstsein von einem Satzgedanken,
einem im Denken gesetzten Satz, und durch ihn bezieht sich das Denken
auf Gegenständlichkeiten, die im Satz denkmäßig gesetzte oder Urteilsge-
genstände sind.
1) Wir können nun fürs Erste die Erkenntnistätigkeiten, die theoretischen
Akte mit all den sie fundierenden Erkenntnisfunktionen, zum Thema aprio-
rischer Forschung machen. Wir betrachten dann also in der platonischen
Methode der Ideenschau nicht das Erkennen und Denken als zufälliges
menschlich-empirisches Faktum, sondern eben die Idee, das generelle und
reine Wesen des Erkennens. Wir fragen nach den Wesensgesetzen, die dazu
gehören, also nach all dem, ohne was Denken überhaupt kein Denken und
näher das im spezifischen Sinne erkennende Denken, das richtige Urteilen,
nicht richtig sein könnte. Die Frage ist dann also die nach den notwendi-
gen Strukturen des Denkens, auch nach den möglichen Arten und Formen
desselben, speziell nach den notwendigen Gestalten, die das Denken haben
muss, das Denken als Erleben irgendeines denkenden Subjekts überhaupt,
damit dieses Subjekt das Gedachte als Wahrheit erkennen, der Richtigkeit
seines Denkens zweifellos gewiss sein kann. Zum Wesen des Denkens gehört
zum Beispiel die Spaltung in zwei aufeinander bezogene Gestaltungen: Bei
gleichem logischen Gehalt kann das Denken einsichtig oder blind sein, und
die Einsicht kann Einsicht in einstimmiger Wahrheit oder sich selbst zerstö-
rende Falschheit sein. Wie sieht wesensmäßig das Erleben in dem einen und
anderen Falle aus? Welches sind die Wesensbedingungen der Möglichkeit
der selbstgebenden positiven Evidenz?
2) Sofern zum Wesen des Denkens als ein Apriori gehört, dass es in sich
auf einen Denkinhalt, auf verschieden gebaute Sätze, bezogen sein muss,
weist uns das Apriori des Erkennens und Denkens auf das Apriori der Sätze
hin. Aber dieses lässt sich für sich betrachten, und dem wenden wir uns
jetzt zu. Wir fragen also jetzt nicht, welche Wesensgestaltungen nach reiner
Notwendigkeit oder reiner Möglichkeit dem denkenden und erkennenden
Erleben eigentümlich sind, in welchen Weisen das denkende Subjekt seine
Denkakte vollzieht, wie sie wesensmäßig aussehen, wovon bei ihnen der
Besitz der Wahrheit und der Gründe der Wahrheit abhängt, sondern wir
betrachten ausschließlich Sätze und ihre Wesensgestaltungen.
Hier ergeben sich aber doppelte Gruppen von Ideen und Idealgesetzen.
Wir scheiden zwischen Sätzen überhaupt und wahren bzw. falschen Sätzen.
a) Betrachten wir also Sätze überhaupt, das heißt, ohne nach Wahrheit oder
Falschheit zu fragen. Haben wir es abgesehen auf eine völlig allgemeingültige
Erkenntniskunst und Wissenschaftslehre, deren Normen bzw. Wesensgesetze
in allen Erkenntnissphären, in allen theoretischen Gebieten Geltung haben,
so müssen wir von der sachhaltigen Materie der Sätze, die uns ja an besondere
Erkenntnisgebiete binden würde, abstrahieren, wir müssen also ausschließ-
lich die Ideen herausheben, welche wir „reine Satzformen“ nannten: die
rein gefassten Satzgestalten, in deren Vorstellung die Satzmaterien durch
unbestimmte Variablen ersetzt sind. Zum Beispiel der Satz „Sokrates ist
ein Philosoph“ ergibt uns durch Formalisierung die reine Satzidee „E ist
ein p“. E symbolisiert irgendein individuelles, durch einen Eigennamen zu
nennendes Subjekt, p irgendein Prädikat. In ähnlicher Weise betrachten wir
Formen, wie „Alle S sind p“, „Irgendein S ist p“ oder „Irgendein S ist ein p“,
76 einleitung in die philosophie
„Ein S, das p ist, ist q“, „Wenn etwas S ist, so ist es p“ usw. Wenn wir so, von
beliebigen Beispielen der gewöhnlichen Rede oder der Wissenschaft ausge-
hend, reine Satzformen als Ideen herausheben, so eröffnet sich zunächst eine
fast regellos erscheinende Unendlichkeit von Satzformen.
Näher besehen, heben sich aber Elementar- und Grundtypen heraus,
Grundgestalten, aus denen sich immer neue und neue Gestalten geregelt
ableiten lassen. Eine solche Grundgestalt ist zum Beispiel die des soge-
nannten kategorischen Urteils, z.B „Der Tisch ist ein Hausgerät“, „Der
Tisch ist nicht blau“, symbolisch bezeichnet durch „S ist p“ und „S ist
nicht p“. Es ist eine schlichte Prädikation eines Prädikats p von einem
Subjekt S. Dabei kontrastiert sich sogleich die Form des bejahenden und
des verneinenden kategorischen Urteils. Dabei scheint es, dass man wei-
ter unterscheiden kann. In kategorischer Form kann von einem einzelnen
Gegenstand oder von mehreren Gegenständen oder von allen Gegenstän-
den eines Subjektbegriffes S prädiziert werden. „Sokrates ist ein Mensch“,
„Einige Lebewesen sind Menschen“, „Alle Deutschen sind Menschen“.
Und so unterscheidet die Logik seit Jahrtausenden nicht nur bejahende und
verneinende, sondern auch allgemeine, besondere und einzelne kategorische
Urteile.
Aus primitiven Urteilsformen kann man dann zusammengesetzte bilden,
wie zum Beispiel „Weil S p ist, ist Q r“, und so sich überhaupt die Aufgabe
stellen, systematisch alle primitiven Urteilsformen aufzufinden, alle Weisen
festzustellen, wie primitive Urteile sich innerlich, durch Komplikation und
Modifikation ihres inneren Baus umgestalten, wie einfache Urteile zu Glie-
dern von zusammengesetzten Satzgestalten werden usf. Offenbar spiegeln
sich die Urteilsgestalten und die Gestalten ihrer begrifflichen und sonstigen
Elemente wider im sprachlichen Ausdruck, und so hat dieses Apriori der
Sätze grammatische Bedeutung. Sätze sind Bedeutungen von Aussagen. Es
ist eine höchst wichtige Erkenntnis, dass Aussagebedeutungen unter festen
apriorischen Formen stehen, dass es sozusagen feste Kristallsysteme gibt, an
die der Aufbau von Bedeutungen aus Elementen für alle Ewigkeit gebunden
ist – das aber unter Absehen von Wahrheit und Falschheit, wie ja überall die
Grammatik Fragen der Wahrheit der Aussagen außer Spiel zu lassen hat.
Das Verletzen der apriorischen Gesetze, welche die Bildung der Satzformen
regeln, ergibt keine Irrtümer, sondern ergibt schlechthin Unsinn. In ihnen
liegt nur, dass man aus beliebigen gedanklichen Elementen nicht in beliebiger
Weise einen Gedanken und von dieser Seite her also auch nicht aus beliebig
zusammengegriffenen Worten und Wortgebilden eine einheitliche, durch
Einheit der Bedeutung verbundene Rede herstellen kann. Zum Beispiel aus
formale wissenschaftslehre 77
den gedanklichen Momenten „Haus“, „4“, „und“, „aber“ können wir, ohne
Zuzug weiterer Elemente und ohne uns an feste, vorgezeichnete Formen zu
binden, keinen Sinn zusammenbringen.1, 2
b) Von dieser apriorischen Gesetzmäßigkeit, die wir „Formenlehre der
Sätze“ nennen, scheidet sich nun aber die formale Normenlehre der Sätze.
Sätze sind bald wahr und bald falsch, und auf Wahrheit und Falschheit ist es
jetzt speziell abgesehen.3 Im Allgemeinen kommt für die Entscheidung über
Wahrheit und Falschheit die Materie des jeweiligen Satzes in besonderer
Erwägung. Um die Frage zu beantworten, ob die hellen Polflecke des Mars
Schnee- und Eismassen sind, müssen wir auf die Sachen selbst, die der
Begriff „Mars“, der Begriff „Schnee“ usw. befassen, eingehen, also hier
die entsprechenden Erfahrungsfeststellungen vollziehen.
Es ist nun aber eine höchst merkwürdige und frühe Entdeckung, dass
in gesetzlich umschriebenem Umfang schon die bloß logische Form für
Wahrheit oder Falschheit präjudizieren kann. Dahin gehören die mannig-
fachen Formen des Widerspruchs. Eine der reinen Satzformen ist „S ist p
und zugleich nicht p“. A priori können wir sogleich das Gesetz aussprechen,
das absolut einsichtig ist, dass jeder bestimmte unter diese Form fallende
Satz unbedingt falsch ist. Zum Beispiel „Sokrates ist weise und (natürlich
in derselben Hinsicht) nicht weise“, „Zwei ist gerade und nicht gerade“.4
Ebenso ist die verwandte Satzform „Wenn S p ist, so ist dasselbe S nicht
p“, unbedingt falsch. Andererseits: „Entweder S ist p oder S ist nicht p,
eins von beiden!“ Das ist eine unbedingt generelle Wahrheit und ein Gesetz
der hierhergehörigen Sphäre. Ebenso allgemein: „Wenn U ist, so ist nicht
U nicht“, wo U einen ganz beliebigen, noch so komplexen Satzgedanken
vertritt. Wieder: „Wenn nicht U nicht ist, so ist U“. Doppelte Negation
ist in Sachen der Wahrheit einer Position gleich. Oder auch: „Wenn ein
A in Allgemeinheit b ist, so kann es kein A geben, das nicht b wäre, und
umgekehrt“.
Da haben wir schon ein Beispiel eines Schlusses aufgrund bloßer Form.
Und so gibt es überhaupt vielerlei Schlüsse, die rein durch die Form bestimmt
sind und deren Geltung generell gesichert ist durch rein formale Schlussge-
setze; zum Beispiel jeder hypothetische Zusammenhang der Form „Wenn
Sätze.
4 Randbemerkung Analytische Falschheiten, analytische Wahrheiten.
78 einleitung in die philosophie
alle A B sind und alle B C, so sind alle A C“ ist wahr oder jeder Schluss dieser
Schlussform ist, was die schließende Folge anlangt, ein wahrer. Nicht alle
Schlussgesetze sind wie die eben beispielsweise herangezogenen unmittelbar
einsichtig, so wie nicht alle Schlüsse unmittelbar sind. Zum Beispiel: Es ist
im rein formalen Denken einzusehen, dass aus 3 Sätzen der Form „Alle A
sind B“, „Alle B sind C“, „Alle C sind D“, folgt, „Alle A sind D“. Aber
unmittelbar ist das Gesetz nicht, wie wir denn Halt machen und überlegen
müssen. Tun wir es, so werden wir folgende Schritte machen: Aus je zwei
Sätzen „Alle A sind B“, „Alle B sind C“, folgt „Alle A sind C“; gilt
aber zugleich „Alle C sind D“, so gilt „Alle A sind D“. Also: Nehmen
wir alle hypothetischen Vordersätze zusammen, so können wir einsehen:
„Wenn alle A B, alle B C, alle C D, so alle A D“. Der Schlusssatz ist also
erweisbar durch doppelte Anwendung des einen Schlussgesetzes auf neue
beliebige Besonderheiten, ganz ähnlich wie wir in der Algebra aus dem Satz
„a + b > a“ schließen „(a + b + c) > a“. In dieser Weise sind viele, ja genau
besehen, endlos viele formale Schlussgesetze erweisbar aus primitiven.
An solchen Beispielen erfasst man eine generelle Aufgabe: systema-
tisch die Gesamtheit der formalen Gesetze der Wahrheit und Falschheit
zu erforschen, die Gesetze, denen man also ablesen kann, ob irgendein
vorgelegter Satz wahr oder falsch ist oder sein kann rein aufgrund seiner
Satzform und ebenso, ob irgendein vorgelegter Schluss oder Beweis wahr
oder falsch ist rein aufgrund seiner Schlussform oder Beweisform. Hat man
eben einmal beobachtet, dass es Fälle gibt und sehr häufig, wo die bloße
Form als der formale Satztypus die Möglichkeit einer Wahrheit a limine
ausschließt, wie das für alle Klassen von Widersprüchen der Fall ist, oder
auch im Gegenteil von vornherein die Wahrheit verbürgt, so ist es eine
Sache von höchstem Interesse die gesamten hierher gehörigen Gesetze, in
denen alle in der bloß logischen Form beschlossenen Bedingungen möglicher
Wahrheit und Falschheit ausgesprochen sind, zu finden und systematisch
darzustellen.
Zur weiteren Erläuterung mache ich auf Folgendes aufmerksam. Wir
sprachen von formalen Gesetzen, darunter formalen Schlussgesetzen. Nun
ist aber zu beachten: Jeder gültige Schluss, das kann man allgemein zeigen,
birgt in sich ein Schlussgesetz und kann ohne das kein gültiger sein. Jeder
gültige Schluss weist uns also über seine besondere Terminologie hinaus und
hat eine Probe darin, ob er ein durch ein Schlussgesetz geforderter ist. Zum
Beispiel können wir schließen „Ist a lauter als b und b lauter als c, so muss a
lauter als c sein“. Natürlich ist da Rede von gegebenen bestimmten Tönen.
Aber wir sehen zugleich, dass wir die bestimmten Töne durch beliebige
formale wissenschaftslehre 79
Töne ersetzt denken können, und so haben wir das Gesetz „für je 3 Töne
überhaupt gilt, dass …“. Aber dieses Schlussgesetz ist kein formales, eben
darum weil es nicht alle Materie ausschließen kann, sondern die Bindung
an Töne im Ausdruck mit sich führt. Indessen, da das Denken in allen
Erkenntnisgebieten zu logischen Gehalten führt, zu einzelnen Grundsätzen,
Lehrsätzen, Schlüssen, Beweisen, Theorien, die ja nichts anderes als logische
Satzgewebe sind, so ist es eine höchst erleuchtende Sache und wundersame
Erkenntnis, dass all diese Sätze und Satzgebilde, wenn sie sollen Wahrheiten
sein können, unter absolut festen, nie zu verletzenden Formgesetzen stehen.
Mögen die Beweise, die Theorien welchen Gehalt auch immer haben, die
Art, wie sie den Gehalt logisch formen, die Art, wie die Sätze, in welcher
Form, innerlich gebildet und miteinander verflochten sind, steht unter festen
Gesetzen, und diese Gesetze kann man in der beschriebenen Methode der
Formalisierung für alle Ewigkeit herausstellen.
Soll die Lehre von den formalen und durchaus apriorischen Gesetzen
der Wahrheit und Falschheit in wissenschaftlich wertvoller Weise behandelt
werden, so muss offenbar das Vorgehen in der Aufsuchung und Begründung
der Gesetze ein streng systematisches sein. Das aber ist nur möglich, wenn
im Voraus eine strenge systematische Formenlehre der Sätze entworfen ist.
Erst muss man also das apriorische Kristallsystem (wie ich es vorhin im
Gleichnis nannte) der logischen Formen entwerfen; es muss erst erkannt
sein, welches die Elementar- und Grundformen aller Sätze sind, aus welchen
gedanklichen Elementen und aus welchen formbildenden Elementen sich
logische Gedanken zu Einheiten eines Gedankens, eines logischen Sinnes,
verbinden und nach welchen Formen alle Komplexionen und Modifikationen
zu höherstufigen Einheiten erfolgen – all das vor der Frage der Wahrheit und
Falschheit.
Und dann ist die Aufgabe, zunächst für die primitiven Formen die pri-
mitivsten, die ganz unmittelbaren und als das direkt in ihrer absoluten
Gültigkeit einzusehenden Geltungsgesetze aufzustellen. Ein Beispiel ist das
Prinzip vom Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten. Das Prinzip der
doppelten Negation. Ebenso die prinzipiellen Schlussgesetze, wie die der
unmittelbaren Folgerung. Für jede Satzform ist zunächst etwa zu fragen, was
aus einem einzelnen Satz solcher Form als unmittelbares Axiom einzusehen
ist. Haben wir etwa die Form „Es gibt kein A“, so ist es evidentes Gesetz,
dass daraus gesetzlich formal folgt: „Es gibt kein A, b“, daraus also wieder
„Es gibt kein (Ab)c“ usw. Weiter kann man dann zwei Sätze von primitiver
Form nehmen und fragen, ob für ihre Verbindung sich ein Schluss ergibt.
Zum Beispiel nehmen wir zwei Sätze der Form „A ist notwendig B“, „B ist
80 einleitung in die philosophie
notwendig C“, also „A notwendig C“. Oder zwei Sätze der Form „kein A
ist B“, „kein B ist C“, dann ist es falsch, daraus zu schließen, „kein A ist
C“. Man wird dann trachten, ein vollständiges System solcher unmittelbaren
Axiome zu gewinnen, in dem keines eine bloße Folge der übrigen ist, und nun
in systematischer Weise die in dem System beschlossenen Folgesätze abzulei-
ten. Jeder abgeleitete Satz ist dann ein mittelbares und meist kompliziertes
Gesetz für formale Wahrheit und Falschheit.
Diese Systematik des Verfahrens ist heutzutage leicht vorzuzeichnen,
nachdem wir in den längst ausgebildeten mathematischen Disziplinen rein
apriorische Wissenschaften haben und es nun leicht einsehen können, dass
jede apriorische Wissenschaft in dieser Methode systematisch vorzugehen
hat. Sie erinnern sich ja noch an die Schulgeometrie und Schulmathema-
tik: Im Ausgang eine kleine Anzahl von Axiomen und alle weiteren Sätze
werden beständig durch Schlüsse und Beweise erwiesen, unter immer er-
neuter Berufung auf die Axiome oder auf die Lehrsätze, die schon erwiesen
waren.
Auf eine sehr merkwürdige Eigenart der logischen formalen Gesetzes-
lehre sei hingewiesen. Sie stellt prinzipielle Wahrheiten auf, die als formale
Wahrheiten über Wahrheiten Normen abgeben, denen jede erdenkliche
Wahrheit genügen muss. So zum Beispiel das Prinzip vom Widerspruch.
Also statuiert die Logik Wahrheiten, unter denen sie selbst mit ihren eigenen
Wahrheiten steht. Ebenso schließt sie, sie leitet schließend und beweisend
Wahrheiten ab und darunter die formalen Prinzipien von Schlüssen. Sie
statuiert also Schlussgesetze, unter denen sie selbst steht.1
Wir haben in den bisherigen Betrachtungen der Einfachheit halber den
prägnanten Begriff von Urteil und Wahrheit bevorzugt. Urteilen ist Für-
wahr-Halten, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt. Bei jedem können wir
entsprechend fragen, ob, was es urteilt, der Satz, wahr oder falsch ist, und
eines von beiden muss es sein. Im weiteren Sinne gehören unter die Idee
„Urteil“ bzw. „Satz“ auch weiter Denkakte bzw. Satzgedanken. Urteilen ist
für seiend, für gewiss halten; eine nah verwandte Aktart, eine Abwandlung
sozusagen, ist das Für-möglich und Für-wahrscheinlich-Halten.2 Der Wahr-
heit, die auf das gewisse Urteil und den Urteilssatz bezogen ist, reihen sich
an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit als Prädikate,
logische Gehalte entsprechender Denkakte, logische Gehalte, die da heißen
Wir sehen da, dass theoretischer Gegenstand und Theorema, nämlich Satz
und Satzgebilde, in gewisser Weise viel näher stehen als beide zum Denken
stehen, dessen Gehalt sie bilden. Wir müssen doch zwei Grundrichtungen
des Blickes unterscheiden, zwei grundverschiedene Einstellungen.
Die eine ist diejenige, in der wir uns befinden, wenn wir ein Gebiet
theoretisch erforschen, also immerfort, wenn wir eine Wissenschaft treiben.
Was steht uns da beständig vor dem geistigen Auge? Die Sachen selbst und
wie sie sich bestimmen, also die Gegenstände als Gegenstände, nicht die
Erkenntnis, denn auf die Erkenntnis, das erkennende Tun sehen wir gerade
nicht hin, sondern auf Gegenstände der und jener Theoremata, der und jener
Sätze, der und jener Schlüsse und Beweise. Beständig sind also Gegenstände
und Sätze über Gegenstände in unserem Blickfeld, und diese Einstellung
verbindet die ontische und logische Einstellung.
Die1 radikal entgegengesetzte Einstellung ist die reflektive. Sie geht auf
das Erleben, auf das geistige Tun im Denken und seine Unterlage, das
Wahrnehmen, Abstrahieren usw. Während wir hier die vorübergehenden,
in beständigem Fluss befindlichen geistigen Akte und Zustände fixieren,
fixieren wir in der Einstellung der sachwissenschaftlichen Forschung das, was
objektiv als Identisches vor Augen steht, als identischer Gegenstand, iden-
tischer Satz, die ideale, in unzähligen Akten identisch vorfindliche Einheit.
Und so versteht es sich, dass selbst große wissenschaftliche Forscher, sie, die
selbst in ihrem Erkennen die Theorien in genereller Weise zu Werke bringen,
zwar den besten Bescheid geben über die Sachen und über den Begründungs-
bau ihrer Theorien, aber meist die allerverkehrtesten Vorstellungen haben
über ihr geistiges Tun und über das, was von noetischer Seite zum Wesen
der Wissenschaft gehört. Es ist eben zweierlei: wissenschaftliches Denken
und über wissenschaftliches Denken wissenschaftlich denken. Zum Wesen
wissenschaftlichen Denkens gehört, dass man nicht gerade auf das Denken
selbst reflektiert, sondern, rein in ihm lebend, den Blick auf die Gegenstände
und Sätze gerichtet hat. Ein Anderes ist es eben zu reflektieren und in einem
neuen wissenschaftlichen Denken höherer Stufe das frühere naive Denken
zum wissenschaftlichen Thema zu machen.
Nach diesen Klärungen werden wir es als selbstverständlich erwarten müs-
sen, dass die historischen Ausbildungen einer universellen Wissenschafts-
theorie vorwiegend der ontologischen Richtung folgen, dass sie zunächst
in der Einstellung sich halten wird, die in den Wissenschaften die aus-
schließlich oder so gut wie ausschließlich geübte ist. Und das umso mehr,
als auch das praktische methodologische Interesse nicht zu einer allseiti-
gen systematischen Wesenserforschung des Erkennens drängt und sich mit
wenigen allgemeinen Unterscheidungen genugtun kann. Welch ungeheure
Bedeutung, ja alles andere überragende Bedeutung in Richtung auf eine
Philosophie im spezifischen Sinne das Studium des Erkenntnisbewusstseins
und alles Bewusstseins überhaupt besitzt, das zu verstehen sind wir noch
nicht hinreichend vorbereitet.
Endlich sei noch darauf hingewiesen, dass wir die Idee einer formalen und
durchaus apriorischen Wissenschaftslehre oder Logik erwogen haben. Sie
lässt offen wissenschaftstheoretische Studien nicht-formaler Art; wie denn
jede Wissenschaft und vor allem jede in sich geschlossene Wissenschafts-
gruppe ihre methodologische Eigenart hat, die für sich Forschungsthema
werden kann und muss. Wir werden diese Gedanken bald wiederaufnehmen.
Gehen wir nun wieder zurück zu den historischen Anknüpfungen un-
serer ganzen Entwicklung. In einigen, wie ich hoffen darf, völlig scharfen
Linien habe ich Ihnen die Problemhorizonte einer voll umfassenden for-
malen Logik (als formaler Wissenschaftslehre) gezeichnet, derart, dass wir
aus apriorischen Gründen der zweifellosen Allseitigkeit und Vollständigkeit
dieser allgemeinen Problematik gewiss sein können. Es ist oft das Charak-
teristische höchster Reife der Problementwicklung, dass ihr Ergebnis schon
dem Anfänger zugeeignet werden kann; und so ist, was Sie hier gelernt
haben, nicht ein Ideengehalt des Platon oder des Altertums sonst, sondern
ein solcher, der erst in unseren Tagen zur vollendeten Klärung gekommen
und selbst in unserer philosophisch verworrenen Zeit nichts weniger als
Gemeingut ist. Trotzdem haben unsere Rückbeziehung auf das Altertum
und der Ausgang der Erörterung von Platon ihren guten Sinn. Denn es
lag ja von vornherein in der Intention der platonischen methodologischen
Bemühungen und schon in ihrer ersten Anknüpfung an die Praxis der so-
kratischen Maieutik und in ihrer Bekämpfung des sophistischen Subjekti-
vismus, das Wesen und die Möglichkeit einer echten Erkenntnis, einer ech-
ten Wahrheit und eines wahrhaften Seins herauszuarbeiten und in weiterer
Folge die Idee einer echten, objektiv triftigen Wissenschaft herauszuarbei-
ten.
Als Ergebnis dieser Bemühungen gewann Platon, wie Sie sich erinnern,
fürs Erste die fundamentale Entdeckung apriorischer Erkenntnis, und durch
ihn und in seinem Kreis vollzog sich die erste Begründung apriorischer
Wissenschaft in der Geometrie und Arithmetik. Fürs Zweite erreicht er
schon, wie wir sahen, oder berührt er die Idee einer formalen Ontologie.
86 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Schlecht.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung Da die Vorlesung nicht als klar gefunden wurde, habe ich die nächsten zwei
Blätter in der neuen Vorlesung ausführlich wiederholt oder vielmehr neu ausgearbeitet. Vgl.
S. 91 ff.
aristoteles und die idee einer realen ontologie 89
(oder, wie ich sage, dem regionalen Begriff), und ihr zugeordnet sind
als Abwandlungen Begriffe wie „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Bezie-
hung“, „Verknüpfung“, „Identität“, „Verschiedenheit“, „Ganzes“, „Teil“,
„Menge“ usw. Das sind die formal-ontologischen Kategorien, das begriffli-
che Material der formalen Mathesis.
Nehmen1 wir aber jetzt als obersten Leitbegriff, als regionalen, die Idee
des realen Gegenstandes, eines Naturgegenstandes im weitesten Sinne. Jetzt
sind Zahlen, Sätze, ideale Gegenstände jeder Art ausgeschlossen; uns leitet
jetzt die Idee eines individuellen räumlich-zeitlichen Seins, und zwar die Idee,
das Apriori. Jedes einzelne reale Sein ist entweder für sich seiendes Ding,
Substanz, und bestimmt sich dann näher durch irgendwelche Gattungs- und
Artbegriffe von Substanzen, zum Beispiel als Stein, als Mensch usw. Das
Ding hat irgendwelche realen Eigenschaften und bestimmt sich durch solche
Eigenschaftsbegriffe (seine Schwere, Durchsichtigkeit). Jedes Reale ist
räumlich und zeitlich bestimmt; es treten also Räumlichkeit und Zeitlichkeit
bestimmende Begriffe auf. Jedes Reale als solches steht im Zusammen-
hang des Wirkens oder Bewirktseins; es treten also notwendig auch kausale
Begriffe ein. Ferner, jedes Ding ist ruhend oder bewegt, es ist qualitativ
verändert oder unverändert.
Doch2 genug dieser Andeutung, sie genügte, um uns ein Merkwürdiges
klarzumachen: Wenn wir überhaupt über Realitäten Aussagen machen sol-
len, müssen sich diese Aussagen in gewissen begrifflichen Typen bewegen; in
allen Aussagen treten notwendig Substanzbegriffe, Akzidenzienbegriffe, Be-
griffe von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen, Kausalbegriffe, Begriffe
des Zustandes oder der Zustandsänderung auf usf. Damit ist also eine ge-
nerelle und apriorische Struktur aller Realitätserkenntnis und Wissenschaft
vorgezeichnet. Diese Begriffstypen sind es, die reale Kategorien heißen; und
die 10 Kategorien des Aristoteles sind ein erster Versuch, sie herauszustellen,
freilich ohne dass er sich auf den Boden des rein platonischen Apriori dabei
gestellt hätte.
Tun wir das, fassen wir also Natur als Idee derart, dass die gegebene
Natur uns als bloßes Exempel dient für eine reine Ideation, für eine Ver-
allgemeinerung, die alles empirisch Zufällige aussondert, dann gewinnen
wir die Idee als einen rein begrifflichen Bestand, ohne den eine Natur, bei
willkürlichster Abwandlung der Beispiele, nicht gedacht werden kann. In
was gerade für die wirkliche Natur, mit gerade diesen Dingen Wahrheit ist.
Vorauszusehen ist aber, dass die Disziplinen einer Ontologie der Natur von
größter methodologischer Bedeutung für die Begründung und Ausführung
von faktischen Naturwissenschaften sein müssen, ja in gewisser Weise für sie
die Rolle einer „Logik“, einer Logik der Natur, spielen. Doch das bedarf
der genaueren Bestimmung und Ergänzung.
Zu meinem Bedauern ist mir aus dem Hörerkreis die Mitteilung zuge-
gangen, dass meine letzte Vorlesung an leichter Verständlichkeit zu wün-
schen übrig ließ. Ich knüpfte an die aristotelische Schrift Kategorien an,
die sich unter den Schriften des sogenannten Organon in der uns über-
lieferten Sammlung der aristotelischen Werke findet. So bezeichnet man
nämlich traditionell den Komplex der logischen Schriften des Aristoteles.
Zugleich knüpfte ich an eine Scheidung an, die Aristoteles gelegentlich
macht zwischen Begriffen und Wahrheiten von prinzipieller Allgemeinheit,
die allen Wissenschaften überhaupt gemeinsam sind, und solchen, die bloß
für einzelne Wissenschaften oder Wissenschaftsgruppen als die prinzipiellen
Begriffe und Wahrheiten fungieren.
Wir erwägen nun den Sinn dieser Rede von allgemeinsten Begriffen und
Wahrheiten. Nehmen wir diese größte Allgemeinheit beim Wort, handelt
es sich in der Tat um Begriffe und Sätze, die in allen möglichen Erkennt-
nisgebieten ihre notwendige Anwendbarkeit haben, dann bestimmen sie
sich als die formal-ontologischen Grundbegriffe und Grundwahrheiten. An
der Spitze steht dann der Begriff „Gegenstand überhaupt“ unter den na-
türlich alle erdenklichen Gegenstände aller erdenklichen Sachgebiete fal-
len. Ihm reihen sich gewissermaßen als seine prädikativen Abwandlun-
gen andere Begriffe von gleicher formaler und prinzipieller Allgemein-
heit an: „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Beziehung“, „Verknüpfung“,
„Identität“, „Verschiedenheit“, „Ganzes“, „Teil“, „Menge“, „Anzahl“,
„Ordnung“, „Ordinalzahl“, „Kombination“, „Permutation“ usf.
Es kann eben a priori von jedem Gegenstand irgendetwas prädiziert
werden, und kein Gegenstand ist denkbar, in dessen wahren Prädikationen
nicht solche Begriffe auftreten könnten. Der vorzüglichen Stellung, die dem
Begriff des Gegenstandes, als dem Substrat möglicher Prädikationen, somit
als dem Beziehungspunkt für all diese angereihten Begriffe eignet, tragen
wir Rechnung durch das Kunstwort „formale Region“, und diese Begriffe
selbst, also „Eigenschaft“, „Beziehung“, „Verbindung“ usf. nennen wir „die
formalen Kategorien der Region“. Beide zusammen bezeichnen wir als
„die formal-ontologischen Grundbegriffe“. In den Disziplinen der formalen
Ontologie treten diese Begriffe überall und zuoberst in den unmittelbaren
92 einleitung in die philosophie
Axiomen auf; aus solchen Begriffen sind die Grundsätze ausschließlich ge-
bildet. So ist in den mengentheoretischen Sätzen der bestimmende Grund-
begriff „Menge“, in den Anzahlensätzen „Anzahl“, und so überall.
Die Universalität der formalen Begriffe umschließt ebenso wohl Reales
wie Ideales; ob wir Dinge ins Auge fassen oder Ideen, Sätze, Zahlen, ideale
geometrische Gebilde – sie haben Eigenschaften, stehen in Relationen, man
kann Mengen aus ihnen bilden, Ordnungen, Kombinationen, man kann
von Ganzen und Teilen sprechen. Statt nun die höchste Allgemeinheit im
Sinne der formalen im Auge zu haben, anstatt somit jede sachhaltige Be-
stimmung aus dem Inhalt unserer Begriffe ganz auszuschließen, können
wir eine höchste Allgemeinheit anderen Sinnes bevorzugen, nämlich eine
höchste sachhaltige Allgemeinheit. Also statt verallgemeinernd von einem
konkreten Gegenstand aufzusteigen zur formal umfassendsten Allgemein-
heit des leeren Etwas überhaupt oder Gegenstand, steigen wir auf zu der
dem konkreten Beispiel entsprechenden höchsten Gattung, die immer noch
einen Sachgehalt übrigbehält.1
Also zum Beispiel ausgehend von einem beliebigen Naturding, versuchen
wir uns verallgemeinernd zu erheben zur höchsten Allgemeinheit des Na-
turgegenstandes, des Realen überhaupt. Wir gehen dabei den Weg, der zur
reinen Idee führt, wir befolgen die Methode der Ideenschau, der Ideation,
nicht der empirischen Verallgemeinerung. Wir fragen nicht, was allen Dingen
im Reich der irdischen oder auch astronomischen Erfahrung gemeinsam ist,
wir suchen nicht nach Feststellung etwa physikalischer Eigenschaften, die
vermutlich für alle physischen Körper universal gelten, und dann etwa in
gleichem Sinne reale Eigenschaften, die für alle psychophysischen Dinge
und für alle Dinge dieser Welt schlechthin gültige sind. Vielmehr: Wir suchen
in freier Abwandlung exemplarisch vorliegender Dinge durch eine umden-
kende Phantasie dasjenige, ohne was ein Ding schlechthin nicht Ding sein
könnte, das heißt einen konkreten allgemeinsten Wesensbestand erhalten
könnte, einen Wesensbestand, der durch alle noch so willkürlichen ideellen
Umwandlungen hindurch notwendig verbleiben muss, solange überhaupt
noch ein sachhaltig Gemeinsames in unseren Händen verbleibt.2
Wir sehen zum Beispiel das Ding rot; wir können es umdenken, völlig
anschaulich, so dass es blau oder grün würde, und jede Farbe ist dabei
variabel. Ebenso die faktische räumliche Form ist wandelbar, wir könnten
die räumliche Form anders denken. Wir finden, dass alle Körper schwer sind;
sie könnten ebenso gut und nach unzähligen gewandelten Gesetzen statt zu
fallen in die Höhe steigen. Ist nun bei solchen ideellen Wandlungen nichts
Gemeinsames übrig, was notwendig durch sie und durch alle erdenklichen
Wandlungen als Gemeinsames hindurchgeht? Die Antwort lautet: Alle fak-
tischen Bestimmungen des Exempels sind zufällig, sofern sie anders gedacht
werden könnten, und die anders gedachten sind wieder zufällig. Aber ein
notwendiger Wesensbestand verbindet all diese zufälligen, und er macht den
reinen Wesensgehalt der Idee eines Naturobjektes aus. Diese Idee ist die
reine und oberste Gattungsidee, welche eine Regel der Notwendigkeit für
alles mögliche, unter sie fallende empirisch dingliche Dasein in sich schließt.1
Während wir in unserer ersten Betrachtung, also in der formalen höchsten
Allgemeinheit, auf den formalen Begriff des Gegenstandes überhaupt als
des leeren Etwas, das als Subjekt von Prädikaten zu denken ist, stießen,
auf die formale Region, wie wir sagten, stoßen wir hier auf den Begriff
des realen Dinges als des Subjekts möglicher realer Prädikate. Und nun
überzeugten wir uns, dass dieser Begriff in der Tat sehr sachhaltig ist und
auseinandergeht in eine Reihe von sachhaltigen Begriffen, die sämtlich als
notwendige Zugehörigkeiten zur Idee „Naturobjekt“ oder „Ding“ (oder ari-
stotelisch gesprochen „Substanz“) sämtlich apriorische Begriffe sind. In der
Tat, schon der Begriff der realen Eigenschaft hat trotz seiner höchsten All-
gemeinheit eine Gebundenheit, die uns ja an Individuelles bindet, also ideal-
allgemeine Gegenstände ausschließt. Noch sichtlicher wird das, wenn wir
erwägen, dass a priori zu jedem Realen – und nur zu Realem – räumliche und
1 Eingelegtes Blatt Ist die Behandlung der Idee einer realen Ontologie an dieser Stelle nicht
dupliziert? Oder ergibt die Idee freier Variation eines realen Konkreten der Welt eo ipso das
Allgemeine „bloße Natur“ als den invariablen Kern der Welt? Variiere ich einen „Menschen“,
so ergibt die Variation der Leiblichkeit, dass die Leiblichkeit eben aufhört, organische Kör-
perlichkeit und damit Leiblichkeit zu sein, die ein Seelisches zu indizieren vermag. In der
Welt wäre kein Mensch mehr. Ebenso verschwände alle inkorporierte Geistigkeit: das „Buch“,
die Symphonie etc. Aber da könnte man vielleicht sagen: Die Wertprädikate wechseln, aber
irgendwelche sind da. Aber sind sie objektiv da? Für „jedermann“? Wir können jedenfalls durch
freie Variation des Einzeldinges der Welt ein invariantes Wesen finden für ein Reales überhaupt.
Und hätten wir dann nicht ein Invariantes einer Welt überhaupt, den einzigen Bestand, der in
Wesensallgemeinheit einer Welt überhaupt zukommen muss? Hier ist freilich glattes Eis. Ob
wirklich eine Welt ohne reale Subjektivität denkbar ist, eine Welt unendlich genommen nach
Raum und Zeit? Aber vielleicht könnte man eine vorsichtige Begrenzung beifügen. Es wäre
aber allgemein zu überlegen, wie die beste systematische Ordnung der Behandlung ist.
94 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Wie kommt diese Scheidung hin? Sie ergibt sich nicht.
2 Randbemerkung Reale Ontologie als apriorische Wissenschaft gegenüber empirischer Na-
turwissenschaft.
96 einleitung in die philosophie
Ansatz zum Einsicht verleihenden Beweisen; und all das bezeichnet allge-
meine Typen des Erkennens, die sich wesensmäßig in idealer Allgemeinheit
behandeln lassen. Darüber werden wir noch hören. Wenden wir uns der
noematischen Richtung zu.
2) Alles Erkennen hat seine logischen Gehalte; also die formale Logik im
prägnanten Sinne der apriorischen Disziplinen von den Sätzen, Beweisen,
Schlüssen, Theorien bildet einen selbstverständlichen Zweig der universellen
formalen Wissenschaftslehre.
3) Und als drittes hatten wir die in derselben formalen Allgemeinheit
sich bewegende Wissenschaft von den Gegenständen überhaupt, die formale
Ontologie.
Also zusammengenommen eine formale noetische Logik und eine for-
male noematische Logik und diese gegliedert in eine formale Satzlogik und
eine formale Logik der Gegenstände.
Ersetzen wir nun aber die formale Region durch die reale Region, die
Region „Natur“ im allgemeinsten Sinne, dann beschränken sich die Er-
kenntnisakte auf solche, die ausschließlich Natur erkennen; die Sätze werden
zu Sätzen über Natur, die Gegenstände werden zu Dingen. Stellen wir die
Aufgabe der Wissenschaftstheorie also beschränkter, beschränkt nämlich
darauf, die Idee einer Wissenschaft von einer möglichen Natur überhaupt zu
erforschen, also die Wesensallgemeinheiten theoretisch zu erforschen, die
zu jeder möglichen Naturwissenschaft gehören muss, so gewinnen wir einen
Bestand apriorischer Erkenntnis, ja ganze Disziplinen. Natürlich gehen auch
alle formal-ontologischen Disziplinen jeder bestimmten Naturwissenschaft,
wie jeder Wissenschaft sonst vorher. Aber sehen wir von diesen Disziplinen
ab, so gewinnen wir ein dreifaches sachhaltiges Apriori von solcher höchsten
realen Allgemeinheit.
Der noetischen formalen Logik entspricht dann eine noetische reale Lo-
gik, eine spezifische Logik oder allgemeinste Wesenslehre des Naturerken-
nens als solchen. In der Gegenrichtung entspricht der formalen noematischen
Logik eine reale, und zwar wieder doppelt gegliedert. Eine apriorische Diszi-
plin vom Spezifischen der Sätze und Wahrheiten über die Natur, der Schlüsse,
Beweise, Theorien über die Natur. Die theoretische Struktur einer Natur-
wissenschaft ist ja notwendig eine andere als die theoretische Struktur etwa
einer reinen Mathematik, wie dann weiter im Besonderen die theoretische
Struktur einer Körperwissenschaft eine wesentlich andere ist als die einer
Geisteswissenschaft, womit zugleich hingedeutet ist darauf, dass sich eine
apriorische reale Wissenschaftslehre besondert in eine Wissenschaftslehre
der Naturwissenschaften im engeren Sinne und eine Wissenschaftslehre der
aristoteles und die idee einer realen ontologie 99
1 Gestrichen Was aber hier noch nicht besprochen werden kann. Jedenfalls geht nun die
Entwicklung der Keime objektiver Wissenschaften und die Entwicklung der Keime der Wissen-
schaftslehren in wechselseitiger Bestimmung und Verflechtung vonstatten. Und das notwendig.
Unvollkommene Anfänge und Stücke wissenschaftstheoretischer Besinnung ermöglichen durch
die allem Wissenschaftstheoretischen einwohnenden Kräfte der prinzipiellen Normierung einen
Fortschritt der naiv-natürlich gerichteten Anfänge objektiver Wissenschaft. Neue Unklarheiten
erfordern neue Besinnungen, die wieder der Ausbildung wissenschaftstheoretischer Disziplinen
die Wege bereiten oder ihnen zugute kommen. Und die größere Höhe der Entwicklung auf
dieser Seite kommt wieder der Entwicklung objektiver Wissenschaften zugute. Anders konnte
die Entwicklung ja nicht laufen. An sich sind die von uns im weitesten Sinne „logisch“ genannten
Disziplinen ein Apriori gegenüber allen objektiven Wissenschaften. Aber sie konnten doch nicht
vor diesen zunächst und für sich ausgebildet werden, dazu hätten alle Motive gefehlt, und dazu
sind es unendliche Wissenschaften, deren Vollendung nicht abgewartet werden konnte. Ihr
Interesse hing wesentlich an ihrer Funktion für die Ermöglichung objektiver Erkenntnis.
102 einleitung in die philosophie
Also1 damit ist ein neues großes Thema ins Spiel gesetzt, das der teleologi-
schen Welterklärung. Soll eine solche Welterklärung endgültige Wahrheit,
echte, objektiv gültige, uns bieten, so muss auch sie eine wissenschaftliche
sein. Also es soll eine teleologische Weltwissenschaft geben. Wie steht sie
zu dem, was wir „Naturwissenschaft“ nennen? Inwiefern bedeutet sie, wie
wir nach dem eben Gesagten erwarten müssen, eine ganz andere Richtung
wissenschaftlicher Weltbetrachtung und Welterklärung?
1 Randbemerkung Dieser Abschnitt reicht bis Bl. 152 = S. 181 f.. Teleologische Welter-
klärung wird hier nur berührt als Eingang in den Abschnitt über das System der formalen
Disziplinen.
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 105
Für Sie, als Kinder unserer Zeit und Kultur, ist durch ihre allgemeine
Vorbildung Naturwissenschaft eine feste Sache; und damit ist auch eine
bestimmte Vorstellung von dem gegeben, was diese Wissenschaft unter dem
Titel „Natur“ theoretisch erforscht. Andererseits: Sie alle haben teils von un-
seren großen Dichtern her, ich nenne hier nur Goethe, teils von der Religion
her, eine gewisse Vorstellung von dem Typus teleologischer Weltauffassung.
Ihr gemäß ist die Welt als gottgeschaffene eine durch und durch wertvolle,
unter der Zielgebung absoluter Werte in allem Sein und Geschehen zweck-
voll geordnete. Alles, was ist, alles und jedes, was geschieht, ist, wie es ist, weil
es durch wertvollste Zwecke gefordert ist. Alle Zweckmäßigkeit läuft zusam-
men in einer einzigen absoluten, das Weltall umspannenden Zweckordnung,
aus der heraus allein schließlich das Erzielen teleologisch zu verstehen wäre,
das relativ Zweckwidrige als das unter höheren Zweckgesichtspunkten
teleologisch gerade Geforderte. Die Welt hat, wie man auch sagt, nicht bloß
Dasein, sondern einen „Sinn“; und diese Rede von Sinn, der das Thema die-
ser teleologischen Weltforschung ist, meint ausschließlich die Beziehung auf
Seinswertung und Seinserklärung aus Prinzipien, die das Seiende vermöge
ihrer Wertfunktion realisieren. Und diese Prinzipien werden dann natur-
gemäß als geistige, personale, willensbegabte gedacht; und normalerweise
wird, der Einheit der Welt entsprechend, ein einziges solches Prinzip, Gott,
als letzte teleologische Seinsquelle angenommen.
Das, wie gesagt, bringen Sie mit, und die flüchtigste Vergleichung dieses
Typus von erklärender Natur- und Weltbetrachtung gegenüber der naturwis-
senschaftlichen macht Ihnen klar, dass die letztere ateleologisch ist. Ursache
im Sinne der Naturwissenschaft führt keine Gedanken an so etwas wie eine
Zwecktätigkeit und ein von Werterkenntnis und Wertbestimmung geleitetes
Erwirken mit sich. Also haben wir es in der Tat – und das sehen wir voraus –
noch vor jedem tieferen Verständnis mit zwei wesentlich anders gerichteten
Weltbetrachtungen und eventuell Weltwissenschaften zu tun, gleichgültig,
ob sie allgemein als gleichberechtigt anerkannt werden oder nicht. Denn
dass in dieser Hinsicht Streit besteht, das kann keinem Kind unserer Zeit
verborgen geblieben sein. Von diesem haben wir jetzt noch nicht zu sprechen.
Von größter Wichtigkeit ist es aber für uns, echte Geistesfreiheit zu gewinnen
und zu betätigen; es gilt, solange wir eines tieferen Verständnisses und daraus
erwachsender echter Vernunftmotive entbehren, jede Stellungnahme zu
unterlassen, also kein Vorurteil hinzunehmen.
In dieser Hinsicht gilt es, sogar die Selbstverständlichkeit dessen, was wir
„Natur“ und „Naturwissenschaft“ nennen, in Frage zu stellen, also Klar-
heit darüber zu gewinnen, was den eigentümlichen Sinn und die durch die
106 einleitung in die philosophie
sie uns gegenüber als gefällige oder missfällige, schöne oder hässliche, als
nützliche, als zweckmäßige Mittel oder als Zwecke selbst usf. Alle solche
Akte – sowohl die der bloßen Vorstellungssphäre, ein bloßes Empfinden,
Wahrnehmen, Erfahren zum Beispiel, als auch Akte der Gefühls- und Wil-
lenssphäre – können sich abspielen, ohne dass ein theoretisches Interesse
und ein theoretisch begreifendes, ein logisches Verhalten sich zugesellt.
Geschieht das aber, so gibt es verschiedene Urteilsrichtungen je nach der
Richtung des theoretischen Interesses.
Die Urteilsrichtung kann rein die auf das Erfahrene sein. Zum Beispiel:
Wir können auf einen wahrgenommenen Gegenstand rein so, wie er in der
Wahrnehmung dasteht, gerichtet sein, zunächst, ihn einfach beschreibend,
auseinanderlegend die Merkmale, die die Wahrnehmung von ihm gibt. Und
das kann der Anfang sein einer theoretischen Bestimmung solcher Sachen
überhaupt. In diesem Fall hat das Urteilen, der theoretische Akt, ausschließ-
lich sein Bewusstseinsmedium im vorstellenden Akt. Er richtet sich durch
ihn hindurch auf den vorgestellten, hier auf den wahrgenommenen Gegen-
stand. Es kann aber auch das theoretische Interesse durch den Gemütsakt
oder die mehrfältigen Akte der Gefühls- und Willenssphäre, die gerade im
Spiel sind, hindurchgehen. Sie sind ja nicht bloß äußerliche Annexe zu den
Vorstellungserlebnissen, sondern in ihnen erhält der Vorstellungsgegenstand
sozusagen eigene Lichter, er gewinnt neue Charaktere, er steht ja als ein
schöner oder hässlicher, angenehmer oder unangenehmer, zweckmäßiger
oder unzweckmäßiger da; im handelnden Willen als ein nicht bloß sich
verändernder oder gewordener, sondern als willentlich gestalteter oder sich
umgestaltender, einer leitenden Zweckabsicht gemäß.1
Das theoretische Interesse kann sich auf die Eigenheiten des Gegenstan-
des in sich selbst, d. i. des Gegenstandes, wie ihn die bloß unterliegende
Vorstellung dem Bewusstseinssubjekt hingestellt hatte, richten, es kann sich
aber auch auf die Werteigenheiten, Zweckeigenheiten, Werkeigenheiten des
Gegenstandes richten, die dem Gegenstand bewusstseinsmäßig zuwachsen
durch die Akte des Gemüts und Willens. Bei gleicher Vorstellungsunterlage
können die Gemütsakte offenbar wechseln. Man sagt zum Beispiel: Einmal
bin ich so gestimmt, ein anderes Mal anders; einmal berührt mich derselbe
und in derselben Weise erfahrene Gegenstand im Gemüt so, ein anderes
Mal anders; einmal dient er mir für die leitenden Zwecke, ein andermal
für andere. Demgemäß wären die möglichen Sachurteile dieselben, während
die Urteile über Werte und Zwecke, Mittel usf. wechseln könnten. Ich kann
ausschließlich für den Gegenstand „sachlich“ interessiert sein; und obschon
mein Gemüt irgend dabei berührt sein mag, so bleibt es außer Spiel. Ich
fälle dann keinerlei Werturteile, keinerlei Urteile über all die Merkmale, die
in welcher Weise immer ihren Ursprung in der Gemüts- und Willenssphäre
haben. Jederzeit kann aber das theoretische Interesse sich eben nach dieser
Richtung wenden, und es treten dann die dieser Sphäre eigentümlichen
Begriffe auf, Begriffe, die in der vorigen gar keine Stätte haben konnten.
Diese Schichtung des Bewusstseins, der gemäß die Gegenstände unserer
jeweiligen Umwelt Produkte verschiedenen Ursprungs sind und verschie-
dene Stufen zeigen, kann sich immer wieder erhöhen, das heißt, es kön-
nen zu gegebenen Schichten neue Schichten hinzutreten, und demgemäß
können die Gegenstände immer wieder neue Charaktere annehmen. Ein
Ding ist etwa aufgefasst als ein Tisch, also als ein aus wertender und nach
Zwecken gestaltender Tätigkeit erwachsenes Gebilde. Es wird dann aber
weiter etwa aufgefasst als ein interessantes Werkstück des 16. Jahrhunderts,
erhält einen antiquarischen Wert, vielleicht eine sentimentale Wertcharak-
teristik; das alles kann dann einen Nutzwert im Handel des Antiquars be-
stimmen.
Evident ist, dass, wie immer in dieser Art von der Gemütssphäre her neue
Charaktere und Schichten neuer Prädikate erwachsen können, wir nach der
Gegenrichtung immer und notwendig auf Prädikate verwiesen werden, die
nicht der Gemütssphäre entstammen. Gemüt und Wille bedürfen, um in
Aktion zu treten, offenbar eines Vorgegebenen, das nicht aus dem Gemüt
und Willen seine Prädikate gezogen hat. So werden wir also, all die höheren
Schichten der Gemütswertung abtragend, schließlich auf eine Unterstufe
kommen müssen, die schlechthin keine Einschläge solcher Provenienz hat;
wir müssen also schließlich zu einem puren vorstellenden Bewusstsein kom-
men, einem sozusagen schlechthin gemütslosen Bewusstsein, das uns jeweils
Gegenstände gibt als bloße Sachen, als bloße Dinge. Diese bloßen Dinge
haben in ihrem Inhalt, haben in dem Sinn, den ihnen das bloße Erfah-
rungsvorstellen zuteilt, keine Spur von Wertprädikaten und Prädikaten des
Zweckes. In dieser Art bestimmt sich uns in strenger Weise ein Begriff von
Natur als bloßer Natur, und der Bestand rein natürlicher Eigenschaften.
Betrachten wir ein Ding, z. B. einen Tisch, als Gegenstand der bloßen
Sacherfahrung. Nun, dann betrachten wir die Raumgestalt des Dinges; und
bestimmen wir sie mittels geometrischer Begriffe oder bestimmen wir seine
Farbe, sein Gewicht, seine Elastizität, so sind solche und ähnliche reale
Eigenschaften völlig unabhängig von allem Wechsel der Wertungen und
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 109
Natur bei weitem nicht all unsere Wissenschaften erschöpfen. Denn alles
was wir irgend unter den Titel „Kultur“ befassen, gehört einer Sphäre
von Gebilden an, die nur als Korrelate des wertenden und des praktisch
gestaltenden Bewusstseins verständlich sind.1
Am Schluss der letzten Vorlesung sprachen wir von der Wechselbeziehung
zwischen verbundener Menschheit und Umwelt. Die Umwelt ist immerfort
mehr als bloße Natur, sie ist eine sich mit der betreffenden Menschheit
entwickelnde, von ihrem wertenden und handelnden Leben her sich immer
neu gestaltende Welt, eine Welt der Kultur. Im aktuellen Leben, das nicht
ein bloß vorstellendes, sondern immerfort ein wertendes und handelndes
ist, gewinnen die erfahrenen Gegenstände immer neue Kulturprädikate für
die Subjekte. Sie sind nicht nur für sie da, sie bedeuten ihnen auch etwas;
und diese Bedeutungen sind nicht bloß individuelle und momentane Ge-
mütsfärbungen oder Zweckcharaktere, Charaktere des Im-Werk-Seins oder
fertigen Werk-Seins, sondern in eigener und näherer Analyse bedürftiger
Weise wachsen den Gegenständen überindividuelle und bleibende Eigen-
schaften zu, die jedermann an ihnen finden, nachverstehen und nachprüfen
kann, z. B. einen Tisch als Tisch, ein Werkzeug als Werkzeug usf. Mitunter
täuscht man sich darin, und es gibt auch hier Täuschung und Wege der
Nachweisung der Täuschung. Zum Beispiel: Man hält einen spitzen Stein
für eine prähistorische Pfeilspitze oder eine natürlich entstandene Höhle für
eine zweckvoll gestaltete Behausung.
1 Gestrichen Das betrifft aber nicht bloß Kulturobjekte in dem Sinne von Naturdingen, die
für irgendwelche wertende und handelnde Personen aufgefasst sind mit Wertcharakteren und
mit praktischen Charakteren, von ihnen eventuell als Werke geschaffen und dann als Werke
gesehen sind, im Übrigen gleichgültig, ob es sich um derartige Gebilde von Einzelpersonen
für sich oder von kommunikativ zusammentretenden und Gemeinschaftswerke gestaltenden
Sozialitäten handelt. Vielmehr sei darauf hingewiesen, dass auch jederlei menschliche Ge-
meinschaften, Verbände sich wechselseitig verständigender und miteinander sozial geeinigter
Personen, hierher gehören. Auch sie sind als Verbände Gegenstände der Welt, und auch sie
sind nur, was sie sind, aufgrund von wertenden und praktischen Funktionen; sie sind nur,
indem sie im wechselseitigen Werten, Wollen, Wirken sich mit entsprechenden Prädikaten
konstituieren. Jedes sozial lebende Wesen hat als Glied solcher Verbände soziale Funktionen
und entsprechende Funktionsprädikate, die offenbar nicht Prädikate bloßer Natur sind. Und
schließlich, selbst wo wir eine Person unter Abstraktion von allen ihren sozialen Funktionen
betrachten oder sie in ihrer Rückbezogenheit auf sich selbst betrachten, finden wir sie zwar auch
als Natur – wir können sie wie eine bloße Sache betrachten, und sie kann sich selbst auch so
betrachten –, aber sie kann doch auch nicht anders, als sich selbst zu werten, sich selbst praktisch
zu leiten, sich selbst zu erziehen; sie ist nur in einem beständigen sich selbst Gestalten, sich selbst
Schaffen und Umschaffen, und mit Beziehung darauf hat sie neue Sorten von Prädikaten, die
keine bloßen Naturprädikate sind.
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 113
Kulturgebilden erwachsen sind oder auch solche und solche Typen von Ent-
wicklungen. Offenbar sind diese empirischen Kulturwissenschaften von ganz
anderer Art als die empirischen Naturwissenschaften. Denn die Erfahrung,
durch die wir Kenntnis von einem Kulturgebilde gewinnen, ist nicht eine
bloße Sacherfahrung. Es ist ein Erfahren, das auf Akten der Gemütssphäre
sich gründet und auf die nur in ihnen vorstelligen Bedeutungsprädikate
rekurriert. Ob hierbei die vermeinten Werte wirkliche Werte, die vermeinten
Kunstwerke, wissenschaftlichen Werke u. dgl. vor der Vernunft als wahrhafte
gelten können, danach ist nicht die Frage. Zum Beispiel, in der Geschichte
der Naturwissenschaft können die Wissenschaftstypen der Renaissance be-
schrieben werden und kann ausführlich die typische Art der wissenschaft-
lichen Systeme der Astronomie, Alchemie, Magie herausgestellt werden,
ihre Zusammenhänge mit der allgemeinen Kultur der Zeit, die Motive, die
damals gerade diese Gestalten bestimmt, gerade solchen Vorstellungsweisen,
Methoden, Schlussweisen überzeugende Kraft verliehen haben, können zum
Verständnis gebracht werden, ohne Rücksicht auf die Fragen nach Vernunft
und wissenschaftlicher Wahrheit.
2) Und so verstehen Sie sogleich die zweite Art von wissenschaftlichen
Untersuchungen, die eine höhere Schicht ist: nämlich dadurch ausgezeichnet,
dass eben darauf ausgegangen wird, die vermeinten, die jeweils für gültig
erachteten Werte und die ihnen gemäß erwachsenen Gebilde herauszu-
werten, die Endzwecke nach ihrem wahren Wert zu beurteilen und auch
die Methoden der Erzielung der Zwecke, die Angemessenheit der Mittel
nachzuprüfen. Dann heißt es in unserem Beispiel, dass die Methoden jener
Wissenschaften grundverkehrt, ihre Resultate zumeist falsch, diese Wissen-
schaften überhaupt bloß Scheinwissenschaften waren, dass aber etwa die
und die Einzelheiten Vorahnungen wertvoller Wahrheiten waren, die unsere
echten Wissenschaften zweifellos gemacht haben.
Doch wir haben bisher von Erfahrungswissenschaften gesprochen als
empirischen Kulturwissenschaften. Selbstverständlich muss es aber auch hier
ein Reich des Apriori geben. Es leuchtet überhaupt ein, dass all die Wege,
die wir früher im Aufstieg zur Idee einer realen Wissenschaftslehre gegangen
sind, sich parallel hier müssen gehen lassen. Das Allgemeinste bleibt insofern
bestehen, als wir früher den Begriff der Realität undifferenziert gelassen
haben. Jetzt scheidet sich uns Realität im Sinne der bloßen Natur und Realität
im Sinne der leistenden Geistigkeit und ihrer Kulturleistungen. Nach diesem
zweiten Glied der Scheidung, das offenbar eigene Regionen wahrhaften
Seins ergibt, muss es also auch eine eigene reale Wissenschaftslehre in
Zweigliedrigkeit geben, gemäß der zweifachen Korrelation von Akt und
116 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Der Übergang zur Wertelehre und Ethik erfolgt erst S. 98 = S. 119.
2 Randbemerkung Anknüpfung an den historisch-geschichtlichen Gang bis folgende Seite =
S. 118.
3 Statt durch im Msk. doch.
118 einleitung in die philosophie
Wir fügen nun eine wichtige Fortführung unserer Betrachtung bei, indem
wir anknüpfen an die frühere Scheidung der Kulturgebilde in solche, die in
der intersubjektiven Erfahrung sich ausweisen als faktische, eventuell von
den meisten oder allen als wertvoll anerkannte Gebilde, und in solche, die in
der wertenden Vernunft ausweisbar sind als wahrhafte Werte. Ich erinnere an
unsere Beispiele der Renaissancewissenschaften Alchemie oder Astrologie,
apriorische wertelehre und ethik 119
die als geistige Gebilde erwuchsen und faktisch allgemein für wahre Wissen-
schaften galten, während sie vor der Vernunft sich als Scheinwissenschaften
herausstellen.1
Dies führt uns auf die Frage nach den Prinzipien und überhaupt Gesetzen,
unter denen alle Vernunftbetätigung im Werten bzw. alle echten, wahren
Werte als solche stehen. Sofern diese Echtheit sich selbst in einem Werten,
einem besonders ausgezeichneten Werten, das eben darum „vernünftig“
heißt, herausstellt und sofern dieses Herausstellen selbst ein geistiges Leisten
ist, ein Erstreben und Erzielen der Echtheit, stehen wir durchaus in der geis-
tigen Sphäre, und die hierher gehörigen Disziplinen der Vernunft sind selbst
als Geisteswissenschaften anzusprechen. Wir stoßen also im allgemeinsten
Rahmen derselben auf die obersten normativen Disziplinen, wir stoßen auf
die apriorische Wertewissenschaft und darin auf die Ästhetik, ferner auf die
apriorische Wissenschaft von der praktischen Vernunft, die Ethik; auch von
Logik werden wir in diesem Rahmen noch ein Wort zu sagen und ihr hier
eine Stelle anzuweisen haben.
Gehen wir aus vom Werten, ein allgemeiner Titel für jederlei Gefallen
und Missfallen, sich über etwas Freuen oder sich darüber Ärgern und wie die
Bezeichnungen sonst mit mancherlei Differenzierungen lauten mögen. Wir
stellen gleich einen radikalen Unterschied heraus. Wenn wir werten, kann
das Gewertete ein Wirkliches oder Unwirkliches sein, ein normal Wahr-
genommenes oder ein Illusionäres, ein frei Fingiertes. Bewusstseinsmäßig
kann dabei die Wirklichkeit als Wirklichkeit gesetzt, die Unwirklichkeit als
Unwirklichkeit bewusst sein. Bald werten wir Dinge der erfahrenen Um-
welt, bald eine Zentauren-Landschaft, die uns ein Bild anschaulich macht,
während wir die Fiktion dabei als Fiktion auffassen, bald geben wir uns dem
Spiel eigener Phantasie hin, etwa musikalischer Phantasie und haben unser
Gefallen an der Melodie, die innerlich, im Bewusstsein ihrer Unwirklichkeit
gleichsam gehört wird.
erklärung gegenüber einer teleologischen war für uns der Ausgangspunkt für eine Reihe
selbständiger Überlegungen. Wir werden sie noch eine Strecke fortführen müssen, ehe wir die
gewonnenen Einsichten über die notwendigen Demarkationen im Reich möglicher Erkenntnis
und Erkenntnisthemen dazu verwerten können, um es zu verstehen, warum das Altertum zu
einer Naturwissenschaft in unserem Sinne nicht durchgedrungen ist und warum die teleolo-
gische Weltbetrachtung in ihm die wesentlich vorherrschende ist, wie umgekehrt, warum die
neuzeitliche Weltbetrachtung mit der Naturwissenschaft eine spezifisch naturwissenschaftliche
Weltbetrachtung ausgebildet, aber ihrerseits geneigt ist den eigentümlichen Sinn und die Not-
wendigkeit einer teleologischen Weltbetrachtung zu verfehlen.
120 einleitung in die philosophie
Es gibt nun ein Werten für das dieser mitgegebene Glaube oder diese
Überzeugung vom Wirklichsein oder Nichtsein oder auch Wahrscheinlich-
sein usw. des gewerteten Gegenstandes für die wertende Stellungnahme
wesentlich motivierend, grundlegend ist. Und es gibt andererseits ein Werten,
wo diese Überzeugung vom wirklichen Sein des Gewerteten (also auch jede
logische Stellungnahme dazu) für das Werten völlig irrelevant bleibt. Im ers-
teren Fall richtet sich das Werten auf den Gegenstand selbst und wie er ist; im
zweiten Fall bloß auf den erscheinenden Gegenstand als solchen, auf das Wie
der Erscheinungsweise. Wir freuen uns einmal etwa an unserer behaglichen
Wohnung oder an den schönen Wintertagen. Was da gewertet ist, das ist das
betreffende Gegenständliche in seinen gegenständlichen Eigenschaften. An
dem wahren Sein dieser Eigenschaften hängt die Wertung. Wir haben eine
Freude an einer Person, eine Freude darüber, dass sie gerade so ist, wie sie ist,
dass sie diese Intelligenz hat, dieses Gemüt, diese musikalischen Fähigkeiten
und Fertigkeiten. Dann ist die Wertung fundiert in der Überzeugung von der
Wirklichkeit der Person und der Wirklichkeit dieser ihrer Eigenschaften.
Sowie die Überzeugung vom wirklichen Bestehen dieser Eigenschaften ver-
loren geht, ist die Freude alsbald dahin. Ebenso beim Missfallen, beim Hass
eines Menschen, den wir mit Eigenschaften auffassen, die uns abstoßen. Der
Hass verliert seinen Boden, wenn wir erkennen, dass wir uns getäuscht, dass
wir ihm solche Eigenschaften fälschlich zugedeutet haben.
Wir können aber einen Menschen in ganz anderer Weise als „schön“
werten, zum Beispiel eine Person als leiblich schön. Offenbar kommt es
hier ausschließlich auf die Erscheinungsweise an: Die Schönheit ist uns nur
gegeben, und das Schön-Gefallen ist nur ein wirklich ursprüngliches und
entfaltetes, wenn die Person in einer gewissen Lage zu uns steht, wenn sie
uns gewisse Aspekte zeigt und nicht andere. Erkennbar als dieselbe mag sie
in unendlich vielen anderen Gegebenheitsweisen sein, ihre Schönheit gehört
aber nur zu den ausgezeichneten Darstellungsweisen. Ebenso ist ein Berg
schön genannt nur mit Beziehung auf den Anblick, den er uns von einem
bestimmten Aussichtspunkt aus zeigt.1
1 Gestrichen Gehen wir vom Menschen und seiner faktischen Umwelt aus. Sie steht ihm
gegenüber als da seiende, sei es als bloße Natur, sei es schon ausgestattet mit Kulturcharakteren.
Sie berührt ihn im Gemüt, er wertet sie, und das bestimmt weiter seine Praxis, in der, in der
früher erörterten Weise, die Umwelt neue und dabei auch bleibende Charaktere geistiger Art
annimmt. Als da seiende steht ihm die Umwelt gegenüber in Form der Erfahrung, als gewiss
seiende oder im Einzelnen auch als vermutlich seiende, wahrscheinlich seiende usf. In der
Phantasie können ihm dazu auch Phantasiegestaltungen vorschweben, und er kann zu ihnen
apriorische wertelehre und ethik 121
Der ausgezeichnete Anblick ist aber nicht eine reale Eigenschaft des Ge-
genstandes selbst, sondern eine Eigenschaft des wahrgenommenen Gegen-
standes als solchen im Medium der Gegebenheitsweise. Ob die menschliche
Person oder der schöne Berg nun auch als Illusion sich herausstellten, solange
nur die Anschauung den Gegenstand in demselben Aspekt zeigt, bleibt das
Gefallen als Gefallen am Schönen erhalten. Die reine Schönheit gehört also
nicht zur Wirklichkeit. Verstehen wir „Interesse“ und „Interessiertsein“
in einem prägnanten Sinne, also in dem des Interesses an der Wirklich-
keit, wie das Kant tut, dann wäre also das Wohlgefallen am Schönen ein
„uninteressiertes“. Wenn wir den wirklichen Berg, die wirkliche Person als
schön bezeichnen, so ist das eine subjektiv objektive Bezeichnungsweise:
Er ist schön, sofern er nicht nur ist, wie er ist, sondern, von einem Subjekt
angeschaut, unter anderem gewisse Aspekte, Gegebenheitsweisen hat, die
ein reines Schön-Gefallen fundieren. Dieses Als-schön-Gefallen bezeichnen
wir im weitesten Sinne als ästhetisches.1
Daraus ergibt sich eine große Scheidung der Werte in Daseinswerte (oder
Gutwerte) und in ästhetische Werte oder Schönwerte und somit auch eine
Scheidung der Wertelehren in eine Güterlehre und eine Ästhetik. Sind in
der reinen Ästhetik Gegenstände überhaupt betrachtet um ihrer Schön-
heiten willen ohne Ansehung der Frage der Wirklichkeit der Gegenstände
und ihrer Wirklichkeitseigenschaften, so ist nun zu beachten, dass, wo ein
Gegenstand der Wirklichkeit als schön gefällt und als schön beurteilt wird,
zugleich auch die Wirklichkeit dieses Schönen ein Gefallen erwecken kann,
und zwar gerade mit Rücksicht darauf, dass es ein Schönes ist. Deutlicher
gesprochen: Wir freuen uns darüber, es ist uns wert, dass ein Gegenstand
wirklich ist, dem in Bezug zur auffassenden Subjektivität Erscheinungswei-
sen zugehören, subjektive Modi der Gegebenheit, die ein Als-schön-Gefallen
auch Stellung nehmen in der Weise, dass er das Phantasierte als Möglichkeit, d. i. als mögliches
wirkliches Dasein, setzt und dann in der Regel es in Beziehung zur gewissen Wirklichkeit
setzt. So zum Beispiel, wenn er erwägt, wie das Mögliche, das für wert gehalten ist und im
Begehren als Seinsollendes dasteht, willentlich verwirklicht, im Handeln realisiert werden
kann. Allgemein haben wir hier bezeichnet wirkliche und mögliche Umwelt als eine reale
Seinssphäre, die wertbar ist, nach Wirklichkeit und Modalitäten der Wirklichkeit und darin
bestimmend ist vermöge der Werte, die ihr beigemessen sind, für ein Handeln oder Wirken.
Demgegenüber gibt es aber auch ein Gefallen und Missfallen, ein positiv und negativ Werten,
an bloßen Phantasiegestaltungen als Phantasiegestaltungen, nicht am Phantasieren, sondern
am Phantasieobjekt, am Phantasievorgang, an Phantasie-Welten, und zwar als in den und den
Darstellungsweisen, Aspekten, Gefühlsanklängen u. dgl. phantasierten.
1 Randbemerkung „Gegebenheitsweise“, das ist hier sehr weit zu nehmen: jede Weise der
Darstellung etc.
122 einleitung in die philosophie
fundieren. Das ergibt aber nicht etwa ein Mischgebiet, sondern es ist offenbar
ein apriorisches Gesetz, dass mit jeder ästhetischen Schönheit einem realen
Gegenstand zugleich ein Gutwert zuwächst. Als wirklicher Gegenstand hat
ein Ding neben anderem Gutem auch dieses Gute, dass er geeignet ist,
unter gewissen Verhältnissen gesehen, sich als schön gefallend zu erweisen.
Also jetzt werten wir seine Wirklichkeit mit und in einer Weise, dass die
ursprüngliche reine Schönwertung eine Gutwertung begründet: Der Gegen-
stand ist nicht nur schön, er ist um seiner Schönheit willen auch gut. Der
evidente Zusammenhang, der zwischen reinen Schönheiten und Gütern,
die aus der Darbietung von Schönheiten entspringen, besteht, macht es
begreiflich, dass die Ästhetik auch, ihre Reinheit verlierend, von den schönen
Objekten und den Kunstwerken als Erzeugnissen handelt. (Dabei ist aber
zu beachten, dass auch die Freude an der Schöpfung des Werkes ästhetisch
bedeutsam werden muss; dass das Schöne bewusst ist als Erzeugnis eines
bewunderten Künstlers und seines Schaffens, das ist ja selbst ein Gegeben-
heitsmodus des Schönen, der ästhetisch wirken kann.) Lassen wir uns nun
mit der bloßen Aussicht auf eine wissenschaftliche und reine Ästhetik als
Wissenschaft von den reinen ästhetischen Werten begnügen, deren nähere
Betrachtung in apriorischer und empirischer Hinsicht uns zu weit führen
würde.1
Der in der letzten Vorlesung vollzogenen radikalen Scheidung der Werte
können wir folgenden philosophisch wertvollen Ausdruck geben: Unter
„Regionen“ verstanden wir die obersten sachhaltigen Gattungen, wobei
sachhaltig jede nicht bloß formal-logische Bestimmung war. Dann ist Natur
eine Region, aber auch Wert eine Region, und die Klassifikation der Werte
in Schönheitswerte und Gutwerte war eine fundamentale Scheidung der
1 Gestrichen Betrachten wir stattdessen das Reich der Gutwerte, und zwar in universaler
Allgemeinheit. Jeder Wille geht auf ein Willensziel, und das ist offenbar ein Gutwert oder besser
ein vom Wollenden vermeinter Gutwert. Er muss auch vermeint sein in der Überzeugung des
Wollenden und Handelnden als ein für ihn erreichbarer. Es scheidet sich also Gut überhaupt
und praktisches Gut. Der letztere Begriff ist ein engerer, aber die Verengung bezogen auf ein
hinzugedachtes Subjekt des Wollens und den jeweiligen Bereich seiner praktischen Möglich-
keiten. Versuchen wir nun hier, Wissenschaften zu entwerfen. Also einmal eine Wissenschaft
von den Gütern, eine Güterlehre. Da kommt es auf die verschiedenen Arten und Gattungen
von Gütern an, aber auch auf ihre Wertvergleichung, auf die Aufstellung von Rangordnungen
der Vorzüglichkeit; ferner, sofern wir den Menschen als Willenssubjekt betrachten, auf eine
praktische Güterlehre. Freilich hat jeder Mensch seine praktischen Möglichkeiten, seinen sogar
von Zeitpunkt zu Zeitpunkt wechselnden Bereich der ihm praktisch zugänglichen Güter. Aber
es braucht nicht gesagt zu werden, dass trotzdem allgemeine Gesetze für die Bestimmung
praktischer Güter und vor allem für Auswahl des praktisch Besten aufgestellt werden können.
apriorische wertelehre und ethik 123
1 Randbemerkung Es genüge uns, was in der Tat leicht verständliche Gründe hat, Selbstwerte
zu betrachten. Nicht zu übersehen ist dabei auch, dass, wenn wir von Werten schlechthin
sprechen, darunter entweder positive oder negative Werte verstanden werden sollen. (Genau
besehen scheiden sich die Werte eigentlich in drei Gruppen: in positive Werte, negative Werte
und in Adiaphora, Nullwerte. Das Null ist ein wertlich Ununterscheidbares.)
124 einleitung in die philosophie
gewertet werden (zum Beispiel: Wir können die Schönheit ihrer Handlungs-
weisen werten). Ebenso die personalen Verbände, die Gestalten personaler
Gemeinschaft, können als schön gewertet werden. Die Schönheit einer po-
litischen Entwicklung, einer Geschichte, die Schönheit eines bestimmten
Staatswesens, die Schönheit einer Religion, einer Kirche, auch wenn man
etwa ungläubig ist. Geistiges jeder Art gewinnt seine Mitteilbarkeit und
Objektivität sozusagen durch einen sinnlichen Leib, und so tritt uns geistige
Schönheit eigentlich nie rein entgegen, überall ist der Schönheitswert ein
Wert aus der Verbindung. Das Geistige findet im Sinnlichen seinen Ausdruck,
der seine eigenen Schönheiten hat, die ihren Glanz aber in die Schönheit des
Ausgedrückten überstrahlen lassen und so eine neue höhere Schönheitsform
ergeben. Natürlich ergeben sich hier Probleme nicht nur der Klassifikation
und der Aufweisung der Gesetze, nach denen a priori aus Schönheitswer-
ten der oder jener Gruppe neue Werte konstruierbar wären, sondern auch
Probleme der relativen Rangordnung der Werttypen untereinander.
Gehen wir jetzt zu der Gattung der Gutwerte über, so ergeben sich hier
die entsprechenden Probleme einer universellen, nicht nur empirischen, son-
dern vor allem apriorischen Güterlehre. Also wieder Probleme, die sich auf
die Klassifikation der Güter beziehen und auf die Gesetze der Ableitung,
sozusagen auf die eventuell apriorischen Operationsgesetze, nach denen aus
Gütern wieder Güter erwachsen. Endlich auch die Probleme der Rangord-
nung im Reich der Güter, insbesondere der prinzipiellen Rangordnung der
Güter verschiedener Gattungen. Um hier einige Titel zu nennen: So gibt es
die Klasse der ästhetischen Güter, all das Gute umfassend, das gut ist um
irgendwelcher Schönheiten willen; die logischen Güter: Gewertet werden
dabei einzelne Wahrheiten, Schlüsse, Beweise, Theorien, ganze Wissenschaf-
ten als Seinswerte (das Seiende ist hier das logisch Richtige, Wahre); die
Güter der Personen und der personalen Gemeinschaft: Als gut gewertet
können sein Charaktereigenschaften der Personen oder die Personen in
ihren Charaktereigenschaften, aber auch einzelne Tätigkeiten der Personen,
wie Betätigungen der Nächstenliebe, aber auch Charaktereigenschaften ei-
nes Volkes, einer Staatsnation, wie sie sich im Gang ihrer Geschichte relativ
konstant zeigen, ebenso ein Staat in seiner Verfassung, in einzelnen seiner
Normierungen usf.
Das systematische Studium einer reinen Güterlehre, und zwar einer aprio-
rischen (von allem Zufälligen der Erfahrung gereinigten) müsste die Verbin-
dungsgesetze erforschen, die zwischen solchen Gruppen bestehen und ohne
die ihre systematische Ordnung nicht gewonnen werden kann. Zum Beispiel:
Bei der Wertung der Person stoßen wir auf die Wertung ihrer Akte und
apriorische wertelehre und ethik 125
sehen dabei, dass jeder wertvolle Akt der Person Wert verleiht, aber auch,
dass der Wert der Akte abhängig ist vom dem, worauf der Akt sich richtet.
Richtet sich ein Urteilen auf eine echte Wahrheit, so ist das Urteilen um
dessentwillen ein Gutwert. Richtet sich ein Werten auf einen wahren Wert
sonst, so ist das Werten a priori gut, wenn es positiv wertet, was positiv wert
ist, und negativ, was negativ wert ist. Im Gegenfall aber schlecht. Ebenso ist
das Für-besser-Werten eines wahrhaft Besseren gut, das Als-minderwertig-
Werten eines wahrhaft Besseren schlecht. Und so gibt es vielerlei apriorische
Gesetze, denen gemäß Güter in der außerpersonalen Sphäre sozusagen ihre
Abwandlungen haben in der personalen Sphäre.
Machen wir jetzt einen weiteren Schritt von der Güterlehre in die ei-
gentliche Ethik. Jeder Wille geht auf ein Willensziel; und zum Wesen eines
Willenszieles gehört a priori, dass es für den Wollenden ein vermeintlich gutes
ist, also ein Vorstelliges, das er aber vermisst, das er demzufolge begehrt. Es
schwebt ihm also als Nichtseiendes vor und dabei als Ende einer möglichen
Handlung, die es realisieren, es in ein da seiendes, die Begehrungs- und
Willensintention erfüllendes Gutes verwandeln würde.1 Danach scheidet
sich Gutes schlechthin und praktisches Gut, und zwar für ein handelndes
oder als handelnd gedachtes Subjekt. Nicht jedes Gut kann a priori mein
Willensziel sein, es muss ja nach meiner Überzeugung durch mein Handeln
möglicherweise realisierbar sein, zumindest für einigermaßen möglich muss
ich die Realisierbarkeit halten. Wo ich die Gegenüberzeugung habe, kann
ich mir kein Ziel stellen, z. B. zu machen, dass 2 × 2 = 5 sei, oder zu machen,
dass die Erde still stehe.2
im Rahmen der Gesamtheit praktischer Möglichkeiten nach Tun und Unterlassen; denn auch
das Unterlassen muss in Anschlag gebracht werden und kann eventuell besser sein als Tun,
etwa wo im positiven Tun nur Böses getan werden könnte. Sind solche allgemeinsten, von den
möglichen inhaltlich bestimmten praktischen Gütern und Schlechtheiten unabhängigen Gesetze
klargestellt, so hängt nun offenbar alles Weitere von der systematischen Güterlehre, und zwar
von einer sachhaltigen Güterlehre ab. Es bedarf gegenüber der unpraktischen Güterlehre einer
praktischen, insofern als erwogen werden muss, welche bestimmten Gattungen und Artungen
praktisch realisierbarer Güter oder Übel es überhaupt gibt, die als praktische Anschläge in
die praktische Rechnung, in die Bestimmung des höchsten praktischen Gutes, das das einzig
Gesollte ist, eingehen.
1 Randbemerkung Sachlich schlecht die ganze weitere Vorlesung. bis S. 136 Mitte
2 Randbemerkung So geht es nicht.
3 Randbemerkung Heißt das, dass er die Einsicht alsbald vergisst und sie für ihn nicht praktisch
und zwar auf ihre Willensziele, auf die aktuellen und potenziellen. In letzterer
Hinsicht, der potenziellen, beurteilen wir habituelle Eigenschaften einer
Person, deren Kenntnis aussagt, wie sie sich praktisch entscheiden würde
unter den jeweilig dazu gedachten Umständen.
Betrachten wir mögliche Willensziele einer Person, so ist zweierlei zu
unterscheiden. Es kann die Frage die nach dem wirklichen Wert oder dem
Unwert des Willenszieles sein, gleichgültig ob es Willensziel ist oder nicht
und von der wollenden Person gewertet wird oder nicht!1 So ist das wissen-
schaftliche Streben nicht nur auf ein vermeintes, sondern auf ein wirkliches
Gut gerichtet, wenn die betreffende Wissenschaft oder Theorie eine echte
und wahre ist. Der Gutwert dieser Theorie ist aber ein Wert an sich, gleich-
gültig ob jemand ihn als Willensziel erstrebt oder nicht und von diesem Wert
überhaupt weiß oder nicht. Fürs zweite können aber auch Willensziele als
Willensziele gewertet werden.2 Und sie können dann als solche positiv- oder
negativ-wertig sein. Hier stehen wir vor der Frage des ethischen Wertes, des
ethisch Guten und des ethisch Schlechten. Hier tritt uns also ein Doppelsinn
der Rede von einem praktischen Gut entgegen. Einmal kann es besagen ein
Gutes, das, vermeint als praktisch realisierbares Sein, mögliches und even-
tuell wirkliches Willensziel ist. Und das andere Mal kann es ein Willensziel
bedeuten, das nicht nur auf ein Gutes und dabei auf ein erreichbares Gutes
gerichtet ist, sondern das zudem als Willensziel sein Recht, seinen Gutwert
hat. Wir können das auch so ausdrücken: Dass etwas ein Gutes ist, besagt
noch nicht, dass es für mich ein erreichbares Gutes ist, aber schon, dass es
für mich ein vermeintes und gar eingesehenes Gutes ist. Und weiter: Dass
etwas für mich ein erreichbares Gutes ist, besagt noch nicht, dass es ein für
mich Gesolltes ist. Korrelativ ausgedrückt: Es besagt noch nicht, dass mein
daraufhin gerichteter Wille ein richtiger Wille, ein ethischer ist.3
1 Randbemerkung Wie beurteilen wir aber die Willensziele, für die Personen sich entscheiden?
Wie bewerten wir sie und bewerten wir sie danach, wie die betreffenden Personen sie selbst
bewerten? Und da ist der Ausgang der Überlegungen.
2 Eingelegtes Blatt Ethische Wertung, Bewerten von Personen, ihren Willensgesinnungen,
Willenszielen nach ihren Motiven, Bewertung der von ihnen vermeinten Werte usw. Ethisches
Sollen: doppelsinnig: 1) das ethisch Richtige, der richtige ethische Wert. 2) Was ich soll, was
jemand soll, was von ihm gefordert wird, was man ihm zumuten kann, von ihm abfordern, was
ich von mir abfordern kann und was ich, die Forderung anerkennend, erfülle und erfüllen kann,
selbst wieder in einem Willen, in einem Handeln, das selbst wieder ethisch gewertet werden
kann. Bei einer ethischen Wertung ist von einem Imperativ keine Rede. Begriff des Imperativs!
Der absolute ethische Wert – der kategorische Imperativ.
3 Randbemerkung Das alles ist nicht ausreichend.
128 einleitung in die philosophie
Das gilt es jetzt also klarzumachen: Selbst wenn das Ziel meines Willens
ein erreichbares und ein gutes wäre, könnte es als mein Willensziel doch
schlecht sein, etwas das ich ethisch nicht soll. Zum Beispiel: Vielleicht darf
man ernstlich sagen, dass jede sinnliche Lust an und für sich, eine Augen-
weide oder Magenfreude, ein Gut ist. Realisiere ich dergleichen, so realisiere
ich also ein Gutes. Aber nicht alle Güter stehen in der Werteskala auf einer
Stufe. So könnten neben dem sinnlichen Gut in meinem praktischen Bereich
höhere Güter erreichbar sein. Wenn ich nun die Wahl hätte zwischen dem
bloß sinnlichen Gut und dem höheren Gut einer Nächstenliebe oder Got-
tesliebe und ich wählte das sinnliche, so wäre dieses, trotz seiner sinnlichen
Güte keineswegs ein Gesolltes, nicht ein ethisch Gutes; sondern ein ethisch
Böses hätte ich gewählt. In diesem Zusammenhang kehrt also das praktisch
Gute sein Vorzeichen um; als Willensziel gewertet wird das in sich Positiv-
Wertige zum Negativ-Wertigem. Apriori besteht zwar das Gesetz, dass das
Erstreben eines erreichbaren +/– Guten notwendig ein +/– ethisches Gutes
schafft oder schaffen würde; ob aber die beiderseitigen Vorzeichen überein-
stimmen oder nicht übereinstimmen, das hängt von besonderen Gesetzen
ab.
Wir können hier Folgendes ausführen: Zum Wesen des wollenden Ich
gehört die Wahlfreiheit. A priori ist nämlich einzusehen, dass ein waches
Ich, ein Ich, das lebt, indem es Akte vollzieht, in jedem Zeitpunkt seines
wachen Lebens ein Feld praktischer Möglichkeiten hat. „Ich kann“ dies
und das und allerlei, und zwar so, dass mancherlei mir bewusst ist im Cha-
rakter des „von mir Gekonntes“. Ferner: Es ist mir evident, dass ich, wo
ich tue, auch unterlassen könnte, und wo ich unterlasse, ich tun könnte;
dass ich, eine praktische Möglichkeit bevorzugend, ich auch eine andere der
praktischen Möglichkeiten hätte bevorzugen können und dass ich auch, im
Voraus mein Feld praktischer Möglichkeiten überblickend, mich in gleicher
Weise für eine jede der darin beschlossenen praktischen Möglichkeiten
entscheiden könnte. (Sprechen wir vom praktischen Bereich, so meinen
wir nicht die Gesamtheit dessen, was der Handelnde in objektiver Wirk-
lichkeit realisieren könnte, sondern was ihm innerlich, bewusstseinsmäßig
als von ihm Gekonntes vor Augen steht.) Ein ganz anderes, diese Frei-
heit des „Ich kann“ keineswegs störendes Gesetz ist dies, dass jede der
erfolgenden Entscheidungen ihre Motive hat, ihre im Bewusstseinsbereich
des Ich liegenden „Bestimmungsgründe“. Dass ich, unter all dem, was ich
jetzt kann, gerade dieses Eine tue, das entscheidet sich nicht von außen
her wie durch eine Lotterie, sondern ich wähle gerade dies, weil dafür
etwas in meinem Bewusstsein spricht; und es spricht zu mir, es bestimmt
apriorische wertelehre und ethik 129
fordernden.
130 einleitung in die philosophie
1 Notiz Die ganze Vorlesung muss neu erarbeitet werden. Das war doch leichtsinnig, flüchtig,
dass ich nicht von dem Unterschied des objektiv betrachteten Guten und dem vom Handelnden
vermeinten Guten sprach, nichts von Gesinnung, von Motiven etc.
2 Randbemerkung Selbstverständlich, wenn auf Seiten der Mittel sonst keine Wertunter-
hier den Begriff des Ethischen gefasst haben und was die Güte ihrer Ent-
schließungen bzw. der ihr Handeln leitenden Willensziele angeht – fordert,
dass wir sie in einer jeweiligen Lage betrachten, dass wir uns in ihr prak-
tisches Bewusstsein einfühlend versetzen, uns den praktischen Bereich des
Gekonnten, in dem sie sich in dem betreffenden Zeitpunkte selbst findet, re-
konstruieren und dann ihre Entscheidung nachwiegen. (Die Person in ihrem
ganzen Leben und Streben beurteilen, fordert also, eben dasselbe für jeden
Zeitpunkt zu leisten.) Dabei ist aber als ein Wesensmoment zu beachten,
dass kein Zeitpunkt isoliert ist und dass der Handelnde a priori in jedem
Zeitpunkt auf einen offenen Zukunftshorizont bezogen ist und dass der
praktische Bereich, der seine Wahl bestimmt und bestimmen muss, wenn er
wahrhaft praktisch vernünftig ist, auch all die praktischen Möglichkeiten mit
in Rechnung ziehen müsste, die er, vom Jetzt ab in die Zukunft vorblickend,
als künftige Erreichbarkeiten erkennen oder als vermutliche ansetzen kann.
Das Beste des Momentes muss fallen gelassen werden, wenn seine Wahl
ein hohes Gut der Zukunft unmöglich machen würde. Selbstverständlich
müssen alle guten und bösen Folgen für die Zukunft bei der Frage des jetzt
zu Wählenden mit in Rechnung gestellt werden. Klar ist dabei, dass der für
jedes wache Ich bewusstseinsmäßig vorhandene Zukunftshorizont, wie ver-
schieden er inhaltlich auch sein mag, immerfort ein praktischer Horizont ist,
der vernunftmäßig ein positives Tun in ihn hinein fordert. Niemals kann ein
Ich unter der Forderung stehen, überhaupt nichts zu tun, sondern höchstens,
momentan sich zurückzuhalten, um nach Abwarten eines Erfolges mit einem
Handeln eintreten zu können. Denn wir dürfen es als ein Axiom ansetzen,
dass ein Individuum, in dessen praktischer Sphäre überhaupt kein Gutes
wäre, undenkbar ist. Undenkbar wäre auch die Forderung, etwas zu tun,
was jedes weitere künftige Tun unmöglich machen würde, also zum Beispiel
Selbstmord zu begehen.
Jedenfalls erschaut man aufgrund solcher systematisch und exakt formu-
lierbaren Einsichten, dass es im Reich der praktischen Vernunft (oder des
Ethischen, nach unserer bisherigen Fassung dieses Begriffs) für einen jeden
Handelnden und jeden Zeitpunkt seines Handelns nicht eine Vielheit von
praktischen Imperativen gibt, sondern nur einen einzigen: den kategorischen
Imperativ. Es gibt für ihn jeweils und vor der Vernunft ein unum necessarium;
ein Einziges ist jeweils für ihn das Gesollte in jeder Lage seines Lebens und
damit für sein ganzes waches und freies Leben überhaupt. Konstruieren wir
die Idee eines durchaus nach praktischer Vernunft handelnden Subjekts, so
wäre sein ganzes Leben in endgültiger Notwendigkeit bestimmt; aber das be-
sagt keineswegs, dass darum von einem und jedem Zeitpunkt aus das künftige
132 einleitung in die philosophie
Leben inhaltlich berechnet werden könnte. Denn die Umstände ändern sich
in unvorherzusehender Weise, und die Voraussetzungen der Erreichbarkeit
und des Wertes und der Brauchbarkeit von Mitteln usw. erweisen sich im
Fortgang der Erfahrung als unzuverlässig und änderungsbedürftig.1
Überlegen wir näher den Sinn des kategorischen Imperativs und der
ganzen, seine Bestimmung vollziehenden und ihn tragenden apriorischen
Gesetzmäßigkeiten.2 Das positiv Gute zu wählen, das das Beste ist in der
gesamten im Moment der Wahl sich in die endlos offene Zukunft erstre-
ckenden praktischen Wirkungssphäre, ist das eine schlechthin Geforderte.
Gewertet werden dabei die Willensziele irgendeines Subjekts überhaupt,
also primär und eigentlich3 gewertet wird dabei der Wille, deutlicher die
Willensentscheidung. Denn man darf ja nicht das Wort „Wille“ in einem
laxen Sinne nehmen, in dem etwa eines Wunsches oder einer Willensneigung,
Willenserregung, sondern in dem eben der Entschiedenheit des „So tue ich!“,
die sich fortgesetzt im Handeln auswirkt.
Was die Willensrichtung anlangt, die der kategorische Imperativ gesetz-
lich bestimmt, so ist zu beachten, dass diese Bestimmung nicht als eine
objektive missverstanden werden darf:4 als ob der Wille ein guter wäre, der
das in objektiver Wahrheit für den Handelnden Beste unter dem Erreich-
baren wählt und realisiert. Es ist ja sehr wohl möglich, dass jemand genau
das aus tadelhaften Motiven bevorzugt, etwa weil er sich einen gemeinen
Vorteil davon verspricht, was, objektiv erwogen, sich ansehen ließe als das im
praktischen Bereiche des Handelnden wahrhaft Beste. Wie sehr es nicht auf
das Willensziel nach objektiven Werterwägungen ankommt, sondern auf die
1 Notiz Ich werde wohl die ganze Lehre vom kategorischen Imperativ aufgeben müssen
bzw. neu begrenzen. 1) Das bonum und summum bonum, betrachtet nach Seiten der Gutwerte
(Güter). Die Gütersphäre hat für mich einen praktisch realisierbaren Teil: mein praktisch bestes
„Gut“. 2) Ist das schon für mich das Gesollte? Könnte es nicht bezweifelt werden, dass das beste
praktische Gut, das für mich absolut Gesollte ist? Welche Bedeutung hat die Subjektivität des
Wollens? Kommt sie nur als objektivierte in Betracht, sofern ich sie nur bewerte nach dem
außersubjektiven Guten, das sie schafft? Problem der Liebe. Kann ich nicht Liebe für ein
Wertgebiet haben und so, dass diese Liebe nicht einerlei ist mit dem Werten und Sich-am-
Wert-den-man-besitzt-Freuen? Eine personale Liebe, etwas spezifisch Personales, das als reine
Liebe selbst den Wert der Person bestimmt. Nun kann man scheiden Werte außer mir und in
mir, und diese Liebe selbst als Gut in Rechnung ziehen. Aber reicht das aus etc.? Liebe der
Mutter, Liebe des Freundes, Nächstenliebe, spezifische Liebe zur Kunst überhaupt, etc. Das
Geliebte und der objektive Wert. Das Geliebte als das für diese Person subjektiv Vorzügliche,
andererseits objektiv wertvoll in der objektiven Beurteilung der Person.
2 Randbemerkung Nicht kategorischer Imperativ, da ja von einem Imperativ keine Rede ist.
3 Randbemerkung Was heißt primär und eigentlich?
4 Randbemerkung Also!
apriorische wertelehre und ethik 133
innere Motivation, die innere Gesinnung, das wird sogleich klar werden. Es
kommt schon bei der Bestimmung des praktischen Bereiches gar nicht an auf
die objektive Erreichbarkeit der darin beschlossenen möglichen Willensziele,
sondern nur auf die Überzeugung des Handelnden von der Erreichbarkeit.
Und ebenso hinsichtlich der Güter und Übel des praktischen Bereiches nicht
darauf, ob sie wahre Güter und wahre Übel sind, sondern ob der Handelnde
sie als solche wertet, sie dafür hält. In der ethischen Wertung wird der
Wille irgendeiner Person nicht in einem beliebigen, sondern in einem ganz
bestimmten Sinne gewertet, nämlich ausschließlich mit Beziehung auf das,
was ihm bewusstseinsmäßig und somit als Motiv vor Augen steht, auf das,
was ihm als erreichbar gilt, als gut und schlecht, als besser und am besten
gilt.
Bevorzugen wir das „nach bestem Wissen und Gewissen“ Beste unter
dem Erreichbaren, so haben wir ethisch gehandelt; unser Wille ist dann und
nur dann absolut richtig. Er ist es, selbst wenn es sich hinterher herausstellt,
dass unsere Überzeugungen über Erreichbarkeit, über Güter, Rangordnun-
gen der Güter, Vorzüglichkeiten falsch waren. Freilich kann dann das Subjekt
doch noch ein ethischer Tadel treffen, aber nicht das Subjekt als Subjekt der
jetzigen Wahl, sondern als das früherer Wahlentscheidungen. Es hätte früher
vielleicht seine Urteile besser vorbereiten, seine Fähigkeiten des Gutwertens
und richtigen Bevorzugens besser ausbilden können; das lag früher vielleicht
mit in seinem praktischen Bereich und es ließ sich davon nicht bestimmen.
Konkret müssen wir also den kategorischen Imperativ so fassen: Entscheide
dich für das, tue jederzeit das, was du nach bestem Wissen und Gewissen
als das Beste unter dem für dich Erreichbaren wählen kannst. (Für den
Begriff des Besten und die nähere Bestimmung des Bereiches praktischen
Könnens, der als Wahlbereich zu fungieren hat, haben natürlich die früher
angedeuteten Axiomgruppen das Genauere zu sagen.)
Nach all dem ist es klar, dass das Prinzip des kategorischen Imperativs
nichts anderes ist als ein apriorisches Motivationsgesetz, wie dasselbe von
jedem Vernunftgesetz im prägnanten Sinne einzusehen ist. Es drückt eine
evidente, absolut gültige Gesetzlichkeit aus, wie die Motivation eines Willens
beschaffen sein muss, damit der Wille ein ethisch guter, das Gewollte ein ab-
solut Gesolltes sein kann. Ja nicht nur das, es drückt gesetzlich ein unbedingt
gültiges positives Kriterium des ethisch guten und schlechten Willens aus.
Man überzeugt sich leicht, dass nur die ethische Wertung den Willen
einem summum bonum nach, einem praktisch Besten (einem praktischen
Eigenwert nach) wertet, während alle anderen Wertungen des Willens Werte
betreffen, die ihm zuwachsen um anderer vorgegebener Werte willen. So
134 einleitung in die philosophie
ist der künstlerische Wille gewiss ein guter, aber nur, sofern er auf den
vorgegebenen Wert des Kunstwerkes gerichtet ist und Mittel ist für dessen
Realisierung. Der ethische Wille ist aber ein Gutwert an und für sich, mag
das Gewollte, objektiv betrachtet, sich als ein Unwert herausstellen. Machen
wir nun einen Schritt vorwärts. Einen recht merkwürdigen Schritt.1
Zum Willensbereich eines jeden Ich gehört a priori auch der ganze Bereich
seiner Bewusstseinsaktivität, darunter also auch sein eigenes Wollen, und
nicht nur Akte des Einzelwollens, sondern des allgemeinen Wollens kommen
hier in Frage. Ich kann zum Beispiel den Entschluss fassen, überhaupt nicht
oder von nun ab überhaupt nicht wieder zu morden, zu stehlen und sonstige
gute oder böse Handlungen zu tun. Das Ich gibt sich in einem Willen ein
Gesetz für alles weitere Wollen, das unter die gesetzliche Allgemeinheit
fällt. Und dieser Wille ist nicht ein bloß momentanes Ereignis, sondern
eine bleibende Gesinnung, eine bleibende Willensentschiedenheit, die durch
weiteres Willensleben bewusstseinsmäßig fortwirkt in Form der praktischen
Konsequenz. Notabene solange nicht ein neuer, aufhebender Willensent-
schluss eintritt und eine neue bleibende Willensentschiedenheit eintritt, der
die frühere praktische Konsequenz durchstreicht und eine neue setzt; oder
auch solange nicht durch fernere Brüche der Konsequenz von Seiten anders
gerichteter stärkerer Motive oder durch Nichtgebrauch der alte Entschluss
kraftlos wird und innerlich sozusagen dahinsiecht und abstirbt. Auch diese
fundamentalen apriorischen Willensmöglichkeiten kommen ethisch in Be-
tracht, das heißt, die allgemeinen Entschließungen, die in den praktischen
Bereich fallen, müssen mitgewertet und ausgewertet werden.
1 Notiz 1) Urteil, naiver Glaube – ursprünglich sehender Glaube. Zu jedem Urteil gehört we-
sensmöglich die Möglichkeit, das Urteil „in Frage stellen zu können“, ein Urteilsprojekt, einen
Vorwurf (Problem) daraus zu machen und dann dazu Stellung zu nehmen. Das Urteil ist in der
Weise der Begründung einsichtig motiviert, wenn die Frage (das Problem) entschieden wird,
motiviert durch die Einsicht, durch Rückgang auf das Ausweisende selbst. Jedes Urteil kann die
Form des Stellungnehmens zum Problem, des Gerichtetseins auf das Wahre selbst annehmen.
2) Werten, naives Werten – naives ursprüngliches Wertnehmen. Ein Wertproblem jederzeit
herzustellen, den „Wert“ in Frage stellen, sich richten auf auswertende Begründung, für wert
halten, Entscheidung der Frage, Werten in Motivation durch die Anmessung an den „Wert
selbst“ (Wertnehmung). 3) Wollen – naives Wollen. Jedem Wollen entspricht eine mögliche
Willensfrage. Ursprüngliches Wollen, in dem naiv ein Sollen vorliegt, ein Gesolltes ursprünglich
bewusst ist. Jedes Wollen übergeführt in Willensfragen = jedem praktischen Ziel entspricht das
fragliche Ziel, und das fragliche ist ein „wahres Ziel“, ein wahrhaft Gesolltes, wenn das Wollen
sich anmisst an das ursprüngliche Bewusstsein des Sollens und je seine Richtigkeit ausweist; das
Ziel ist motiviert (begründet) als richtig. Aber hier kommen die Vorzugsfragen, relatives Sollen
und absolutes durch das „höhere“ Sollen. Das „niedere“ ist dasjenige, das in der Konkurrenz
der „Wahl“ seinen Sollenscharakter durchstrichen hat, aber nur in dieser Relativität.
apriorische wertelehre und ethik 135
Was uns hier interessieren soll, ist nun eine merkwürdige Anwendung auf
den kategorischen Imperativ selbst. Bisher hatten wir eigentlich noch kein
Recht von einem kategorischen Imperativ zu sprechen. Was wir unter dem
Titel bisher herausgearbeitet hatten, das war das Motivationsgesetz und Kri-
terium für den ethisch guten Willen. Es war nicht gesagt, dass der Handelnde
dieses Gesetz selbst formuliert hat, geschweige denn einen entsprechenden
allgemeinen Willen in sich gestaltet haben muss. Tue ich nach bestem Wissen
das Beste unter dem, was sich mir als erreichbar bietet, so tue ich das ethisch
Gute. Ich brauche nicht den Einfall zu haben, die Allgemeinheit der Ge-
setzessachlage zu formulieren, und brauche nicht zu sehen, dass für mich
auch die praktische Möglichkeit besteht, mir es willentlich zum Besitz zu
machen, so zu handeln, also einen Willensentschluss des Inhaltes zu fassen,
von nun ab gesetzmäßig das jeweilig Beste unter dem Erreichbaren zu tun.
Aber sowie ich auf diesen Gedanken komme und sich mein Wahlbereich um
diesen Gesetzeswillen bereichert, wird er zur ethischen Forderung und zur
höchsten ethischen Forderung.1
Das ethische Kriterium, das Gesetz derjenigen Motivation, die einen
Willen als ethischen Willen charakterisiert, hat für den dieses Gesetz Einse-
henden die praktische Konsequenz, dass sein Wille hinfort nur dann ethisch
gut sein kann, wenn er den Entschluss fasst, immer dem Gesetz gemäß
zu handeln. So wird das Gesetz zum höchsten Imperativ. Handle überhaupt
gemäß dem Prinzip, das Beste usw. zu tun. Sowie jemandem dieser Imperativ
von Außen entgegengebracht wird, sowie er vom Erzieher dem Zögling mit-
geteilt und einsichtig gemacht wird, ist er eo ipso das ethische Normprinzip,
das wirklicher ethischer Praxis. Zugleich sehen wir ein, dass eine Person,
die bewusst sich im Sinne des kategorischen Imperativs zu gesetzmäßigem
Gut-Tun-Wollen entschließt, ethisch höher steht als eine Person, die, was
denkbar wäre, für das Beste sich entscheidet, aber das Beste nicht in bloßer
Konsequenz eines allgemeinen Gesetzeswillens, eines Willens, allgemein gut
zu wollen, tut.
Wir2 knüpfen hier sogleich die Frage ethischer Wertung der Person an.
Nach dem Bisherigen ist das im ersten und eigentlichsten Sinne ethisch
Gewertete der Wille und, genau besehen, nicht der Wille als ein momen-
tanes, flüchtiges Erlebnis des Wollenden, sondern als zugleich fortdauernde
1 Randbemerkung Wie kommt die Idee einer Forderung, eines Befehls hier herein?
2 Randbemerkung Siehe die nächste Vorlesung = S. 136–143. Gedanken gut, Darstellung
sehr mangelhaft.
136 einleitung in die philosophie
In gleicher apriorischer Allgemeinheit kann man und muss man dann noch
weiter gehen. Statt in bloß formaler Allgemeinheit von +/- Gütern, die dem
Handelnden zur Wahl stehen, zu sprechen und bloß Gesetze aufzustellen, die
formale Gesetze praktischer Vorzüglichkeit sind und die im formalen kate-
gorischen Imperativ als Kriterium kulminieren, kann man die systematische
Güterlehre heranziehen mit den in ihr behandelten Rangordnungen oberster
Gattungen von Gütern und zwar reiner Gattungen. Wir können dann a
priori freie Subjekte uns denken, die dergleichen Güter im Bereich ihrer
praktischen Sphäre haben und theoretisch erwägen, welche Art von Leben
sich für sie vernunftgemäß ergeben müsste, welche idealen Kultursysteme
idealiter als vernunftmäßig geforderte da erwachsen müssten.
Ehe wir diese Richtung weiter verfolgen, unterscheiden wir die Idee einer
theoretischen Wertelehre oder Normenlehre, wie wir sie bisher im Auge
hatten, von der einer Kunstlehre. Diese letztere Idee hat ihre Quelle darin,
dass, wie wir früher schon erkannt haben, zum Wesen eines Ich die ideale
Möglichkeit gehört, in Allgemeinheit zu wollen, allgemein formulierte prak-
tische Möglichkeiten zu erwägen und allgemeine Entschlüsse, Entschlüsse
von gesetzlichem Inhalt, zu fassen, in denen sich also der Handelnde bewusst
ein Gesetz seines weiteren Handelns vorschreibt, ein praktisches Gesetz,
und von sich im Weiteren beständige Konsequenz, das Sich-praktisch-treu-
Bleiben fordert. Das gilt schon in der formalen Sphäre. Das in der theore-
tischen Ethik herausgestellte Gesetz oberster theoretischer Norm oder des
höchsten Kriteriums für einen ethischen Willen wurde zum kategorischen
Imperativ; und das sagt: Die Ethik wird zur praktischen Normenlehre, zur
Kunstlehre vom richtigen Handeln. Den kategorischen Imperativ und alle
daraus abzuleitenden Folgen nimmt der Handelnde, von der Ethik geleitet,
in seinen Willen auf; und dass er das tun soll, das ist selbst als eine For-
derung im kategorischen Imperativ beschlossen, notabene wenn die Ethik
für ihn praktisch da ist. Das gilt dann weiter, wenn wir die reinen Gattungen
sachhaltiger Güter, die wie für uns Menschen so für irgendein gedachtes Wil-
lenssubjekt praktisch maßgebend werden könnten, heranziehen und, über
formale Willensgesetzgebung hinausstrebend, materiale praktische Normen
aufstellen.
Hier ist zunächst Folgendes von großem Interesse. Es gibt zum Beispiel
als eine Gattung reiner Gutwerte Erkenntniswerte, wissenschaftliche Werte;
eine andere Gattung sind ästhetische Werte und durch sie bestimmte Gut-
werte, wie die künstlerischen. Und so gibt es noch deren mehrere. Jede
können wir a priori als praktisch realisierbar für Vernunftwesen denken.
Hypothetisch können wir nun Werte einer solchen Gattung wie oberste
138 einleitung in die philosophie
praktische Ziele behandeln; wir nehmen sie als Zwecke an und fragen
nur: Wie müsste ein Subjekt handeln, welche Art von Leistungen müsste
es vollziehen, um das Beste im Rahmen einer solchen Gattung zu realisie-
ren? Also zum Beispiel innerhalb der Gattungsidee Wissenschaft: Was nach
Leisten, nach Denkbetätigungen und was nach theoretischen Gestaltungen
in Schlüssen, Beweisen, Theorien müsste da von irgendeinem Subjekt als rein
wissenschaftlich gerichtetem Subjekt gefordert werden? Ebenso könnten wir
die Idee eines vollkommensten Kunstschaffens und einer vollkommensten
Kunst erwägen, und zwar in wissenschaftlicher Allgemeinheit. Wir würden
dann also allgemeine Normen, Gesetze und Wertbestimmungen für solche
Gestaltungen aufsuchen. Mit Rücksicht auf die evidente Möglichkeit, dass
eben diese Gesetze wiederum in den Willen aufgenommen und dadurch für
das Handeln des Wissenschaftlers, des Künstlers usw. praktisch bestimmend
werden könnten im Sinne praktischer Vernunft, erwüchsen dann Kunstleh-
ren: die Kunstlehre der Wissenschaft, die logische Kunstlehre, ebenso die
Ästhetik als Kunstlehre oder vielmehr die Kunstlehre von der schönen Kunst
usf.
All diese Kunstlehren sprechen Imperative aus, aber nur hypothetische
Imperative, denn in ihnen wird die Wissenschaft, die Kunst wie ein Endzweck
behandelt, während es in Wahrheit nur einen Endzweck gibt: den ethischen
Willen und die durch ihn erwachsende ethische Tat. Daraus ergibt sich, dass
die Ethik nicht nur eine Kunstlehre neben anderen ist, sondern dass alle
anderen Kunstlehren überhaupt ihr untergeordnet sind und nur die Funktion
haben können jedem Handelnden, falls in seiner Lage wissenschaftliche
Arbeit oder künstlerische Gestaltung das ethisch Gesollte ist, vernünftige
Maximen, Systeme hilfreicher Mittel an die Hand zu geben.
Indessen, sosehr all das richtig ist, so ist doch hier ein Unterschied ein-
leuchtend. So viele Gattungen vermeintlich oder in willkürlicher Hypothese
anzunehmender praktischer Güter und auf sie bezogener hypothetischer Im-
perative wir erdenken können, so viele Kunstlehren könnten wir ausgeführt
denken, in denen die aus den jeweiligen hypothetischen Imperativen fließen-
den Regeln praktischer Konsequenz systematisch abgeleitet würden. Danach
hätten wir zum Beispiel eine Kunstlehre des schrankenlosen individuellen
Egoismus im Falle der Hypothese: Größtmöglicher Genuss, größtmögliche
Macht sei ein guter Zweck, ja ein höchstes Lebensziel. Ebenso hätten wir eine
Politik, gestaltet als eine Kunstlehre schrankenlosen nationalen Egoismus
und nationaler Macht, wenn eben damit das richtige Ziel für nationales
Leben und Handeln bezeichnet wäre. In der ersteren Kunstlehre wären
also beschlossen kunstmäßige, womöglich wissenschaftliche Regeln, seine
apriorische wertelehre und ethik 139
1 Randbemerkung Beruf. Durch das Leben inhaltlich hindurch gehendes, allgemein prakti-
sches Thema.
2 Am Rande eine Null.
140 einleitung in die philosophie
entsprechend wäre, obschon es in Wahrheit das nicht ist und in der inhaltli-
chen Auswertung sich als ein unbedingt Böses ergibt. Aber entsprechende
Kunstlehren wären nicht der Ethik im eigentlichen Sinne untergeordnet,
nämlich nicht als Kunstlehren für relative ethische Ziele, Ziele, die obschon
unter gewissen einschränkenden Umständen als ethische gefordert sein kön-
nen, sondern sie wären ihr nur in dem uneigentlichen Sinne untergeordnet,
nämlich sofern sie, wie alle Kunstlehren überhaupt, nach Recht und Unrecht
ihrer Ziele auszuwerten sind, eine Auswertung, deren prinzipieller Vollzug
eben die Aufgabe der Ethik ist. Hier aber ist das Urteil von vornherein
negativ entschieden; es ist ein Verdikt, das vorweg Ziele wie schrankenlose
Genusssucht oder eine schrankenlose nationale Machtsucht verwirft und
damit den entsprechenden, theoretisch ausführbaren Kunstlehren das ewige
Nein entgegenruft.
Genau besehen, erscheinen hierbei nicht nur die hypothetischen Impera-
tive, die hypothetisch angenommenen obersten praktischen Ziele, als gewer-
tet, sondern die ihnen entsprechenden Kunstlehren selbst. Eine Kunstlehre
aufzubauen, ein Regelsystem wissenschaftlich festzustellen, dem gemäß ein
solches Ziel am besten realisiert werden könnte, ist ja selbst ein praktisches
Ziel, dessen Wert von dem Wert jenes sie selbst, die Kunstlehre selbst, bestim-
menden Zieles abhängt. Egoismus ist ein unbedingt schlechtes Lebensziel,
also ist auch jede Kunstlehre des Egoismus ein Schlechtes und sogar ein
ethisch Böses, sofern die Ethik uns erweist, dass das Ziel unwertig ist und
schlechthin nicht in unseren Willen aufgenommen werden darf.1 Das betrifft
den individuellen wie den nationalen und staatlichen Egoismus in gleicher
Weise. Also ein unbedingt Schlechtes ist eine individuelle Ethik des Ego-
ismus, weshalb man mit Recht und zu allen Zeiten die hedonistische Ethik
des Aristippos und Epikur (eben als Ethik größtmöglichen individuellen Ge-
nusses) als ethischen Skeptizismus oder vielmehr Negativismus, als Negation
einer wahren Ethik angesehen hat.2 Und genauso ist ein unbedingt Böses eine
Politik, eine Kunstlehre vom Staat, die als machiavellistische Staatsethik der
Idee schrankenloser staatlicher oder nationaler Macht nachläuft. Also diese
Kunstlehren selbst als Kunstlehren sind ethisch schlecht. Wer solche negativ-
wertigen Kulturgebilde schafft, an ihnen gestaltend mitarbeitet, handelt,
wenn er Auge für die Schlechtigkeit des Zieles hat, böse, und Auge dafür
gewinnt er eben durch die Ethik. Andererseits können Kunstlehren als solche
ethisch gut sein, wie eben die logische Kunstlehre, die ästhetische Kunstlehre
und schließlich und im höchsten Sinne die ethische Kunstlehre selbst.
Es ist selbst offenbar eine Aufgabe der ethischen Kunstlehre, die ethisch
geforderten obersten Kunstlehren zu bestimmen; und damit im nahen Zu-
sammenhang steht die ethische Frage der Berufe. Wir finden faktisch den
obersten Gattungen praktischer Güter entsprechende Gattungen von Beru-
fen. (Nach Deduktion des formalen kategorischen Imperativs ist auf eine
Klassifikation der Güter, die eventuell praktische Güter werden können, zu
verweisen und nach Regeln zu suchen, wie in der Konkurrenz von Gütern
dieser verschiedenen Klassen zu verfahren ist. Sehr einfach wäre doch die
Sachlage, wenn es im allgemeinen Wesen eines Handelnden überhaupt läge,
zwar Güter aller dieser Klassen realisieren zu können, während zugleich a
priori einsehbar wäre, dass eine einzige Klasse für das höchste und prakti-
sche Gut bevorzugt wäre, weil durch sie schon klassenmäßig die Güter der
anderen Klassen absorbiert würden.)
Wären Wissenschaft, Kunst, Nächstenliebe, Gottesliebe voneinander ge-
trennte Gattungen praktischer Güter und praktisch unverträglich und würde
eine Rangordnung bestehen, die eine Klasse, etwa die des Moralischen, die
Güter der Nächstenliebe, als die unbedingt höhere und höchste auszeichnen
würde, dann wäre jeder wissenschaftliche Forscher und Künstler ohne wei-
teres ein ethisch verblendeter oder schlechter Mensch, und die entsprechen-
den logischen und künstlerischen Kunstlehren wären in Konsequenz davon
selbst schlecht. Aber davon kann natürlich keine Rede sein. A priori muss
also erwogen werden, wie hier die Verhältnisse liegen, und danach, welche
Typen eines ethischen und zuhöchst eines von Werteinsicht durchleuchte-
ten Lebens, und danach, welche Typen ethischer Persönlichkeiten a priori
möglich sind. Wenn in diesen Typen nun Güter aller obersten Gattungen ihre
Rolle spielen können, so bekommen offenbar die ihnen zugeordneten relativ
höchsten Kunstlehren selbst den Charakter von Gütern und von praktischen
Gütern.1 Denn sicher werden doch zu den Typen von Handelnden, und zwar
a priori, solche gehören von Handelnden, welche dazu befähigt sind, die
Allgemeinheit einer wissenschaftlichen praktischen Gesetzgebung in ihren
Willen aufzunehmen und sich durch sie einsichtig und vernünftig leiten zu
lassen und sich damit ethisch-praktisch auf eine höhere Stufe zu erheben, die
dann eo ipso nach dem kategorischen Imperativ die geforderte ist.
Ferner: Sicher werden unter solchen Typen auch die Typen möglicher
Berufsmenschen vorkommen oder von Handelnden der uns wohlvertrauten
Form von wissenschaftlichen, künstlerischen, seelsorgerischen, politischen
Berufsmenschen. Deren Idee kann ja a priori konstruiert werden unter der
Leitung der in unserem faktischen Menschenleben faktisch gegebenen, in
der Menschheit faktisch sich immer wieder entwickelnden Typik. In unser
aller Leben treten als praktisch erzielbar Güter aller Klassen auf, und je nach
Umständen der momentanen Lage sind bald diese, bald jene die zu bevorzu-
genden. Gott und die Ethik fordern es nicht, dass wir, um die Kirche nicht zu
versäumen oder ein inniges Gebet nicht zu unterbrechen, einen Mord sollen
geschehen lassen oder dass wir eine wissenschaftliche Entdeckung, die wir
just im Griff haben, sollen fahren lassen, um dafür auf Straßen und Gassen
nach einem Notleidenden zu suchen, dem wir helfen könnten.
Aber1 wie sehr in jedem Menschenleben die momentanen Willensziele
wechseln und dabei auch die Gütersphären, denen sie sich einordnen, so
hat doch jeder von uns seinen „Beruf“ und seinen ethisch geforderten.
Nicht selten ist diese Forderung im Voraus eine klare und völlige eindeu-
tige. Nicht wenigen sagt es ein innerer Ruf seines „Daimon“ und bestätigt
es ein Überschlag über die praktischen Möglichkeiten seines zukünftigen
Lebenshorizontes, dass er alles in allem sein Bestes tue, wenn er regelmäßig
einen Hauptteil seiner Arbeitszeit wissenschaftlicher Forschung zuwende
und sich darin zum Meister entwickle. Diesem Grundstock seiner Güterleis-
tung müsse er durch Verknüpfung mit Leistungen aus anderen Gütersphären
die ethische Gestalt des relativ Besten geben. Er entsagt in edler Gesinnung
manchem Schönen und Herrlichen eben in dem Bewusstsein, sich sein ganzes
Leben in dieser Weise durchschnittlich zum relativ Besten zu gestalten. Ein
Anderer wählt ebenso den Beruf des Künstlers oder Schauspielers, ein dritter
den des Predigers oder Erziehers. Freilich, zur Not hätte der Künstler auch
einen Gelehrten, der Politiker einen Schauspieler, der Schauspieler einen
Schulmann abgeben können. Aber eben zur Not. Und im Allgemeinen wird,
wer das eine ebenso gut wie das andere tut, nicht der beste Mann sein, weder
für das eine, noch für das andere.
Sowie wir die Typik der Berufe unter dem Gesichtspunkt praktischer
Vernunft, also ethisch werten, stoßen wir notwendig auf die obersten Wert-
gattungen, nach denen sich die möglichen Berufe selbst unter obersten
Gesichtspunkten typisieren, und dann weiter auf die obersten Kunstlehren,
eine schlechte ethisch geächtet. Ist andererseits der oberste Zweck einer
Kunstlehre ein guter, sofern er auf eine Gattung positiv-wertiger praktischer
Güter verweist, wie Wissenschaft, schöne Kunst, wertvolle Persönlichkeit,
Staat, so ist damit noch nicht ohne weiteres gesagt, dass die betreffenden
Kunstlehren (die praktische Wissenschaftslehre, Ästhetik, Erziehungskunst,
Staatskunst) schon ethisch gebilligte sind. Noch immer sind ihre Impera-
tive hypothetische Imperative, nämlich solange nicht gezeigt ist, dass die
obersten Zwecke dieser Disziplinen aus ethischen Gründen geforderte, also
in der formalen Forderung des kategorischen Imperativs beschlossene sind,
oder solange nicht gezeigt ist, dass die Rücksichtnahme auf die bestimmten
Gattungstypen möglicher praktischer Güter dem kategorischen Imperativ
eine inhaltlich bestimmte Gestalt verleiht, der von den Handelnden eine
Verwirklichung von Gütern aller solcher Gattungen kategorisch fordert, sei
es auch nicht in jedem Einzelfalle.
So ist es bei uns Menschen. Für uns ist doch die formale Gesetzesforde-
rung, nach bestem Wissen und Gewissen unter allen erreichbaren Gütern
das Beste zu tun, nicht die einzige Einsicht über unser absolutes Sollen. Für
uns als Wesen von einem gereiften Vernunfttypus ist es evident, dass nicht
nur Güter aller Klassen (theoretische Güter, ästhetische, personale Güter,
darunter Güter der Nächstenliebe usf.) wechselnd in unseren praktischen
Wirkungssphären auftreten können, sondern dass wir Güter keiner Sphäre
völlig vernachlässigen dürfen, ohne gegen den kategorischen Imperativ zu
verstoßen. Er hat also für uns eine konkretere Gestalt, die, wenn auch
zunächst in einiger Unbestimmtheit, uns vorschreibt, Güter aller Gattungen
zu fördern, also auch uns für ihre Erkenntnis und Realisierung im Voraus
geschickt zu machen.1
Für keinen, geschweige denn überhaupt, nach einem apriorischen Ge-
setz, fordert der kategorische Imperativ, ausschließlich Güter einer einzi-
gen Sphäre zu verwirklichen.2 Es ist keineswegs so, als ob ein Gesetz der
Rangordnung zwischen diesen Güterklassen waltet, welche denen der einen
Klasse oder besonderen Art unter allen Umständen und für alle Personen
einen unbedingten Vorzug gäbe, etwa den Gütern der Nächstenliebe, der
Frömmigkeit. Wäre dem so, dann wären praktische Güter all dieser anderen
Klassen, trotz ihrer Güte an sich, ein für allemal negativ-wertig. Aber so ist
1 Randbemerkung Ist es für einen Christus mit eine Pflicht, in Konzerte zu gehen oder Bilder
zu kolligieren etc.? Ist seine Aufgabe nicht vielleicht eine so große, dass alle diese „Bildung“
für ihn verschwindet?
2 Randbemerkung Aber wer seinen Beruf dahin hätte, Erlöser der Menschheit zu sein?
apriorische wertelehre und ethik 145
es eben nicht.1 In unser aller Leben sind je nach Lage der Umstände bald
Güter der einen, bald der anderen Klassen die absolut gesollten. Gott und
die Ethik fordern es nicht, dass jemand, um die Kirche nicht zu versäumen
oder ein inniges Gebet nicht zu unterbrechen, einen Mord geschehen lässt
oder dass er eine wertvolle, wissenschaftliche Arbeit stehen lässt, um auf
Strassen und Gassen nach Notleidenden zu suchen, an denen er Nächsten-
liebe üben könnte. Schon aus diesem Grund also sind die auf die Gattungen
positiv-wertiger praktischer Güter bezogenen Kunstlehren von der Ethik
her mit einem positiven Vorzeichen ausgestattet; sie vertreten, wenn auch in
bedingter Weise, Bestandstücke des höchsten praktischen Guts.2 Sie sind von
der Ethik daher nicht nur geduldet, sondern sie ordnen sich einer konkret
durchgeführten und nicht bloß in formaler Allgemeinheit verbleibenden
Ethik als Bestandstücke ein.
Doch wir können die Gründe noch wesentlich verstärken, indem wir an
die für den entwickelten Vernunftmenschen allgemein bestehende ethische
Berufspflicht erinnern. Wobei es offen gelassen sei, ob die Notwendigkeit
eines Berufsleben a priori bloß zur Idee des Menschen gehöre oder sogar
schon zur formal-allgemeinen Idee des Vernunftwesens überhaupt. Nicht
selten weist der kategorische Imperativ in Gestalt einer gewissenhaften
Selbstprüfung klar und eindeutig auf einen bestimmten Beruf und damit
auf eine bestimmte und keine andere Klasse wertvoller Leistungen hin. Die
einen weist schon im Voraus ein innerer Ruf und Herzensdrang auf die
Wissenschaft hin, die anderen auf die Kunst, auf den Beruf des Erziehers, des
Predigers usf. Dieser Drang bestätigt sich oder kann sich bestätigen in einem
Überschlag über die eigenen praktischen Möglichkeiten im überschaubaren
künftigen Lebenshorizont, und es wird dem ethisch Erwägenden völlig klar,
dass er alles in allem sein Bestes tun würde, wenn er regelmäßig einen
Hauptteil seiner Zeit und seiner besten Arbeitskraft gerade diesem Wertge-
biet, etwa dem wissenschaftlicher Forschung, zuwenden und sich darin zum
Meister entwickeln würde.
Im Voraus ausgezeichnet ist damit also ein bloßer Grundstock wertvoller
Leistungen, der nicht für sich selbst das ethisch Geforderte ist, sondern
allererst durch Verknüpfung mit Leistungen aus anderen Gütersphären,
wie die jeweiligen Lebensumstände sie fordern, die Gestalt des höchsten
praktischen Gutes erhalten soll. Der im Beruf Lebende entsagt dann in edler
1 Zwei eingelegte Blätter Es ist klar, dass eine nach dem bloßen kategorischen Imperativ,
wie er hier im Anschluss an Brentano zugrunde gelegt worden ist, durchgeführte Ethik keine
Ethik ist. Ich bin ganz wieder in meine alten Gedankengänge zurückverfallen, und doch hat
mir schon 1907 Geiger den berechtigten Einwand gemacht, dass es lächerlich wäre, an eine
Mutter die Forderung zu stellen, sie solle erst erwägen, ob die Förderung ihres Kindes das
Beste in ihrem praktischen Bereich sei. Für die Wertnormierung wie für die Wertevidenz,
auf die die Wertnormierung zurückgeht, kommt zweierlei in Betracht, und zwar zunächst für
singuläre materiale Werte: 1) der objektive Wert, der Wert, den jedermann, jeder axiologisch
Vernünftige, der den betreffenden Sachgehalt als Grundlage hat, fühlend und wertnehmend
erfassen kann, originaliter; 2) derselbe objektive Wert als individueller, subjektiver Liebeswert.
Nämlich, was da gemeint ist, ist dies, dass Werte sich zum wertenden Subjekt und seinen
vernünftigen Akten anders verhalten als in der logischen Sphäre Gegenstände zu urteilenden
und überhaupt objektivierenden Akten.
Was überhaupt „wert“ ist, ist natürlich an sich wert; jeder „Vernünftige“ kann den Wert
nachfühlen und wertnehmend erfassen. Aber derselbe Wert kann für den einen unendlich mehr
„bedeuten“ als für den anderen. Dieses Viel-Bedeuten ist zunächst zu erwägen in Bezug auf
die sogenannten Affektionswerte. Man schätzt nicht nur etwas, man hat seine Leidenschaft
dafür, man ist dann „verliebt“ u. dgl. in „unvernünftiger“ Weise. Aber man wird nicht daran
vorbeikommen, auch eine reine und „echte Liebe“ anzuerkennen, die nicht nur ein Wertnehmen
eines erschauten Wertes ist, sondern ein sich vom innersten Ich-Zentrum her dafür Entscheiden,
und zwar liebend entscheiden. Man wird dann weiter sagen müssen, dass das so Geliebte einen
neuen, vom betreffenden Ich herstammenden Wertcharakter hat, der dem objektiven Wert
evident zukommt, sofern er vom Liebenden evident daran vorgefunden werden kann, aber
ihm nur zukommt für dieses Ich. Jeder Andere muss, wenn er den Liebenden als Liebenden
einfühlend versteht, diesen subjektiven Liebeswert als den objektiv werten wahrhaft, aber für
dieses Ich geltend, anerkennen. Gewisse Werte, Werte gewisser Regionen (geistige Werte jeder
Region), haben nicht nur objektiven Wert, sie sind auch potenzielle Liebeswerte für mögliche
und wirkliche Personen und haben auch um dessentwillen Wert. Dinge haben dann Übertra-
gungswerte, und zwar empirische Werte, um dessentwillen, dass sie Mittel für die Realisierung
von Liebeswerten sind (wie Mittel der Kinderpflege). Für die praktische Vernunft kommen nun
die „subjektiven“ Werte in besonderem Maße in Betracht. Der Daimon, der zum wahren Beruf
führt, spricht durch Liebe. Also nicht auf bloß objektive Güter und objektiv größtes Gut kommt
es an, sondern jedermann hat seine Liebessphäre und seine „Liebespflichten“.
Habe ich diesen Versuch gemacht, so fragt es sich, ob ich nicht weiter gehen muss. Was wäre
ein Leben ohne Liebe? Liebe und Wertfühlen müssen zunächst genau untersucht werden. Soll
man sich für alle Werte liebend entscheiden? Aber da bedarf es dann wieder innerhalb der Liebe
Unterschiede. Kann ein Kind für jedermann in gleicher Art Liebesobjekt sein? Jeder Mensch
ist Objekt einer möglichen allgemeinen, für jedermann ideal möglichen und zu „fordernden“
Menschenliebe, die das Normgerechte ist für jedermann. Aber der allgemeinen Menschenliebe
gegenüber gibt es eine personale Liebe, die ihr eigenes Recht hat und dem Geliebten für diesen
Liebenden einen rechtmäßigen Individualwert verleiht. So die Freundesliebe, Mutterliebe. Auch
für höhere Personalitäten: die Liebe für mein Volk, die nicht ausschließt die allgemeine Liebe
für jedes Volk.
apriorische wertelehre und ethik 147
dem Gesichtspunkt ethischer Vernunft, so ist es klar, dass sie sich alle,
soweit sie überhaupt positiv-wertig sind (bei berufsmäßigen Dieben, Heh-
lern, Schiebern werde ich freilich noch kaum von Beruf sprechen), den
apriorischen obersten Wertgattungen unterordnen, nach denen sich also die
Berufe selbst unter apriorischem Gesichtspunkt typisieren. Weiter stoßen
wir dann auf die obersten Kunstlehren, die eben den obersten Gütergat-
tungen zugeordnet sind. Diese Kunstlehren, wie die Kunstlehre von der
Wissenschaft, die Kunstlehre von der schönen Kunst, sind dann also vom
Gesichtspunkt der Berufsethik aus von der ethischen Vernunft geforderte
und in ihren Rahmen miteinbezogene Kunstlehren; sie werden zu Bestand-
stücken einer praktischen Ethik. Das Gesagte erstreckt sich dann auf alle
den obersten und prinzipiellen Kunstlehren untergeordneten, spezialisierten
Kunstlehren.
An einem Beispiel wird das einleuchtend. Die unter der obersten Idee
von Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt stehende logische Kunstlehre
hat unter sich alle Wissenschaften und wissenschaftlichen Methodologien;
mit ihnen haben dann schließlich alle, auch die speziellsten kunstmäßigen
Regeln ihr ethisches Vorzeichen, das der wahren, letztgegründeten prakti-
schen Vernünftigkeit (Regeln, wie sie in den Seminaren, Laboratorien etc.
gelernt werden). Ebenso ordnet sich der allgemeinen Kunstlehre wirtschaft-
licher Güter, nachdem sie selbst von der allgemeinen Ethik her ihr ethisches
Vorzeichen und ihre Rechtsgrenzen gewonnen haben, die Mannigfaltigkeit
besonderer Nutzkünste und Handwerke unter. So überall.
In dieser Weise gewinnen wir also die Einsicht, dass alle Kunstlehren,
also alle Regelsysteme praktischer Vernunft, ihre letzte Zentrierung haben
in der ethischen Kunstlehre, deren Verzweigungen sie alle sind, soweit sie
überhaupt an praktischer Vernunft wirklichen Anteil haben. Denn wenn
ihre obersten Zwecke ethisch verworfen sind, mag in ihnen zwar noch die
Vernunft praktischer Konsequenz walten, aber mit den ethisch verworfe-
nen praktischen Gründen sind auch alle praktischen Folgen verworfen; es
waltet also praktische Unvernunft. Die Universalität des kategorischen Im-
perativs gibt auch der Ethik Universalität, die Universalität der Regelgebung
in allen möglichen praktischen Sphären; also wirkt sie sich in allen rechtmä-
ßigen praktischen Regeln und Kunstlehren selbst aus. Die wissenschaftliche
Vernunft, die künstlerische Vernunft und so jede Vernunft, sofern sie prak-
tisch gedacht ist, erweist sich als Besonderung der ethischen Vernunft.
Das ist eine nahezu selbstverständliche Wahrheit, aber doch eine Wahr-
heit von beispielloser Tragweite. Man beklagt das Spezialistentum in der
Wissenschaft, das Spezialistentum auch in der Kunst als eine bedauerliche
148 einleitung in die philosophie
Beschränkung. Was aber in viel höherem Maße zu beklagen ist, ist das sich
damit, aber nicht nur damit verbindende Spezialistentum der Gesinnung, der
fixierten habituellen Willensrichtung. Der eine ist ein Gelehrter, der andere
ein Künstler, der dritte ein Arzt, ein Schulmann oder sonst was. Aber selbst
wenn er darin groß ist, was nützt diese Größe und die sich fachmäßig betä-
tigende Vernunft, wenn sie aus letztem Grunde doch unvernünftig ist? Die
wahre Größe in Kunst, Wissenschaft und allen praktischen Sphären ist unter
allen Umständen ethische Größe. Diese aber fordert einerseits, dass man
zum Beispiel die Wissenschaft treibt um ihres eigenen Wertes willen, also in
reiner Liebe für möglichst hohe theoretische Werte dieser Sphäre, dass man
sie also nicht treibt um des Ruhmes willen oder in der Weise eines vornehmen
Sports, um sich an der eigenen und anderen überlegenen Geschicklichkeit
zu freuen. Es gehört dazu aber auch, dass man Auge und Herz für die ganze
Welt der Werte überhaupt hat und sich demütig als ein Diener ansieht, dem
die Förderung einer Gütersphäre berufsmäßig anvertraut ist, als jemand,
der dazu bestimmt ist, ethisch sein Bestmögliches zu tun und dadurch das
Werden einer Gotteswelt, einer Welt fortschreitender Wertfülle möglichst,
nach eigenen schwachen Kräften, zu fördern.
Freilich kommen wir von da aus unvermutet in die Metaphysik – wofür
wir noch nicht vorbereitet sind. Aber so weit sind wir doch, zu verstehen,
dass die Ethik nicht ein Titel von Veranstaltungen ist, um den handelnden
Menschen zu versklaven und seinen Aufschwung zum „Übermenschen“ zu
hemmen, sondern ein Titel für wissenschaftliche, und richtig durchgeführt,
für schlichte und völlig evidente Normen und praktische Regeln ist, dazu
bestimmt, unserer praktischen Freiheit die Gestalt der Freiheit der Vernunft
zu geben, also dazu bestimmt, unserem ganzen Leben und Streben die Gestalt
des denkbar schönsten und besten, also auch des denkbar befriedigendsten
Lebens zu geben.
In weiterer Folge wäre zu sagen: Es ist für den Menschen als Vernunftwe-
sen die Aufgabe, auch unserer Umwelt, die ja in eins mit unserem wirkenden
Leben eine sich immer wieder neu gestaltende ist, die Form einer wahrhaft
wertvollen Welt zu geben, einer Welt edler Kultur, die ihre Einheit und Har-
monie in sich haben muss als Spiegelbild der Einheit und Harmonie unseres
personalen Lebens; sie darf also nicht einseitig angestopft sein mit einsei-
tigen Werten oder gar mit Erzeugnissen einer an Scheinwerte vergeudeten
Technik, sondern der Idee müsste sie genügen, die bestmöglichen Güter
dank dem Wirken einer ethisch gesinnten Menschheit zu verwirklichen und
aufsteigend von Generation zu Generation. Diese bestmögliche Kulturwelt
würde eo ipso, vermöge der praktischen Rückbeziehung des Menschen und
apriorische wertelehre und ethik 149
der Menschheit auf sich selbst, auch eine bestmögliche Menschheit in sich
fassen, d. i. eine einheitlich organisierte und sich zum Willen auf eine liebende
Gemeinschaft erziehende und fortentwickelnde Menschheit.
Das alles fordert die Ethik. Doch ehe wir von hier aus in die allgemeinen
Weltanschauungsfragen einmünden, bedarf es noch einiger wichtiger Er-
gänzungen. Zunächst wollen wir einer scharf betonten kantischen Meinung
Folge leisten, die wesentlichen Grenzen der Wissenschaften nicht ineinander
fließen zu lassen, und er hatte dabei speziell im Auge die Scheidung rein
apriorischer und empirischer Wissenschaften. In unseren letzten Betrach-
tungen haben wir die Scheidung in der Tat nicht mehr ganz rein und klar
gehalten; wir müssen die Reinheit, da höchste philosophische Interessen
davon betroffen werden, wieder herstellen. Weiter gehend, müssen wir hier
auch den Unterschied formaler und materialer Ethik zur Geltung bringen.
Wiederholt hatten wir ja vom formalen Gesetz des kategorischen Imperativs
gesprochen und die zu ihm gehörigen Axiome und Gesetze, wie das Gesetz
der Absorption niederer Güter durch relativ höhere, als formal bezeichnet.
Was gemeint war, wurde zwar aus dem Zusammenhang verständlich, aber
es muss jetzt auch begrifflich fixiert werden.
Als wir in der theoretischen logischen Sphäre innerhalb der Korrela-
tion „erkennendes Denken – Wahrheit – Sein“ den Begriff des Formalen
einführten gegenüber dem des Materialen, da handelte es sich um Modi
des Erkennens, die zum Wesen des Erkennens überhaupt gehören, wor-
auf immer es sich richten mag, welches also unbestimmt variabel bleibt.
Demgemäß handelte es sich um Gegenständlichkeit überhaupt und alle
abgeleiteten Begriffe, die zur leeren Idee eines Gegenstandes oder Etwas
überhaupt gehören und ebenso für Wahrheiten. Damit gewannen wir formale
Wissenschaften, zusammengefasst in der Idee einer formalen theoretischen
Wissenschaftslehre. (Dahin gehört die formale Logik der Sätze, die formale
Arithmetik und Analysis.) Ihnen gegenüber sind Wissenschaften, welche,
ob nun als apriorische oder empirische Wissenschaften, auf die sachhaltigen
Gattungen möglicher Gegenstände Rücksicht nehmen, die also zum Beispiel
von Naturdingen, von Raum, Kraft, Maß usw. handeln, materiale Wissen-
schaften.
Als wir nun in die Kulturwelt übergingen und da auf Wertprädikate
und praktische Prädikate stießen, da führte unser Weg schließlich zu wis-
senschaftlichen Disziplinen von prinzipieller Allgemeinheit, in welchen das
Thema war das Apriori des Wertens überhaupt und möglicher Werte über-
haupt, das Apriori des Wollens und möglicher Willensleistungen überhaupt,
Gesolltheiten überhaupt. Vom Standpunkt der formalen Logik sind die
150 einleitung in die philosophie
nicht etwa ein sachhaltig Gemeinsames, wie etwa Farbe ein gemeinsames Wesen ist, das alle
bestimmten Farben gemein haben und ebenso Ton für alle bestimmten Töne. Damit bestimmt
sich die Idee einer formalen apriorischen Wertelehre (ich nannte sie früher Axiologie) und
einer formalen apriorischen Praktik als Parallelen der apriorischen formalen Logik (oder
Wissenschaftstheorie). Diesen Disziplinen stehen an der Seite materiale Disziplinen, die von
den Gattungen und Arten sachlich bestimmter Werte und praktischer Ziele handeln würden.
In der Ethik, der wir eine genauere Ausführung zuwenden wollten, verbleiben wir so lange
in der formalen ethischen Sphäre, solange wir die formal-allgemeine Idee eines vernünftigen
Willenssubjekts als einer handelnden Person überhaupt zugrunde legen. Wir dürfen zwar dann
an Menschen exemplifizieren, aber nichts dürfen wir verwenden was darüber hinausgeht, dass
der Mensch überhaupt handelndes Subjekt ist.
Im Rahmen dieser Idee eines praktischen Vernunftsubjekts überhaupt können wir dann die
freien Möglichkeiten, die konstruierbaren Typen, verfolgen, so weit sie sich eben mit den Mitteln
rein formaler Wert- und Willensbegriffe konstruieren lassen. Sowie wir die Idee des Menschen
als solchen zugrunde legen, haben wir die formale Sphäre überschritten. Wir können dann
noch eine apriorische Ethik des Menschen, eine spezifisch humane, behalten, sofern wir nichts
Faktisches, nichts, was sich an Zufälligkeiten der Erfahrung bindet, mit aufnehmen. Kurzum, wir
bilden das reine Eidos „Mensch“; dazu gehört, dass wir die menschliche Umwelt in der Weise
eines reinen Eidos typisieren. Würde sich in wirklicher Ausführung dieses Postulats zeigen, dass
die reine Idee „Mensch“ einen spezifischen Inhalt hat, der wirklich über die formale Idee eines
vernünftigen Wesens überhaupt hinausgeht, dann wäre eine spezifisch humane Wertelehre
und Ethik zu scheiden von einer formalen. Doch das alles ist Zukunftsmusik, da niemand
diese für eine radikale Weltanschauung höchst wichtigen Postulate sich zu eigen gemacht hat.
Die reinliche Abscheidung der formalen und materialen apriorischen Ethik bedingt korrelativ
eine reinliche Abscheidung einer empirischen und dann selbstverständlich humanen Ethik. Die
historische Ethik war eine solche humane Ethik, sie wollte eine Kunstlehre sein, dem Menschen,
wie er faktisch auf dieser Erde ist, Regeln an die Hand geben, wie er unter normalen typischen
Umständen praktische Vernunft betätigen könne. Selbstverständlich waren so manche Sätze
darin apriorische und selbst formal-ethische; aber so sehr das Apriori in gewissen philosophi-
schen Richtungen bemerkt und wie lebhaft es auch geltend gemacht worden ist, so fehlte
es doch an den systematischen Leitgedanken für die konsequente Abscheidung des Apriori,
abgesehen davon, dass mythische Vorstellungen vom Apriori von vornherein alles verdarben.
Andere philosophische Richtungen waren und bleiben bis heute für das Eigenrecht des Apriori
überhaupt blind und scheiden überhaupt nicht Text bricht ab.
152 einleitung in die philosophie
Wir waren in der letzten Vorlesung damit beschäftigt, der Idee des for-
malen Apriori in der Wertesphäre und praktischen Sphäre zu ihrem Recht
zu verhelfen und sie zur Idee des Formalen in der Erkenntnissphäre in die
zugehörige Beziehung zu setzen. In der Erkenntnissphäre hatten wir: 1) den
Unterschied apriorischer und eidetischer Wissenschaften gegenüber bloßen
Tatsachenwissenschaften a posteriori durchgeführt. Auf der letzteren Seite
standen Wissenschaften, die sich, wie die empirischen Natur- und Geisteswis-
senschaften, auf Fakta der Erfahrung beziehen; auf der ersteren standen
Wissenschaften, die, wie die Mathematik, auseinanderlegten, was im reinen
Wesen gründet, was für Gegenstände als Gegenstände reiner Ideen in unbe-
dingter Notwendigkeit generell vorgezeichnet ist. In der Erkenntnissphäre
hatten wir 2) geschieden Wissenschaften, die zur formalen Idee eines Etwas
oder Gegenstandes überhaupt gehören und hatten uns im Zusammenhang
damit erhoben zur Idee einer formalen Logik oder Wissenschaftstheorie,
die das Apriori von Gegenstand überhaupt, von Wahrheit und Erkenntnis
überhaupt in theoretischen Disziplinen entfaltet.
Und nun sollte gezeigt werden, dass nicht nur der Unterschied des Apriori
und Empirischen, sondern auch der Unterschied des Formalen gegenüber
dem Materialen aus wesentlichen Gründen übertragbar ist auf die Werte-
sphäre und praktische Sphäre. Zunächst scheint das anstößig, denn Wer-
tewissenschaften und Wissenschaften von praktischen Gebilden und von
praktischen Forderungen wie die Ethik sind doch besondere Wissenschaf-
ten; sie stehen als solche unter der formal-allgemeinen Idee „Wissenschaft
überhaupt“, sie können der Logik nicht gleichgestellt werden. Nur so viel
stand fest, dass es ein Apriori des Wertens und Handelns gibt, dass also die
Geisteswissenschaften, deren eigentümliche Grundbegriffe uns auf Akte des
Wertens und Handelns zurückweisen, notwendig auf apriorische Erkenntnis
zurückführen, die ihre systematische Entwicklung in apriorischen Wertewis-
senschaften und in apriorischen Normenlehren der Praxis, zuhöchst in einer
apriorischen Ethik fordern. Vom Standpunkt der Logik waren diese Wissen-
schaften nicht mehr logisch-formal: „Wert“, „Zweck“, „Mittel“, „absolut
Gesolltes“ u. dgl. sind keine formal-logischen Kategorien, nicht gleichste-
hend mit Begriffen wie „Eigenschaft“, „Beziehung“, „Ganzes“ und „Teil“
u. dgl.
Andererseits stehen doch diese Begriffe wie „Wert“, „Schönes“ und
„Gutes“, wie „Zweck“ und „Mittel“ nicht in derselben Linie mit sach-
haltigen Begriffen wie „Farbe“ und „Ton“, wie „Pflanze“, „Leib“, „Erde“,
„physische“ und „psychische Natur überhaupt“. Gegenstände sind für uns
überhaupt da und nur da durch das Bewusstsein, näher durch Gestaltungen
apriorische wertelehre und ethik 153
1 Eingelegtes Blatt. Randbemerkung zum folgenden Text Das gehört wohl in die Einschiebung
in der „Einleitung in die Ethik“ über Sachwissenschaften und normative Wissenschaft
Edmund Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, hrsg. von
Henning Peucker, Husserliana xxxvii, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, 2004, S. 259–
320 oder in die „Einleitung in die Philosophie“ Edmund Husserl, Einleitung in die Philosophie.
Vorlesungen 1922/23, hrsg. von Berndt Goossens, Husserliana xxxv, Kluwer Academic Publis-
hers, Dordrecht, 2002.
Demnach ist die Universalität der formalen Gegenstandslehre, so aller reinen Mathematik,
auch in dieser Hinsicht eine leere, als sie nicht spricht von Prädikaten, die ihren Ursprung in
der Gemüts- und Willenssphäre haben, und nicht von Gegenständen, die von vornherein von
daher ihren Sinnesgehalt mitbezogen haben, obschon doch auch die Gemütsfunktionen eine
Universalität haben und in umgekehrter Richtung alle Erkenntnisgegenstände umspannen;
denn schließlich ist kein Gegenstand denkbar, der nicht in irgendeiner Hinsicht, zumindest
mittelbar, das Gemüt bewegen könnte, und sei es nur in der Weise, wie die formalen mathema-
tischen Theorien ihre größere oder geringere Schönheit haben. Randbemerkung Zu Bl. 126 ff.
= S. 152 ff..
Demnach kann man auch mit gutem Grunde es vertreten, dass die gleiche Universalität
der Geltung, welche die formale Gegenstandslehre, Mathematik und die formale Logik für
alle wirklichen und idealen möglichen Welten hat, sofern sie überhaupt Gegenstandswelten
sind, seiende im Sinne der Erkenntnis, den parallelen normativen Disziplinen und formalen
Wissenschaften von Wertgegenständen und praktischen Gegenständen für die wirkliche und
alle möglichen Welten insofern eigne, als sie eben nicht bloß Erkenntniswelten, sondern auch
Wertewelten und Güterwelten sind, und das sind sie notwendig, vor allem jede individuelle
Seinswelt. Sie ist, was sie ist, nur als Umwelt einer Subjektivität. Und eine Subjektivität, die wir
uns als vernünftige Subjektivität denken, ist notwendig eine solche, die sich nicht nur einer Natur
gegenüber findet im Sinne einer bloßen Natur, sondern die eine geistige Umwelt im besonderen
Sinne sich schafft. Und eben das führt uns auf die letzten Entscheidungen über normative
und Sachwissenschaften. Gestrichen: So erwachsen Wissenschaften wie die Mengenlehre, die
Zahlenlehre und die Disziplinen der sonstigen formalen Mathematik. In ihnen ist ebenfalls keine
Normierung das spezifisch wissenschaftliche Thema. Das Thema ist das Universum der mögli-
chen Gegenstände als Gegenstände möglicher bestimmender Wahrheiten überhaupt. Auch aus
bloß formaler Mathematik kann man keine sachhaltige Wissenschaft, keine Wissenschaft von
bestimmten, nur durch Anschauung ursprünglich zu gebenden Gegenstandsgebieten ableiten,
obschon umgekehrt die Mathematik in allen solchen Gebieten hilfreiche Anwendung finden
kann. Erkenntnis, als Gegenstände setzend und Gegenstände urteilsmäßig bestimmend, ist
universal, sie umspannt auch die Gemüts- und Willenssphäre und die hier sich konstituierenden
Werte und Wertinhalte, Willenssubstrate und Willensbestimmungen usw., nämlich, was zum
Beispiel in einem Wertbewusstsein sich am Gegenstand als Wert konstituiert hat, das ist für die
Erkenntnis in Form eines Wertgegenstandes fasslich. In der bestimmenden Erkenntnis kann
an dem schon anderweitig gegebenen Gegenstand der Wertcharakter als Prädikat gefunden
154 einleitung in die philosophie
und ihm bestimmend zugelegt werden. Jeder Schritt in der wertenden und praktischen Aktion
erzeugt gleichsam für das urteilende Subjekt erfassbare und bestimmbare Gegenstände höherer
Stufe; ähnlich wie auch jeder Urteilsschritt neue Gegenstände schafft: die aus den Urteilen zu
entnehmenden Urteilsinhalte oder Sachverhalte. Die bestimmende Erkenntnis muss schon,
sehen wir, ein Substrat haben, Gegenstände, die ihr vorgegeben sind. Aber diese Gegenstände
können ihr auch dadurch vorgegeben sein, dass etwa anderweitig schon gegebene Gegenstände
in gewisser Weise das Gemüt affizieren, von daher eine Wertfärbung erhalten; und nun kann der
mit dem Wertcharakter behaftete Gegenstand selbst als Substrat in Bestimmungen eintreten,
indem er in seiner Wertkonkretion das urteilende Subjekt affiziert, mit Erkenntnisbewegungen
zum Gefolge.
apriorische wertelehre und ethik 155
Eben dieses zum allgemeinsten Wesen des Wertens und Wollens, des
wählenden Entscheidens Gehörige drückt sich, erkenntnismäßig gefasst, in
den universalen apriorischen Axiomen der Wertelehre und der Lehre von
den praktischen Gütern und Gesolltheiten aus. So wie die logischen Axiome
ausdrücken, was für Gegenstände überhaupt gilt, für Wahrheit und Sein
überhaupt, für Erkennen und richtiges Erkennen überhaupt gilt, gleichgül-
tig, was den besonderen Sinnesgehalt, Merkmalsgehalt der Gegenstände
bestimmen mag, so drücken die formalen Wertaxiome aus, was für Werten
und richtiges Werten überhaupt gilt und für vermeinte und für wahre Werte
überhaupt, gleichgültig, was für Gegenstände es sind, die gewertet werden,
und was für Sachgehalte an diesen Gegenständen zum Substrat der Wertung
werden. Und ebenso hat in praktischer Hinsicht das Apriori eine formale
und damit allerallgemeinste Bedeutung: eines, das vom Wollen überhaupt
und von Willenszielen überhaupt, von Zwecken und Mitteln überhaupt,
vom absolut Gesollten überhaupt handelt, gleichgültig, was des Näheren die
Arten von Gegenständen, die Personen (Ich-Subjekte), die Umstände, die
besonderen bestimmenden Wertungen sind, die da in praktischer Erwägung
stehen können.
Die Universalität der wertenden und praktischen Funktionen, die trotz
ihrer Fundierung durch schon vorangehende Erkenntnisfunktionen keine
mindere ist als die Universalität eben der Erkenntnisfunktionen, bringt
es mit sich, dass die obersten formalen Prinzipienwissenschaften, die Lo-
gik, die formale Wertelehre und die formale Wissenschaft von der Praxis,
sich in wunderbarer Weise wechselseitig übergreifen und dabei auf sich
selbst zurückbezogen sind. (Wir nennen: formale Axiologie, formale Prak-
tik.)
1) Die Logik als formale Wissenschaftslehre im früher definierten Sinne
umspannt alle Wissenschaften überhaupt, sofern sie für alle Wissenschaften
als solche universal gültige Gesetze aufstellt. Also umspannt sie in ihrer
Geltung auch die formale Wertelehre und formale Praktik und zugleich
umspannt sie sich selbst. Sie entspricht ihren eigenen Normen.
2) Fürs zweite, die formale Wertewissenschaft (formale Axiologie) um-
spannt alle Wertgebiete in ihrer formalen Allgemeinheit; da alle Wissen-
schaften und in ihnen alle Wahrheiten Werte sind und im wissenschaftli-
chen Streben ja beständig als Werte angesehen werden, so umgreift die
formale Wertewissenschaft alle Wissenschaften, nicht freilich so wie die
Logik, sondern eben als Werte. In dieser Weise ist aber die Wertewissen-
schaft selbst ein Wert und ein unendliches Wertsystem und umgreift sich
selbst.
156 einleitung in die philosophie
Ebenso 3) für die Ethik als formale Ethik oder formale Praktik: Alle
Wissenschaften sind nicht nur Werte und Systeme von Werten, sie sind
auch praktische Gebilde; und die formale Praktik als Wissenschaft vom
Apriori jeder möglichen Praxis überhaupt und jeder möglichen praktischen
Gebilde und ihrer praktischen Werte umspannt also alle Wissenschaften und
damit auch sich selbst. Wir können auch sagen: Erkennende, wertende und
praktische Vernunft durchdringen sich wechselseitig, und ihre Wesensgesetz-
gebungen übergreifen sich wechselseitig ohne sich doch zu stören und ihre
Sondereigenheit irgendwie einzubüßen.
(Ein logisches Gesetz umfasst ein Wertgesetz logisch, nur sofern, als
dieses ein Gesetz ist, aber nicht, sofern es über Werte spricht. Denn die
Axiologie als solche spricht von Werten und Gesetzen für Werte, nicht
von Gesetzen für Wahrheit und Sein überhaupt. Und ebenso umgekehrt
umfasst ein Wertgesetz nicht ein logisches Gesetz axiologisch, als ob ein
logisches Gesetz eine Aussage über Werte der logischen Sphäre wäre, da
doch die Logik von Werten überhaupt nicht spricht, der Begriff Wert in
ihr überhaupt nicht vorkommt. Aber Wahrheit wird eben auch gewertet
und kann danach unter Wertprädikate gebracht werden. Sowie das ge-
schieht und darüber ausgesagt wird, stehen wir in der wertewissenschaft-
lichen Sphäre.)
Wie die obersten Wesensgestalten der Vernunft, so sind auch ihre drei
Korrelatbegriffe der Wahrheit: logische Wahrheit, axiologische Wahrheit,
praktische Wahrheit und desgleichen: gegenständliches Sein überhaupt,
Wertsein überhaupt, gesolltes Sein überhaupt in dem merkwürdigen Ver-
hältnis der Koordination und doch der wechselseitigen Umgreifung, was
freilich mit einiger Vorsicht zu verstehen ist. Doch dürfen wir hier nicht
verweilen, den Fortgeschrittenen wird die Bedeutung solcher Einsichten für
eine höchste Kategorienlehre einleuchten.1
In unseren früheren Vorlesungen haben wir eine große Anzahl von Axio-
men für die Wertewelt und die praktische Welt ausgesprochen, die fast
durchaus vom Charakter formaler Axiome waren; ich erinnere nur an das
Absorptionsgesetz und alle Axiome, die im Gesetz vom kategorischen Im-
perativ kulminierten, der selbst in der formalen Ethik das höchste Gesetz ist.
Jedenfalls hat sich uns scharf die Idee einer formalen Axiologie und (was uns
bei unserem bevorzugenden Interesse für Ethik näher steht) die Idee einer
formalen Ethik klargestellt. Selbstverständlich dürfen wir in dieser nicht vom
Menschen, der Spezies homo auf dieser Erde, sprechen, sondern in ihr fun-
giert als Subjekt nur die formale Idee eines handelnden Ich als solchen und
bezogen ist dieses nicht auf die faktisch gegebene Natur und Menschenwelt,
sondern auf eine Umwelt überhaupt in formaler Allgemeinheit. Es steht dann
aber natürlich nichts im Wege, das formale Apriori sachhaltig zu beschränken
und, immer noch in eidetischer Allgemeinheit, eine apriorische Normenlehre
und Kunstlehre des guten Wollens und Handelns für den Menschen zu
entwerfen, nämlich so, dass sie sich an die Idee des Menschen bindet und
den Menschen bezogen denkt auf eine humane Umwelt, die ihrerseits selbst
in eine reine Idee gefasst werden müsste. Obschon eine solche apriorische
humane Ethik natürlich an prinzipieller Allgemeinheit hinter der formalen
Ethik zurücksteht, so ist sie doch ein klares und durchaus unabweisbares
Postulat.
Die historische Ethik in ihren immer neuen Versuchen vom Altertum bis
zur Gegenwart wollte von vornherein eine humane Ethik sein, sie wollte
eine Kunstlehre sein, die dem Menschen allgemeine Regeln an die Hand
geben sollte, wie er sein praktisches Leben am besten gestalten könne.
Selbstverständlich waren so manche der Regeln, die dabei zur Aussprache
gebracht wurden, obschon auf den Menschen in den irdischen Verhältnissen
bezogen, von apriorischer und selbst formaler Geltung. Aber selbst nach der
platonischen Entdeckung des Apriori dauerte es Jahrtausende bis die Idee
einer apriorischen Ethik zu reiner Ausgestaltung gekommen war und gar
die Idee einer formalen Ethik als Parallele einer formalen Logik sich in ihrer
Eigenheit und Bedeutung abgehoben hatte. Es kommt hier in Betracht, dass
es, wie wir gehört haben und noch hören werden, ungeheurer Mühen und
großer Geisteskämpfe bedurfte, ehe das platonische Apriori seinen reinen,
von allen mystischen Beimengungen befreiten Sinn gewonnen oder sich in
der Reinheit seiner Geltung durchgesetzt hatte.
Wie schon in den primitiven Anfängen das Apriori zu Tage lag, obschon
in seiner Eigenheit unbemerkt, will ich an der hedonistischen Ethik zeigen
und daran zugleich eine ergänzende Ausführung zur Idee der Ethik selbst
158 einleitung in die philosophie
Wo ist hier aber ein Apriori, werden Sie fragen? Und soll gar die Zu-
mutung gestellt werden, dass diese gemeine Lustlehre eine a priori gerecht-
fertigte sei? Nein, das beileibe nicht. Aber fürs Erste könnten wir schon
auf den durchscheinenden Leitgedanken hinweisen, dass der Mensch, und
dann offenbar jedes Willenssubjekt überhaupt, selbstverständlich praktisch
vernünftig nur dann ist, wenn er das Bestmögliche realisiert. Aber davon
abgesehen, gesetzt der Hedoniker hätte mit seinem Grundsatz Recht „Die
Lust ist das Gute, das Gute ist die Lust“, Recht mit dem Satz „Der Mensch
kann gar nicht nach anderem streben als nach Lust“ und selbstverständlich,
wie gemeint ist, eigener Lust. Und gesetzt, alle Lust sei mit aller quantitativ
vergleichbar. Wir hätten dann in unserem praktischen Bereich ausschließlich
homogene Größen.
Um nicht in den Schein zu kommen die Aristipp’sche Lehre für erwä-
genswert zu halten, können wir auch die Hypothese wählen, dass einmal in
unserem praktischen Bereich für die Wahl nur Lustwerte und quantitativ
vergleichbare Lustwerte in Frage kommen. Wie etwa der Fall, wo kein höhe-
res Gut in Frage ist als das, wie uns zu sättigen, und uns nun die Speisekarte
gereicht wird zur Wahl des Besten. Nun gilt offenbar das quantitative Prin-
zip, und sein Apriori werden wir nicht mehr zu bezweifeln Anlass haben.
Denn das ist ja evident: Wo homogene Lustwerte und Werte überhaupt
in irgendeiner Hinsicht eine quantitative Vergleichung zulassen (und nur
homogene lassen es offenbar zu), da ist die größere Quantität die vernünftig
zu wählende: der Gänsebraten gegenüber Wurst oder Wurstersatz und der
zweimalige Gänsebraten gegenüber dem einmaligen, wenn das Portemon-
naie keinen Protest erhebt. Das ist eine Evidenz der praktischen Vernunft.
Natürlich gilt das auch in anderen, nach unserer Meinung höheren Sphä-
ren. Wenn unsere Aufnahmefähigkeit groß genug ist, so hat das längere
Konzert den Vorzug vor dem kürzeren, schon um der Quantität willen. Meh-
rere Worte, mehrere musikalische Darbietungen vereint geben aus Quan-
titätsgründen allein schon einen höheren Wert. Aber freilich macht es die
Quantität allein nicht, da sich die Kunstwirkungen nicht bloß summieren,
sich in der Folge auch zu einer gesteigerten, wie in anderen Fällen einer
geminderten Werteinheit verbinden können. Aber wenn das nicht der Fall
ist, da entscheidet Quantität allein. Dieses Apriori steckt also sicher im Hedo-
nismus; und bei dieser Gelegenheit erkennen wir, dass in der apriorischen
Ethik auch eigene Prinzipien der Wertquantität aufgestellt werden müssen,
Prinzipien die offenbar einen rein formalen Charakter haben.
Ich brauche nicht zu sagen, dass diese Prinzipien keine ausschließliche
und irgendwie beherrschende Rolle spielen können, da ja evident ist, dass
160 einleitung in die philosophie
bloße Summation ein abstraktiver Grenzfall ist und dass, wie sich uns alsbald
aufdrängte, Werte, die in der Einheit eines Bewusstseins zusammen auftre-
ten, sich zu Ganzen verschmelzen, sodass mit der Erstreckung der Dauer und
der zeitlichen Zufügung neuer Güter, ebenso auch mit der Steigerung ihrer
Intensität, Hand in Hand gehen werden Veränderungen im verbundenen
Gesamtwert, die nicht nach Summationsprinzipien ausgerechnet werden
können. Im Übrigen brauchen wir uns mit der Kritik der Aristipp’schen
Lehre nicht aufzuhalten, da ja von vornherein außer Zweifel steht, dass schon
das Prinzip der quantitativen Vergleichbarkeit aller Freuden und Schmerzen
grundverkehrt ist: Als ob wir den Wert einer Symphonie oder einer heroi-
schen Tat, selbst wenn wir ihn als Lustwert missverstehen wollten, umrechnen
könnten in so und so viel Pfund Gänsebraten oder Kaviar. Demnach ist auch
der hinsichtlich der Gesinnung höher stehende Hedonismus der späteren
Kyrenaiker, welcher die geistigen Güter über die sinnlichen stellt, im Prinzip
nicht gebessert, da er nur urteilt, die geistigen Güter seien die quantitativ
günstigeren, sie hielten länger vor u. dgl.
Wichtiger ist nun für uns die Frage, ob nicht die Glückseligkeitsethik
bei entsprechender Ergänzung ihrer Prinzipien doch Recht hat, ob wir also
nicht einen Fehler begangen haben in unserer allgemeinen Bestimmung der
Idee einer Ethik, nicht von der doch so naheliegenden Idee des Glücks
auszugehen. Ist nicht alles Streben und Wählen auf Befriedigung gerichtet,
und hat nicht das Beste unter dem Erreichbaren von vornherein den Sinn
größtmöglicher Befriedigung, nur dass der Ausdruck „größtmöglich“ nicht in
einem wörtlichen, bloß quantitativen Sinne verstanden werden darf? Ohne
uns auf längere und feinere Erörterungen einzulassen, können wir in der
Hauptsache doch bald Klarheit gewinnen.
Zweifellos ist, dass a priori zum Wesen jedes Willens gehört, dass seine
Erfüllung als Realisierung des Willensziels eo ipso lustvolle Erfüllung ist; die
Befriedigung des Willens, seine Entspannung als Erfüllung, Erzielung ist eo
ipso auch ein Lusterlebnis. Aber wie schon Aristoteles in seiner berühmten
Kritik des Hedonikers Eudoxus gesehen hat, beides muss man sorgfältig
scheiden. Und somit darf man auch nicht verwechseln das Willensziel und
die im gelingenden Handeln notwendig eintretende Lustbefriedigung. Ganz
gewiss können wir auch Lust zum Willensziel wählen und wir tun es oft
genug. Aber selbst dann müssen wir unterscheiden: die Lust, die unser Ziel
ist und die Befriedigungslust der Erzielung dieser Lust, mag sie auch mit
der erzielten Lust zu einer Einheit verschmelzen. Andererseits, nicht immer
erstreben wir Lust und grundverkehrt gar ist es zu meinen, als ob jedes
Streben notwendig Lust zum Ziel haben müsste. Das Verführerische, das in
apriorische wertelehre und ethik 161
dieser populären Meinung liegt und das alle Hedoniker bis zu Mill, Bentham,
Fechner bestochen hat, hat darin seine Wurzel, dass man, von außen her auf
das Phänomen der Willenserzielung hinblickend, am Erzielten immer und
sogar als notwendiges Bestandstück die Erzielungslust fand und dass man
nicht, von innen her sich in das Streben und Handeln einfühlend, sah, dass das
Willensziel selbst nur ausnahmsweise eine Lust ist, sondern jederzeit das ist,
was eben als Wert vermeint und als zu realisierender Wert gesetzt ist. Werten
wir Wissenschaft praktisch, so wird sie unser Ziel, ebenso Kunstschaffen
und so vieles anderes. Lust, eine bestimmte Lust oder eine unbestimmt
allgemeine Lust, sich zum Ziel setzen, das ist ihr Wert beimessen und sie rea-
lisieren wollen. Es kann sinnliche Lust sein, es kann irgendeine höhere Lust,
etwa Befriedigung am Genuss eines Kunstwerkes, sein oder unbestimmte,
etwa im Sinnen nach irgendeinem Genuss eben diese Unbestimmtheit. Aber
es ist dann doch ein klarer Unterschied.1 Nach wissenschaftlicher Erkenntnis
streben ist nicht dasselbe wie nach der Lust in wissenschaftlicher Erkenntnis
streben. Einmal ist die Erkenntnis selbst Endziel, das andere Mal wird sie
zum Mittel für die von ihr erwartete Befriedigungslust. Und dann, wie schon
berührt, muss sich als Erfolg der Verwirklichung dieser Befriedigungslust
eine zweite Befriedigungslust einstellen.
Vermöge des funktionellen Zusammenhangs von Willensziel und Befrie-
digungslust ist dann klar, dass in gewissem Sinne das Ideal größtmöglicher
Eudaimonia und das eines ethisch besten Lebens Hand in Hand mitein-
ander gehen.2 Zunächst können wir sagen: Wer das ethisch Gute tut, des-
sen Wille ist dabei der denkbar erfüllteste, er erzielt ja sein bestmögliches
Willensziel.3 Nun aber, selbst wenn er auf Lust ausginge, eingerechnet alle
mögliche Befriedigungslust, so könnte er keine höhere Lust4 sich als Ziel
erdenken als diejenige, die in der Erzielung der ethischen Befriedigung ihm
als Blüte der konsequent ethischen Handlungen entgegenleuchten würde.
Sie ist evidenterweise im Rang über alle erreichbaren Lustwerte erhoben.
Aber freilich, sowie wir fragen warum – Warum ist das ethische Leben das
1 Randbemerkung Lust als sinnliche Erregung und Stimmung, bewirkt durch Erfüllung des
Strebens – und Erfüllung des Strebens, in der das Gewollte und Gesollte als „wahres“ Ziel
erzielt ist, das für mich Gesollte und das Seinsollende selbst als wahrhaft Gutes. Das ist wieder
ein Unterschied.
2 Randbemerkung So geht das nicht.
3 Randbemerkung Nicht immer objektiv! Obschon subjektiv: Das, was er wählen soll, das
Wert des Willens, selbst sich erhöht und erniedrigt. Es steht nichts im Wege,
die Idee einer normativen und praktischen Disziplin von der Selbstvervoll-
kommnung einer Persönlichkeit zu entwerfen, und sowie man sie erwägt,
erkennt man sofort, dass sie ausgeführt sich im Hauptsächlichen mit der
Ethik des kategorischen Imperativs, der Ethik des guten Willens, decken
müsste, während sie doch nur als eine Ableitung aus der von uns gewon-
nenen ethischen Prinzipienlehre gerechtfertigt werden kann. Klar ist, dass
für jedes Subjekt das Tun des ethisch geforderten Besten zugleich das Beste
für seine Selbstvervollkommnung wäre, und andererseits auch dies, dass die
Idee der bestmöglichen, durch Selbsttätigkeit gewonnenen Vollkommenheit
alle ethisch geforderten Ziele in sich schließen müsste.
Es ist hier darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Frage, wie Personen, sei
es richtig oder unrichtig, werten und wofür sie sich praktisch bevorzugend
entscheiden, keineswegs irrelevant ist für die Wertung der Persönlichkeit
selbst.1 Im Gegenteil leitet sich von daher vielfältig Wert und Unwert der
Persönlichkeiten ab. Es ist ja a priori evident, dass eine Person, die, einsehend
oder in der praktischen Sicherheit, jederzeit die Einsicht wiederherstellen
zu können, ein wahrhaft Schönes als schön, ein wahrhaft Gutes als gut
wertet, eben dadurch und in dieser Hinsicht selbst wahrhaft gut ist und umso
besser, je vollkommener das Gute ist, das sie erschaut. Wir können auch
sagen: Nicht nur ist überhaupt einsichtig und aus Einsicht sich ableitende
sichere Vernunftüberzeugung ein Besseres als blindes Meinen, sondern der
Einsehende und vernünftig Überzeugte ist besser (als solcher) als der blind
Meinende.
Ferner: Ein Willensakt, der durch Einsicht motiviert ist, der „der Ein-
sicht folgt“, ist besser als ein solcher, der ihr nicht folgt. Aber auch der
entsprechend Wollende (das der Einsicht folgende Subjekt selbst) ist besser
als das einem blinden Meinen folgende Subjekt. Also auch in der Bevorzu-
gung: Das als besser Erkannte praktisch bevorzugen, gibt auch dem Subjekt
Wert, während es unwertig wird, sowie es ein als minder gut Erkanntes
in der Wahl einem Höheren vorzieht. Ja, hier genügt überhaupt schon die
Überzeugung.
Evident ist und immerfort a priori, dass eine Person, sofern sie einen
generellen Willensentschluss fasst, ihr ganzes künftiges Leben im Sinne des
kategorischen Imperativs zu gestalten, besser ist, als wenn sie sich bloß
entschließt, in dem bestimmten Fall das Bestmögliche zu tun, ohne an eine
1 Randbemerkung Axiome.
164 einleitung in die philosophie
konstruiert die formale Ethik ein Ideal: das formale Ideal der ethisch voll-
kommensten Persönlichkeit. Dieses Ideal ist nun zwar wesentlich mitbezo-
gen auf das Ideal einer vollkommensten Persönlichkeit schlechthin, aber
keineswegs fallen beide Ideale zusammen. Jedermann sagt sich als ethisch
reflektierendes Subjekt: Ich soll mein Bestes tun, das ist für mich das absolut
Gesollte. Und ebenso: Ich soll so gut werden, als ich es irgend kann, ich soll
eine ethisch vollkommene Persönlichkeit werden. Aber da ist zunächst zu
bemerken, dass diese Rede von ethisch vollkommener Persönlichkeit ihre
Vieldeutigkeiten hat. Ich habe in einem Sinne ethische Vollkommenheit,
wenn ich in ungebrochener Konsequenz das, was nach meiner Überzeugung
das Beste unter dem Erreichbaren ist, tue. Das ist eine praktische Idee,
die Idee einer unendlichen Aufgabe in Ansehung des beständigen Kampfes
mit herabziehenden Neigungen, andererseits aber doch ein möglicherweise
erreichbares Ideal. Aber ein weiteres Ideal ist dies, dass ich in beständiger
Konsequenz allzeit aufgrund der Einsicht werte und wähle und das gemäß
vollkommener Einsicht Beste realisiere. Dieses Ideal zu erreichen kann ich
nie erhoffen, meine Einsicht wird mich zweifellos oft genug im Stich lassen.
Bezeichnet ist aber eine ideale Aufgabe, sofern ich weiß, dass, in gewissen
Grenzen und fortschreitend, Einsichtigkeit im Urteilen und Werten in mei-
ner Macht steht. Das muss ich also in meinen Willen aufnehmen, und der
vorhin formulierte Imperativ der Selbstvervollkommnung fordert dann eo
ipso eine möglichste Annäherung an dieses zweite, im Unendlichen liegende
Ideal.
Vergleichen wir nun mehrere Persönlichkeiten, deren jede wir als dem
ersten Ideal entsprechend denken, so erfüllen sie die formale imperativische
Forderung, so gut zu sein, als sie überhaupt sein können, sich zu so Guten
gestaltet zu haben, als sie jeweils überhaupt konnten. Darum brauchen sie
aber nicht auf derselben Stufe der Annäherung an das zweite Ideal zu stehen,
wie wenn etwa der eine intellektuell beschränkt ist, der andere weitblickend,
begabter, entwicklungsfähiger. Jeder steht unter der kategorischen Forde-
rung des ethischen Imperativs, und er hat seine ethische Vollkommenheit,
wenn er diese Forderung konsequent erfüllt. Aber jeder ist eben der, der
er ist, und nicht der, der ein anderer ist, und was der eine kann, kann
darum noch nicht der andere; Werte, die dem einen offen stehen, stehen
dem anderen nicht offen, und selbst wenn sie in seinem Bereich sind, mag er
unfähig sein, sie richtig abzuwägen, während der andere es wohl kann.
An ethischer Vollkommenheit in dem eigentlichen Sinne sind alle Men-
schen gleich, die in Konsequenz ethischer Gesinnung handeln, die ihre
Persönlichkeit zu der besten, die sie nach ihren Anlagen und unter ihren
166 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Würde.
apriorische wertelehre und ethik 167
Eigenwertes einer Person, abgesehen davon, dass sie wie anderes als Mittel
Wert werden kann. Zunächst möchte man sagen: In der ethischen Wertung
haben wir rein die ethische Gesinnung zu betrachten. Bei der Gutwertung der
Person schlechthin haben wir die ganze Person zu betrachten, die ethische
Gesinnung ist dann eine bloße Komponente. Der ethische Charakter ist nicht
der ganze Charakter, nur eine Seite der Persönlichkeit; als wertbar bestimmt
er auch den Gutwert der Personen, so gut wie die anderen wertbaren Seiten
der Person. Aber so einfach ist die Sache eben nicht, denn das ist eben das
Merkwürdige, dass alle anderen Werte, etwa die, den den echten Künstler,
den Gelehrten, den Erzieher auszeichnen, dem ethischen Wert nicht gleich-
geordnet sind, sondern dass der ethische Charakter allererst den Wert aller
anderen Charakterseiten endgültig bestimmt; oder auch, dass er einerseits
zwar vor aller Frage nach Wert und Unwert im Gesamtcharakter eine Kom-
ponente ist, andererseits aber in der Wertung als eine Form anzusehen ist,
die den Wert aller anderen Charakterkomponenten mitbestimmt, und zwar
so, dass jede Charaktereigenschaft nur so weit dem Eigenwert der Personen
zuzurechnen ist, als sie von ethischer Gesinnung durchseelt ist und in dem
Grad, in dem sie es ist.
Gewiss, das gewaltige wissenschaftliche Können und Leisten eines Platon,
Kant, eines Gauss oder das künstlerische eines Michelangelo oder Goethe
sind ungeheure Werte. Aber wir müssen scheiden den Wert der wissenschaft-
lichen Gebilde, der Kunstwerke usw., der Wert an sich ist, wie immer es mit
dem Wert der Persönlichkeiten, die darin sich ausgewirkt haben, stehen mag,
und andererseits den Wert eben dieser Persönlichkeiten selbst. Als Werte
wirkend sind sie selbst wert, aber dieser Wert ist bloßer Übertragungswert,
wenn die Persönlichkeiten nicht in ethischer Gesinnung geschaffen, wenn
sie zum Beispiel nicht, um Großes und Schönes zu erwirken, sondern um
berühmt und geehrt zu werden, geschaffen haben. Also wenn wir den Wert
einer Person, und zwar ihren reinen Eigenwert bestimmen wollen und nicht
ihren Mittel- und Nutzwert für anderes, so ist ihr ethischer Charakter der
Grundwert, von dem alle anderen Charakterseiten, die in der Person als
positive Werte aufweisbar sind, ihren dem Wert der Person selbst zuzurech-
nenden Wert annehmen.
Mit anderen Worten: Ehren und verehrend bewundern dürfen wir den
Genius nur, wenn er in ethischer Gesinnung philosophierte, mathematisierte,
obschon in abstrakter Betrachtung das geniale Leisten ein großer Wert ist,
aber der Person selbst nicht ohne weiteres zuzurechnen ist als ihr Eigen-
wert. Der Eitle, der Unethische hat seinen Lohn dahin. Nur der Ethische
eben, weil er nichts um eines Lohnes willen erstrebt, empfängt die höchste
168 einleitung in die philosophie
Ich und seine praktische Gütersphäre, und dadurch schon und erst recht ver-
möge der wechselseitigen mitteilsamen Verständigung, durch die sich soziale
Gemeinschaft herausstellt, reicht die praktische Wirkungssphäre eines jeden
über sich hinaus in die Wirkungssphären der Anderen hinein. Das ethische
Apriori aber fordert es, dass inhaltlich gleiche praktische Güter mit gleichen
Werten in der ethischen Messung anzusetzen sind. Wo immer also ein Gutes
im Anderen mit in meine Wirkungssphäre gehört, steht es ceteris paribus dem
Guten in mir gleich; es ist dann unter Leitung des kategorischen Imperativs
von den Umständen her zu entscheiden, wann ich mein Gutes hintansetzen
oder bevorzugen soll, ganz ebenso, wie ich sonst bei der Wahl zweier dem
Eigenwert nach gleicher und miteinander unverträglicher Güter anderwärts
her Gründe des Vorzugs suche und finde. Egoist bin ich nur, wo ich mich um
diese Regel nicht kümmere und ohne weiteres das Gute für den Anderen
unberücksichtigt lasse, wo nicht gar es bewusst hintansetze.
Mit dem Egoismus geht Hand in Hand die intellektuelle Selbstliebe und
Selbstbewertung, die ihr Gegenstück hat in der echten Menschenliebe als
echter Nächstenliebe und Selbstliebe, gemeint als ein wertendes und prak-
tisches Verhalten, das rein motiviert, bestimmt ist durch den personalen
Eigenwert und darin also und vor allem durch den ethischen Wert. Im Gut-
Sein- und Gut-Werden-Wollen erweise ich an mir die richtige Selbstliebe; wie
ich die richtige Nächstenliebe erweise darin, dass ich das Gute im Anderen
beachte und vollwertig anerkenne und dass ich weiter im Rahmen meiner
Lebensaufgabe mein Bestmögliches dazu tue, ihn in der Erfüllung seiner
ethischen Aufgaben, also auch in seiner Selbstvervollkommnung zu fördern.
Bekanntlich liegen hier die größten praktischen Schwierigkeiten. Die auf
das richtige Verhalten gegenüber den Anderen bezüglichen Normen und
praktischen Regeln, also auch die auf die Zurückweisung und praktische
Überwindung des Egoismus bezüglichen, sind die im spezifischen Sinne
sogenannten moralischen Normen. Offenbar erschöpft das Moralische kei-
neswegs das Ethische überhaupt. Die ethische Vernunft ist die praktische
Vernunft überhaupt in ihrer vollen Weite und prinzipiellen Einheit; die
moralische Vernunft ist die Vernunft im praktischen Verhalten gegenüber
Anderen.
Soziale Ethik
Gehen wir nun zur sozialen Ethik und zum Verhältnis von individueller
und sozialer Ethik über. Denken wir uns Menschen geistig voneinander
170 einleitung in die philosophie
oder sich durcheinander bestimmen, ohne für einander zu organischen Gliedern werden zu
müssen.)
soziale ethik 171
1 Randbemerkung Eine Freundschaft aber, eine Ehe? Die ist an die bestimmten Personen
gebunden. Eine Freundschaft vieler Personen, ebenso eine Mehrere ist kein „Verein“.
172 einleitung in die philosophie
Schon daraus geht hervor, dass keine Rede davon sein kann, dass indi-
viduelle Ethik und Gemeinschaftsethik koordinierte Wissenschaften sind.
Eine voll entwickelte Individualethik führt notwendig auf Gemeinschafts-
ethik und schließt diese schon auf der Stufe rein formaler Ethik als formale
Gemeinschaftsethik in sich. Was wir „Individualethik“ also zuletzt nannten,
ist voll und ganz genommen die Ethik schlechthin, und Gemeinschaftsethik
ist in ihrem Bau nur ein oberes Stockwerk. Haben wir das aber gesehen,
so bleibt zur Durchführung einer Sonderung zwischen individueller und
Gemeinschaftsethik, die doch nicht das Ganze und einen Teil gegenüber-
stellen sollte, nur übrig, dass wir unter „Individualethik“, was dann aber
ein ganz unpassender Name wäre, eben das untere Stockwerk bezeichne-
ten, also den systematischen Inbegriff der Wesensgesetzlichkeiten, die vor
der Konzeption der Idee möglicher Gemeinschaft liegen und ihre ethische
Regelung dann selbst mitbestimmen. Immerhin aber bleibt doch so viel
übrig, dass eben Gemeinschaften als in Personen fundierte Personalitäten
höherer Stufe anzusehen sind, also selbst analog wie Personen fungieren;
und mag auch die Ethik für diese höheren Personalitäten die Ethik der Ich-
Person voraussetzen und sich dieser zudem auch einordnen, so ist es eben
das Eigentümliche dieses ethischen Sondergebiets, dass Fragen praktischer
Vernunft in ihm an Gemeinschaften als Personalitäten gestellt werden wie
sonst an Ich-Personen. Und eben dieser Kontrast der Fragestellungen und
Adressaten macht die unterscheidende Rede von individualethischen und
sozialethischen Fragen unentbehrlich.
Gehen wir der Beziehung sozialethischer Betrachtung zu individualethi-
scher weiter nach, so ist leicht einzusehen, dass jede Fragestellung nach Gut-
Tun, nach dem praktisch Besten der Gemeinschaft zurückführt auf Gut-Tun,
auf ethisches, der Einzelnen, dass also eine Gemeinschaft sozialethischen
Wert nur haben kann dadurch, dass ihre Individuen individualethischen
Wert haben. Das sozialethische Ziel, das eine Gemeinschaft verfolgen soll,
hat nur seine Vernunft dadurch, dass es in den individualethischen Zielen
der Glieder der Gemeinschaft verwurzelt und durch sie selbst gefördert
ist. Die Gemeinschaft lebt ja nur im Leben der vergemeinschafteten Ein-
zelnen, und zwar so, dass die Einzelnen durch Bewusstseinsakte vom Typus
„sozialer Akte“ sich selbst als Funktionäre der Gemeinschaft wissen, also
davon wissen, dass sie in solchen Akten Akte der Gemeinschaft vollziehen.
Gemeinschaft ist, wie wir es auch ausdrücken können, nicht eine natürliche
Verbindung der Einzelsubjekte, sondern sie ist, was sie ist, als gewusste
Gemeinschaft, gewusst in ihren Gliedern in Form von wirklichen oder mög-
lichen sozialen Akten. Durch sie hindurch ist die Gemeinschaft personale
soziale ethik 173
wird nur eine ganz untergeordnete Rolle in der sozialen Sphäre eingeräumt,
den jeweils vorgegebenen Zwecken gemäß die passendsten Mittel zu finden.
Jeder Versuch, das Staats- und Volksleben unter dem Gesichtspunkt
praktisch letzter Zwecke zu betrachten und unter dem Gesichtspunkt
absoluter Werte einer praktischen Vernunft, wird als verstiegener Idealis-
mus abgetan. Welche grauenvolle Konsequenz ein solcher sozialethischer
Skeptizismus hat, das ist gerade in unserer Zeit offenbar geworden. Diesen
Skeptizismus zu überwinden, ist die Funktion strenger Wissenschaft. Ob-
schon die sokratische These, dass die Tugend lehrbar sei und dass mit der
rechten Einsicht der rechte Wille ohne weiteres gegeben sei, sicherlich
eine Übertreibung ist, so liegt doch in dieser Lehre nach einer Hauptseite
eine große Wahrheit. Alle Hoffnung auf eine Besserung des Elends der
Menschheit beruht doch auf einer Besserung ihrer Einsicht. Anders ausge-
drückt: Der Fortschritt in der Ethisierung der Menschheit in ihrem Leben
gemäß den Forderungen der praktischen Vernunft bedarf notwendig der
Hilfe der theoretischen Vernunft. Der Verstand ist Diener des Willens,
aber nicht nur, wie Schopenhauer es darstellt, Diener eines vernunftlo-
sen, sich in schrankenloser Begierde auslebenden Willens.1 Es gibt auch
einen ethischen und das ist einen von Ideen praktischer Vernunft geleiteten
Willen, und dessen berufener Diener ist die theoretische Vernunft oder,
wenn man will, der einsichtige „Verstand“. Jedes richtige Motiv, das der
Verstand herausstellt, ist für den Willen notwendig ein Motiv, und es er-
weist seine Motivationskraft selbst da, wo es durch andere Motive über-
wogen wird. Wege zu finden, diese Motivationskraft zu verstärken und
schließlich das Ich zu befähigen, ihm rein um des erkannten Eigenwer-
tes willen zu folgen, ist selbst wieder ein Beruf des erwägenden Verstan-
des.
Verstand waltet im Menschenleben natürlich schon vor aller Wissenschaft.
Indessen ist es klar, dass Wissenschaft nicht nur zu technischen, sondern auch
zu ethischen Funktionen berufen ist. In einer Epoche der Menschheitsent-
wicklung wie der unseren, in der die Wissenschaft schon zur praktischen,
wenn auch noch nicht zur ethischen Macht geworden ist, ist der Beruf
der Wissenschaft, auch zu dieser Macht zu werden, zweifellos. Natürlich
denke ich hier an eine Wissenschaft, welche sich eben die Ethisierung der
1 Randbemerkung Deutlicher: Es gibt einen vernünftigen, in der Weise der Vernunft sich
erfüllenden, sättigenden (und demgemäß in der Bewertung wahrhaft werten, also in der Wertung
satt auszuwertenden) Willen. Endlich einen in einem zweiten Sinne ethischen Willen; denn
ethische Vernunft ist auch zu definieren als die bewusst von ethischen Ideen und ethischen
Idealerkenntnissen geleitete Vernunft in der freien, logisch fundierten Willensaktion.
soziale ethik 175
wir kurzweg einer Menschheit, danach streben müsste, die Umbildung der
Menschheit in eine universale Zweckgemeinschaft nach Kräften zu fördern,
und zwar im Sinne der Idee einer solchen Gemeinschaft, die ihren obersten
Gemeinschaftszweck sieht in der größtmöglichen Erhöhung aller Einzelnen.
Mit anderen Worten: Eine Menschheit darf nicht bestehen bleiben als eine
bloß kollektive Einheit, als kommunikative Allheit, sie muss sich umgestalten
in eine allumspannende Einheit einer sozialethischen Personalität. (Sie ist
dann eo ipso die höchste mögliche Personalität, nämlich die, die nicht mehr
erweitert werden kann, da sie außer sich keine erreichbaren Personalitäten
mehr haben kann, die sie in sich aufnehmen könnte.)
Dieser Imperativ kann selbstverständlich nur für jeden Menschen beste-
hen, der die Idee einer sozialethisch verbundenen Menschheit erfasst hat
und erkannt hat, dass eine Menschheit, die gemäß dieser Idee geregelt lebte
und sich ihr bewusst beugte, die größtmögliche ihr erreichbare ethische Stufe
erklimmen würde; ferner, der erkannt hat, dass bei der Freiheit des Menschen
und bei seiner Erziehbarkeit, die schon zum formalen Wesen des Menschen
als eines Vernunftwesens gehört, diese Idee den Charakter einer praktischen
Idee, und zwar der höchsten praktischen Idee für jeden sie Einsehenden hat.
Also wird es, wie fern sie von der Realisierung ist, ja wie fern sie davon auch
ist, in der Menschheit bekannt und eingesehen zu sein, für jeden, der sie
schon erschaut hat, zur Pflicht, sie anderen möglichst zugänglich zu machen
und für sie praktisch in jeder Weise zu wirken.
Der kategorische Imperativ vereinzelt nicht die Menschen und fordert
von den Einzelnen nicht sich als Einzelne zu den anderen Einzelnen in
Bezug zu setzen, sondern als Imperativ, das höchste praktische Gut zu
erstreben, fordert er Gründung bzw. Ethisierung von Gemeinschaften und
kategorisch die Gründung einer allumfassenden Menschengemeinschaft. Er
fordert es, sowie der Strebende erkennt, dass seine Wirkungssphäre zwar
nicht unmittelbar, aber durch tausendfältige Vermittlung die ganze Mensch-
heit mitumspannt, dass aber auch Willensverbundenheit in Form personaler
Gemeinschaft eine allgemeine Form ist für mögliche Wertleistungen immer
neu zu steigernder Wertstufen und dass die höchstmögliche Wertstufe es
fordert, dass wie kein einzelner Mensch, so keine sich absondernde personale
Menschengemeinschaft isoliert bleibt und ja gar ihr Bestes sucht ohne Rück-
sichtnahme auf das Beste anderer Menschen und anderer Gemeinschaften.
Diese höchstmögliche Wertstufe möglicher Sozialität ist aber zugleich die
ethisch höchstmögliche für die in ihr sozialethisch geeinigten Individuen,
die also ethisch bestmögliche nur sein können als Bürger einer solchen
Gemeinschaft.
178 einleitung in die philosophie
Die Menschheit ist kein bloß empirischer Begriffsumfang und keine bloß
kollektive Gesamtheit (auf einem die Grenzen möglicher Verständigung
und Rücksichtnahme bestimmenden Planeten). Sie darf es jedenfalls nicht
bleiben; sie soll (und dieses Sollen ist das des kategorischen Imperativs) zu
einer personalen Gemeinschaft werden, in der nur ein Wille lebt und ein
Wille, der auf das höchste praktische Gute aller gerichtet ist. Das ist aber
eine kategorische Forderung für die irdische Menschheit aus dem Grund,
weil sie es für jede Menschheit in unserem verallgemeinerten Sinne ist
und als das mit Evidenz einzusehen ist, mag es eine Allheit kommunizie-
render und ethisch verantwortlicher Wesen auf dem Mars oder in welcher
eine weitere Kommunikation ausschließenden Umwelt immer sein. Überall
fordert es dieselbe absolut gültige Ethik; sie fordert es eben in formaler
Allgemeinheit. (Und fordert hierbei, dass der Einzelmensch sein „Bestes“
nicht im egoistischen Sinne verstehe, sondern darin das Beste aller anderen
nach Maßgabe der Abstufungen praktischer Realisierbarkeit und der sonst
geforderten Wertabstufungen mitbeschließe. An sich wiegt gleich Gutes im
einen und anderen eben als ein gleiches Gewicht.)
Genau dasselbe gilt aber unter der Voraussetzung, dass schon Gemein-
schaften gebildet sind und als Personalitäten höherer Ordnung, etwa als
abgeschlossene nationale Staaten und sonstige Staaten, ihr Recht fordern.
Die absolut vernünftigen Grenzen ihres Rechtes auf Dasein und auf För-
derung bestimmt die Ethik; und wie individuelle Moral ein Titel ist für die
Gebote der Nächstenliebe und praktischen Berücksichtigung der Nächsten
im Sinne nächster Einzelpersonen, so ist nationale und staatliche Moral ein
Titel für die entsprechenden Gebote, welche die Beziehungen von nationalen
Personalitäten oder Staaten (in ihrem praktischen Verkehr miteinander)
regeln. Es ist nicht nationaler Idealismus, sondern nationaler Egoismus, wenn
große Nationen einer uns nicht eben fernen Geschichte mit großen Gesten
für ihre geheiligten eigenen Rechte, für ihre nationalen Güter zu kämpfen
vorgeben, aber die physische und moralische Vernichtung ihrer Gegner,
also einen nationalen Mord wie ein selbstverständlich berechtigtes Mittel
behandeln. Egoismus ist in jeder Form die moralische Todsünde, das πρ#τον
κακν. Und die Menschen müssen vor allem zu der Einsicht erzogen werden,
dass nationaler Egoismus nicht besser ist als individueller Egoismus, also
nationaler Raub und Mord nicht besser als Raub und Mord im gewöhnlichen
Sinne. Damit ist noch keineswegs jeder Krieg als „Mord“ ethisch verurteilt.
Die Erwägung des Rechtes und der Grenzen des Rechtes von Kriegen ist
selbstverständlich eine besondere ethische Frage, wie auch die nach den
eventuell zulässigen Formen und Normen eines ethischen Kriegs. Selbst
soziale ethik 179
solche Fragen müssen also vor allem in prinzipieller Reinheit und formaler
Allgemeinheit behandelt und eben dadurch über das Niveau der historischen
Vorurteile und der Leidenschaften der Gegenwart hinaufgehoben werden in
die reinen Sphären der Idee.
In dieser Art sehen wir, wie hohe Aufgaben die Ethik in ihrem Fort-
schreiten und schon in der Sphäre formaler Allgemeinheit zu lösen findet,
in der Höhe, in der sie also nichts berücksichtigt, was hinausgeht über die
allgemeinste Idee eines personalen Ich überhaupt bezogen auf eine Um-
welt überhaupt. Die volle Ausgestaltung der Ethik, stellt aber immer neue
Aufgaben. Waren wir auf die Formen möglicher Sozialitäten gestoßen, so
müssen wir nun auch an die Formen möglicher Umwelten denken. Mögliche
Subjekte und Gemeinschaften müssen ihre Umwelten zunächst als irgend-
welche Formen von Naturen finden, von Umwelten, die ihnen und ihrer
Arbeit vorgegeben sind, die sie aber von sich aus, ihren Wertungen und
Bedürfnissen gemäß, immerfort umgestalten und sich so, einzeln oder in
Gemeinschaftsarbeit, ihre Welt der Kultur schaffen. Nicht nur die a priori
möglichen Formen der Sozialität, sondern auch die a priori möglichen For-
men der Kultur müssen erwogen werden, wobei im Sinne unserer früheren
Erwägungen die Sozialitäten selbst in Kultur genommen sein können und
a priori nicht nur das Einzelsubjekt, sondern auch eine Gemeinschaft als
Gemeinschaftssubjekt sich selbst erziehen, also kultivieren kann.
Als erste Aufgabe die idealmöglichen Kulturtypen entwerfen, das heißt
wieder nur, eine vor aller Frage nach dem Wert liegende Formenlehre mög-
licher Kultur entwerfen; und wir haben auch hier als höhere Stufe die aprio-
rischen Disziplinen von den Formen wertvoller Kulturen. Selbstverständlich
ist die absolute Wertung, die Wertung absolut rechtfertigender Vernunft, die
ethische. So sehr die obersten Gattungen der Kultur durch oberste Gattungen
von Eigenwerten, wie logischen Werten, ästhetischen Werten bestimmt sind,
so ist Kultur doch ein Erzeugnis von willentlichen Tätigkeiten und hat somit
als Kultur jederzeit ihre letzte Rechtfertigung von der Ethik her zu erfahren.
Vorgreifend habe ich das einmal schon berührt, aber es findet seine volle
systematische Klärung erst jetzt, wo wir auf die Idee der Sozialität Rücksicht
genommen und auch Gemeinschaft und Gemeinschaftswerke ethisch werten
gelernt haben.
Rein die Idee einer Vielheit vernünftiger Subjekte überlegend, die auf
eine gemeinsame Umwelt bezogen sind und durch sie die Möglichkeiten der
Wechselverständigung gefunden haben, kommen wir also auf eine katego-
rische doppelte Forderung. Einerseits auf die Forderung eines einheitlichen
Menschheitsstaates, wie wir auch sagen können, einer ethisch verbundenen
180 einleitung in die philosophie
Gemeinschaft der Menschheit von personalem Typus, und korrelativ auf die
Forderung einer universalen Menschheitskultur von ethisch abgestimmter
Form.1
Wie immer es mit dem Faktum oder der Notwendigkeit der Weltschöp-
fung stehen mag und mit einer von einem Weltschöpfer ausgehenden oder zu
erdenkenden Zweckgestaltung der Welt, einer von ihm ausgehenden teleo-
logischen Form: Eine Welt vom Typus unserer Welt, eine Welt mit Menschen
und als Umwelt für ihre Menschen hat eine a priori notwendige Teleologie
in sich. Menschen, wache Subjekte und Subjekte einer erwachten Vernunft,
einer theoretischen und praktischen Vernunft, können nicht anders, als die
ethische Zielgebung anzuerkennen und sich ihr demgemäß unterzuordnen:
Wie immer sie irren, wie immer sie ethisch böse sein, wie töricht sie sich
im Einzelnen ihre Welt gestalten mögen, über allem klugen und törichten
Tun waltet die Idee einer vollkommenen Menschenwelt, einer Welt, der die
ethische Menschheit ihre ideale Gestalt aufgeprägt hat und immer wieder
aufprägt, in immer höheren Wertstufen.
Diese bestmögliche Kultur einer ethisch besten Menschheit ist ja nicht
eine statische Idee, sondern die Idee eines Entwicklungsprozesses. Wie im
Einzelnen, so wächst in einer Menschheit die Einsicht; es erhöhen sich die
Charaktereigenschaften, es bessern sich die Methoden, es bereichern sich
die erreichbaren Ziele und werden selbst immer höhere. Die Idee einer
bestmöglichen Menschheit einer Entwicklungsphase, die das Bestmögliche
leistet, was sie kann, und die bestmögliche Kultur hat, die sie schaffen könnte,
ist nicht mehr die einer bestmöglichen Menschheit in späteren Phasen, so wie
das ideal beste Kind, das wir durch Idealisierung einer individuell bestimm-
ten kindlichen Persönlichkeit gewinnen würden, nicht mehr das ideal Beste
der Mannesstufe wäre für diese selbe individuelle Persönlichkeit. Wie diese
1 Zusatz Die erwogene Idee einer in Form eines ethischen Zweckvereins verbundenen
Menschheit wird identifiziert mit der Idee eines Menschheitsstaates. Das ist aber bedenklich.
Der Staat ist eine von Rechtsnormen durchherrschte und durch sie verbundene Einheit. Die
Einheit der Rechtsregelung braucht aber nicht so weit zu reichen als die Einheit des personalen
Gemeinschaftswillens. Die Rechtsnormen brauchen nicht alle Lebens- und Wirkensgebiete, alle
Kultursphären zu umspannen und, soweit sie auf sie bezogen sind, die in ihnen gemeinschaftlich
zu vollziehenden Tätigkeiten nicht zu erschöpfen. Nur so viel ist zu sagen: A priori kann gesagt
werden, dass eine mit oberster ethischer Zielgebung abzuschließende Menschheit (eventuell
eine Menschheit im vollen Sinne einer kommunikativen Allheit) eine Staatsordnung, eine
rechtlich ordnende Verfassung fordere. „Staat“ ist dann eine Einheitsbezeichnung, die alle
Glieder der Allheit umspannt, aber die betreffende Menschheit doch nicht vollständig als
ethisch verbundene umspannt. Es ist damit also nur eine durchgehende Gemeinschaftsstruktur
bezeichnet.
teleologie 181
Teleologie
Mit1 der letzten Reihe von Betrachtungen hat ein großer systematischer
Abschnitt unserer Vorlesungen seinen Abschluss gefunden, und es gilt nun
uns zu besinnen. Das ursprüngliche Problem, das den Anstoß zur Heraus-
arbeitung der systematischen Linien dieses Abschnitts gegeben hat, das des
Gegensatzes zwischen naturalistischer und teleologischer Weltanschauung,
ist bei der Länge der Vortragszeit und vermöge des hohen Eigenwertes der
Erkenntnis, die wir uns zugeeignet haben, ganz in den Hintergrund getreten.
Wir lassen es für einen Augenblick noch in diesem Dunkel. Überblicken wir
die innere Einheit des Abschnittes. Er betrachtete die konkrete Umwelt,
in der der Mensch sich als erfahrender, denkender, wertender, handelnder
findet, die Welt, die ihn umgibt und der er sich selbst als Mitglied zurechnet.
Diese Welt hat in sich ihre Wesensgliederung, welche die möglichen Wis-
senschaften, die sich auf Gegenstände dieser Welt beziehen können, a priori
bestimmt.
Als unmittelbar Erfahrender findet jedermann einerseits sich umgeben
von Subjekten und Nicht-Subjekten oder Dingen, beide durch verschiedener-
lei Beziehungen aufeinander bezogen. Die Subjekte in ihren geistigen Akten
beziehen sich aufeinander und auf die Dinge; in ihrem Wechselbezug bilden
sie Subjektgemeinschaften und darin Personalitäten höherer Ordnung. In
ihren geistigen Beziehungen zu den Dingen, aber auch zueinander, schaffen
sie als praktisch leistende Subjekte Kultur in immer neuen Gestaltungen.
1 Randbemerkung Rekapitulation des Ganges, vgl. den Anfang Bl. 87 ff. = S. 105 ff..
182 einleitung in die philosophie
Die Welt, die uns Menschen umgibt, ist für unsere Erfahrung und vor allem
theoretischen Denken also immerfort zwar gegliedert als personale Welt (d. i.
Mannigfaltigkeit von Ich-Subjekten und Subjektverbänden) und Dingwelt;
andererseits aber steht sie in beiden Hinsichten immerfort als Kulturwelt da
(als eine Welt, welche für uns mit Prädikaten ausgestattet dasteht, die von
der Subjektivität her, als wertender und praktischer, ihren Sinn empfangen
haben).
Näher besehen, ergab sich uns aber hier eine neue Wesensstruktur. Alle
Kulturprädikate, mit denen wir als natürlich erfahrende Menschen unsere
Umwelt betrachten, weisen auf Prädikate bloßer Natur zurück.1 Mit anderen
Worten: Die konkret volle Welt trägt in sich eine Schicht bloßer Natur,
des bloßen Daseins und Soseins, das noch keinerlei Wertprädikate hat oder
von dessen Wertprädikaten man absehen kann, ohne sein konkretes Sein zu
stören.2,3 Dieser einfache, aber für ein tieferes Verständnis grundlegende Un-
terschied müsste uns durch diese kleine Rekapitulation wieder voll lebendig
werden.4
Danach scheiden sich notwendig die Wissenschaften: Auf der einen Seite
Naturwissenschaften als Wissenschaften von der bloßen Natur, auf der an-
deren Seite axiologische und auf wirkliche oder mögliche praktische Ge-
staltungen bezügliche Wissenschaften (Kulturwissenschaften, Geisteswissen-
schaften).5,6 (Naturwissenschaften sind dann weiter Wissenschaften von der
1 Gestrichen Das heißt, wie vielfältig auch die uns umgebenden Gegenstände in der natür-
lichen Erfahrung mit Prädikaten ausgestattet sein mögen, die auf wertende und praktische
Funktionen des Menschen zurückweisen, – alles Werten und Wollen weist doch zurück auf
letzte Substrate, also auf Gegenstände, die schon als wertbare da sind und schon ihre Prädikate
haben.
2 Gestrichene Randbemerkung Keinerlei aus Intentionalität von Subjekten in Bezug auf Ge-
in sich beschlossen als einen notwendigen Seinskern und als eine Unterschicht Natur. Sie wäre
die Welt, die uns übrig bliebe, wenn wir alle plötzlich wertblind würden, unfähig für einen
Augenblick zu werten und Wertprädikate als solche zu verstehen. Statt so blind zu werden,
können wir aber auch in der Tat willkürlich unser Denken so einstellen, dass wir von allen
Bestimmungen der Dinge absehen, die uns darauf hinweisen, dass sie in Relation zu sie
wertenden und für sie praktisch interessierten Subjekten aufgefasst seien, zum Beispiel als
Werkzeuge, als Kunstwerke, als Felder usw.
4 Gestrichen Danach scheiden sich an unserer Umwelt oder an allen ihren Gegenständen die
bloßen Naturprädikate oder ihre bloße Natur und die spezifischen Wert- und Kulturprädikate.
5 Randbemerkung Hier bedürfte es also einer eigenen Betrachtung, um den Begriff der
freien Variation!
teleologie 183
physischen Natur und der mit ihr wesentlich verflochtenen seelischen Natur:
Von den Verflechtungen handelt die psychophysische Naturwissenschaft.)1
Eine2 solche Scheidung der Wissenschaften ergibt sich als apriorische
Notwendigkeit vor aller Frage, ob die unter gleichen Titeln historisch er-
wachsenen Wissenschaften in entsprechender und bewusster Reinheit diesen
Begriffen schon entsprechen. Würden sie es noch nicht tun, so müsste die
entsprechende Reinigung vollzogen werden. Das Postulat gilt schlechthin,
dass bloße Natur in sich erforscht werden muss, und es ist klar, dass sich
nun auch die Idee einer Ontologie der Natur entsprechend gereinigt hat
als eine notwendig mitpostulierte Ontologie der bloßen Natur. Indessen
bedurfte es für uns solcher Reinigung insofern nicht, als wir unter dem
Titel „Geometrie“, „reine Mechanik“ u. dgl. (nur ohne ausdrückliches und
begriffliches Bewusstsein) in der Einstellung bloßer Natur waren, nämlich
geleitet von der modernen Naturwissenschaft, die eben dem Postulat faktisch
entspricht.
Doch ehe wir von dem historischen Prozess sprechen, der zu einer so
gerichteten Wissenschaft geführt hat, blicken wir, um die Rekapitulation
zu vollenden, nach der anderen Seite hin, der nach Einführung der Scheidung
der ganze Abschnitt gewidmet war. Er betrachtete die menschliche Umwelt
unter axiologischen und praktischen Gesichtspunkten, er betrachtete sie also
in der Hinsicht, in der jeder natürliche Mensch, der von der künstlichen
Einstellung auf bloße Natur nichts weiß, als voll lebendiger, handelnder, mit
dem Gemüt an den Dingen interessierter Mensch alles betrachtet.
Unsere Welt ist eine Wertewelt, eine Güterwelt, eine Welt wirklicher
und möglicher Zwecke und Mittel und dementsprechend auch möglicher
oder wirklicher Erzeugnisse. Sie konnte in dieser Hinsicht wissenschaftlich
zunächst betrachtet werden, als die jeweils den Menschen gegebene, ausge-
stattet mit Prädikaten des Wertes, die, sei es alle Menschen überhaupt, sei
es Menschen einer Zeit, einer Kulturepoche faktisch und zumindest norma-
lerweise als gültig anerkennen. Also vor aller Frage des wahren Wertes oder
Unwertes kann dann Wissenschaft der Typik faktischer Kulturen nachgehen
und als Historie die Entwicklung der faktisch in den betreffenden Epochen
und Folgen von Epochen geltenden Wertgestaltungen feststellen. Anderer-
seits können dann die Fragen axiologischer und praktischer Wahrheit oder
„Echtheit“ gestellt, demgemäß etwa die Entwicklungslinien echter Kultur
in einer wertenden Geschichte erforscht werden.
Dabei blieben wir aber nicht stehen. Ohne die Leitung ideengeschicht-
licher Motive stiegen wir kühn empor zu den höchsten prinzipiellen Pos-
tulaten und zu den obersten Prinzipienwissenschaften, an deren Ausbil-
dung die radikale Normierung aller konkreten Wertewissenschaften hängt.
Wir bedurften hier keines ideengeschichtlichen Leitfadens, weil uns hier
die vorangegangenen Untersuchungen, die wir unter Leitung wesentlicher
platonischer Leitmotive durchgeführt hatten, ein klares Vorbild boten. Wir
hatten also vor Augen als beständige Parallele die Gruppe von Disziplinen,
die wir unter dem erweiterten Titel einer apriorischen Logik oder Wissen-
schaftslehre uns zugeeignet hatten, im Besonderen die formale Ontologie,
der wir gegenübergestellt hatten die materialen Ontologien und speziell die
Ontologie der Natur.
Im Voraus war uns dabei einleuchtend geworden, dass eine sachhaltige
Wissenschaft – wir blickten dabei auf die Naturwissenschaften hin – ihre
höchste Stufe wissenschaftlicher Objektivität und Strenge nur erreichen
könne durch Hilfe der entsprechenden materialen und formalen Ontologien.
Das also leitete uns bei dem Problem einer Wissenschaft von der Kulturwelt.
So konnten wir aufsteigen bis zur formalen Axiologie und zur formalen
Praktik oder Ethik, in welchen Disziplinen die universalsten und zugleich
radikalsten Prinzipien beschlossen sind für alle axiologische und ethische
Auswertung, aber auch für die konstruktive Ableitung aller formal möglichen
Typen vermeinter oder echter Kulturen.1
1 Eingelegtes Blatt Die Welt als Thema des vernünftigen Urteils, seiend in Wahrheit, als
logisches Thema. Die Welt als Thema der Wertung, als axiologisches Thema. Die Welt als
Thema des Willens, als ethisches Thema. 1) Die Welt als Tatsachenwelt. Unter den Tatsachen
sind auch die historischen, die geistigen Tatsachen, dass Menschen so und so werten, so und so
handeln. Aber der Weltforscher „wertet nicht aus“, er vollzieht als Forscher kein Weltwerten
und übt keine wertende Vernunft. Somit urteilt er auch nicht, sucht er auch nicht Wahrheit
dafür, wie die Welt sein soll, er urteilt nicht über Güte und Schönheit (Wert und Unwert), er
hat auch kein Interesse dafür ob andere richtig oder falsch werten. Fremdes Werten auswerten
ist selbst werten. 2) Tut er das, so ist sie axiologisches Thema, und die Welt hat jetzt auch
axiologische Beschaffenheiten. 3) Als bloßer Tatsachenforscher forscht er auch nicht nach
praktischem Seinsollen. Darin liegt vorher: Er selbst konstatiert zwar, dass Menschen da sind,
die das und jenes für ethisch gesollt halten; aber wie er selbst als Forscher nicht auf Seinsollen
überhaupt geht (nicht ethisches Subjekt ist), sondern auf Wahrheit (oder nur auf Sollen der
Wahrheit), so hat er auch kein Interesse dafür, wie andere ethisch sich verhalten. Sich in andere
einleben und ihr richtiges ethisches Verhalten auswerten, das ist selbst ein ethisches Verhalten.
Das Tatsacheninteresse: Interesse am Sein; das wertende Interesse: Interesse am Wert; das
ethische Interesse: Interesse am praktisch Seinsollenden. Das Interessiertsein an der Welt im
besonderen Sinne: mit dem „Gemüt“ und Willen interessiert sein, die Welt mit den Augen
der Liebe und des Hasses und im Streben nach Schönheit und nach guten Taten betrachten,
teleologie 185
Damit erscheint, wie wir hier ergänzend beifügen können, der Kreis der
obersten formalen Prinzipienwissenschaften wesentlich erweitert, wo nicht
gar abgeschlossen. Die Idee einer universalen Wissenschaftslehre selbst er-
weitert und bereichert ihren Sinn; sie wird aus der Wissenschaft vom for-
malen Wesen aller möglichen Wissenschaft überhaupt zur Wissenschaft von
allen möglichen Wissenschaften überhaupt, von allen überhaupt möglichen,
das sagt aus formalen Gründen möglichen.1 Oder sie wird von der Wissen-
schaft, die noematisch vom Sein überhaupt und der Wahrheit überhaupt
im theoretischen, nach keinen Wertmodalitäten des Seins fragenden Sinn
handelt, zur Wissenschaft vom Sein in einem höheren Sinne, sofern sie auch
alle zur Idee des Seins gehörigen und formal zu erwägenden Modalisierun-
gen des Seins mit in ihr Thema zieht. Dann stößt sie in sich zur formalen
Scheidung von Natursein, axiologischem und praktischem Sein vor. Der
Begriff der Wahrheit differenziert sich formal in Naturwahrheit für außer-
wertliches Sein, in axiologische und praktische oder ethische Wahrheit. (Und
dem entsprechen dann auch noetische Seiten als Parallelen unserer früheren
noetischen Wissenschaftslehre.)2
Demgemäß scheidet sich dann die formale Wissenschaftslehre in die for-
male Wissenschaftslehre oder Logik im alten von uns beschriebenen Sinne
einzeln und gemeinschaftlich. Gemeinschaft des wertenden Interesses, Gemeinschaft der Tat
und der Handlung. Bloße Tatsachenbetrachtung – Ausschluss des Interesses am Wert und
am praktischen Sollen. Kann ich Folgendes sagen? Wenn ich jetzt außerhalb des ethischen
Interesses lebe und somit jetzt nicht für ein Seinsollen interessiert bin (für das, was ich soll)
außer dem einen der Wahrheit, dann fällt die Sollenswahrheit außer meinen Bereich, auch
die Beurteilung der ethischen Verhaltungsweisen anderer, die doch in gewisser Weise auch
Fakta sind. Universal axiologisch eingestellt bin ich im wertenden Interessenleben, wenn ich
entweder selbst werte und so überhaupt die Werte der Welt erwerten und genießen will oder
in andere wertende Akte mich einlebe und mit ihnen oder gegen sie werte. Werte ich aus, so
gewinne ich selbst einen Wert. Universal ethisch eingestellt bin ich, wenn ich eben als ethisches
Subjekt strebe und somit universal die Möglichkeit einer ethischen Praxis für mich erwäge.
Aber auch wenn ich, in andere mich einlebend und mich mit ihnen „deckend“, mit ihnen
oder gegen sie ethisch entscheide – ich verhalte mich in ihnen, in diesen Akten, ethisch.
Dazu kommt, dass das Voraussetzung meiner ethischen Stellungnahme zu ihnen ist und dass
schließlich die ganze Menschheit eine ethische Gemeinschaft unter Idee ist etc. 1) universale
Tatsachenwissenschaften, 2) universale Wissenschaft von den Tatsachen und dem Wert der
Tatsachen, 3) universale Wissenschaft von den Tatsachen, dem Wert der Tatsachen und dem
praktischen Seinsollen und Verwirklichen einer für uns bestmöglichen Welt.
1 Randbemerkung Universale Wissenschaftslehre (im erweiterten Sinne).
2 Randbemerkung Gut. Damit ist aber gesagt, dass die beiden letzteren Blätter nicht korrekt
waren. Denn die Geisteswissenschaften, solange sie bloß „Tatsachenwissenschaften“ sind (ohne
Auswertung), sind nicht Wissenschaften vom wahren, wertlichen Sein und wahrem Seinsollen.
Dann haben wir aber auch den richtigen Gegensatz: Tatsachenwissenschaften, Wertewissen-
schaften und Sollenswissenschaften. Dann erst innerhalb der Tatsachensphäre speziell Natur.
186 einleitung in die philosophie
als die formal oberste Stufe und dann in die Disziplinen nach erfolgter
Differenzierung der Wertmodalitäten: in die formale Wissenschaftslehre
einer möglichen Tatsachenwelt und darin speziell Natur überhaupt oder
die Wissenschaft vom formalen Typus jeder möglichen Natur-, Tatsachen-
wissenschaft (einer Wissenschaft von individuellem, außerwertlichem Sein
überhaupt), in die formale Weltaxiologie und die formale Weltpraktik oder
Ethik, welche letzteren beiden Disziplinen aber auch aus gewissen Gesichts-
punkten der formalen Logik im Sinne der Oberstufe gleichgeordnet werden
können.1
Die Ergebnisse, zu denen wir gekommen sind, sind von einer Tragweite,
die uns wohl alle besonderen Abzweckungen, die wir beim Eintritt in unsere
Untersuchungen verfolgt haben, vergessen lassen dürften. Doch müssen wir
auch diesen Genüge tun. Denn auch in dieser Richtung werden sich höchst
bedeutsame Horizonte eröffnen. Ja, in gewisser Weise haben sie sich uns
schon eröffnet. Sowie wir in die Welt der Werte und Güter eintreten, also die
Welt nicht mehr mit dem bloß theoretischen Auge ansehen dürfen, fühlen wir
mit als lebendige Menschen mit aktuellen Wertungen und Zwecksetzungen.
Als ethische Subjekte sehen wir uns a priori in die Notwendigkeit versetzt, die
ganze Umwelt als eine Welt unendlicher Aufgaben anzusehen. Sie ist nicht
bloß und sie darf nicht bloß sein, wie sie ist, sie soll sein und werden, wie der
kategorische Imperativ es fordert. Wir sind für sie verantwortlich, denn sie
ist eine Welt praktischer Möglichkeiten, und wo praktische Möglichkeiten
bestehen, da spricht auch der kategorische Imperativ sein unbedingtes Sollen
aus. So ergibt sich und unter höchsten, absolut geltenden Prinzipien eine
ethische Weltanschauung oder, wie wir auch sagen können, eine teleologi-
sche. Die menschliche Umwelt hat einen besonderen teleologischen Aspekt.
Sie wird vom Menschen nicht nur mit den axiologischen und praktischen
Kategorien geformt angesehen, sie soll es auch werden, und sie soll es in
der imperativisch vorgezeichneten Form des ethischen Prinzips. Die höchste
Wahrheit ist die ethische; und so sehr die naturalistische Weltbetrachtung
und Wissenschaft ihr theoretisches Recht haben in ihrer Sphäre, so steht
selbst sie als Praxis unter ethischer Norm.
Indessen, diese Art, die Umwelt teleologisch zu betrachten, ergibt nicht
das, was man „teleologische Weltanschauung“ zu nennen pflegt. Die ethi-
sche Weltbetrachtung ist ja auch nicht wirklich so universal, dass sie die
1 Randbemerkung Wir haben vielmehr: 1) die formale dreifache Analytik 2) die formale
dreifache Realitätswissenschaft.
teleologie 187
gesamte Umwelt umspannt. Sie reicht nur so weit, als die Umwelt ernstlich
in die praktische Wirkungssphäre der Menschen hineinreicht. Sonnen und
Sterne können wir nicht aus ihren Bahnen herausbewegen, die Vorgänge im
Innersten der Erde können wir nicht praktisch umgestalten; und so bleiben
Unendlichkeiten der Natur unserer menschlichen Teleologie verschlossen.
Nicht anders muss es ergehen, wenn wir, geleitet von unseren formal ethi-
schen Ergebnissen, die Empirie verlassen und den verallgemeinerten Begriff
des Menschen und von Welt substituieren.
Eine Menschheit, in formaler Allgemeinheit bezogen gedacht auf eine
Umwelt bzw. auf eine Natur, wird a priori nur eine zwar offene, aber end-
liche praktische Umwelt haben können. Eine wirkliche teleologische Welt-
anschauung soll aber eine Anschauung sein und – wo sich ihr endgülti-
ges Wahrheitsrecht ausweisen soll – eine Wissenschaft sein, welche das
ganze Weltall unter axiologischen und praktischen Kategorien betrachtet,
das ganze Weltall, trotz seiner Unendlichkeit, als einen praktischen Gutwert
und alles in ihm als zweckvoll betrachtet. Natürlich springt daraus sogleich
das Problem uns entgegen, wie das möglich ist, wenn keines der der Welt
zugehörigen Subjekte das Weltall zum praktischen Bereich hat, also als
Subjekt der universalen Zwecksetzung fungieren kann. Das hätte ich nun
freilich gleich von vornherein sagen und somit den ganzen Abschnitt über
Axiologie und Ethik ersparen können.
Indessen, was für eine oberflächliche Betrachtung angehen mag, geht
nicht an für eine philosophische. Als uns am Leitfaden der ideengeschicht-
lichen Betrachtung des Altertums und speziell Platons das Problem der
Scheidung naturalistischer und teleologischer Weltbetrachtung und Welt-
wissenschaft unverstanden entgegentrat, musste zunächst prinzipiell erwo-
gen werden, wo der Begriff des Zweckes als Grundkategorie einer ganzen
Weltbetrachtung seine ursprüngliche Heimatstätte hat und welche wissen-
schaftlichen Disziplinen, vor allem welche prinzipiell zu eben dieser Heimat-
stätte gehören. Wir haben also eine durchaus notwendige Leistung vollzogen.
Wir sind zwar vom Menschen und der menschlichen Umwelt ausgegangen,
aber als wir bis zur obersten formalen Allgemeinheit aufstiegen und zum
kategorischem Imperativ, da hatten wir es mit dem rein und formal allgemei-
nen Subjekt möglichen Wertens und Handelns zu tun bekommen; und erst
nachher wieder war die Bildung eines formalen Begriffs einer Menschheit
im verallgemeinerten Sinne zu bilden notwendig geworden. Jedenfalls ist es
evident, dass wir im Voraus die letzten, absolut gültigen Prinzipien und Diszi-
plinen erreicht haben, unter denen alle mögliche und vernünftige Teleologie
stehen muss.
188 einleitung in die philosophie
selbst in Atome auf, nur besonders feine, besonders leicht bewegliche, aber
keineswegs mit prinzipiell anderen Wesenseigenschaften ausgestattete. Da-
mit fällt also auch jede teleologische Welterklärung. Es gibt nur mechanische
Naturerklärung.
Völlig konsequent ist diese Weltauffassung insofern nicht, als Demokrit
doch eine Ethik und sogar eine edle, obschon in hedonistischen Gedan-
kenkreisen sich bewegende, ausgebildet hat, wie es scheint, ohne es zu
empfinden, dass in einer Welt, in der alles Geistige unter mechanischer
Notwendigkeit steht, für einen freien ethischen Willen doch kein Raum
sein kann. Der Atomismus, begründet durch Leukipp als Materialismus
und zu systematischer Konsequenz ausgestaltet durch Demokrit, ist die
älteste historische Form einer rein naturalistischen Weltanschauung. Hatte
Anaxagoras den νο&ς von den Elementen, also geistiges Sein von Ungeis-
tigem unterschieden, so war die Scheidung insofern noch unvollkommen,
als er die Wirkungsart des Geistes auf die Elemente nicht deutlich von einer
Wirkungsart der Elemente aufeinander unterschied – der νο&ς stößt, und der
Stoß pflanzt sich fort in wirbelnden Bewegungen – und auch die Verhältnisse
beider Prinzipien zur Räumlichkeit nicht klärte. Demgegenüber schuf der
Atomismus den naturwissenschaftlichen Begriff der Materie dadurch, dass
er sich zunächst an die Räumlichkeit der gegebenen Erfahrungswelt hielt
und das Eigenwesen des räumlichen Seins als solchen herausschaute.
Mag auch Leukipp noch nicht von der durch Empedokles und Anaxagoras
versuchten Scheidung zwischen Geist und Elementen bestimmt worden sein,
so gewann diese Scheidung jedenfalls bei Demokrit Einfluss in Form einer
bewussten und wohlzuverstehenden Leugnung der Eigenart des Geistigen.
Materie ist das den leeren Raum undurchdringlich Ausfüllende und hat
keine anderen Wesensprädikate, als welche einem Ausgedehnten als solchem
zukommen, also geometrische, und vermöge der Undurchdringlichkeit und
Beweglichkeit mechanische Prädikate. Für Materie gibt es keine andere Art
der Wirkung als die durch Stoß und Gegenstoß. Wie soll aber Geistiges im
Raum stoßend wirken, mechanische Kraft üben, wenn es selbst Unräumli-
ches, Nichtmaterielles sein soll? Nur Materie kann auf Materie stoßen. Also
muss Geistiges selbst von derselben Wesensart sein wie Materielles; es muss
wie dieses aus Atomen bestehen, nur aus besonders feinen.
Freilich ist diese Lehre absurd. Niemand kann sie festhalten, der einmal
erkannt hat, dass Geistiges in innerer Anschauung mit absoluter Zweifel-
losigkeit gegeben ist und gegeben als seinem Wesen nach unausgedehnt.
Nämlich Bewusstseinserlebnisse wie ein Zorn, eine Freude, ein Urteil, ein
Wille sind doch nicht dreieckig oder kugelig, sie haben keine räumliche
194 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Ich nannte den Atomismus die erste naturalistische Weltauffassung. In der Tat,
erst durch die mit der jüngeren Naturphilosophie des Empedokles und Anaxagoras einsetzende
Scheidung von Materiellem und Geistigem wird jene Einstellung möglich, für die eine „bloße
Natur“ in unserem beschriebenen Sinne da ist. Die schärfste Ausscheidung alles Psychischen
und damit doch auch aller von den Subjekten herstammenden Wertprädikate an den Dingen,
vollzieht sich natürlich in der Form einer schroffen Negation des Geistigen in Form des Materia-
lismus. In diesem liegt also schon hinsichtlich der durchaus notwendigen Einstellung der Anfang
der Naturwissenschaft, abgesehen von der genialen Antizipation der Grundgedanken aller
mechanischen Naturerklärung mit ihrem Absehen auf eine durch rein quantitative Merkmale
bestimmte Natur und mit ihrer Scheidung zwischen dieser an sich wahren Natur gegenüber
der sinnlich erscheinenden Natur mit Sinnesqualitäten wie Farbe, Ton, die nur der subjektiven
Erscheinung angehören.
teleologie 195
kann es werden, als in welchen es faktisch werden wird. Warum ist überhaupt
diese Werdenswelt und warum wird sie so und nicht anders? In all ihrem
Werden ist sie nicht schlechthin nichts; denn wie wenig die empirischen
Aussagen jene objektive Wahrheit und Exaktheit haben, die nur Aussagen
über Ideen zukommt, es sind doch Aussagen, die etwas von Wahrheit ha-
ben. Es werden doch Prädikate den Dingen zugemessen, und alle Prädikate
weisen letztlich, bei entsprechender Reinigung, auf Ideen zurück. Dadurch
haben alle empirischen Dinge „Anteil“ an der Idee und ihrer Wahrheit.
Oder in umgekehrter Betrachtung: Ideen, wie sehr sie an sich sind, lassen
sich zum Empirischen herab, „wohnen ihm bei“, nur unvollkommen, wie
wir gehört haben, da ja das empirische Prädikat niemals eine vollkommene
Vereinzelung der entsprechenden Idee sein kann.
Nun ist aber jedes Ding in beständigem Werden. Werden, das heißt für
das Ding: seine Prädikate nicht festhalten, sondern sie wandeln, Prädikate
ablegen und neue annehmen. Also immer andere Ideen lassen sich zum
Empirischen herab, wohnen ihm bei. Die Ideenwelt bleibt also doch nicht
starr an und für sich, sie selbst tritt in Aktion, ist in Bewegung, Ideen ver-
binden sich: der Vielheit der Prädikate entsprechend, mit denen ein Ding
im Dasein entsteht und neu werdend sich neu erzeugt; sie trennen sich
wieder im Vergehen. Also Ideen müssen sich bewegen, müssen wirken und
zusammenwirken, damit so etwas wie empirisches Sein, empirisches Werden
zustande kommen kann.
Bei der scharfen Abtrennung der Ideenwelt kann es nicht sein Bewenden
haben und nicht bei der bloßen Rede von einer „Scheinwelt“, die zu sein
scheint und dabei an Ideen erinnert, mehr oder minder vollkommen sie
versinnlicht. Aber wie ist nun weiter dieses Wirken der Ideen zu verstehen?
Wie kann es dazu dienen, empirisches Werden zu erklären? Die Antwort
lautet: Das lässt sich nur teleologisch verstehen. Denken wir hier an die
wundersame Eroslehre des Symposion und Phaidros. Der hohe Eros, der
Eros im spezifischen und reinen Sinne, ist die begeisterte Liebe zu den
reinen Ideen, zu jenen urbildlichen Echtheiten, Vollkommenheiten, die sich
empirisch nur unvollkommen vereinzeln, und sie ist die Seelenhaltung, in
der am empirisch Einzelnen das Ideal erschaut und an diesem gemessen
wird. Der Eros ist also der Ausdruck für das liebende Erschauen aller Arten
absoluter Werte, und zwar ein Erschauen, in dem sie der Schauende innerlich
ganz zu eigen hat, mit ihnen ganz erfüllt und eins ist. Ist dann nicht die
notwendige Konsequenz, dass der Schauende auch zum ethischen Subjekt
im hohen und echten Sinne wird, dass er, wo und so weit es praktisch möglich
ist, das Empirische den reinen Allgemeinheiten gemäß, diesen allgemeinen
198 einleitung in die philosophie
Idealen gemäß, zu gestalten sucht? Ist es da nicht ganz verständlich, wie ein
Empirisches Eigenschaften der Idealität in wechselnder und in steigender
Vollkommenheit annimmt?
Wir können somit auch sagen: Während in der theoretischen, der rein
ontischen Einstellung Ideen, und ganz rechtmäßig, als Gegenstände an und
für sich betrachtet und erforscht werden, müssen wir sie, wenn das Werden
der empirischen Dinge durch sie „erklärt“, für uns sinnvoll verständlich
werden soll, aus ihrem theoretischen An-sich-Sein zurückversetzen in die
Subjektivität, in der sie im Falle vollster Ideenschau lebendiger Ideen im
Geiste seiende und wirkende Ideen werden. Sie wirken dann als lebendige
Ideale, als Prinzipien einer wertenden und praktischen Vernunft. Ihnen
kommen, wie Platon in der Tat sagt, Leben und Vernunft zu. Doch ist
das ein gefährlicher Ausdruck, da sie selbst ja nicht Vernunft sind, etwa
gar Vernunftsubjekte, sondern Vernunftziele, in der Subjektivität lebendig
erschaute, lebendig wirkende Ideale.
Aber nun ergeben sich neue Fragen. Die Menschensubjekte können na-
türlich nicht aufkommen für das Werden der Dingwelt. Sie wirken zwar
mit ihren Zwecken in die Welt hinein, aber in eine schon vorgegebene.
Sie machen sich an einzelnen Dingen zu schaffen; die einzelnen sind aber
nicht vereinzelt, sie ordnen sich und alle Dinge miteinander zu einem ein-
heitlichen Weltganzen, das immerfort als Ganzes vorgegeben ist und sein
empirisches Sein hat. Also der Einheit der Welt entsprechend und ihrer
zeitlichen Endlosigkeit entsprechend, in der immer schon Gestaltetes und
Prädikabeles da war, muss es eine Subjektivität sein, ein Demiurgos, die
vorzeitlich, vorempirisch, vor allem Menschendasein (das auch empirisches
Dasein ist) die Welt „geschaffen“ hat. Das heißt: Als Urquelle aller Ideenbe-
wegung, Ideenzusammenbildung zur Erwirkung von Empirischem fungierte
ein überzeitliches teleologisches Prinzip für alles Zeitliche.
Dabei1 aber bedarf es, da aus reinen Ideen für sich nur immer wieder reine
Ideengebilde erwachsen könnten, eines Prinzips der Irrationalität, eines irra-
tionalen Stoffes für die Vergeistigung durch zwecktätige Ideale, eines Stoffes,
der unideal ist und nur relativer Idealisierung fähig ist. Andererseits, die
reinen Ideen sind als Zweckideen nicht ohne teleologische Regel zu denken;
sie gliedern und ordnen sich, als teleologische Ideale gefasst, notwendig einer
Art Königreich der Ideale ein oder besser noch einer Art Sonnensystem, und
1 Randbemerkung Da wo etwas gemäß Idee erst gestaltet sein soll, dieses nicht selbst schon
die Sonne dieses Systems, von der alle anderen Ideale das Licht ihrer Idealität
empfangen (der königliche Zweck, dem alle anderen dienen), ist die Idee
des Guten.
Zu Ende gedacht, würde das jedenfalls besagen: Bleiben wir in der Rein-
heit der Idee und schließen wir noch allen irrationalen Stoff der Gestaltung
aus, so muss sich die reine Idee eines absolut vollkommenen Seins überhaupt
als des denkbar höchsten teleologischen Ideals ergeben, welches allen ande-
ren Werten als Idealen ihre dienende Funktion anweist. Es ergäbe sich dann
der korrelative Gedanke eines höchsten Subjekts – sagen wir mythisch: eines
Weltbildners –, das, lebendig in sich dieses absolute Ideal schauend und davon
geleitet, den in sich widervernünftigen Stoff gestaltet und ihm (statisch oder
in Form einer Entwicklung) die größtmögliche, etwa im zeitlichen Prozess
dem Ideal sich unbegrenzt annähernde Vollkommenheit einer Weltgestalt
gibt. Also das im wahren Sinne Seiende, das an sich und streng Seiende, ist
die „Idee des Guten“ als das lebendige, im zeitlos-ewigen Schauen geschaute
Ideal des Demiurgos. Dieses Ideal aller Ideale ist als erschaut zugleich die
unendlich wirkende Sonne; das absolute Sollen der höchsten Norm ist die
Wirkungskraft des Seins, das als empirisches Sein ausschließlich um seiner
möglichsten Güte und Schönheit ist, im Einzelnen und im Weltganzen. Dieses
ist natürlich keine Summe, sondern eine Harmonie, Einheit eines schönsten
und besten Kosmos, des bestmöglichen, des der Idee des Guten bestange-
näherten. Jedes Ding ist um seines Wertes willen und fungiert als Mittel für
höhere Zwecke; alle Kausalität ist letztlich teleologische Kausalität, jedes
Warum besagt soviel wie Wozu.
Das ist freilich keine Darstellung der platonischen Teleologie, sondern ein
Gemisch von Interpretation und Fortbildung. Aber wir wollen ja darin nicht
Geschichte, sondern philosophische Denkmotive kennenlernen. Dass zum
Beispiel bei Platon keine deutliche Scheidung zwischen dem Demiurgen und
der Idee des Guten vollzogen ist, diese Idee, die doch nicht von vornherein
eine Person bezeichnet, als Gottheit bezeichnet ist, dass man geneigt ist,
ernstlich den platonischen Gott überhaupt mit dieser Idee zu identifizieren,
das können Sie in den historischen Darstellungen nachlesen. Wichtig ist aber
für uns, das ahnungsvolle Empordrängen großer Probleme zu erschauen, die
in der ersten idealistischen Teleologie beschlossen sind.
(Fürs Erste das Problem der Individuation. Hat man, Platon folgend und
seine Ideenlehre konsequent bis zur letzten Reinheit führend, wie wir es ver-
sucht haben, in theoretischer Einstellung das Eigensein der Ideen erkannt, so
sind die Ideen exakte allgemeine Wesenheiten, und ihnen entspricht ein idea-
ler Umfang von exakten reinen Einzelheiten, z. B. die reine Idee der Kugel
200 einleitung in die philosophie
und die Allheit möglicher Kugeln überhaupt, jede eine exakte Vereinzelung
der Idee: genau wie im rein geometrischen Denken. Sowie wir uns aber
anschaulich eine Kugel vorstellen, haben wir schon keine reine Kugel mehr,
sondern ein Ungefähres. So bei allen Ideen. Wenn wir uns nun ein konkretes
Individuum und schließlich eine individuelle Welt denken, können wir sie
anders denken als in dieser Spannung zwischen Ungefährem und einer rein
idealen, aber eben nur in der Idee gedachten exakten Vereinzelung reiner
Allgemeinheiten? Weist uns diese Spannung nicht zurück auf eine mögliche
erkennende Subjektivität, die das notwendige Korrelat ist für eine Welt, und
müssen nicht von da aus die Normen der möglichen Individualität gefunden
werden?)
Fürs Erste. Ein Problem muss werden das allgemeine Motiv, das als Ver-
nunftmotiv zu einer teleologischen Welterklärung drängt. Vernunftmotive
drängen gewiss auch zu einer naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung. Ihr
Ziel ist kausale Erklärung alles Naturgeschehens. Gibt es innere Gründe,
wirkliche Vernunftgründe, welche die Erkenntnis bei dieser doch zugestan-
denermaßen sehr notwendigen Erklärungsleistung unbefriedigt lassen und
ein plus ultra fordern? Wir sagten: Platon hätte noch keine Möglichkeit
einer objektiven Naturwissenschaft ersehen können und sei als Schüler des
Sokrates bei seiner großen geistigen Blickrichtung von vornherein auf eine
teleologische Weltbetrachtung hingewiesen worden.
Hätte sich für ihn aber eine solche erübrigt, wenn ihm seine Zeit und
etwa Demokrit eine wirklich objektive Naturwissenschaft dargeboten hätte?
War die Teleologie für ihn eine Notauskunft? Ich meine nicht. Sicherlich
hätte er gesagt, Naturwissenschaft sei freilich eine schöne und gute Sache;
in ihrer Art erkläre sie die Naturvorgänge ausgezeichnet; aber mit all ihrem
schönen Erklären machte sie doch nichts verständlich, eine noch so weit
und so gut kausal erklärte Welt sei noch in keinem Punkt eine verständliche
Welt. Wäre aber eine unverständliche Welt nicht ein Sinnloses? Nur im Reich
des Geistes gebe es ein echtes, ein verstehendes Erklären, nur so weit eine
geistige Begründung reicht, ist das auf die Frage „Warum?“ antwortende
Weil ein die Einsicht voll befriedigendes. So in jeder deduktiven theore-
tischen Begründung, etwa im Beweisen eines mathematischen Lehrsatzes,
dessen Wahrheit wir einsehen, weil sie einsichtig motiviert ist durch die axio-
matisch eingesehenen Gründe.1 Und ebenso in der axiologisch-praktischen
Sphäre: Warum ein Werk der schönen Kunst da ist und so ist, gestaltet in
1 Randbemerkung Weil ich so urteile, urteile ich und muss ich vernünftigerweise so urteilen.
teleologie 201
diesen Schönheiten, die ihm nun faktisch eignen, oder ein Werk der Technik,
warum es die und die Zweckmäßigkeiten hat, das ist verständlich, weil ein
schöpferisches Subjekt es um dieser Schönheiten oder Zweckmäßigkeiten
willen gestaltet, also die und die Mittel angewendet, die und die minderen
Möglichkeiten ausgeschieden hat. Der Künstler muss dabei mit mancherlei
vorgegebenen Naturtatsachen rechnen, aber genau so weit, als die bloße
Naturtatsache reicht, reicht auch das Unverständnis.
„Bloße“ Natur, etwa gar als bloß physische Natur betrachten, das heißt
gleichsam den Geist und damit alle geistige Erklärung stilllegen. Natur-
wissenschaftlich erklären heißt Tatsachen auf Tatsachen zurückführen, aus
einzelnen Tatsachen und ihrem regelmäßigen Erfahrungsgang Tatsachen-
regeln induzierend und formulierend abstrahieren und dann immer neue
Einzeltatsachen des passenden Typus auf solche ein für allemal formulierten
Gesetze zurückführen. Es sind Regeln vernünftiger Erwartung, Regeln nach
denen man das künftige Geschehen voraussehen und sich danach richten
kann. Aber diese Regeln oder Gesetze, selbst wenn sie methodisch die
Form der Exaktheit erlangt haben und eine an sich seiende wahre Natur
ausdrücken, sind doch selbst bloße Fakta, die anders sein könnten. Warum
haben die Naturdinge gerade diese und keine andere Gesetzesgestalt? Und
dann erst recht: Warum bilden sich gerade diese Dingindividuen und warum
ergeben sie gerade diesen individuell bestimmten Einheitszusammenhang
der gegebenen Natur? Sollte die Frage nach diesem Warum keine vernünftig
zu stellende sein? Sollte es also neben der Frage nach den Naturursachen,
d. i. nach erklärenden Kausalgesetzen, kein plus ultra mehr geben? Aber
gibt es nicht ein Fragen nach geistigen Gründen, wofür wir vorhin Beispiele
gegeben haben, und sind sie nicht wesentlich anders gerichtet? Sind sie nicht
die einzigen, um es zu wiederholen, die eine einsichtige, und das heißt eben
eine wirklich aufklärende Antwort zulassen?
So hätte Platon wohl seinen Übergang in die teleologische Welterklärung
gerechtfertigt; er hätte sie aus dem Postulat einer verstehenden Welter-
klärung abgeleitet. Und dieses Postulat selbst hätte er als das schlechthin
unablässige der Erkenntnis, als ihr höchstes und letztes und somit auch
als das letzte Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis charakterisiert. Auf
dieses Ziel hinzuarbeiten, nach ihm alle besondere Wissenschaft zu diri-
gieren, sei die Aufgabe der Dialektik, denn dies ist der Name, den Platon
für die im Rang höchste Wissenschaft von der wahren Wirklichkeit, für
die Wissenschaft, die die höchsten Erkenntnisziele vertritt, gebraucht, wäh-
rend später das Wort „Metaphysik“ gebräuchlich und herrschend geworden
ist.
202 einleitung in die philosophie
Das Fundament unserer letzten Betrachtung war der durch sie hindurch-
gehende Kontrast zwischen natürlichem und geistigem Erklären, zwischen
der Bestimmung von Tatsachen nach Kausalität, also unter Rekurs auf Tatsa-
chengesetze, und der Bestimmung von Tatsachen nach geistiger Motivation,
also im Rekurs auf Verständnis gebende geistige Zusammenhänge. Indes-
sen, für das historische Bewusstsein der Menschheit konnte dieser Kontrast
zur Abhebung erst kommen und dann historisch bestimmend erst werden,
nachdem eine leistungsfähige Naturwissenschaft da war. Aber freilich blen-
dete sie, nachdem sie es war, durch die Größe ihrer Leistungen und die
Unendlichkeit weiter zu ergreifender Leistungen so sehr und leitete sie so
sehr das theoretische Interesse in diese Linien der Naturerklärung, dass
die Tendenz auf geistiges Verstehen darunter leiden musste und zeitweise
ganz zu verkümmern drohte. Darüber werden wir noch zu sprechen haben.
Vorläufig genüge, dass wir recht deutlich die innere Kraft und den Stachel
des Problems empfinden.1,2
Soll alles weltliche Dasein verständlich sein, so muss alles als zwecktätig
entsprungen sein, ja wenn das zwecktätige Machen die einzig mögliche Erklä-
rungsweise bietet. Genügt dazu nicht die Annahme, dass ein Einzelsubjekt
in der Welt zwecktätig wirke, nur viel weiter als wir, so weit, dass alles außer
ihm zwecktätig entsprungen wäre? Aber das scheint nicht zu gehen. Denn
das Problem ist ja nicht, überhaupt Verständlichkeiten zu gewinnen – die
bietet uns schon die Tatsache, dass Subjekte in der Welt wirken –, sondern
die ganze Welt als eine verständliche vorstellig zu machen.3 Ein Subjekt in
der Welt ist ein irrationales Faktum. Es ist hier und könnte dort sein, es ist in
dieser Stellung zu den anderen Dingen und Subjekten, es könnte in anderer
sein. Ein solches Subjekt führt also selbst das Problem des teleologischen
Motivation nicht gerade teleologisch im gewöhnlichen Sinne sein muss: nach der Kategorie des
zwecktätigen Machens.
2 Gestrichen 2) Die vor der Naturwissenschaft und eben durch ihr Fehlen sich auswirkende
Tendenz auf verstehende Welterklärung hatte selbstverständlich die Form der Teleologie. Denn
in der natürlichen, objektiven Einstellung ist der Blick auf objektive, reale Tatsachen gerichtet.
Soweit wir aber, obschon immer nur beschränkt, reale Tatsachen verstehen, verstehen wir sie
als zweckvoll gewordene. Ein verstehbares äußeres Werden ist undenkbar, wenn nicht als ein
willentliches und durch Willensmotive bestimmtes im Handeln. Aber hier müssen wir uns das
im Voraus schon früher angedeutete Problem, ja die Mehrheit von Problemen, klarmachen, die
eine kosmische Teleologie mit sich führt.
3 Randbemerkung Unterschieden muss werden: zwecktätiges und überhaupt verstehendes
Erklären subjektiv menschlichen Tuns und menschlicher Tätigkeiten und Werke, wobei eine
Natur vorausgesetzt ist als Umwelt und verstehende Erklärung der Natur selbst.
teleologie 203
Grundes mit sich. Muss also das Subjekt einer das Weltall mit allen seinen
Faktizitäten umspannenden Teleologie ein überweltliches sein, so ergibt sich
das Problem, wie ein solches Subjekt als möglich zu denken ist, welches a
priori die Bedingungen seiner Wesensmöglichkeit sind. Wie kann das Weltall
Bewusstseins- und Wirkungsgebiet einer Subjektivität sein, die nicht selbst
dem Weltall angehört?
Weiter dann: Jedes Subjekt der Erfahrung ist verständlich in seinem ver-
ständlichen Wirken. Aber jedes hat seine faktischen Dispositionen, Charak-
teranlagen usw. und entwickelt sich in seiner Lage faktisch zu gerade dieser
empirischen Person. Alles Faktische steht aber als in sich Unverständliches
unter der teleologischen Frage des Warum. Das teleologische Weltsubjekt
kann also nicht bloß die physische Natur gestaltet haben, es muss auch alle
solche Naturanlagen gestaltet haben; es selbst aber kann keine haben, es
kann nicht eine seelische Natur wie der Mensch haben, die den Charakter
eines Faktums hat, es müsste „reiner“ Geist sein, eine geistige Wesensart, die
durch sich selbst „notwendig ist“, durch und durch teleologisch gefordert ist.
Die Frage ist natürlich die, wie solche Postulate einsichtig denkbar gemacht
werden sollen; speziell wird gefragt werden müssen, ob denn wirklich, wie es
zunächst scheinen möchte, das Weltsubjekt sich selbst zwecktätig gestaltet
haben muss, was doch einen circulus vitiosus befürchten lässt. Ob nicht
vielmehr eine doppelte Teleologie zu Zwecken vollkommener Verständ-
lichkeit gefordert ist, eine objektive Teleologie, die der geschaffenen Welt
(die der natura naturata), und die subjektive Teleologie, d. h. die der voll
zu verstehenden Wesensart einer Welt schaffenden Subjektivität, die nach
allen ihren psychischen Seiten notwendig so ist, wie sie ist, weil sie alle durch
die Möglichkeit einer vollkommenen Schöpfung unablässig gefordert sind;
und diese Notwendigkeit ist dann nicht die eines unverständlichen Faktums,
sondern die einer verstehbaren Vernunftforderung.
Weitere Fragen wären die nach dem Verhältnis des Weltsubjekts zu den
endlichen Einzelsubjekten, deren jedes doch seinen Lichtkreis der verständ-
lichen Wirkungen hat. Ist das individuelle Vernunftleben zu denken als ein
Strahl des göttlichen Vernunftlebens? Ist das Individuum ein Medium des
göttlichen Wirkens? Ist die menschliche Gemeinschaft und die menschliche
Kultur gewissermaßen der göttliche Acker? Ist der Prozess der Menschheits-
geschichte, der irdischen und eventuell der parallelen auf den unbekannten
Gestirnregionen ein sinnvoll gewirkter Zusammenhang? Und muss eine
individuelle Welt aus teleologischen Gründen eine zeitliche sein und dann
also eine Einheit der Entwicklung? Und endlich: Kann eine Zeitwelt anders
eine teleologische sein, denn in Form einer Entwicklung gegen Ideen hin?
204 einleitung in die philosophie
In der letzten Vorlesung waren wir nach Zeichnung des Typus der platoni-
schen Teleologie darangegangen, zu erwägen, was dazugehören müsste, um
eine solche mythisch gestaltete Weltanschauung in eine wissenschaftliche
zu wandeln. Wir fragten also nach wissenschaftlichen Problemen, die von der
Idee einer Teleologie her aufgegeben sind, Problemen, von deren Lösung
es abhängen muss, ob eine teleologische Weltbetrachtung überhaupt ein
wissenschaftliches Recht hat und, wenn dies der Fall sei, welcher Weg und
welcher Wissenschaftsboden ihr a priori vorgezeichnet sei.
1) Als Erstes besprachen wir den höchst bedeutsamen Gegensatz zwi-
schen natürlicher Erklärung und geistiger oder verstehender Erklärung. Die
eine erklärt aus Ursachen, die andere aus verstehbaren Gründen. Dieser
Gegensatz bedarf – das ist ein Problem für sich – der tiefsten Erforschung,
und das hat schon für die Klärung des Gegensatzes der Naturwissenschaften
und Geisteswissenschaften eine außerordentliche Bedeutung. Es kommt
nun für uns auf die Tragweite der verstehenden Erklärung an, anderer-
seits auf die Grundformen verstehbarer Gründe und welche Rolle dabei
teleologische Gründe, Zwecke und Mittel spielen. Was das eine anlangt, so
gehen wir in der Durchforschung der Umwelt bald naturwissenschaftlich,
bald geisteswissenschaftlich vor. In der naturwissenschaftlichen Einstellung
finden wir Natur und finden überall in der physischen und psychophy-
sischen Natur Anreize, kausale Fragen zu stellen. Andererseits, wo wir
Personen betrachten, die als geistige Subjekte ihre Umwelt erfahrungsmä-
ßig vorfinden und zu der erfahrenen Umwelt Stellung nehmen, sich im
Werten und Wollen von ihr bestimmen lassen, wo wir dann in weiterer
Folge personale Gemeinschaften und ihre Kultur betrachten, da suchen
wir verstehende Erklärung, wir suchen nach Motiven, aus denen sich das
personale Verhalten und die personalen Gebilde, die Kulturerzeugnisse, die
Konstitution von Gemeinschaften verstehen lassen. Offenbar haben bei-
derlei Erklärungsweisen, in den Zusammenhängen in denen sie auftreten,
ihr Recht: die naturwissenschaftliche in der Erforschung der Natur, die
geisteswissenschaftliche in der Sphäre personalen Lebens, Wirkens, Leis-
tens.
Nun ergibt sich aber die Frage der Tragweite. Eine teleologische Welter-
klärung will das Weltall, das ist doch wohl alles und jedes, verstehend erklä-
ren. Wenn sie nicht mehr, wie es noch im Falle Platons vorlag, das Recht einer
kausalen Naturforschung bestreiten kann, so wird es zum Problem, wie sie in
ihrer Universalität die naturwissenschaftliche umgreifen kann. Mit anderen
Worten: Das Faktum der Natur und Naturkausalität, umschrieben in den
faktisch geltenden obersten Naturgesetzen, ist das Ziel aller wissenschaft-
teleologie 205
1 Gestrichen Dieses Faktum selbst und vor allem die Allheit der Naturgesetze zu entde-
und Denken und so auch nicht für sein Handeln, der vielmehr denkend sich
die Dinge selbst gibt; sein urbildliches Denken ist zugleich ein sie Schaffen.
Wir können solche Unterschiede in Worten definieren, aber die Frage ist,
ob sie sinnvolle Möglichkeiten sind. Und natürlich betrifft das den durch
keine Erfahrungsanschauung exemplifizierten intellectus archetypus. Jeder
Mathematiker weiß, wie viel und wie exakt man begrifflich definieren kann,
wie viel aber von dem exakt Definierten als evident widersinnig herauszu-
stellen ist. Daher die Forderung, an die der Mathematiker sich streng bindet,
jeder Definition einen „Existenz“-Beweis beizufügen. Das gilt aber nicht
nur für die Mathematik.
Lässt sich die Möglichkeit eines Denkens, das zugleich Schaffen ist, und
zwar Schaffen ohne ein dem Denkenden schon vorgegebenes Reales, als
eine gültige nachweisen? Es1 ist klar, dass streng wissenschaftliche Fragestel-
lungen und Antworten hier nur zu gewinnen sind, wenn wir auf die syste-
matische Wissenschaft zurückgehen, auf die die hier auftretenden Begriffe
uns verweisen. Man operiert mit Subjektbegriffen und Weltbegriffen, man
wandelt die der Erfahrung abgenommenen Begriffe ab, und das soll im Rah-
men rechtmäßiger Möglichkeiten verbleiben. Der Begriff der Subjektivität
ist ursprünglich von uns selbst abgenommen; jeder andere Subjektbegriff,
also auch der eines „archetypischen“ Intellekts oder sonst eines für eine
Weltteleologie zu konstruierenden Subjekts, kann nur gewonnen werden
durch eine a priori als Möglichkeit einzusehende Abwandlung des ursprüng-
lichen Begriffs. Dasselbe gilt vom Weltbegriff. Handelt es sich uns auch um
Erklärung der gegebenen Welt, so soll doch das schöpferische Subjekt schon
vor der gegebenen Welt sein; und das führt auf die Frage, inwiefern die
empirische Beziehung, die wir bei dem Typus „Mensch“ auf seine Umwelt
finden, Notwendigkeit enthält, inwiefern wir die Umwelt abgewandelt und
eventuell weggestrichen denken können, ohne dass das Subjekt selbst davon
wesentlich betroffen und schließlich weggestrichen wäre. Also wir müssen
aus der Empirie in eine exakte apriorische Betrachtung übergehen.
Selbstverständlich genügt nun aber nicht, dass wir uns mit dem vagen
Begriff menschlicher Subjektivität begnügen bzw. von ihrer Erhebung in
die Wesensallgemeinheit reden. Es bedarf also eines systematischen wissen-
schaftlichen Studiums, das die Subjektivität nach allen apriorischen Erfor-
dernissen des Ich, des mannigfaltigen Ich-Erlebens, der Empfindungsdaten
des Bewusstseinslebens, der sinnlichen Gefühle, der Akte, andererseits aber
auch der möglichen gegenständlichen Gegebenheiten durchforscht. Dabei
muss auf der Seite der einem Ich vorstelligen Gegenständlichkeiten selbst-
verständlich Freiheit der ideellen Abwandlung walten, also im Ausgang von
dem Menschen und seiner räumlich-zeitlichen Welt muss diese frei gewan-
delt gedacht werden bis zur Grenze der Annullierung, wobei also auch das
Ich im Grenzfall versuchsweise als leibloses vorstellig wäre. Ganz ähnlich
wie ein Geometer seine Raumgestalten sich frei wandeln lässt und exakte
Begriffe und Grundsätze gewinnt, welche die Normen idealer geometrischer
Möglichkeiten werden, so müsste hier verfahren werden.
Es handelt sich also keineswegs um eine naturwissenschaftliche Seelen-
lehre, die sich ja an das Faktum der Welt bindet, sondern um eine apriorische
Wissenschaft von der Subjektivität überhaupt und ihrem Bewusstsein über-
haupt und möglichen Bewusstseinsgegenständlichkeiten überhaupt. Ganz
fremd ist uns diese Wissenschaft nicht, obschon sie bisher immer im dunklen
Hintergrund verblieb: Wir stoßen ja bei allen logischen, axiologischen und
ethischen Wissenschaftslehren auf noetische Disziplinen, die von der Sub-
jektivität als vorstellender und denkender, wertender und wollender und wir-
kender handeln, aber in einer Allgemeinheit, die als formale nichts vom Be-
stand der faktischen Welt und der faktischen Menschlichkeit in sich schließt.
Ohne diese Wissenschaft, sahen wir schon, schwebt der Begriffsgehalt und
somit der ganze theoretische Wert einer Weltteleologie und noch allgemeiner
einer verstehenden Welterklärung überhaupt in der Luft.1 Nur von dieser
Wissenschaft her kann letztlich der Sinn einer verstehenden Welterklärung
rechtmäßig gestaltet und ihr methodischer Typus herausgestellt werden, also
auch die bestimmte Methode, sie für unsere Welt objektiv wissenschaftlich
zu begründen. Das zentrale Problem wird hier das der apriorischen Notwen-
digkeiten, welche die Korrelation zwischen Subjektivität und Objektivität
beherrschen. Kann überhaupt eine daseiende Welt außer aller Beziehung
zu einer Subjektivität gedacht werden, kann sie sein, ohne von der Sub-
jektivität her ihren Sinn empfangen zu haben? Weist jede mögliche Welt
notwendig zurück auf eine Subjektivität, deren Sinngebung sie allererst als
eine Art Subjektleistung konstituiert hat, so wäre damit schon der Weg einer
verstehenden Welterklärung vorgezeichnet. Aber wir sind noch nicht vor-
bereitet, den kühnen und für einen ersten Augenblick abstrusen Gedanken
des Phänomenalismus zu verstehen, der alle weltlichen Wirklichkeiten in
Subjektgebilde umdeutet.
1 Gestrichen Ohne sie kann man nicht wissen, ob die Begriffe nicht mit Widersinn behaftet
sind. Das gilt in der Tat nicht nur für die bisher erwogenen problematischen Gedanken, sondern
für alle anderen noch zu erwägenden.
teleologie 209
keine echten Wissenschaften sind. Sie vollziehen nur eine Vorarbeit für die
wahrhaft wissenschaftliche Leistung, die in teleologischer Erklärung liegt.
Zweifellos würde Aristoteles auch die moderne exakte Naturwissenschaft,
wenn sie in seinem Gesichtsfeld gelegen hätte, nicht als echte Wissenschaft
anerkannt haben. Jedes Naturgeschehen, die geringfügigste Veränderung,
die irgendwo und irgendwann auftritt, ist nach ihrer Lehre in strenger Kau-
salität bestimmt. Das heißt, sie ist abhängig von ihren Umständen, und unter
diesen Umständen nach strengen Gesetzen eindeutig bestimmt. Diese Ver-
änderungsgesetze nennen die Naturforscher „Kausalgesetze“, und „kausale
Erklärung“ nennen sie den Nachweis, dass ein hic et nunc statthabendes
Ereignis eintreten musste, weil die und die Kausalgesetze gelten, die unter
gleichartigen Umständen eine so geartete Folge allgemein aussagen.
Aber Aristoteles würde diese Leistung naturwissenschaftlicher Kausaler-
klärung nie und nimmer als eine philosophische, als eine im wahren Sinne
wissenschaftliche anerkannt haben. Er hätte gesagt: Die Erkenntnis, die wir
in den Naturgesetzen gewinnen, ist nichts weiter als die Erkenntnis einer
aufgrund der Erfahrung und Induktion gewonnenen Beschreibung einer
faktischen allgemeinen Regelform des Naturgeschehens.1 In der kausalen
Erklärung wird das jeweilige einzelne Geschehen der vorher erkannten allge-
meinen Regel untergeordnet. Damit wird sie uns freilich sehr nützlich, da wir
nun in der Lage sind, aufgrund der gegebenen Umstände das als gesetzliche
Folge zu Erwartende mit Sicherheit vorauszusehen. Unsere Erkenntnis wird
auch insofern bereichert, als es gewiss von großem Interesse ist, die feste
Regelordnung der Natur kennenzulernen, der sich an seiner Stelle jedes
besondere Geschehen unbedingt fügt. Aber eine Erkenntnis aus dem Grund
haben wir damit nicht. Denn wir haben nur die besondere Tatsache auf
eine allgemeine Tatsache zurückgeführt. Erst wenn wir verständlich machen
könnten, warum diese allgemeine Tatsache gilt, warum gerade diese und
keine anderen Naturgesetzen gelten, hätten wir eine echte Erklärung auch
für den besonderen Fall.
Jede bloße Tatsache ist nach dieser Auffassung unverständlich, eine allge-
meine ebenso wie eine individuelle. Sie könnte auch anders sein. Warum
sie so und nicht anders ist, das muss seinen Grund haben, und es gibt
keinen anderen verständlichen Grund als einen geistigen Grund. Und das
führt notwendig auf Zwecke und zwecksetzende Vernunft. So ist echte Wis-
senschaft teleologische Wissenschaft. Ihre Prinzipien behandelt die „Erste
1 Randbemerkung Vgl. Parallele für Platon Bl. 168 ff. = S. 200 ff..
212 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Zu ausführlich.
rationalismus und empirismus 215
sondern dass eine Weltwissenschaft die Prätention mit sich führen muss, alle
Einzelerkenntnisse unter prinzipiellen Gesichtspunkten zu vereinheitlichen
und einheitlich zu begründen. Mit all dem ist schon vorgedeutet, dass nach
Sonderung von Einzelwissenschaften und Benennung derselben mit Sonder-
namen die Rede von Philosophie immerfort die Funktion behalten muss, auf
das Letztvereinheitlichende hinzudeuten, auf das, was allen Sondererkennt-
nissen in der ersehnten Einheit einer universalen Welterkenntnis Bedeutung
und Funktion gibt, also auf das Letztvereinheitlichende nach Methode und
Sache. Vorgedeutet, aber noch in ganz allgemeiner und vager Weise, ist so
schon auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit späterer Differenzierung der
Begriffe „Wissenschaft“ und „Philosophie“: „Wissenschaft“ als ein Titel,
der auch schon jeder abzusondernden theoretischen Disziplin zugesprochen
werden kann. Philosophie aber als ein Titel, der all das auszeichnet, ….1
Nachdem wir uns den ursprünglichen und die Entwicklung der Phi-
losophie des ganzen Altertums beherrschenden, aber auch in die Neuzeit
hineinwirkenden Begriff der Philosophie wieder näher gebracht haben, ge-
hen wir an die Kennzeichnung des ursprünglichen Gegensatzes zwischen
1 Das anschließende Textstück wurde von Husserl gestrichen: was in der Linie des Interesses
an Einheitlichkeit und Vollkommenheit der Welterkenntnis liegt. Gehen wir nun an den ur-
sprünglichen Gegensatz von Empirismus und Rationalismus. Die Entwicklung philosophischer
Systeme wird beständig begleitet von der parallelen Entwicklung von Skeptizismen, die aus
den Gegensätzen der Systeme ihre Nahrung ziehen und sie als Geister der Verneinung beglei-
ten. Diese Kritik ist ein höchst wichtiges Ferment für alle wissenschaftlichen Entwicklungen.
Was wir „Empirismus“, „Positivismus“ und „Agnostizismus“ nennen, das sind nun besondere
Gestaltungen des Skeptizismus. Überlegen wir den ersten und ursprünglichsten Gegensatz von
Empirismus und Rationalismus. Mit der ersten Ausbildung der Philosophie ist alsbald ein gewis-
ser Gegensatz aufgerichtet zwischen rationaler und empirischer Erkenntnis. Der Alltagsmensch,
der von Wissenschaft nichts weiß, folgt der bloßen Erfahrung und der ihr blind entsprungenen
vagen Meinung. Die Vernunft in Form der Wissenschaft schafft mit Anspruch auf eine höhere
Würde Gedanken, die diesen natürlich gewachsenen Erfahrungsmeinungen widersprechen, sie
als Sinnträger, als klares Glauben entwerten. Die Welt, so sagt die griechische Philosophie
von Anfang an, die in rationaler Wahrheit ist, ist eine ganz andere als die Sinnenwelt. Dieser
allgemeine Gegensatz zwischen Vernunft und Erfahrung nimmt vermöge der methodischen
Reflexionen, welche die Entwicklung der Wissenschaft begleiten, immer neuen Gehalt an, so
im Platonismus die Form des Gegensatzes zwischen eidetischer Erkenntnis und sinnlicher Er-
kenntnis. Aber es bleibt dabei, dass die rationale Erkenntnis Gegenstände, die keine Erfahrung
kennenlernt, als vernünftig geforderte behauptet. In diesem Sinne war zunächst alle Philosophie
rationalistisch. Selbst der Materialismus.
216 einleitung in die philosophie
dem Physischen der bloß sinnlichen Erscheinung oder Erfahrung ein Über-
sinnliches lehrt.) Und gegen diesen Rationalismus wendet sich dann der
Empirismus, wenn wir eben das letztere moderne Wort in diesem Kontrast
einführen sollen. Historisch aber wäre zu sagen, dass der Skeptizismus im
Altertum sich nach Überwindung des extremen Skeptizismus der Sophistik in
gemäßigten Formen durch das ganze Altertum hindurchzieht, verschiedene
Entwicklungsgestalten annimmt und schließlich bei den sogenannten medizi-
nischen Empirikern im 4. Jahrhundert speziell die uns jetzt interessierende
Gestalt jenes Empirismus annimmt, der in der Tat als die antike Vorform des
neuzeitlichen Empirismus oder Positivismus gelten muss.
Nämlich diese Mediziner sind im antiken Sinne Skeptiker, sofern sie sich
gegen das, was damals „Philosophie“ hieß, wendeten. Philosophie und Wis-
senschaft waren aber ungeschieden eins, und so erschienen sie als Bestreiter
der Wissenschaft. Was sie verwarfen, war die Möglichkeit jeder Erkenntnis,
die mit der Prätention der Wissenschaft, erfahrungstranszendente Reali-
täten zu erkennen, vorgab. Wofür sie aber eintraten und was sie als ein
Neues forderten, ist gerade das, was wir „moderne Erfahrungswissenschaft“
nennen würden, nämlich eine Erkenntnis in rein methodischer Bearbeitung
der Erfahrung, die in ihrem Sinn nie über den Bereich möglicher Erfah-
rungsgegenstände hinausführen kann. Das Nichterfahrene, auf das ein Erfah-
rungsschluss führt, ist jedenfalls doch Erfahrbares, nie ein Transzendentes,
wie aristotelische Formen oder Leukipp’sche Atome.1 Die medizinischen
Empiriker fordern also gegenüber der bisherigen, durchaus transzendent
gerichteten Wissenschaft eine rein immanente Erfahrungswissenschaft.
Dieser antike Empirismus ist noch in einem besonderen Sinne anti-
rationalistisch. Der Platonismus hatte gelehrt, dass die reine Vernunft, d. i.
die von aller Beimengung mit Sinnlichkeit sich völlig befreiende, die Ideen
als ihr eigentümliche Wesenheiten erschaue. Selbstverständlich leugnet der
Empirismus die Ideen, sofern sie eben allgemein als transzendente Realitäten
interpretiert wurden. In dieser Art steht also der Empirismus auch gegen den
Apriorismus in Gegensatz. Wir werden hören, dass der neuzeitliche Empiris-
mus in der Regel, aber nicht immer in diesem Sinne anti-rationalistisch war.
Genauer gesprochen: Die Leugnung einer wissenschaftlichen Erkenntnis
transzendenter Realitäten, die das Wesentliche des Empirismus ist, betrifft
1 Gestrichen Dieser Empirismus heißt auch in der Gegenwart Positivismus, weil diejenige
Wissenschaft, die er anzuerkennen beflissen ist, ausschließlich positive Wissenschaft ist (ein
Wort, das seinerseits dasselbe besagt wie pure, reine immanente Erfahrungswissenschaft).
218 einleitung in die philosophie
die Ideen und apriorische ideale Erkenntnis nicht mehr, wenn diese Erkennt-
nis eben nicht mehr als transzendente Erkenntnis, die Ideen also nicht mehr
als überempirische Realitäten interpretiert wurden. Aber freilich witterte
der Empirismus in der Regel hinter jeder apriorischen Erkenntnis eine
solche Hypostasierung der Ideen zu Realitäten und so kommt es bis zum
heutigen Tag, dass die Positivisten sich viel darauf zugute tun, jedes Apriori
zu bestreiten.
Ich erwähne schließlich noch, dass „Positivismus“ wesentlich dasselbe
besagt wie „Empirismus“. Das Wort weist hin auf die positive Wissenschaft
als diejenige, die allein anzuerkennen sei. Der Ausdruck „positive Wissen-
schaft“ besagt aber wieder nichts anders als den Kontrast gegen Metaphysik,
gegen erfahrungstranszendente Wissenschaft; also so viel wie Wissenschaft,
die sich rein auf dem Boden möglicher Erfahrung bewegt.
Machen wir nun von diesen historisch-sachlichen Begriffserörterungen
den Übergang zur ideengeschichtlichen Behandlung der Entwicklung der
neueren Naturwissenschaften und ihrer Wirkung auf den Ursprung der
neuen Philosophie.
Der antike Empirismus, der medizinische Empirismus, wurde von uns als
eine bloße Vorform des modernen Empirismus genannt. In der Tat ist die
positive Naturwissenschaft, die er allein kennt und gelten lässt, keineswegs
schon von der Art moderner Erfahrungswissenschaft, die als Physik doch
Atome, Ionen, Äther u. dgl. außerhalb der Erfahrung liegende Transzen-
denzen benützt. Und trotzdem wollen beide anti-metaphysisch sein. Und in
Zusammenhang damit ist auch zu sagen, dass die antike Naturwissenschaft
von einer exakten mathematisch zu formulierenden Naturkausalität, von
einer unter mathematischen Naturgesetzen stehenden und in gewissem guten
Sinne übersinnlichen Natur nichts wusste, zumindest wenn wir von geringen
Ansätzen absehen. Eben diese neue exakte Naturwissenschaft interessiert
uns aber. Nur sie war befähigt, eine Epoche in der philosophischen Erkennt-
nis zu bewirken, ihren gesamten Entwicklungsgang völlig neu zu bestimmen.
Nur in einem Sinne hat die empiristische Geisteshaltung in den medizi-
nischen Kreisen eine wesentliche Vorarbeit für die echte Naturwissenschaft
geleistet. Nach unseren früher gewonnenen Einsichten ist für die Natur-
wissenschaft überhaupt eine eigentümliche Einstellung vorausgesetzt, in der
von allen Prädikaten geistiger Bedeutung abgesehen wird. Dem kam die anti-
metaphysische Haltung der Empiristen, ihre Ablehnung aller teleologischen
Interpretationen, entgegen. Ihre Einstellung war schon eine rein sachhafte,
rein naturale. Das spätere Altertum bringt hier aber keine Fortentwicklun-
gen; das religiöse und theologische Interesse überwuchert und erstickt alles
rationalismus und empirismus 219
1 Gestrichen Zunächst herrscht also nichts weniger vor denn eine die metaphysische und die
1 Gestrichen Man gliedert das Reich möglicher Erkenntnis, man sucht seine natürlichen
innerlichen Demarkationen zu bestimmen und geht mit leidenschaftlichem Eifer an die Arbeit.
Ihr Ziel lautet: exakte Wissenschaft.
2 Randbemerkung Bis hier Vorlesung.
222 einleitung in die philosophie
gleichen methodischen Typus sein mussten oder, was dasselbe besagt, dass
jede Wissenschaft, auf welches Gebiet sie sich auch beziehe, von derselben
logischen Gestalt sein muss. Wenn diese Zeit schon über wissenschaftstheo-
retische Einsichten verfügte, wenn sie im Besitz einer weiten und frucht-
baren Logik schon gewesen wäre, dann wäre sie von vornherein nicht so
nachahmungseifrig gewesen. Sie hätte gewusst, dass jede abgeschlossene
Erkenntnisregion notwendig ihre eigentümliche methodische Gestalt hat
und dass über alle Regionen hinaus nur der allgemeine methodische Bestand
reicht, den die formale Logik und formale Ontologie umspannt.
Aber wir müssen bedenken, dass all die wissenschaftstheoretischen Ein-
sichten, die wir uns in den früheren Vorlesungen erarbeitet haben, nur in
Form unscheinbarer keimhafter Ansätze im Altertum vorgedeutet waren
und dass ihre volle Entwicklung erst in der neueren und neuesten Zeit
möglich geworden ist. Man hatte also noch gar keine Logik, und der be-
ständige Ruf nach einer methodologischen Reform sprach sich auch aus im
Ruf nach einer neuen Logik, einer immerfort und bis in unsere Zeit hinein
mehr gesuchten als erzielten Logik. So orientiert man sich also ziemlich
äußerlich an dem methodologischen Typus der neuen Naturwissenschaft,
deren methodische Art Text bricht ab
Wir begannen in der letzten Vorlesung die mächtigen Rückwirkungen
zu besprechen, welche der Durchbruch der exakten mathematischen Na-
turwissenschaft schon nach den ersten astronomischen und mechanischen
Theorien auf die Philosophie zu üben begann, wobei daran zu erinnern ist,
dass der antike Universalbegriff der Philosophie in der Renaissance wieder
aufgelebt war und dass diese Zeiten von einem geradezu leidenschaftlichen
Streben nach allumfassender wissenschaftlicher Erkenntnis getragen waren.
Rasch erwarb sich die neue Naturwissenschaft unbedingtes Vertrauen; sie
wurde zum bewunderten Vorbild, nach dem man im weiteren und weitesten
Bereich möglicher Erkenntnis strenge Wissenschaften begründen, nach dem
man in den schon bearbeiteten Bereichen die vermeinten Wissenschaften
reformieren muss. Das lange und leidenschaftliche Bemühen um die wahre
Erkenntnismethode, die man der verachteten scholastischen Methode gegen-
übersetzen, mit der man sich über das Durcheinander antiker Philosophien
und phantastischer Eklektizismen hinausheben und zu einer originalen und
völlig strengen Neubegründung der Wissenschaften kommen konnte, schien
sein Ziel erreicht zu haben. Die naturwissenschaftliche Methode ist die wahre
Methode der Philosophie, der Welterkenntnis überhaupt. Die menschliche
Vernunft ist, sagte man sich, eine in allen möglichen Wissenschaften, also
muss auch die Methode eine sein.
rationalismus und empirismus 223
saler Weltwissenschaft eine völlig neue Gestalt und Methode gaben, wie sie
korrelativ aber auch für die wahre Wirklichkeit selbst eine neue Sinngebung
bedeuteten.
War am Anfang der Entwicklung die vorbildliche Naturwissenschaft
selbstverständlich eine absolute Wissenschaft, das heißt, galt sie als in sich
selbst begründet und demnach die durch sie theoretisch bestimmte Natur
als eine wahre Wirklichkeit schlechthin, wie bei Galilei und Hobbes, so wird
diese Auffassung schon bei Descartes problematisch, sofern nach ihm eine
jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorangehende, vernunftkritische
Erkenntnis notwendig ist, die das Recht der Naturwissenschaft und somit
das Sein der naturwissenschaftlichen Natur zu begründen habe. Bald wird
es zweifelhaft und bestritten, dass diese Natur im letztlich wahren Sinne sei.
„Idealistische“ Naturinterpretationen treten in verschiedenen Formen auf,
welche die exakte Naturwissenschaft nicht bestreiten, und doch den Sinn
naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der Natur selbst gänzlich umdeuten,
umdeuten in Geistesgebilde. Das aber geht notwendig Hand in Hand mit
Untersuchungen über das Wesen der erkennenden Vernunft überhaupt und
speziell der naturwissenschaftlichen wie andererseits der metaphysischen
und geisteswissenschaftlichen.
Immer mehr stellte es sich heraus, dass man in einem gewissen, dem
aristotelischen gegenüber völlig neuen Sinne scheiden muss zwischen erster
Philosophie und zweiten Philosophien. Mit anderen Worten: Es wurde immer
deutlicher, dass alle bisherigen Wissenschaften, nämlich alle Wissenschaften,
die so wie die Naturwissenschaften geradewegs in Hand anlegender Arbeit
an ihr Erkenntnisgebiet herangingen, nicht endgültige Wissenschaften sein
können. Nicht, als ob das ihr Fehler war. Denn zweifellos, wo uns ein Gebiet
von Gegenständen vor Augen steht und seine theoretischen Fragen an uns
stellt, da ist es die erste Forderung, an sie selbst heranzutreten und aufgrund
der sie uns gebenden Anschauungen ihre Beschaffenheiten und Gesetze zu
suchen. Nur das ergibt ja überhaupt Wissenschaft. Aber alle Wissenschaft
als direkt auf Gegenstände gerichtete Erkenntnisbetätigung bedarf, so stellte
sich zwingend heraus, einer reflektiven und nach einer neuen Dimension ge-
richteten wissenschaftlichen Forschung. Erst wenn das Erkenntnisbewusst-
sein in den spezifischen Ausprägungen, in denen es als so geartete Gegen-
stände bewusst machendes, als Theorien gestaltendes fungiert, systematisch
nach Noesis und Noema durchforscht worden ist, kann die betreffende di-
rekte Wissenschaft und jede Wissenschaft überhaupt nach ihrer endgültigen
Erkenntnisleistung beurteilt und so z. B. der endgültige Sinn der naturwis-
senschaftlich bestimmten Natur interpretiert werden. Letzte Welterkenntnis
226 einleitung in die philosophie
autonomen Wissenschaft, vom Glaubensgrund losgelöst, nicht theologisch. Und darunter leidet
228 einleitung in die philosophie
zwar nicht notwendig, aber faktisch die teleologische Betrachtungsweise. Aber die Naturali-
sierung der Tatsachenwelt, die nur das Induktiv-Kausale sieht, führt zu den Schwierigkeiten
des Determinismus und zu einer anti-teleologischen Einstellung (Spinoza). Gott selbst wird bei
Spinoza zu einem ateleologischen Prinzip.
1 Randbemerkung Der Kausalität der Motivation war untergeschoben eine induktive Kausali-
tät.
2 Gestrichen Wie kann Gott, das alte philosophische Thema, zum exakt-wissenschaftlichen
Thema werden? Wie soll Schöpfung der Welt wissenschaftlich fassbar werden? Und die immer
erneuten Gottesbeweise boten leider immer wieder Anhaltspunkte für eine skeptische Kritik.
Wie ist in jeder Hinsicht das Verhältnis Gottes zur geschaffenen Welt zu verstehen? Ferner, die
rationalismus und empirismus 229
senschaft.
230 einleitung in die philosophie
reinen Kausalitäten ist? Nun ist das Seelische nicht mehr ein Geist, der
seine Umwelt geistig in sich hat; sondern wie physische Elemente und Ele-
mentenkomplexe real getrennt voneinander sind und nur durch kausalge-
setzliche Beziehungen miteinander verflochten, so ist jede Seele getrennt
von allem Physischen und nur durch kausale Beziehungen auf ihren Leib
bezogen und mittelbar auf andere Dinge. Wir haben also unter dem Titel
„psychophysische Natur“ einen Mechanismus von physischen und psychi-
schen Elementen. Und wenn das die alleinige absolute Wahrheit ist, wenn
die anschauliche physische Welt bloßer Schein ist und ebenso die geistige
Beziehung jedes Ich auf seine Umwelt ein bloßer Schein, dann ist nicht
abzusehen, wie eine Teleologie, eine göttliche wie eine menschliche, noch
einen Sinn haben soll.1
Für einen Platon und vor allem Aristoteles lagen die Verhältnisse anders.
Sie kannten nicht eine wirklich entgeistete Natur als Gegenstand einer exak-
ten Naturwissenschaft. Die demokritische Atomenwelt erschien ihnen eine
unwissenschaftliche Verkehrtheit. Dass je eine exakte Naturwissenschaft die
sinnlich erfahrene Natur in diesem materialistischen Stil entwerten könne,
lag ihren Vermutungen fern. Für sie war eine teleologische Metaphysik
bezogen nicht auf eine ungeistige, sondern auf eine durch und durch geistige
Natur. Jedes Naturding hatte in allem begrifflich Fassbaren seine geistige
Wesenheit, und das Geistige, das Eidos, war das Wertbestimmende und
nach Zweckhaftigkeit Strebende. Dieses Geistige formte zwar nach ihnen ein
Ungeistiges, die Materie, aber diese Materie war nicht die naturwissenschaft-
liche Materie, sondern etwas durchaus Unselbständiges, das ohne Geistigkeit
Freiheit ein uraltes Thema der teleologischen Metaphysik, die seit Aristoteles so vielgestal-
tig bearbeitet worden ist. Sind dergleichen metaphysischen Themen aber in einer strengen
Wissenschaft fassbar? Die physische Natur in ihrer Gesamtheit umspannt die physische Natur-
wissenschaft. Die als Parallele geforderte positive Geisteswissenschaft behandelt das Geistige
im Naturzusammenhang, wie es und wo es darin durch Erfahrung vorfindlich oder erfahrungs-
mäßig zu erschließen ist. Umfasst also die psychophysische Naturwissenschaft nicht die Allheit
der physischen und geistigen Realitäten? Gibt es für Realitäten andere Gründe als Erfah-
rungsgründe? Können Erfahrungsschlüsse über das Reich möglicher Erfahrung hinausführen?
Naturwissenschaftliche Art ist es, von Ursachen auf Wirkungen und von Wirkungen auf
Ursachen zu schließen; man bewegt sich also innerhalb der endlosen Zusammenhänge der
Kausalität und kann so von Gegebenem auf Nicht-Gegebenes schließen; aber immer ist es dann
doch ein Innerweltliches, das prinzipiell Gegenstand von Erfahrungen werden könnte. Aber wie
ist eine Schlussweise möglich, die der abgeschlossen gedachten Allheit der Natur noch einmal
eine Ursache vorsetzt? Dass solche Gedanken, nachdem die Naturwissenschaft mit ihrer rein
natürlichen Kausalität da war, nahelagen, zeigt Hobbes, der die ganze Metaphysik, von der
schon bei Bacon nicht viel mehr übrig geblieben war, mit einem Strich aus dem Reich der
Wissenschaft verbannt.
rationalismus und empirismus 231
undenkbar sein sollte. Diese Materie wurde gerade angenommen, um das te-
leologisch Zufällige und die dysteleologischen Weltvorkommnisse erklärlich
zu machen, mit denen eine teleologische Welterklärung sich auseinanderset-
zen musste.
Demgegenüber aber hatte die neue Naturwissenschaft die Natur nicht nur
in der Einstellung purer Sachhaltigkeit betrachtet, sondern durch Entwer-
tung der anschaulichen Welt und durch Substruktion einer völlig unanschau-
lichen Materie im Sinne der Atomistik die Natur über alle Geistigkeit hinaus-
gehoben. Wie sollte das völlig ungeistige An-sich für eine geistige Gestaltung
Handhaben bieten und wie sollte es aus einer Geistigkeit herausgeboren,
göttlich geschaffen sein können, kurz, wie sollte es in einer Teleologie noch
eine Rolle spielen können? Freilich hatte die positive Wissenschaft auch dem
Geistigen in der Natur Rechnung getragen, aber in der Form, dass sie da und
dort einzelne materielle Dinge, genannt „organische Leiber“, mit Seelen
verbunden dachte. Ganz äußerlich war diese Verbindung, da die leibliche
Materie in sich ein volles, selbständiges Ding sein soll und verbleibt, auch
nach dem Tod.1
Diese Seele der positivistischen Psychologie (falls sie nicht geradewegs
im Materialismus des Hobbes in Physisches umgedeutet wurde) war im
Grunde doch etwas Seelenloses, ein Gegenstück der Materie, ganz wie sie
gedacht als ein Komplex von psychischen Elementen und in dem Wandel
der Elemente unter strengen Kausalgesetzen stehend, eben genau wie in der
materiellen Natur. Im Grunde war mit der entgeisteten physischen Ding-
welt eine entgeistete Geistigkeit, eine entseelte Seele verbunden.2 Ist eine
Seele, die bloßer Schauplatz für Verläufe sogenannter psychischer Elemente
ist, absolut fest und eindeutig durch Gesetzesordnung geregelt, noch eine
Seele? Ist solches Leben noch Leben und nicht eine Art Reduplikation des
Materiellen sozusagen in einer anderen Sprache? Dieselbe couleur in grün?
Wo ist also in einer solchen positiv geisteswissenschaftlichen Welt noch
Raum für eine Teleologie, für ein doch von jedem lebendigen religiösen
Menschen angenommenes Walten Gottes in seinem Seelenleben, in der
vorsehenden Fügung seiner Schicksale? Wo ist da Raum für die ethische
1 Randbemerkung Diese dem geistigen Walten völlig transzendente Materie wurde als ein
sammenhang, in dem alles und jedes Geschehen in totaler Einförmigkeit nach festen Gesetzen
ablief, war aufgepfropft eine seelische Natur, in der in nicht minder totaler Einförmigkeit jedes
psychische Geschehen nach nicht minder festen Gesetzen ablaufen sollte.
232 einleitung in die philosophie
Verantwortlichkeit, die doch auch Verantwortung vor Gott ist? Wie alles See-
lische, so soll und muss, wenn die Psychologie dem naturwissenschaftlichen
Methodengeist gemäß in eine positive Wissenschaft verwandelt wird, auch je-
der meiner Willensakte innerhalb meines seelischen Zusammenhangs unter
den gegebenen psychophysischen Umständen absolut eindeutig vorbestimmt
sein. Wie in einem Hebelsystem jede Regung eines Hebels die anderen Hebel
unweigerlich in Bewegung setzt, so wird im leiblich-seelischen Hebelsystem
auch jene solche Hebelbewegung eintreten müssen, die im gegebenen Fall
„mein Willensentschluss“ heißt. Ich meine aktiv zu sein, ich bin aber Ma-
schine.1 Alles ist determiniert, und doch rede ich von Verantwortlichkeit. Ja,
diese Rede selbst ist nur mechanisches Resultat vorgängiger Mechanismen.
Ob das aber eine befriedigende Antwort ist und ob es jedenfalls nicht
dabei bleibt, dass wie kein Platz übrig bleibt für eine menschliche Zweck-
setzung, so für eine göttliche, ist kaum fraglich. Die Naturwissenschaft hat
aus der Natur freilich den Götter- und Dämonenspuk vertrieben. Die Natur
als bloß materielle Sachenwelt, die sie uns sehen lässt, muss gewiss ihr Da-
seinsrecht und einen guten Sinn haben; aber sowie wir diese Natur absolut
setzen und ihre Geistentfremdung ernst nehmen, sowie wir sie als in der Tat
geistloses Sein nehmen, geraten wir in metaphysische Schwierigkeiten. Und
diese vervielfältigen sich und werden ganz unverträglich, wenn wir gar im
Sinne der Vorbildlichkeit der physischen Naturwissenschaft das Seelische,
die Sphäre der Geistigkeit naturalisieren. Denn dann fällt nicht nur die
teleologische Metaphysik, sondern auch die Ethik, und vielleicht fällt, von
anderen Gesichtspunkten aus, auch die Logik und alle sinnvolle Rede von
Vernunft. Doch ohne darauf hier eingehen zu können, möchte ich nur noch
Folgendes als Abschluss heranziehen.
Wenn alle Wissenschaft von demselben Typus sein müsste wie die Natur-
wissenschaft, alle dem Ideal entspräche, dass alle Gegenstände des Gebietes
unter einer exakt und eindeutig bestimmenden obersten Gesetzlichkeit ste-
hen müssten, dann müsste das auch von dem All der Realität in absolutem
Sinne gelten; also nicht nur von der endlichen Welt, sondern auch von Gott
in sich und in seinen Verhältnissen zu den endlichen Weltdingen. Dann
hätten wir aber auch Gott entgöttert, wir hätten auch den göttlichen Geist
entgeistigt. Gottes Willensakte, Liebes-, Gnadensakte, alles wäre ausrechen-
bar wie nur irgendein Rechenexempel, es wäre rein kausales Gebilde aus
psychischen Elementen.
1 Gestrichen Das „ich meine“ als Erlebnis ist selbst solch ein maschinelles Vorkommnis.
rationalismus und empirismus 233
Die beiden großen Denker die an der Tête der neuen Philosophie standen
und sich von der neuen Mechanik in ihren philosophischen Reformbemü-
hungen leiten ließen, Descartes und Hobbes, haben solche Schwierigkeiten
gefühlt – gefühlt, aber nicht sich zur Klarheit gebracht. Hobbes in seiner
robusten Gewaltigkeit streicht die ganze Metaphysik als Wissenschaft weg.
Die Naturwissenschaft, sogar die physische Naturwissenschaft ist für ihn die
Wissenschaft schlechthin. Das Seelische, da es ohnehin ganz analog wie die
Materie als kausales Gebilde gedacht werden muss für eine positive See-
lenwissenschaft, wird von ihm geradezu materialistisch interpretiert. Alles
Seiende ist Körper, alle wahren Vorgänge sind körperliche Vorgänge, alle
wahren Ursachen und Wirkungen mechanisch. Es gibt keine teleologische
Erklärung, und Gott ist kein wissenschaftliches Thema. Vermutlich war er
geradezu Atheist.
Descartes, der ebenfalls und wohl als der Erste die Idee einer positiven
Psychologie gefasst hatte, sieht im Physischen und Psychischen zwei grund-
verschiedene Arten von Realitäten, nur kausal aufeinander bezogen. Die
Metaphysik will er keineswegs preisgeben, aber er müht sich vergeblich,
sie mit der physischen und psychischen Naturwissenschaft zu vereinigen.
Allerdings ist es sein unsterbliches Verdienst, das Tor in die wahre Phi-
losophie eröffnet und das Feld des reinen Bewusstseins sichtlich gemacht
zu haben, auf welches alle Probleme möglicher Erkenntnis zurückbezogen
werden müssen. Damit war der Weg freigelegt, um Naturwissenschaft und
Metaphysik zu versöhnen. Aber weder er selbst noch seine Nachfolger haben
das gesehen, so ungeheuren Eindruck die Meditationes auch machten. Nur
Leibniz ist bis zu einem gewissen Grade auszunehmen.
Die ungeklärten und doch stark empfundenen Schwierigkeiten, die auf
der neu anfangenden Philosophie lasteten, betreffen, wie wir sahen, nicht
nur die Spannung zwischen unvertilgbaren metaphysischen Bedürfnissen
und den Bedürfnissen nach einer universalen strengen Wissenschaft im Stil
der Naturwissenschaft. Die Möglichkeit der Metaphysik ward durch das
bloße Faktum der neuen Naturwissenschaft zum Problem. Aber ganz in
gleichem Sinne bestanden auch Schwierigkeiten für eine Moralphilosophie,
für eine Psychologie und schließlich für alle Geisteswissenschaft. Die Na-
turalisierung des Geistes in der positiven Psychologie musste in gewissen
Grenzen ihr Recht haben, und doch – für eigentümliche Leistungen aller
geisteswissenschaftlichen Betrachtungs- und Erklärungsweisen konnte sie
nicht aufkommen. Aber die hier liegenden Schwierigkeiten blieben freilich
lange in dunklen Hintergründen, während die metaphysischen Schwierig-
keiten schnell zu Tage traten und die geisteswissenschaftlichen zunächst nur,
234 einleitung in die philosophie
soweit sie in die Metaphysik mit übergreifen. Die Wirkung war jedenfalls
die, dass man immer von Neuem zu Erkenntnisreflexionen genötigt wurde.1
Wieder gewannen skeptische Tendenzen große Macht und bedeutsame
Entwicklungsfunktionen. Mit ungleich größerer theoretischer Energie und
mit ungleich größerem Umfang als im Altertum wurden die in der Er-
kenntnis und ihrer möglichen Geltung, die in der Beziehung der Erkennt-
nis auf eine Gegenständlichkeit liegenden Schwierigkeiten schrittweise ans
Licht gezogen und anti-metaphysisch verarbeitet. Mit nicht minder Energie
wehrt sich die Metaphysik gegen diese Angriffe und sucht das Recht einer
metaphysischen Erkenntnis durchzusetzen und das durch immer radikalere
Erforschung des Wesens der Erkenntnis und des Sinnes, der Grenzen ihrer
objektiven Gültigkeit. Beide Parteien werden zu immer tieferen erkenntnis-
theoretischen Studien geführt, und die älteren Gegensätze zwischen Ratio-
nalismus und Empirismus gewinnen, in der Entwicklung sich übrigens immer
wieder neu bestimmend, neue Gestalten.
Formell betrachtet, wiederholen sich zwar in den neuen die alten Gegen-
sätze, aber schon der Umstand, dass der Empirismus die neue mathematische
Naturwissenschaft nicht minder als absolut geltende anerkennt wie der Ra-
tionalismus, ist da der Sinn des Kontrastes beider Richtungen verschoben.
Der neue Rationalismus nimmt, wie der alte, eine Erfahrung überschrei-
tende Vernunft an; mit anderen Worten, die wahre Wissenschaft hat für ihn
einen metaphysischen Charakter. Über den aristotelischen gemäßigten Ra-
tionalismus hinausgehend, der die sinnliche Erscheinungswelt noch mit zur
wahren Wirklichkeit gerechnet hatte, lässt der neue Rationalismus die wahre
Natur nur als mathematisch bestimmte gelten. Sie bekundet sich nur in der
sinnlichen Erscheinung, sie ist aber hinsichtlich ihrer wahren physikalischen
Eigenschaften hinter der Erscheinung, der Erfahrung „transzendent“. Aber
die Natur ist für den Rationalismus bloße Unterstufe, über sie reicht noch
hinaus Gott und die supranaturale Wirklichkeit als Thema streng rationaler
Wissenschaft.
Der Empirismus hat in der neuen Form mit dem Rationalismus gemein-
sam die exakte Physik; also hinsichtlich der Natur gibt es auch für ihn eine die
Erfahrung transzendierende Vernunft. So weit ist er also eigentlich metaphy-
sisch, soweit er nicht mit Berkeley die physische Außenwelt psychologisiert.
Wenn er doch gegen die Metaphysik und die Kraft der Vernunft skeptisch
1 Gestrichen, dass man über den Sinn der vorbildlichen naturwissenschaftlichen Methode und
dann radikaler über das Wesen der einzelnen Erkenntnisleistungen, die in echter Erkenntnis
ihre Rolle spielen, sich Klarheit zu verschaffen suchte.
rationalismus und empirismus 235
gesinnt ist, so betrifft das also die supranaturale Sphäre; er bestreitet die Mög-
lichkeit strenger Wissenschaft von der religiösen Gotteswelt und überhaupt
einer Wissenschaft, die über Naturwissenschaft hinausgeht.1 Zumindest ist
er darin skeptisch und will möglichst wenig Raum lassen für eine solche
supranaturale Metaphysik (etwa nur Gottesbeweis). „Empirismus“ genannt
wird er aber, weil er darauf besteht, dass die neue Physik eine Erfahrungs-
wissenschaft sei, wie überhaupt jede auf reale Wirklichkeiten gerichtete Wis-
senschaft. Darin ist er in ständigem Kampf mit dem Rationalismus, der aus
einem besonderen Motiv dazu verführt wird, die Tragweite der apriorischen
Erkenntnis zu überschätzen und sogar jede echte und strenge Wissenschaft
als apriorische zu missdeuten.
Für den neuzeitlichen Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalis-
mus tritt diese Differenz und der Kontrast der beiderseitigen Theorien über
Art und Tragweite empirischer und apriorischer Erkenntnis stark in den
Vordergrund. Der Ursprung dieses Streites und dieser besonderen Bestim-
mung des Gegensatzes der beiden Parteien liegt in der Art, wie die ersten
großen Rationalisten, zunächst Descartes und dann in extremster Weise
Spinoza, sich das Vorbild der mathematischen Naturwissenschaft zugeeig-
net hatten. Descartes: Geometrie, alte Mathematik verwirklicht in sich das
Ideal der Klarheit und Deutlichkeit, der Rationalität. Die neue Physik als
mathematische ist Fortsetzung der Geometrie, auch sie erfüllt, wenn sie
wirklich vollkommen gestaltet ist, dieses Ideal. Ihnen, den ersten Rationa-
listen, war noch die (uns von unseren früheren Vorlesungen wohlvertraute)
Scheidung zwischen reiner Geometrie, überhaupt apriorischer Wissenschaft
von möglicher Natur überhaupt einerseits und andererseits mathemati-
scher Physik als rationaler Erfahrungswissenschaft von der faktischen Na-
tur nicht zur Klarheit gekommen. Sie schieden also noch nicht zwischen
rein mathematischen Sätzen und Naturgesetzen mathematischer Form. Die
neue Mechanik, die neue mathematische Astronomie und Optik wurden
als bloße Bereicherungen der alten Geometrie um Disziplinen von gleicher
wissenschaftstheoretischer Art angesehen, wie umgekehrt die Geometrie
als die älteste der exakten Naturwissenschaften. Die in den physikalischen
1 Gestrichen Gott, das alte Thema der teleologischen Metaphysik schon bei Aristoteles und
später von Neuem Thema vielfältiger Gottesbeweise, soll als erste Ursache aller Realität, als
absolut durch nichts außer ihm bestimmte Substanz, in strenger Wissenschaftlichkeit erwiesen
und ergründet werden und dabei als Substrat unendlicher Vollkommenheit; sein Verursachen
soll geistiges und dabei willentliches, zweckvolles Schaffen sein. Was besagt aber dieses Schaffen,
was das Behalten des schon Geschaffenen? Wie kann ein geistiges Prinzip ein ungeistiges, ein
vollkommenes ein unvollkommenes, ja ein an sich wertfreies entlassen?
236 einleitung in die philosophie
1 Fünf eingelegte Blätter, versehen mit mit dem Titel Problematik des Rationalismus. Descar-
tes – Spinoza
Das Descartes’sche Ideal der Rationalität: die Geometrie. Die mathematische Naturwis-
senschaft, rein ausgeführt, ist in diesem selben Sinne rational. Apriorische Notwendigkeiten
und Disziplinen, die hier zu trennen sind: 1) eine analytische Ontologie (Logik) – Begriffs-
und Urteilsbildung, die Evidenz, die Verdeutlichung; 2) eine reale Ontologie, in der es sich
also nicht um eine formale Logik, sondern eine Logik möglichen realen Seins und realer
Wahrheit handelt. Aber eine ontologische Logik. Die Methode ist hier nicht die der analytischen
Möglichkeiten, sondern die „sachhaltiger“ Möglichkeiten oder „realer“, also Methode der
freien Variation von in sachhaltiger Anschauung als Reales Gegebenem, von Gegebenheiten
wirklicher oder möglicher Erfahrung. Also Ausgang von der Erfahrung – die Realitäten sind
mir gegeben als Realitäten dieser faktischen Welt. Ich variiere und suche die reinen Mög-
lichkeiten und Wesensnotwendigkeiten. Ein beliebiges Reales der Erfahrung oder möglicher
Erfahrung (Einbildung) ist undenkbar ohne Zeitlichkeit, ohne Räumlichkeit. Ist Einzelnes
nur denkbar in einer Welt? Mehreres Einzelnes ist nur denkbar in demselben Raum und
derselben Zeitform. Muss es kausale Eigenschaften haben? Muss eine Kausalität umgreifend
alle Realitäten verbinden? Kurz, die Ferne fordert a priori einzelne Realität – omnitudo reali-
tatis. Kann diese Allheit eine endliche sein, muss sie eine unendliche sein? Gehören nicht die
Aufgaben „Apriori eines Realen überhaupt“ und „Apriori einer Welt als omnitudo realitatis“
zusammen? Wie steht es dann mit den allgemeinen Strukturen der faktischen Welt, abgesehen
von den erst hervortretenden universalen „Formen“? Gehört nicht eine Typik der Realität
hinsichtlich oberster Realitätsgattungen zur universalen Charakteristik (also in gewisser Weise
auch zur notwendigen „Form“) einer Welt überhaupt? Also etwa bloße Naturdinge, Animalität
(Geist in einer gewissen Fundierung in bloßer Natur). Verbindung aller bloßen Naturdinge
und physischen Leiber (die Unterlagen für Seelen) zu einer universalen physischen Natur,
die immer und notwendig da ist. Eigentümliche Verbindung von Seelen durch Einfühlung,
durch intersubjektive Akte; Möglichkeiten zu personalen Verbindungen als personalen, zu
Personalitäten höherer Ordnung. Eigentümliche interphysische Kausalitäten, eigentümliche
psychophysische Kausalitäten, eigentümliche physiko-personale Beziehungen und personale
Leistungen im Physischen, aus denen geistige Gebilde erwachsen, Dinge, die Geistigkeit inkor-
poriert enthalten analog wie Leiber und doch in ganz anderer Weise, als geistige Bedeutungen
etc. In all dem ist das Apriori aufzusuchen, und selbstverständlich so, dass man eine Ordnung des
Vorgehens darin sucht, zunächst das relativ Unabhängige, den Fundierungen Zugrundeliegende
zu betrachten und dann der Stufenfolge der Fundierungen nachzugehen. Und die Methode
ist „mathematisch“: Nämlich, mag was immer mit einem A verflochten sein und mögen
diese Verflechtungen selbst ihre eigenen Notwendigkeiten mit sich führen, derart dass mit A
irgendwelche darin fundierte Momente und Verbindungen variieren müssen, so verfährt man
konkret so, dass man in der freien Variation des A nach allem Weiteren nicht fragt und dieses
völlig unbestimmt lässt. Ähnlich wie der Geometer nicht fragt, was zu einer Figur gehören
muss an Außergeometrischem, ohne das sie, ohne das Geometrisches im Sein undenkbar wäre.
Diese Unbestimmtheit ist nicht Variationsfeld des Geometers. Sie ist ein notwendiger, aber
unbefragter, begrifflich nicht fixierter, nicht in die geometrische Abstraktion hineingenomme-
ner, sondern außer wissenschaftlicher Betrachtung verbleibender Horizont. Das sagt nicht, dass
rationalismus und empirismus 237
Die in ihrer Art klassische Vollendung des Systems der euklidischen Geo-
metrie übte nun, wo immer die Naturwissenschaft als Prototyp echter Me-
thode herangezogen wurde, den vorwiegenden Reiz aus; mit anderen Worten
und dasselbe für eine menschliche innerhalb der Welt? Für eine Weltontologie kommt nur die
letztere in Betracht. Ist eine Seele ohne Leiblichkeit in einer Welt denkbar? Ist in einer Welt
nicht ganz ernstlich und in wissenschaftlicher Gewissheit eine bloß physische Natur denkbar
ohne Seelen? Gilt das noch, wenn wir in der Unendlichkeit der Zeit eine Welt absolut in ihrer
unendlichen und vollen Dauer denken?
1) Unverständnis der Methode im Mangel an Unterscheidung zwischen reiner und rea-
ler Mathematik. Unverständnis des geometrischen Vorbildes: Methode der Induktion der
Grundbegriffe und Grundsätze als Methode der reinen Möglichkeiten und ihrer Variation
etc.
2) Wohl auch Überschätzung der deduktiven Konsequenz und Unfähigkeit zu verstehen,
dass analytische Notwendigkeit nicht realen Widersinn ausschließt, also schon vor aller Empirie.
3) In der Wirksamkeit des geometrisch-naturwissenschaftlichen Vorbildes der Wissenschaft-
lichkeit lag die Naturalisierung allen Seins; das geistige Sein formell von gleicher Artung wie
physisches (sonst wäre der Parallelismus gar nicht möglich geworden), die geistige Kausalität
also von derselben Art wie die physische – in gleichem Sinne wie sie mathematisierbar oder
logifizierbar (in gleichem Sinne „analoge“ analytische Notwendigkeiten), obschon noch nicht
enthüllt war der Unterschied analytischer Notwendigkeit und realer Wesensnotwendigkeit
und beider von der kausalen Notwendigkeit, wobei die letztere sich enthüllte als induktive
Notwendigkeit, die über sich induktive Allgemeinheit hat, die als induktives Gesetz mit bloß
präsumptiver Gewissheit den zu erwartenden Einzelfällen Regeln vorschreibt. Ist dies schon
gesehen, dann reduziert sich der Fehler auf Blindheit des Unterschieds der Motivation und
induktiver Kausation, die beide unter total verschiedenen Wesensgesetzen stehen, wobei die
Induktion sozusagen rein empirisch-formale Gesetze hat (alles ist assozierbar), während die
Motivation sachhaltige Formgesetze hat. Jedenfalls liegt hier die Quelle der Naturalisierung
schon im Rationalismus. Das Geistige wird als eine zweite Natur gedacht. Determinismus.
Wie die physische Natur eine Natur ist, so muss (für Spinoza wenigstens) die Geistigkeit eine
Geistesnatur sein und eine parallele. Hier wie dort eine Eindeutigkeit der Kausalität, den
Mechanismus. Randbemerkung zu 3) und 4): Blindheit für das Eigenwesen des Bewusstseins,
Rationalität
4) Unfähigkeit, das Ich-Streben, das personale Wirken, die Freiheit zu sehen. Widersinnige
Unterscheidung: Alle Wissenschaften werden zu Sachwissenschaften, die Normwissenschaf-
ten verlieren ihren Sinn. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Sachwissenschaften und
Normwissenschaften. Damit werden logische und ethische Methodologie unverständlich. Ten-
denz, die erkenntnistheoretische Untersuchung „über den menschlichen Verstand“ als bloße
Tatsachenuntersuchung zu führen. Den Normproblemen, Problemen der Intentionalität und
speziell der Wesensart der Erzielung logischen und außerlogischen Tuns mit Zwecken, Zie-
len, werden untergeschoben naturalistisch-psychologische Probleme, Probleme der induktiven
Tatsächlichkeit psychischer Intellekte oder praktischer Erlebnisse. Unverständlich wird die
doch beständig in Frage kommende Unterscheidung und Beziehung zwischen Erscheinung und
Erscheinendem, zwischen Meinung und Gemeintem, zwischen richtiger und falscher Meinung
etc.
Schon bei Spinoza: Leugnung der Freiheit, starrer psychischer Mechanismus und doch eine
Normenlehre, die beständig mit geistiger Motivation und mit Zwecksetzung etc. operiert. Wider-
sinn des Operierens mit Begriffen der Unvollkommenheit und Vollkommenheit, des deus sive
natura, der doch ein Gott der Liebe sein soll. Unterscheidung: Für den Vollkommenheitsbegriff
rationalismus und empirismus 239
und seine Abstufungen werden untergeschoben „Grade der Realität“, den Motivationen der
Liebe und des Hasses das Spiel der kausalen Determinationen der betreffenden Erlebnisse
als Tatsachen in der immanenten Zeit und als solche unter induktiver Regelung stehend. Die
idealen Einheiten des Gemüts: Schönheit, Wert, Zweck, Mittel etc. gehen durch die Natura-
lisierung eigentlich verloren. Aber auch die des Verstandes: Sein und Wahrheit als Einheiten
mannigfaltigen Erkennens, Erfahrens und Urteilens.
Spinoza hat eine durchaus apriorische Metaphysik und darin beschlossen eine apriorische
Physik und eine apriorische Psychik. Aber in dem Parallelismus liegt, dass beide formal identisch
sein müssten und nur material verschieden. Beide sind unselbständige Teile, sofern sie auf
dem Boden einer allgemeineren Metaphysik stehen, der Metaphysik der Substanz. Aber die
Methode ist noch nicht gesehen, die einer Ontologie allererst Sinn gibt: die Methode der
aus exemplarischer Anschauung schöpfenden Induktion, die Methode der Variation und der
Systematik im Bilden einzelner ontologischer Disziplinen und der Betrachtung ihrer Wesens-
zusammenhänge durch Anschaulich-Machen und freies Variieren der Horizonte. Die Aufgabe
einer universalen Ontologie und der Gründung in ihr beschlossener spezialer Ontologien und
apriorischer Disziplinen, die sich auf unselbständige Wesensmomente der Spezialitäten wie
Natur oder Geist beziehen (Geometrie, etc.), ist eine notwendige. Wie die Verabsolutierung
der Natur zwar unberechtigt, aber eine in sich geschlossene Natur eine notwendige Abstraktion
ist und notwendig eine in sich geschlossene Naturwissenschaft ist, so ist die Abstraktion eine
notwendige, die auf bloße Figur hinsieht, mag es wie immer mit der Realität dieser Figur stehen,
ja mag sie Figur eines bloßen Phantoms sein, wofern sie nur einheitlich erfahrbar gedacht
ist.
Andererseits bedarf es der Erkenntnis, dass Wissenschaften von der Welt und eine universale
Wissenschaft von der Welt als Faktum nur so weit exakte Wissenschaften sind, als sie reine
Begriffe und reine Möglichkeiten, also a priori, schöpfen; und aller Wirklichkeitserkenntnis
zugrunde liegt die Erkenntnis der notwendigen Form, ohne die eine Wirklichkeit überhaupt
nicht möglich wäre. Das ist Grunderkenntnis der Wissenschaftstheorie: 1) Das Vorangehen
der analytischen Möglichkeiten; 2) das Vorangehen der ontologischen Möglichkeiten (aber
nachfolgend den analytischen); 3) die exakte Erfahrungswissenschaft, die über alle analytischen
und realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten schon Herrschaft hat und nun im Rahmen
dieser Form den empirischen Möglichkeiten und Gesetzen nachgeht.
1 Gestrichen Die grundirrige methodische Auffassung des mathematischen Rationalismus, die
also auf der Unfähigkeit beruhte, einen so primitiven Unterschied wie den zwischen Wesenser-
kenntnis und Tatsachenerkenntnis, Wesensgesetz und Tatsachengesetz machen zu können,
bestimmt die Idee eines neuen Rationalismus wesentlich mit, damit auch den neuzeitlichen,
sich wiederum skeptisch-kritisch gegen den Rationalismus wendenden Empirismus. An sich
sind die neuen Gegensätze von Empirismus und Rationalismus, so sehr sie nach ihren For-
meln sozusagen die alten, sich durch das Mittelalter fortpflanzenden Gegensätze wiederholen,
durch die mit der Naturwissenschaft geschaffenen neuen Lagen inhaltlich schon darum neu
bestimmt, weil der Empirismus die exakte Naturwissenschaft nicht minder als absolut geltend
anerkennt wie der Rationalismus. Dieser nimmt, wie der alte, eine Ratio als Vermögen einer
die Erfahrung überschreitenden Vernunft an. Mit anderen Worten: Die wahre Wissenschaft
hat für ihn metaphysischen Charakter, ihr Korrelat ist, noch hinausgehend über den gemäßigten
Rationalismus des Aristoteles, eine durchaus hinter der sinnlichen Erscheinungswelt liegende,
240 einleitung in die philosophie
Wir wissen ja, dass eine apriorische Wissenschaft nur Erkenntnis gibt und
geben kann für ideale Möglichkeiten, aber nie für reale Wirklichkeiten.
Die Arithmetik, die Geometrie und ähnliche Wissenschaften gelten für
die wirklich gegebene Dingwelt, weil überhaupt Dinge, die einem Apriori
widerstreiten, in sich widersinnig wären, also undenkbar vor aller Frage nach
Wirklichkeit. Was als Faktum in der faktischen Welt ist, kann eine apriorische
Wissenschaft nie lehren, sie sucht nur Normen für das einstimmig Denkbare.
Der Wahn, eine Metaphysik, eine universale Wissenschaft von der absolu-
ten Wirklichkeit, nach dem Vorbild der mathematischen Naturwissenschaft
gewinnen zu können, war noch zur äußersten Verkehrtheit gesteigert in Form
dieses Wahns, eine Metaphysik rein a priori ordine geometrico und damit auch
in der absolut zwingenden Exaktheit der Geometrie aufbauen zu können,
ja, nicht nur die supranaturale Metaphysik, dann auch die Physik in ihrer
endgültigen exakten Gestalt sei eben nur eine apriorische Mathematik. Die
Ethica des Spinoza, die den ungeheueren und ungeheuerlichen Anspruch
erhob, diese Leistung vollzogen zu haben, fand zwar um ihres Inhaltes willen
leidenschaftliche Ablehnung, aber die methodische Quelle der Verkehrthei-
ten blieb ungeklärt. Der wesentliche Teil der inhaltlichen Anstöße, so vor
allem der starre Determinismus (der beim Menschen wie bei Gott nicht den
leisesten Raum für so etwas wie freies Walten ließ, weil alles und jedes in ma-
thematischer Notwendigkeit eindeutig vorgezeichnet sein musste), war doch
bestimmt durch den Naturalismus, das heißt durch die Vorbildlichkeit der
mathematischen Naturwissenschaft; und der Determinismus wäre derselbe
gewesen auch ohne geometrische Missdeutung.
Jedenfalls wurde die rationalistische Metaphysik als höchst unbefriedi-
gend empfunden; man wollte, wie sie, strengste Wissenschaft, aber dass es
in diesem Stil nicht gehen könne, war klar. Warum aber dieser Stil verkehrt
also die Erfahrung überschreitende, transzendierende Welt. Sie ist in Unterstufe die Natur, rein
mit den unsinnlichen Bestimmungen der mathematischen Physik genommen. In der höheren
Stufe ist sie Gott und überhaupt die Welt des Supranaturalen.
Der Empirismus andererseits nimmt ungleich dem alten und mittelalterlichen Empirismus
nicht die bloße Erscheinungswelt, die Welt der sinnlichen Erfahrung als wahre Wirklichkeit hin,
sondern auch ihm gilt die physikalische Natur als wahre (insofern ist er eigentlich metaphy-
sisch); wogegen er streitet, ist aber das Supranaturale oder jene Vernunft, die fähig sein soll nicht
in Form des Glaubens, sondern strenger Wissenschaft von den religiösen Transzendenzen, von
den metaphysischen Realitäten im spezifischen Sinne Auskunft zu geben. Zumindest verhält
er sich da relativ skeptisch und will möglichst wenig von solcher Metaphysik, etwa nur einen
Gottesbeweis gelten lassen. „Empirismus“ heißt er aber, weil er darauf besteht, dass die neue
Physik eine Erfahrungswissenschaft sei und dass das wissenschaftliche Denken hier nur dadurch,
dass es auf dem Geltungsgrund der Erfahrung fuße Text bricht ab.
rationalismus und empirismus 241
war und wie richtige Methode hier aussehen muss, das war keineswegs klar.
So wurde man dahin gedrängt, das Wesen der Erkenntnis überhaupt, die
Quellen und Grenzen ihrer Geltung und vor allem ihrer Geltung jenseits
der möglichen Erfahrung, zum eigenen Thema der Forschung zu machen.
Denn in diesem wissenschaftlichen Jahrhundert, das auf allen Seiten von dem
Glauben an die Möglichkeit und Macht echter Wissenschaft erfüllt war, war
nicht wie im Altertum Raum für einen spielerischen Skeptizismus, der sich
damit begnügt hätte, die metaphysische Erkenntnis mit fein geschliffenen
Argumenten zu diskreditieren. So machte man sich an die positive und neu
gerichtete Arbeit. Immer neue Schriften tauchten auf, die speziell den Men-
schenverstand, die Erkenntnis und ihre rationale Geltung zum Thema hatten.
Daran beteiligte sich nicht nur der gegen den Rationalismus reagierende
Empirismus, sondern der Rationalismus selbst, teils aus Abwehr, teils um
sich für sich selbst fortschreitende Klarheit über die Erkenntnismethode zu
schaffen, die so große Ansprüche erhob.1
Doch muss hier auch gesagt werden, dass der Rationalismus in seinem
gewaltigen Bemühen um eine universale, absolut exakte Philosophie schon
vor all dem mit vernunfttheoretischen Untersuchungen begonnen hatte, die
er eben von vornherein zur Sicherung seines Verfahrens brauchte, nur dass
sie bei ihm noch keinen großen Raum einnahmen.2 Erst durch den Em-
pirismus erhielten die vernunfttheoretischen Studien die Ausgestaltung zu
einer großen und systematischen Wissenschaft und den bald allgemein aner-
kannten Beruf, alle anderen Wissenschaften hinsichtlich der Grenzen ihres
Rechtes und des Sinnes ihrer Leistung auszuwerten.3 (Die jetzt üblichen
Namen „Vernunftkritik“ und „Erkenntnistheorie“ stammen aus viel späte-
rer Zeit. Der erstere, kantische, weist eben auf diesen Beruf einer „Kritik“
speziell hin.)
Der neuzeitliche Geist kam hier in eine unerwartete und recht üble Lage:
Mit ungemessener Begeisterung hatte er sich der neuen Naturwissenschaft
in die Arme geworfen und hatte sie zunächst unbesehen verabsolutiert und
war alsbald entschlossen, nach ihrem Vorbild eine universale Philosophie,
eine universale mathematische exakte Weltwissenschaft zu schaffen. Und
1 Gestrichen (Ja es hat sich gezeigt, dass schon der erste große Philosoph der Neuzeit, Descar-
tes, geradezu die Notwendigkeit eines eigenen Studiums des Verstandes ausgesprochen und in
dieser Richtung eigene Untersuchungen angestellt hatte: aber die Regulae sind erst lange nach
seinem Tod erschienen.)
2 Randbemerkung Es gehörte zur Tradition des Rationalismus seit Platon eine Methodologie
der Erkenntnis.
3 Randbemerkung Das Letztere hat schon Descartes gewollt.
242 einleitung in die philosophie
nun musste er dessen innewerden, dass er schon den Sinn, die Leistung,
die Tragweite dieser vorbildlichen Wissenschaft selbst gar nicht verstehe.
Und daran nicht genug. Gedrängt zur Begründung einer neuen Wissen-
schaft von der Wissenschaft schaffenden Erkenntnis überhaupt, die als die
letztnormierende Instanz für alle anderen Wissenschaften fungieren soll, die
also selbstverständlich von absoluter Evidenz und Sicherheit sein musste,
musste man beobachten, dass gerade diese Wissenschaft zum Tummelplatz
der größten Streitigkeiten werden, dass gerade sie von aller zwingenden
Sicherheit am fernsten bleiben musste. Wenn wir hinzunehmen, dass die
vernunfttheoretische Problematik sich alsbald über die theoretische Sphäre
hinaus erstrecken musste, also bedenken, dass eine Wissenschaft der Ver-
nunft auch die Quellen der Geltung der ethischen, religiösen und so aller
die Menschheit leitenden praktischen Normen umfasst, so ist die skeptische
Gefahr einer verworren verbleibenden Vernunftwissenschaft begreiflich.
Es ist zu verstehen, dass der Wille zur radikalsten und universalsten
Kritik, der sich in der Vernunftwissenschaft aussprach, obschon er aus dem
Willen zur radikalsten Begründung aller logischen, ethischen, metaphysisch-
religiösen Geltung entsprungen ist, schließlich durch das Versagen der Ver-
nunftwissenschaft in einen Skeptizismus umschlagen konnte. Daran liegt
es also, dass jener alles zersetzende und die neue Kultur in den innersten
Wurzeln zerstörende Skeptizismus erwachsen konnte, der die Gegenwart
innerlich lähmt, und dass er entspringen konnte aus einer schrankenlosen
und vermeintlich vernunfttheoretischen fundierten Kritik der Vernunft, de-
ren Resultat eben allgemeine Entwertung aller Werte war. Leider hat dieser
Geist in der Tat Epoche gemacht. Das aus den reinsten Quellen entsprungene
philosophische Streben hat der Menschheit, statt ihr mit der Wissenschaft
eine Gabe höchsten Segens darzubieten, mit ihr, so scheint es fast, den
größten Fluch gebracht. Diese schicksalsvolle Entwicklung ist aber die Folge
der Halbheiten und Unklarheiten, in denen die Vernunftkritik allzu lange
und trotz allen leidenschaftlichen Mühens großer Geister stehen geblieben
ist. Doch die Halbheiten lassen sich in Ganzheiten, die Unklarheiten in
Klarheiten verwandeln, und wir haben in der Tat keinen Grund, von je-
nem Optimismus eine Linie abzuweichen, von dem unsere philosophischen
Unterhaltungen bisher getragen waren.
Der1 Empirismus ist wie historisch eine Fortwirkung des antiken Skep-
tizismus, so auch innerlich, nach seinem eigenen Wesen, ein nur mehr oder
minder verhüllter Skeptizismus. Mag er sich dessen – wie das so oft der Fall
war – selbst nicht bewusst sein, sowie er konsequent zu Ende gedacht wird,
tritt der Skeptizismus zu Tage. Locke, der Begründer der modernen empiris-
tischen Erkenntnistheorie, glaubte die objektive Geltung der Wissenschaft
und auch diejenige der ethischen Normen gerechtfertigt zu haben. Aber
in seinen Nachfolgern werden seine Inkonsequenzen ausgeglichen, und das
Resultat der Entwicklung ist bei David Hume der nackte Skeptizismus, der
die Vernunft in ein Vermögen der Fiktion verwandelt und sein Resultat darin
hat, dass nicht nur die supranaturale Metaphysik, sondern schon die exakte
Naturwissenschaft als ein zufälliges psychologisches Gebilde der Assoziation
und Gewohnheit jeder vernünftigen Rechtfertigung entbehre und für immer
entbehren muss. Und der Moral geht es bei ihm nicht wesentlich besser.
Unsere angekündigte optimistische, also anti-skeptische Stellungnahme
beschließt also von vornherein eine Stellungnahme gegen jeden Empirismus
und Positivismus, und damit ist gesagt, dass wir die wahre positive Philoso-
phie, die ein wertvolles Menschenleben allein vor der Vernunft rechtfertigen
kann, in einer Erneuerung eines Rationalismus suchen müssen, wobei freilich
der Begriff des Rationalismus, der von uns selbst festgestellte bleiben muss.
So große Irrtümer den historisch überlieferten rationalistischen Philosophien
auch anhaften mögen – und es sind oft, wie bei Spinoza, prinzipielle Verkehrt-
heiten abschreckendster Gestalt –, wir werden doch urteilen müssen, dass
die rationalistischen Philosophien, die des Altertums und die der Neuzeit,
Vorstufen zu einer künftigen wissenschaftlichen Philosophie sind. Das zeigt
sich nicht nur darin, dass in ihnen allein, mehr oder minder fortgebildet, ein
Erbstück des platonischen Apriori erhalten geblieben ist, ohne das sozusagen
Vernunft niemals zur Vernunft kommen kann. Die Unklarheiten, die daran
haften blieben, und die Ausartungen des mathematisierenden Rationalismus
haben den Empirismus gar schnell dahin gebracht, alle und jede Wesenser-
kenntnis zu leugnen und sie psychologistisch umzudeuten.
Aber als Vorstufe echter Philosophie zeigt sich der Rationalismus auch
darin, dass er zuerst das reine Bewusstsein entdeckt hat, das dazu berufen
ist, das Feld der echten Erkenntnistheorie und der echten Vernunftwissen-
schaft überhaupt zu bilden. Der Entdecker aber ist – wie ich in der letzten
Vorlesung schon sagte – Descartes (1596–1650), eben damit der Erzvater
der neuen Philosophie überhaupt. Die Entdeckung liegt beschlossen in den
Meditationes (1641). Freilich ihren eigentlichen Sinn und ihre Tragweite hat
Descartes selbst nicht gesehen. Damit wollen wir uns nun beschäftigen. Die
Größe Descartes’ zeigt sich in dem Radikalismus, mit dem er eine absolute
Erkenntnisgründung fordert und einen Boden sucht, auf den alle Erkenntnis,
wenn sie letztberechtigt sein soll, zurückzuführen ist.
244 einleitung in die philosophie
Descartes’ Innenwendung
Der Optimismus, der unsere Vorlesungen durchweht, ist kein anderer als
der Glaube an die Wissenschaft und an eine letztgültige Wissenschaft und an
das Recht der Evidenz, das sie als echte Wissenschaft in allen ihren Schritten
durchleuchtet. Und es ist der Glaube an das ursprüngliche Recht der Kor-
relation von Wissenschaft und wahrhaft seiender Gegenständlichkeit, die
nur ist und nur die wahren Beschaffenheiten hat, die eine entsprechend weit
gediehene Wissenschaft in ihrer gültigen Weise in logischer Gestalt bestimmt.
(Und es ist der Glaube, dass, wie viel zwischen Himmel und Erde auch sein
möge, von dem unsere Schulweisheit sich nichts träumen lässt, doch alles,
was ist, Thema vernünftiger Fragen ist. Und jede vernünftige Frage lässt
eine und nur eine vernünftige Antwort zu in Form der Wissenschaft. Jede
Unklarheit lässt sich in Klarheit, jede Ahnung in Gewissheit verwandeln, jede
einseitige und vorläufige Erkenntnis in eine endgültige. Zuhöchst glauben wir
an das Recht einer obersten Zielidee, der Idee einer universalen Philosophie
als einer unendlichen und doch stufen- und stückweise lösbaren Aufgabe.
Dieser Glaube ist aber nicht ein blinder Glaube, trotz aller Skeptizismen,
die es behaupten. Er ist es nicht, schon insofern, als wir schon in der ersten
und rohesten Reflexion es sehen, dass zwischen Sätzen, die ihre Quelle in
bloßer Konvention oder in überlieferter Autorität haben, und Sätzen, die
wissenschaftlich in sogenannten einsichtigen Beweisen ihre Quelle haben,
ein Unterschied des Rechtes, der Geltungsdignität besteht. Nun bestehen
freilich ebensolche Unterschiede zwischen prätendierten wissenschaftlichen
Begründungen, und es kommt vor, dass der eine für einsichtig begründet
erklärt, was der andere gar nicht einsichtig findet, und dass wir selbst, was
uns einmal mächtig „einleuchtet“, das andere Mal selbst als einleuchtend
falsch erkennen. Und doch dürfen wir guten Mutes sein, wenn wir auf die
Mathematik und etwa die Arithmetik hinblicken, zunächst auf die primi-
tivsten Sätze wie „2 + 1 = 1 + 2“ oder die primitivsten Schlussgesetze wie
„a > b also b < a“ oder den Satz der dritten Gleichheit. Ebenso, wenn wir
primitive Beweise uns ansehen und sie in Zerlegung ihrer kleinsten Schritte
in absolut einsichtige Selbstverständlichkeiten sich auflösen sehen und wei-
ter beobachten, dass die ganze Arithmetik, so weit sie als Wissenschaft
reicht, aus solchen Selbstverständlichkeiten gebaut ist, deren jede absolut
feststeht.1
1 Gestrichen da doch schließlich die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt ihrer Erkennt-
Intellektion, über den Erkenntniswert der äußeren Erfahrung, über das Er-
kenntniskriterium der Evidenz, über den Geltungswert der mathematischen
Wissenschaften. Und beides hängt nahe zusammen. Erkenntnistheoretische
Betrachtungen dienen dazu, metaphysische Behauptungen zu begründen.
Was in dem Werk für die Geschichte der Philosophie für immer, solange die
historische Kontinuität dieser Menschheit noch reichen mag, unvergesslich
sein wird, das reduziert sich auf die wenigen Seiten der ersten und zweiten
Meditation, Seiten von einer schlichten Einfalt, in ihrem tiefen, nicht so
leicht zugänglichen Sinne von einer unvergleichlichen Genialität. Nur diese
Seiten sollen uns beschäftigen. Es sind die Ausführungen, für die Examens-
kandidaten eine besondere Vorliebe zu haben pflegen, da sich das zu Tod
gehetzte cogito mit ein Paar armen Sätzen so schnell anlernen lässt.
In den Meditationes und schon in dem Discours, Schriften, die Ihnen
zumindest in den Übersetzungen bei Reclam ohne weiteres zugänglich sind,
bekundet sich ein großartiger Radikalismus, der Radikalismus, der allein
eine echte Philosophie ermöglicht. Anschaulich und lebendig erzählt uns
Descartes, wie er in seiner Jugend (auf der sicherlich vortrefflichen Jesui-
tenschule in La Flèche) alle Wissenschaften seiner Zeit kennengelernt hat,
wie sie ihn aber alle mit Ausnahme der Mathematik unbefriedigt gelassen
hatten. Sie waren höchstens dazu gut, über alle Dinge plausible Urteile
abzugeben und allenfalls auch sich anderen gegenüber groß zu wähnen. Die
Mathematik, die durch ihre Exaktheit und Evidenz absolut feste Wahrheiten
darbietet, erfüllt ihn mit Bewunderung, und zugleich fasst er, bestimmt durch
dieses Vorbild, den Gedanken einer universalen Reform der Philosophie,
aller Wissenschaft überhaupt. Eine Neubegründung des gesamten Baus der
Erkenntnis auf absolut festem Grunde. Die Wissenschaften sind historisch
erwachsene Konglomerate von Meinungen, unsystematisch, ohne rechte
Begründung; es bedarf eines völligen Umsturzes und dann eines völligen
Neubaus.
Diesen völligen Umsturz muss jeder Einzelne, der echter Philosoph sein
will, in sich vollziehen; einmal in seinem Leben muss jeder alles in Frage
stellen und sich des festen Bodens für sein Wissen versichern und es darauf
sicher gründen. Versuchen wir also diesen völligen Umsturz. Versuchen, wir,
genauer gesprochen, alles, was wir bisher, und sei es noch so fest, geglaubt,
was wir vermeintlich noch so sicher erwiesen hatten, in Zweifel zu ziehen, und
machen wir es uns jetzt zum Prinzip, alles, was den leisesten Grund zu einem
Zweifel bieten könnte, was mit ihm den leisesten Hauch von Ungewissheit
mit sich führt, auszuscheiden, ihm unsere Zustimmung zu versagen, es
zurückzuweisen.
248 einleitung in die philosophie
Genauer überlegt, ist damit nicht gesagt, dass wir ernstlich bezweifeln und
gar das „Zweifelhafte“ ernstlich negieren sollen. Denn das unterliegt beides
nicht unserer Willkür. Es gibt gar vieles, wovon wir in Gewissheit überzeugt
sind, während wir doch wohl wissen, dass ein Zweifel daran wohl möglich
ist und das Nichtsein also nicht absolut ausgeschlossen ist, wie zum Beispiel,
ob der gute Freund, den wir deutlich hereinkommen sehen, wirklich dieser
Freund, oder nicht ein anderer ist. Was für das Nichtsein spricht, kann aber
bedeutungslos sein: Wir sind dann nicht in Zweifel und können auch nicht
willkürlich zweifeln, geschweige denn, dass wir willkürlich urteilen können,
es sei nicht. Aber uns der Zustimmung enthalten und vorläufig kein Urteil
darüber abgeben, unsere innere Überzeugung sozusagen jetzt außer Aktion
setzen, das können wir, das untersteht durchaus unserer Willkür.
Unsere Methode besteht also darin, dass wir aus unserem bisherigen und
mit so vielen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Überzeugungen
besetzten Urteilsfeld jedes Urteil ausscheiden, an dem auch nur die leiseste
Möglichkeit haftet, dass der geurteilte Sachverhalt nicht sei. Und nicht nur
wissenschaftliche und irgend formulierte Urteile nehmen wir, sondern auch
alle Erkenntnisakte, die wie die Wahrnehmungen eine Überzeugung von
einem wirklichen Sein in sich schließen, und behandeln sie in derselben
Weise. Wir bilden also ein neues Urteilsfeld, welches zunächst völlig leer
ist und schrittweise besetzt werden soll mit solchen Überzeugungen, die
jeden erdenklichen Zweifelsgrund absolut ausschließen. Nun brauchen wir
nicht aus der vagen Endlosigkeit unserer bisherigen Überzeugungen jede
einzelne hervornehmen; wir können gleich unendliche Klassen mit einem
Schlag erledigen. Wir folgen den Erkenntnisvermögen.
Zunächst die Sinnlichkeit. Jede sinnliche Wahrnehmung und somit jede
Erfahrung bietet Zweifelsmöglichkeiten. Täuschungen kommen, wie wir alle
wissen, vor. Denkt man hier genauer nach, so merkt man, dass jede noch so
klare Wahrnehmung möglicherweise eine Trugwahrnehmung ist. Descartes
zeigt das mit zwei Worten durch Heranziehung des Traumes und offenbar
können wir auch Fieberhalluzinationen und dergleichen anomale Zustände
heranziehen. Es ist immer doch eine Möglichkeit, wenn auch vielleicht eine
wenig wahrscheinliche Möglichkeit, dass ich, auf den gesehenen Gegenstand
zugehend, und nach ihm greifend ins Leere greife oder dass ich gar, nachdem
die Wahrnehmungen ganz einstimmig zu verlaufen schienen, plötzlich jenes
Erlebnis habe, das wir „Erwachen“ nennen, wobei alles vor dem wahrge-
nommenen Jetzt „Traum“ heißt.
Hat man erkannt, dass keine Wahrnehmung denkbar ist, bei der nicht
diese Möglichkeiten offen bleiben, bei denen also die vollständige Gewissheit
descartes’ innenwendung 249
1 Gestrichen Damit ist das Reich der reinen Immanenz gegenüber dem Reich des tran-
szendenten Seins abgeschieden. (Allerdings Augustin war im Altertum fast ebenso weit und
doch nicht ganz so weit.) Es wird sich nun darum handeln, was hier geleistet ist, wirklich
klarzustellen. Aber auch schon im Altertum tritt diese Scheidung dem philosophischen Be-
wusstsein nahe. Ich erinnere Sie an die höchst merkwürdige Interpretation des Gorgias, die
wir am Anfang dieser Vorlesung besprochen haben, wo in flüchtiger Weise Bewusstsein und
Bewusstseinsgegenstand gegenübergestellt und dann leichtfertig die Unerkennbarkeit jedes be-
wusstseinsäußeren Seins behauptet wird. Ernsthafter nähert sich Augustin der Ausscheidung
250 einleitung in die philosophie
Descartes auch ein mens sive animus sive intellectus und sagt: Ich bin mir
meiner absolut gewiss als denkende Substanz, während die gesamte Natur,
das Reich ausgedehnter Substanzen dem möglichen Zweifel verfällt.
Mit Staunen werde ich dessen inne, dass ich von allem, was als Nicht-Ich,
als dem Ich Fremdes, mir gegeben und wie in der äußeren Wahrnehmung,
wie es scheint, ganz unmittelbar gegeben ist, nur dadurch weiß, dass ich von
mir weiß, näher, dass ich in meinem Bewusstseinsfeld cogitationes, genannt
„äußere Wahrnehmungen“, und sonstiges transzendierendes Bewusstsein
habe. Gewisse meiner Erlebnisse sind nicht nur, sondern sie meinen über sich
hinaus oder besser etwas „Äußeres“. Sie kündigen sich als „Wahrnehmung“
und „Wissen“ von etwas an, was sie nicht selbst sind. Aber nun ist es ein
Problem, wie es mit dem Recht dieses Hinausmeinens, Hinauswahrnehmens
steht. So ergibt sich sofort mit der Scheidung des reinen Geistes und sei-
nes reinen Bewusstseinsreichs für Descartes das Problem: das sogenannte
Problem der Existenz der realen Außenwelt.1
Im Zusammenhang mit dieser Frage (nach dem Recht, mit dem das Ich,
die geistige Substanz, eine ihrem Bewusstseinsstrom transzendente Welt
annimmt, statt seine cogitationes allein als wirklich seiende gelten zu lassen)
des Feldes reiner Immanenz, ja er hat es schon, aber er geht doch im Radikalismus nicht so weit
wie Descartes. Besprechen wir zunächst, wie die Sachen sich für ihn und dann wieder für die
Folgezeit darstellen, schließlich aber, was für die Scheidung in tieferer Erwägung gewonnen ist
und welche Forschungsmöglichkeiten durch sie vorgezeichnet sind. Absolut sicher bin ich, der
die methodische Zweifelsbetrachtung Vollziehende, nur meines Ich und meiner cogitationes.
1 Gestrichen Die gewöhnlichen Leser der Meditationes fassten ihren hauptsächlichen Sinn
so: Jeder Mensch hat eine innere Wahrnehmung, durch welche er unmittelbar und in absolu-
ter Sicherheit sich selbst nach seiner aktuellen Geistigkeit erfasst, alles andere nur mittelbar
durch Schlüsse, deren Recht wissenschaftlich bestimmt werden muss. Im Zusammenhang mit
der Frage nach dem Recht der Transzendenz steht die Frage nach dem Recht der Evidenz.
Warum trauen wir vor aller Erkenntnistheorie einer objektiven Wissenschaft, die doch nach
allen Erkenntnisschritten in unserer Immanenz verläuft? Weil diese Erkenntnisschritte in ihrer
methodischen Ordnung und Formung von Evidenz durchleuchtet sind. Wir sehen ein: Stellen
wir die objektive Wissenschaft in Frage, so wird sie uns zum immanenten Phänomen und
ebenso ihre Evidenz. Descartes geht daran nicht vorüber, dass diese Evidenz doch selbst wieder
eine Immanenz, ein Bewusstseinscharakter an den betreffenden Erkenntnisakten ist. Er soll der
Recht gebende Charakter sein. Aber wie kommt dieses subjektive Erlebnis dazu, etwas über sich
hinaus zu verbürgen, das Sein eines im Bewusstsein vermeinten Äußeren? Hier weiß Descartes
in der Tat nicht weiter. Könnte nicht ein allmächtiger Lügengeist unsere Seele gemacht und
sie so eingerichtet haben, dass nichts von dem Äußeren, von dem wir evidente Erkenntnis
haben, existiert? Ist eine Welt bewusstseinstranszendenter Dinge, so ist sie doch an sich und
geht ihren Lauf. Unser Bewusstsein ist an sich und hat seinen Lauf. Warum muss, wenn unser
Bewusstseinslauf in einer Evidenz terminiert, nun das entsprechende Äußere wirklich eintreten?
Ja, warum muss Äußeres überhaupt sein? Vielleicht ist es gar nicht. Descartes weiß sich nur mit
einem mehr als fraglichen Gottesbeweis zu helfen und mit der göttlichen veracitas.
descartes’ innenwendung 251
steht das cartesianische Problem des Rechtes der Evidenz. „Warum“, fragt
er zunächst, „bin ich denn so sicher, dass ich zweifle, dass ich denke, dass ich
bin? Weil ich eine clara etc. habe. Das heißt: Ich habe absolute Evidenz, wie
der jetzt übliche Ausdruck lautet. Aber habe ich nicht auch sonst Evidenz,
so in der mathematischen Naturwissenschaft? Kann ich nicht sagen „Wo
immer ich diese völlig klare Evidenz, Einsicht habe, da habe ich die gleiche
Sicherheit“? – Aber nun ist es merkwürdig, dass Descartes vor dieser Ent-
scheidung zurückschreckt und in seiner eben nicht sehr durchsichtigen und
sehr anstößigen Darstellung einen Beweis dafür sucht, dass die Evidenz in
der Tat die ihr zugemutete Geltung hat. Sieht man in die Tiefe, so merkt
man, dass das, was dem Descartes eigentlich anstößig erscheint, eben die
Erlaubnis ist, welche die Evidenz geben soll, eine bewusstseinstranszendente
Objektivität zu setzen und zu bestimmen.1
Was ihn (leider ohne dass er es sich und dem Leser völlig deutlich ge-
macht hätte) bewegt, ist der Gedanke: Das Ego cogito ist absolut zwei-
fellos und darum, weil ich es absolut klar sehe. Dass dieses Sehen wirk-
lich absolut verbürgend ist, ist außer Frage und ganz verständlich. Anders
aber, wenn eine Evidenz ins Transzendente hinausmeinenden cogitationes
anhaftet, nämlich den Erkenntnisakten, die ich in mir als mathematischer
Naturforscher vollziehe; sie sollen das Recht geben, eine bewusstseinstran-
szendente „objektive“ Natur zu erkennen. Unter allen Umständen ist doch
Evidenz selbst ein in die Bewusstseinssphäre hineinfallender Charakter, eine
immanente Eigenheit an cogitationes. Wie kann eine rein zur Subjektivität
gehörige cogitatio bloß dadurch, dass sie einen eigentümlichen reinen sub-
jektiven Charakter annimmt, ein außer-subjektives Sein verbürgen? Besteht
hier nicht, fragt sich Descartes, die Möglichkeit, dass alles Ich-Äußere trotz
der Evidenz der betreffenden, noch so strengen Wissenschaft nicht sei?
Könnte nicht ein mächtiger Lügengeist meinen Geist so geschaffen haben,
dass keine meiner noch so evidenten Erkenntnisse der mathematischen
Naturwissenschaft, sofern sie äußeres Dasein begründen wollen, wahr ist:
Könnte er mich nicht so geschaffen haben, dass ich gerade da überall irren
muss, wo ich transzendente Einsicht habe? Da baue ich in meiner Innerlich-
keit die herrlichsten Wissenschaften, ich füge Erkenntnis an Erkenntnis und
folge streng dem Prinzip einsichtiger Begriffs- und Urteilsbildung, ich baue
aufeinander evidente Beweise zu evidenten Theorien, aber wie sehr mich
das innerlich befriedigt, ist das nicht ein subjektives Spiel, dem objektiv am
Ende gar nichts entspricht?
Descartes hilft sich nun in einer Weise, die zeigt, dass er die Größe der
Entdeckungen, die er eigentlich schon im Besitz hat, nicht ahnt; denn er
lässt sie in einer großen Irrung fahren, um sie nie wieder zu gewinnen. Er
hilft sich nämlich durch einen Gottesbeweis, der, obschon er vermeintlich
rein auf dem Boden des reinen Bewusstseins geführt ist, durch und durch
verkehrt ist. Er sucht dann zu zeigen, dass zum Wesen Gottes die veracitas
gehört und dass es dieser widersprechen würde, wenn das Kriterium der
Objektivität, das er uns in der Evidenz gegeben hat, ein täuschendes wäre.
Ein wahrhafter Gott kann uns nicht täuschen wollen. Also hat die objektive
Naturwissenschaft wirklich Geltung, demnach existiert auch die physische
Natur selbst und nicht nur das Naturphänomen und das wissenschaftliche
Denken aufgrund dieses Phänomens.
Überlegen wir jetzt etwas sorgsamer, was in der cartesianischen Funda-
mentalbetrachtung an Ewigkeitswert liegt, möchte es auch ihrem Entde-
cker verborgen geblieben sein. Seine merkwürdige Methode de omnibus
dubitandum besteht, sagten wir, darin, dass er nicht etwa wirklich alles in
Zweifel zieht, sondern einen universellen Zweifelsversuch vollzieht und ihn
von jedem die Methode Gebrauchenden zu vollziehen fordert. Genauer noch
verfahre ich so, dass ich bei jeder Erkenntnis den Ansatz versuche, wie gewiss
ich ihrer auch sei, sie gelte vielleicht nicht oder, was einerlei, ihr jeweili-
ges Objekt sei in Wahrheit nicht. Nur wo dieser Ansatz durch Widersinn
zerschellt, nur wo das Nichtsein undenkbar ist, nehme ich die betreffende
Erkenntnis in mein Urteilsfeld, das der absoluten Zweifellosigkeit, auf.
So ergibt sich hinsichtlich des individuellen Seins der Kontrast zwischen
immanentem und transzendentem Sein, bestimmt durch den Kontrast der
auf sie bezüglichen Erkenntnisweisen und vor allem schon der Wahrneh-
mungen. Nehmen wir auf der einen Seite Dinge der Natur, z. B. Häuser,
Bäume, Menschen. Während wir sie wahrnehmen, sind wir völlig ihres Da-
seins gewiss; Wahrnehmen ist ja in sich selbst das gewisse Bewusstsein der
unmittelbaren leibhaften Wirklichkeit des Wahrgenommenen. Wie sollten
wir auf den Einfall kommen, Zweifelsmöglichkeiten zu erwägen? Aber
siehe da, wenn wir die cartesianische Methode anwenden, so kommt es
uns zum Bewusstsein, dass wir uns in jedem Fall einer Wahrnehmung doch
sehr wohl denken können, dass das Wahrgenommene nicht sei, obschon wir
es wahrnehmen, obschon es uns in seinem leibhaften äußeren Dasein ganz
gewiss ist. Dieses Denken ist von allem Widersinn frei. Wir können das
Nichtsein zur klaren Vorstellung bringen, ohne die jeweilige Wahrnehmung
im Geringsten wegdenken zu müssen. Wir können uns klar vorstellen, wie
sich, ihr zu trotz, das Nichtsein oder Nichtsosein des Gesehenen ausweisen
descartes’ innenwendung 253
würde: Zum Beispiel: Wir sahen soeben einen Menschen. Wir können uns
denken, dass wir, näher tretend und von unserer Ausgangswahrnehmung in
neue und neue Wahrnehmungen übergehend, zu dem Bewusstsein kämen:
Das ist ja gar kein Mensch, das ist eine mechanische Puppe. Freilich ist das
ein Ausnahmefall. Im Allgemeinen bestätigt sich die erste Wahrnehmung
im Fortgang zu immer neuen Wahrnehmungen; sie stimmen zusammen im
klaren Bewusstsein des einen und selben Wahrnehmungsdinges. Aber das
ist eben das Wichtige, dass prinzipiell die Gegenmöglichkeit besteht, also
für jede Erfahrung und unter allen Umständen besteht. Wie reich die Be-
stätigungen auch schon gewesen sein mögen, nie ist es ausgeschlossen, dass
das äußerlich Erfahrene in Wahrheit nicht sei oder anders sei, als wie es
bisher wahrgenommen wurde. Also: Der Rechtsanspruch jeder einzelnen
Erfahrung und jeder noch so weit geführten einstimmigen Erfahrungsreihe
ist nur ein vorbehaltlicher – vorbehaltlich des einstimmigen Ganges der
weiteren Erfahrung.1
Nun ist aber die ganze Welt mit Sonne, Mond und Sternen, mit die-
ser Erde und allen ihren Dingen für den Erkennenden, für mich, nur da
durch Erfahrung. Mag Wissenschaft wie immer das wahre Sein der Natur
bestimmen, sie könnte nicht anfangen, wenn Erfahrung uns nicht schon
Gewissheit vom Dasein äußerer Dinge gäbe. Also kommen wir zum Re-
sultat: Es besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass diese ganze Dingwelt
möglicherweise nicht existiert trotz meiner gegenwärtigen und bisherigen
einstimmigen Erfahrung. Und dasselbe sagt: Ein Zweifel an ihrer Existenz
mag zwar töricht sein, da ich ja keinen positiven Grund habe, der gegen die
Existenz der Welt spricht; aber möglich ist solch ein Zweifel beständig, eben
sofern es immerfort möglich ist, dass der weitere Erfahrungsverlauf positiven
Zweifelsanlass beibringen wird und mich schließlich gar zur Negation zwingt.
Demgegenüber haben wir eine andere Wahrnehmung und Erfahrung, die
in diesen Beziehungen ganz anders steht. An allem äußeren Sein kann ich
wohl, obschon ich es wahrnehme, zweifeln. Aber am Zweifeln selbst und
1 Randbemerkung Ich sage, der Rechtsanspruch sei vorbehaltlich. „Vorbehaltlich“ dürfte man
nicht sagen für den Erfahrungsglauben. Denn der ist gewiss, und mache ich ihn klar und deutlich,
das heißt, erzeuge ich mir die antizipierend-erfüllenden „Vorerinnerungen“, so verlaufen sie
kontinuierlich im Sinne durchgängiger Einstimmigkeit. Diese Vorerinnerungen sind prinzipiell
nicht völlig bestimmt und können im Rahmen der Vorzeichnung beliebig näher bestimmt
werden, in Reihen der Einstimmigkeit von Vor-Erinnerungen. Aber ich habe offene, ebenfalls
anschaulich zu machende „Möglichkeiten des Andersseins und Nichtseins“, also solche der
Aufhebung des Erfahrungsglaubens. Insofern ist das Recht vorbehaltlich, nämlich dass diese
Möglichkeiten nicht eintreten. Auch das ist nicht leere Phantasie.
254 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen diese hinzukommenden Auffassungen sind nichts anderes als cogitationes, die
als Gegebenheiten des inneren Bewusstseins im reinen Bewusstseinsfeld ihre Stelle haben.
256 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Ihm ordnen wir uns selbst ein wie alle unsere Nebenmenschen und die Tiere;
sowie wir in natürlicher Weise von Erfahrungsvorstellungen von Menschen oder Dingen zu
Erfahrungsvorstellungen von uns selbst und von uns selbst zu Menschen und Dingen übergehen.
descartes’ innenwendung 257
die Natur, das gesamte Weltall nicht, keineswegs betroffen. Ich finde also in
mir ein Reich notwendigen Seins, eines Seins, das nicht Natur ist, das durch
die denkmögliche Verwandlung der Wirklichkeit der Natur in Nichtigkeit
nicht selbst zu nichts würde. Dieses Reich des durch eine Weltvernichtung
unvernichteten Seins ist das Reich der reinen Subjektivität, das Reich des
reinen Bewusstseins, dessen Subjekt ich selbst bin.1
(Denke ich mir die Natur ausgeschaltet, d. i. methodisch als nichtseiend
gesetzt, so ist damit der Ausschaltung verfallen mein Leib und wie alle
anderen Menschen so auch ich, der Mensch selbst, nämlich, als Mensch, als
ein Naturwesen, das diesen wirklichen Naturleib hat, mit dem ein Seelen-
und Bewusstseinsleben real verbunden ist in den und den psychophysischen
Regelungen. Aber wenn ich mit der Natur mich selbst als Menschen in der
Natur ausgeschaltet habe, so bin ich selbst doch, ich der Ausschaltende,
der Erfahrende, der Denkende, absolut und durch diese Ausschaltung nicht
betroffen. Und als dieses Ich, dieses leiblose und naturlose Ich, für das alle
Natur Objekt ist und ich selbst als Natur Objekt bin, ist das reine Ich.
Ebenso scheiden sich reines Bewusstsein und Bewusstsein in der Natur, real
angeknüpft gedacht an einen Naturleib.)
In dieser methodischen Fundamentalbetrachtung ist keine Rede von ei-
nem methodischen Zweifel, der ein absolut sicheres Fundament für eine
universale Begründung aller Wissenschaften liefern soll. Es ist jetzt daraus
eine Methode geworden, zwei aufeinander in merkwürdiger Weise bezo-
gene Seinssphären scharf zu sondern: die Seinssphäre der Welt und die
Seinssphäre des reinen Ich und seines Bewusstseins (und speziell des rei-
nen Erkenntnisbewusstseins). Eine Methode ist es geworden, uns einer für
alle echte Philosophie entscheidenden Erkenntnis absolut zu vergewissern,
nämlich dass das, was wir das Weltall nennen und in natürlicher Weise
in der Tat für das All des individuellen Seins überhaupt halten, noch auf
ein anderes Seinsreich uns verweist, das durch Nichtsein des Weltalls nicht
aufgehoben ist.
(Ohne Beziehung zueinander sind sie darum nicht, das sehen wir von
vornherein. Denn für mich, das reine Ich mannigfaltiger Erkenntnisakte,
ist das Weltall als erfahrenes gegeben, als wahrgenommenes, als erinnertes,
erwartetes, weiterhin als gedachtes, als naturwissenschaftlich erforschtes; und
die wahre Existenz des Weltalls spricht sich in diesem reinen Bewusstsein aus
1 Randbemerkung Aber als reines, leibloses, nicht der Raumwelt einlokalisiertes Ich, als das
machen. Die Kontinuität der auf den einen und selben Erfahrungsgegenstand bezogenen
Wahrnehmungen läuft ab, ohne dass wir auf sie achten; für sie ist nur eines da: Der eine
Wahrnehmungsgegenstand und sein Gehalt. Ein ganz anderes ist die Reflexion auf die Wahr-
nehmung. In der Tat, es bedarf der Reflexion, der Ablenkung des Blickes von dem Gegenstand,
der da ist, auf das Wahrnehmungserlebnis und auch auf die Erscheinungsweisen, in denen der
Gegenstand sich gibt. Die naturwissenschaftliche, die weltwissenschaftliche Einstellung ist die
naiv natürliche auf den äußeren Gegenstand gerichtete im natürlichen Vollzug der äußeren
Erfahrung.
260 einleitung in die philosophie
hinsichtlich des Seins der Natur fordern oder wenn wir uns die strenge
Regel geben, eine Urteilssphäre zu bilden, in der keine mit Präsumtion
behaftete Erfahrung benutzt werden darf, also keine äußere Wahrnehmung,
die ja das Nichtsein ihres Objekts offen lässt. Zunächst ist die ganze physische
Natur und mit ihr dann das objektive Weltall überhaupt ausgeschaltet; übrig
bleibt die Urteilssphäre der neuen Wissenschaft, die wir „Phänomenologie“
nennen.
Es genügt für uns, die Frage der Möglichkeit einer Phänomenologie als
apriorischer Wissenschaft vom reinen Ich einleuchtend zu machen und später
zu zeigen, dass sie eben im strengsten Sinne fundamentale philosophische
Wissenschaft ist, von der alle anderen Wissenschaften ihre endgültige Aus-
wertung zu gewinnen haben. Zunächst ist es an sich klar, dass wir in der
phänomenologischen Einstellung, also unter Abweisung aller Auffassungen,
welche die Bewusstseinserlebnisse als Bestandstücke der Natur auffassen,
die verschiedenen Akte, die uns da auffallen, der platonischen Methode
unterziehen und sie zu Exempeln für eidetische Allgemeinheiten, für die
Bildung reiner Ideen oder Wesen nehmen können. Wir erheben uns über
das zufällige Einzeldatum, wir heben etwa aus äußeren Wahrnehmungen
den Wesenstypus der äußeren Wahrnehmungen überhaupt heraus, ebenso
den Wesenstypus der Erinnerung, der fingierenden Phantasie, des Bewusst-
seins der Abbildung, den der Bezeichnung, der Symbolisierung oder auch
des sprachlichen Ausdrucks, der Aussage, der behauptenden Aussage usw.,
ebenso für Gemüts- und Willensakte. Wir studieren dann, welche Wesens-
zusammenhänge durch diese Wesenstypen als apriorische Notwendigkeiten,
Möglichkeiten, Unmöglichkeiten vorgezeichnet sind. So z. B. studieren wir
die in freier Phantasie zu vollziehenden Abwandlungen äußerer Wahrneh-
mungen, wie solche Wahrnehmungen in einer gewissen bestimmten Typik
zur Einheit der Einstimmigkeit sich verknüpfen und dabei das Bewusstsein
vom selben, sich bestätigenden Gegenstand ergeben, wie im Falle einer
Trugwahrnehmung der Bruch der Einstimmigkeit aussieht und wie er mit
Notwendigkeit gewisse Vorkommnisse des Zweifels oder der Negation des
Seins motiviert. Eine Unendlichkeit von Forschungen eröffnet sich hier,
sowie man ernstlich zusieht und die sachangemessene Methode übt.
Es ergeben sich phänomenologische Wahrnehmungs- und Erfahrungs-
theorien, Urteilstheorien, Willenstheorien, auch eine Phänomenologie der
phänomenologie als apriorische wissenschaft 261
1 Gestrichen Wie ja auch dasselbe von einer nachweisbaren Halluzination und Illusion gilt.
262 einleitung in die philosophie
Im trügenden Schein, etwa im Falle eines Geisterspukes auf einem Theater, erscheint doch ein
Geist, und im eigenen Bewusstseinswesen liegt eben solche Gegenständlichkeit und so, wie sie
darin bewusste ist; das ist eine mit in die Domäne der Phänomenologie gehörige Sache.
1 Gestrichen Beschränken wir uns auf die Erkenntnissphäre, so ist jetzt klar, wie eine rein phä-
nomenologische Erkenntnistheorie möglich ist und wie sie aussieht. Wir studieren da alle in der
allgemeinen Idee der Erkenntnis beschlossenen Bewusstseinsmodi und korrelativ, wie sich ihnen
gemäß der Erkenntnisgegenstand darstellt. Wir studieren, wie die Erkenntniszusammenhänge
aussehen, die dem allgemeinen Wesen nach Prozesse der Begründung sind, der unmittelbaren
und mittelbaren Evidenz, in denen sich also das betreffende Gegenständliche als wahrhaft
seiend herausstellt. Wir studieren da, was das heißt, ein Gegenstand sei dem Bewusstseinsubjekt
zweifellos gegeben, als unmittelbar daseiend gegeben oder zweifellos gegeben vermöge einer
mittelbaren Begründung. Wir studieren, was das heißt, er sei nur vorbehaltlich gegeben, mit
Wahrscheinlichkeit gegeben etc., oder was das heißt, er sei fälschlich gegeben, die Gründe für
ihn seien nur Scheingründe usw.
2 Gestrichen darunter der erkannte Gegenstand als solcher, so wie er da erkannt ist.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 263
wie er im Bewusstsein selbst bewusster ist, modal zuwachsen, eben als Kor-
relat der Verhaltungsweisen des reinen Ich selbst).1
Wir erinnern uns jetzt aber auch der früheren Untersuchungen über die
mehrschichtigen universalen Wissenschaftslehren. So hatten wir in der Logik
im weitesten Sinne beschlossen: 1) eine Wissenschaft von Gegenständen
überhaupt in formaler Allgemeinheit, zu der alle formalen mathematischen
Disziplinen gehörten. 2) Dann hatten wir, wenn wir Gegenstände über-
haupt als Themen eines möglichen Erkennens dachten, in noematischer
Hinsicht Gegenstände als Subjekte von Prädikationen, als Satzsubjekte oder
Satzobjekte, eingesponnen also in Sätzen, die selbst zum Thema und speziell
zum Thema unter dem Gesichtspunkt möglicher Wahrheit und Falschheit
gemacht werden können. Da kamen wir also auf die Logik der Sätze, auf
das Gebiet, das im Wesentlichen Aristoteles als Analytik im Auge hatte,
auf die Lehre von den Schlüssen und Schlusssätzen, Beweisen und Be-
weisgesetzen. 3) Wir gingen dann von der Betrachtung des noematischen
Erkenntnisgehalts auf die Erkenntnis selbst über und fanden als Korrelat
dieser noematischen Logik der Sätze die noetische Logik, das ist die Rechts-
lehre vom erkennenden Bewusstsein, die offenbar eingebettet ist in eine
allgemeinere Lehre vom Erkennen überhaupt. Diese noetische Logik, die
früher im Halbdunkel geblieben war, tritt jetzt ins Licht. Denn wir können
uns jetzt zur Einsicht bringen, dass die Erkenntnis- und Vernunftlehre, die
als Parallele zur formalen mathesis und zur Logik der Sätze zu fordern ist,
hineingehören muss in die phänomenologische Erkenntnislehre, dass sie,
mit anderen Worten, nur gemeint sein kann als Wesenslehre der allgemeinen
Formen des transzendental-reinen Erkenntnisbewusstseins und nicht als eine
wissenschaftliche Disziplin vom menschlichen Erkennen, als eine empirische
oder rationale Psychologie der Erkenntnis.
Gefordert war eine wissenschaftstheoretische Noetik doch aus folgen-
dem Grund. A priori sind Gegenstände überhaupt undenkbar, ohne dass
sie Gegenstände von Sätzen wären, von möglichen Aussagen, die über sie,
dass und wie sie sind, aussagten und, sind es mögliche oder wirklich seiende
Gegenstände, die über ihre Möglichkeit und Wirklichkeit in Wahrheit aus-
sagen. Und ebenso sind Gegenstände undenkbar, die nicht Gegenstände
eines mannigfaltig gearteten möglichen Erkennens sind und eben damit
eines Erkennens, in dem sie auch bewusst sind als Termini von verschieden
gebauten Sätzen als Bedeutungsgehalten des aussagenden Tuns. (Das ist eine
1 Randbemerkung Noetik.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 265
1 Randbemerkung Muss nicht das Grammatische und die Intersubjektivität mit herangezogen
werden?
2 Randbemerkung Diese Erkenntnisgestaltungen können in der einzelnen Subjektivität be-
trachtet werden und ihre Synthesen in ihr, andererseits in der Intersubjektivität und nach den
intersubjektiv verlaufenden Synthesen.
3 Randbemerkung Es wäre ja auch ein Widersinn, dass Wahrheiten, die a priori aussprechen,
was für Gegenstände überhaupt gilt, abhängig wären von Wahrheiten für individuelle oder
materiell allgemein bestimmte Gegenstände.
266 einleitung in die philosophie
1 Beilage Die formale Logik handelt vom wahrhaften Sein und der Wahrheit überhaupt,
Erst jetzt sind wir also in der Lage, die eigentümliche Abgeschiedenheit
der als parallel zu den noematischen und ontologischen Wissenschaftslehren
geforderten noetischen Wissenschaftslehren zu verstehen, nämlich zu ver-
stehen, dass das Reich möglichen Bewusstseins, auf das sie sich beziehen,
nicht menschliches oder tierisches Bewusstsein, sondern reines Bewusstsein
ist.1 Offenbar erschöpfen aber jene noetischen Disziplinen nicht die gesamte
Phänomenologie, sondern beziehen sich nur auf diejenigen allgemeinsten
Bewusstseinsgestaltungen, welche in formaler Allgemeinheit auf Gegen-
stände überhaupt, dann auf Gegenstände als bloße Sachen, auf Wertgegen-
ständlichkeiten, auf praktische Gegenständlichkeiten als solche Beziehung
haben.
Es wäre leicht einzusehen, dass es auch für materiale apriorische Wis-
senschaften noetische Parallelen geben muss. Vermöge der Wesenskorrela-
tion zwischen Sein und Bewusstsein müssen doch, wir sehen dies voraus,
z. B. auch den geometrischen Wahrheiten parallel laufen Gestaltungen der
geometrischen Erkenntnis, also diejenigen Gestaltungen des erkennenden
Bewusstseins, in denen geometrische Sachverhalte als wahrhaft bestehende
eingesehen, geometrische Wahrheiten einsichtig begründet werden können.
Und so für jede material-apriorische Wissenschaft.
In der Einheit einer systematischen Phänomenologie und näher einer Phä-
nomenologie der Vernunft müssen alle auf das Wesen der Vernunft bezügli-
chen Forschungen, die formal-allgemeinen und die sachhaltig-besonderten,
ihre systematische Stelle haben. Alle aus apriorischen Prinzipien geforderten
Sonderungen von Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen bzw. von Wis-
senschaftsgebieten müssen ihr Gegenbild haben in a priori vorgezeichneten
Sonderungen in der reinen Phänomenologie.2 Jede solche Wissenschaft muss
nicht nur ihre apriorische Form haben (wenn sie empirische Wissenschaft ist)
in einer apriorischen Wissenschaft mit ihrem apriorischen Begriffs- und Satz-
system, sondern auch ihre apriorische Form in den möglichen Formen von
1 Randbemerkung Aus dem weggeworfenen Beiblatt: Es deutet sich damit zugleich innerhalb
1 Gestrichen Die betreffenden Erkenntnisakte, werden einfach vollzogen, die gesehenen Ge-
genstände als wirklich hingenommen. Wo vom Gegebenen oder schon Gedachten etwas unklar
gegeben ist, geht die Intention auf Klarheit, auf Heranbringung von Erfahrungsgegebenheiten
zur Näherbestimmung, zur Bestätigung usw. Die Niederschläge dieser Bewegung sind die hoch
bewerteten wissenschaftlichen Bestimmungen, von denen die apriorischen absolut einsichtig
sind.
270 einleitung in die philosophie
Der neuzeitliche Skeptizismus hat ungleich dem der Sophistik sich gegenüber
reich ausgestattete echte Wissenschaften, also Systeme von Erkenntnissen,
die in der Tat jeder Verständige in sich einsichtig begründen kann. Die
Sachlage ist demnach hier die: Vollziehen wir die vorgeschriebenen metho-
dischen Schritte der objektiven Wissenschaft in der geforderten Einstellung,
so erleben wir Schritt für Schritt Einsicht, wir sehen „So ist es“. Es ist kein
ernstzunehmender Zweifel möglich, dass diese Welt ist und dass sie nach
dem Bestand der bisherigen Erfahrung und Erfahrungserkenntnis nach den
und den Theorien zu bestimmen ist. Und doch, wenn die Reflexion sich
dem Bewusstsein zuwendet und wenn nur einmal das erkannt ist, dass
alles Erkennen, alles uneinsichtige, aber auch alles einsichtige, rein in der
Immanenz des subjektiven Bewusstseins verläuft, gerät alles in gewisser
Hinsicht ins Schwanken. Die Theorien selbst freilich werden von niemand
bestritten, aber der ganze Bau der Theorien wird in seiner objektiven Bedeu-
tung zweifelhaft. Die ganze Wissenschaft gerät ins Schwanken; sie scheint
nicht mehr schlechthin und absolut gegründete Wahrheit zu sein, sondern
sie scheint nach weiterer Rechtfertigung zu verlangen. Und auch der Sinn
seiender Realitäten, von denen in ihr die Rede ist und die sie objektiv gültig
zu bestimmen prätendiert, wird fraglich. In diese Skepsis hineingezwungen
sieht sich in gewisser Weise die ganze neuzeitliche Philosophie. Aber die
Verlegenheit, in die sie gerät, schlägt in einzelnen Erscheinungen auch in
wirklichen Skeptizismus aus. Doch nicht auf diesen, sondern auf die Frage-
stellungen kommt es uns an.
Schon Descartes sah sich mit der Herausstellung der absolut und schlecht-
hin unmittelbaren Evidenz des ego cogito in eine Verlegenheit versetzt.
Das gesamte Weltall mit allen Realitäten scheint für mich, der ich die
fundamentierende Zweifelsbetrachtung vollziehe, auf mich selbst als reines
Ich zusammenzuschrumpfen. „Reines Ich“ besagte bei Descartes nicht das
jeweilige aktuell vollzogene cogito und das darin beschlossene Ich, so wie es
sich darin unmittelbar findet, sondern besagt mens sive animus sive intellectus,
die eigene Seele, können wir sagen, rein erhalten von der Leiblichkeit, die
selbst äußeres Phänomen sei, oder auch ich als rein geistiges Wesen. Im
Selbstbewusstsein meines Geistes stellt sich in sinnlichen Phänomenen die
übrige Welt getrübt und verworren dar. Nur dieser Phänomene bin ich in
unmittelbarer Evidenz absolut sicher, der erscheinenden Welt aber nicht, sie
ist ja prinzipiell bezweifelbar.
Als unphilosophischer Mensch nehme ich das Dasein der sinnlichen Welt
ohne Skrupel hin. Bin ich Naturforscher, so folge ich meiner mathemati-
sierenden Vernunft und lasse nun nicht mehr die sinnlichen Qualitäten der
272 einleitung in die philosophie
Die ihnen zugehörige Evidenz ist unsere Rechtfertigung für den Glauben an
die Transzendenz, und doch, dass sie wirklich rechtfertigt, ist ein „Abgrund
der Wunderbarkeit“.
Im Allgemeinen begnügt man sich damit, die Unvermeidlichkeit der
Rechtfertigung der Erkenntnis durch Evidenz anzuerkennen und damit auch
die Anwendung aller Vernunftformen (aller in der Logik und Mathematik
auftretenden geistigen Gestaltungen) auf eine anderwärts schon gegebene
objektive Wirklichkeit für berechtigt zu erachten, aber nun die Frage nach
der Existenz der Außenwelt bestimmter zu stellen als Descartes, der noch
reine Mathematik und mathematische Naturwissenschaft hatte ineinander
fließen lassen. Die Evidenz als vollkommen einsichtige Gewissheit des rein
Logischen und Mathematischen könne nicht für die Annahme einer Außen-
welt zureichen. Denn damit verbleiben wir, sagte man sich, nur im Kreis un-
serer eigenen freien „Vorstellungsgebilde“. Erst in den Naturwissenschaften
transzendieren wir das Bewusstsein, sofern wir unseren subjektiven Wahr-
nehmungen und den aus ihnen mit logisch-mathematischen Mitteln erzeug-
ten theoretischen Gebilden die Bedeutung und Geltung von transzendenter
Erkenntnis geben. Da ein absolutes Evidenzerkennen hier nicht möglich
ist, eine absolute Gewissheit wie in der Logik und Mathematik, so bleibt
uns nur der Weg der Erfahrung und Wahrscheinlichkeit. Absolut gegeben
sind mir, dem denkenden Subjekt, durch innere Erfahrung als Tatsachen
meine eigenen Erlebnisse und andererseits die absolut evidente Logik und
Mathematik mit ihren prinzipiellen methodischen Einsichten (die übrigens
von vielen der Neueren wieder auf Erfahrung und Induktion zurückgeführt
werden).
Nun sucht man in langen Ausführungen zu zeigen: An sich ist es zwar
beständig eine Denkmöglichkeit, dass ich, das erkennende Ich, als solus
ipse bin und außer mir nichts ist; aber, dass es so sei, ist unendlich unwahr-
scheinlich. Betrachte ich die Verläufe der mir absolut gegebenen Empfin-
dungserlebnisse, der Erlebnisse „äußerer“ Erfahrung, so legen sie mir den
Gedanken einer transzendenten Realität, in der ihre Ursachen liegen und die
diese Verläufe zu erklären gestattet, nahe. Schon als natürlicher Mensch lege
ich meinen Empfindungen, vor aller Wissenschaft, eine räumlich-zeitliche
physische und psychophysische Welt unter, und in der Naturwissenschaft
baue ich diese Welt theoretisch aus. Die Hypothese bestätigt sich in immer
neuen Voraussagen und im ganzen praktischen Leben. Die exakte Erwä-
gung der Wahrscheinlichkeit, die der supponierten Welt und den naturwis-
senschaftlichen Bestimmungen derselben zukommt, führt zur Erkenntnis,
dass es eine geradezu überschwängliche Unwahrscheinlichkeit wäre, eine
274 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung (Man verwechselt immer wieder die absolute Gegebenheit des Immanen-
ten, die darin besteht, dass es nicht transzendent durch abschattende Erscheinung gegeben ist,
mit der Unmittelbarkeit, die ihren Gegensatz in der Mittelbarkeit der Erfahrungsanzeige hat.)
phänomenologie als apriorische wissenschaft 275
1 Randbemerkung Leibniz (und Berkeley?) sind aber wohl in Schutz zu nehmen gegen den
Vorwurf, als ob sie die realen Geister in der Welt verabsolutiert hätten. Leibniz prägt ja den
neuen Substanzbegriff des absoluten Seins, das nur Subjekt der Tätigkeiten, der Intentionalität
ist. Aber freilich Klarheiten finden wir bei ihm nicht.
276 einleitung in die philosophie
nicht. Während also der Materialismus das geistige Sein in physisches Sein,
das nach ihm absolut und an sich ist, umgedeutet hat, deutet der sogenannte
Idealismus alles materielle Sein um in ein psychologisches Gebilde in den
allein absolut seienden Geistern.
Der von Descartes begründete Dualismus aber hatte physisches und geis-
tiges Sein seiner absoluten Existenz nach gleichgestellt und dem Geistigen
nur den erkenntnistheoretischen Vorzug zuerteilt, dass es Selbstbewusst-
sein hat und sich darin in absoluter Gewissheit erkennen könne. Der mo-
derne Realismus aber, dessen Gedankengang ich vorhin geschildert habe,
pflegt, indem er die Außenwelt als unendliche wahrscheinliche Hypothese
(in der Art naturwissenschaftlich begründeter Hypothesen) zu erweisen
sucht, die dualistische Welt zu erweisen, die Welt der Physik und die der
Psychologie und Psychophysik, nach der Körper und Seelen in der Ein-
heit der Welt auftreten und dann auftreten in der psychophysisch gere-
gelten Verbindung von organischen Leibern und psychischen Erlebnissen.
Alle solche Auffassungen sind bestimmt durch den großen cartesianischen
Anstoß, der immerfort in dem beschriebenen entwerteten Sinn fortwirkt,
dass es nur eine Sphäre unmittelbarer Erfahrung gäbe, die der inneren,
der Selbsterfahrung, und dass somit die äußere Erfahrung zum Problem
wird. Sinn und Rechtsquelle objektiver Wissenschaft und aller Wissenschaft
überhaupt wird nun problematisch; erkenntnis-theoretische Analysen und
realistische und idealistische Weltinterpretationen gehen beständig Hand in
Hand. Diese bestimmen dann weiter die Behandlung der Metaphysik im
prägnanten Sinne, der Wissenschaft von den supranaturalen Fragen, wofern
man diese nicht etwa, wie es der extreme positivistische Empirismus tut, ganz
preisgibt und alle mögliche Wissenschaft auf Naturwissenschaft einschränkt.
Andererseits war schon die Rationalität der objektiven Wissenschaften ein
Problem, mit dem man gar nicht befriedigend zu Rande kommen konnte.
Wie viel mehr musste die Metaphysik zum Problem werden, für die man
doch nicht über einen Bestand fester Theorien verfügte, Theorien, die
von jedem wissenschaftlich Denkfähigen als erwiesen anerkannt werden
mussten.
Die1 Menge der Verlegenheiten war noch vermehrt dadurch, dass die
Geisteswissenschaften immer zu Schwierigkeiten Anlass gaben. Die neue
Naturwissenschaft fixierte methodisch und sachlich das Interesse auf bloße
Natur im Sinne der bloßen Sachenwelt, in der das Seelische als bloß real-
Und selbst hypothetisch hat man keine, da die echte phänomenologische Reduktion auch alle
transzendenten Möglichkeiten ausschaltet: In der Tat, hypothetisch erklären kann man auch
nur in einer hypothetischen transzendenten Welt.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 279
Gestaltungen des Wertens und schöpferischen Wollens) ist das Eine. 2)
Das Zweite sind die Wissenschaften als Systeme von begründeten Wahrhei-
ten und theoretischen Wahrheitszusammenhängen; und 3) das Dritte ist
die Welt, auf welche sich die Wissenschaften beziehen, eventuell auch die
möglichen Welten, die möglichen Objektivitäten jeder Art, die die Gegen-
standssphäre der apriorischen Wissenschaften sind.
Dem natürlich-naiven Menschen ist eine Welt sinnlich gegeben, in sie
lebt und denkt und handelt er hinein. Sie ist ihm die wahre Welt. Dann
kommt die Wissenschaft und schafft als Korrelat ihrer Theorien eine theo-
retisch bestimmte Welt aufgrund der durch Erfahrung gegebenen Welt;
und nun heißt es, das sei allein die wahre Welt. Im ersten Falle greift über
die Einzelerkenntnis der sinnlichen Welterfahrung hinaus eine mehr oder
minder mythische Weltanschauung, welche dem Vereinzelten und Unbe-
stimmten einen letzten Abschluss zu verleihen und eine Gesamtvorstellung
vom absolut Seienden sich zu gestalten sucht. Im anderen Falle knüpfen sich
solche Versuche an die in den einzelnen Gebieten wissenschaftlich erkannte
Wirklichkeit, und eine Metaphysik erwächst, die zu den Überlieferungen
der Religion Anschluss zu behalten und doch dem wissenschaftlich wahren
Sein für eine absolute und allumspannende Erkenntnis Rechnung zu tra-
gen sucht. Aber alle so erwachsene Erkenntnis ist dogmatisch; dogmatisch
sind also auch die noch so exakten Wissenschaften und die über sie hin-
ausgreifende, aber sie voraussetzende Metaphysik.1 Denn sowie durch die
cartesianischen Meditationes das reine Bewusstsein in den Gesichtskreis der
Menschheit getreten war, erscheint die objektive Wissenschaft nicht mehr
als wahre und endgültige Wissenschaft. In der ersten Begeisterung wurde
zwar die mathematische Naturwissenschaft vermöge der früher ungekann-
ten Strenge und Universalität ihrer Leistungen dafür gehalten, aber sowie
die Bewusstseinsprobleme tiefer durchdacht wurden, erhielt sie selbst und
jede noch so strenge, rein objektiv gerichtete Wissenschaft einen fraglichen
Charakter. Sie konnte als letzte Wissenschaft nicht gelten. Wissenschaft
überhaupt ist Gebilde in der Erkenntnis. Solange Erkenntnis nach Wesen,
nach Leistung nicht erforscht ist und so überhaupt das Bewusstsein nicht
erforscht ist, in dem Objektivität jeder Art sich als intentional für das
Subjekt in mannigfaltigen Erscheinungsweisen konstituiert und so konsti-
tuiert, dass sie ihm mit dem Sinn an sich seiender Wirklichkeit gegeben
ist, solange nicht aufgeklärt ist, in welchem Sinne dann Objektivität ihre
Denkgestaltung erfährt und damit ihre wahren Bestimmungen gewinnt,
1 Randbemerkung Die weiteren Seiten sind wohl nicht mehr gelesen. Vgl. die neue Anknüp-
fung, Anfang der nächsten Vorlesung Bl. 237 Statt 237 im Ms. 236 = S. 281 f..
phänomenologie als apriorische wissenschaft 281
Wissenschaften die Philosophen. Erfüllt von der Evidenz der hier sich darbie-
tenden Füllen von Wahrheiten, war man immerfort genötigt, sie als absolute
Wahrheiten zu behandeln; und so blühte denn auch weiter eine dogmati-
sche Metaphysik. Die unbehaglichen Schwierigkeiten des Bewusstseinspro-
blems suchte man nebenher durch erkenntnistheoretische Untersuchungen
zu überwinden, wobei man weit davon entfernt war, den radikalsten Gehalt
der cartesianischen Fundamentalbetrachtung herauszuarbeiten, den schon
Descartes selbst sich hatte aus den Händen gleiten lassen. So wurden in
naiver Weise dogmatische Voraussetzungen in die Erkenntnisbetrachtungen
eingeflochten und selbst dann noch, als man die Erkenntnistheorie und die
Vernunftwissenschaft überhaupt zu einer eigenen Wissenschaft verselbstän-
digt hatte. Zwei Grundfehler finden wir in der neuen Erkenntnistheorie: den
Metaphysizismus und den Psychologismus.
Bei folgender Feststellung waren wir zuletzt stehengeblieben. Die auf-
blühende objektive Wissenschaft der Neuzeit schien das Ideal absoluter,
endgültiger Erkenntnis vermöge ihrer methodischen Exaktheit zu realisie-
ren. Letzte Wahrheit über die reale Welt meinte man durch sie gewonnen
zu haben. Aber die, wenn auch unfertige Entdeckung des reinen Bewusst-
seins durch Descartes machte es immer empfindlich, dass die objektive Welt
für das erkennende Subjekt nur durch seine Erfahrungserlebnisse und in
höherer Stufe durch sein theoretisches Denken in den Formen der Wis-
senschaft gegeben ist. Sinn und Recht einer nur in subjektiven cogitationes
sich darstellenden und bestimmenden Welt werden problematisch. Die hier
entspringenden Probleme üben einen eigentümlichen Einfluss nicht nur auf
die Wertung der Erkenntnis der neuen Wissenschaften, sondern auch auf
die Deutung der Welt, die in ihnen zur Erkenntnis kommt. Ohne dass diese
Wissenschaften im mindesten bestritten werden, ohne dass sie nach ihren
theoretischen Ergebnissen und Methoden im mindesten alteriert werden,
verlieren sie doch den Rang absoluter Erkenntnis, nämlich der Sinn der
in ihnen erkannten Welt erfährt verschiedene Interpretationen. Vor allem
trifft das die physische Natur. Die einen nehmen sie, so wie die exakte
Naturwissenschaft sie bestimmt, als absolute Wirklichkeit an und glauben,
sie als das philosophisch rechtfertigen zu können. So Descartes und seine
Schule. Demgegenüber treten immer neue idealistische Theorien auf, welche
die physische Welt, unter vollster Anerkennung der Naturwissenschaft, aus
philosophischen Gründen glauben, als ein bloß irreales Phänomen in den
allein realen Geistern interpretieren zu müssen.
Wir können auch sagen: Naturwissenschaft und Philosophie der Natur
treten in Kontrast. Es stellt sich in der Neuzeit heraus, dass die noch so
282 einleitung in die philosophie
mäßig eine natürliche Ordnung hier vorgezeichnet ist. Das Erkennen ist
an sich zuerst natürlich-naiv auf den vorgegebenen Gegenstand gerichtet,
es geht in direkter Theoretisierung an seine wissenschaftliche Bestimmung
heran. Die so erwachsenden Wissenschaften sind die dogmatischen. Erst
ein Zweites ist die Reflexion auf die reinen Bewusstseinsweisen, in denen
die Gegenstände erfahrungsmäßig vorgestellt und theoretisch gedacht sind.
Wird nun aufgrund dieser Reflexion das Erkenntnisbewusstsein zum Thema
einer Wissenschaft der höheren Stufe, so ist freilich das Bewusstsein, in dem
dieses Erkenntnisbewusstsein zur wissenschaftlichen Erkenntnis kommt, ein
neues Bewusstsein, aber eben doch Bewusstsein, und wir sehen voraus,
dass all die Philosophien, dass all diese erkenntnis- und sinnestheoretischen
Untersuchungen auf das eine Bewusstsein überhaupt zurückführen, auf die
Einheit, die a priori alle möglichen Bewusstseinsweisen verbindet, kurz auf
die Einheit des Bodens der reinen Phänomenologie.
Nehmen wir den Begriff „Philosophie“ im ältesten und im Grunde ge-
nommen nie preisgegebenen Sinne einer universalen und absoluten Er-
kenntnis und gehen wir mit diesem Begriff sozusagen konsequent bis ans
Ende, so sehen wir, dass er in einer Beziehung Unendlichkeiten einschließt,
also nicht als ein erreichbares praktisches Ideal gelten kann: Das Reich
des erkennbaren Seins überhaupt und jedes besondere Erkenntnisgebiet in
seiner begrifflich-regionalen Umgrenzung ist unendlich. Andererseits aber
kann sehr wohl das Ziel gestellt werden, als ein zum Wesen erkennender
Vernunft überhaupt Gehöriges, die Allheit möglicher Wissenschaften zu
entwerfen und für jede Seinssphäre alle Dimensionen vernünftig zu stel-
lender Probleme in Arbeit zu nehmen. Da aber zeigt es sich uns schon bei
apriorischer Erwägung, dass jedes mögliche Sein eingespannt ist in den von
uns so oft erwogenen Korrelationen und dass für jede Seinsart dogmatische
Wissenschaft die erste, aber nicht absolute Wissenschaft ist, weil sie eben
eine ganze Dimension von Problemen noch nicht behandelt, die an jedes
Sein von Seiten des Bewusstseins, für das es sich konstituiert, gestellt werden
müssen. So sind die vernunfttheoretischen Disziplinen im spezifischen Sinne
philosophisch darum, weil sie die dogmatische Erkenntnisleistung nach einer
wesentlichen Seite ergänzen, indem sie eben die unverstanden gebliebene
Objektivität der Wahrheit und des Seins erkennen lassen als Erkenntnisleis-
tung und indem sie von da her ihren geistigen Sinn enthüllen und verständlich
machen.
Rückblickend auf den Gang unserer früheren Vorlesungen, erkennen
wir, dass Philosophie im universalen Sinne zunächst das Ziel universaler
Tatsachenwissenschaft von dem natürlich gegebenen Weltall stellen muss.
284 einleitung in die philosophie
Aber dieses Ziel ist als streng wissenschaftliches nur nach apriorischen
Prinzipien realisierbar. Das führt notwendig auf den Entwurf eines Systems
der Gesamtheit wissenschaftstheoretischer Disziplinen, zunächst der onto-
logischen und noematischen Disziplinen, welche in formaler Allgemeinheit
von möglichen Gegenständlichkeiten überhaupt, dann, herabsteigend von
möglichen individuellen Gegenständlichkeiten und Welten, von möglichen
Naturen und Kulturen handeln, wie wir das ausführlich dargelegt haben.
Weiter ist erfordert ein sich diesem formalen Rahmen durch materiale
Bestimmung einfügendes System der material-apriorischen Disziplinen wie
der Geometrie, der apriorischen Mechanik. Alles zusammen ergibt sich
nach dem Leitfaden des Systems der Wissenschaftslehren ein universales
System apriorischer und empirischer Wissenschaften natürlicher Blickrich-
tung. Diese ergeben sich offenbar nicht als bloß geordnetes Nebeneinan-
der, sondern es sind dem Erkenntnisrang nach übergeordnet die apriori-
schen Wissenschaften als Wissenschaften von den prinzipiellen Allgemein-
heiten gegenüber den Tatsachenwissenschaften, deren Faktizitäten unter
den Prinzipien stehen. Ferner gründen sich die letzteren, die Tatsachen-
wissenschaften, auf die ersteren (die Wesensgesetze möglicher Wirklichkei-
ten gelten natürlich auch für die faktischen Wirklichkeiten und dienen
dann zu ihrer theoretischen Bestimmung). Methodisch enthalten die aprio-
rischen Wissenschaften die Prinzipien aller Methode der Wissenschaft von
der faktischen Wirklichkeit: So ist die Geometrie, aber auch die formale
Mathematik, das große methodische Instrument der Naturwissenschaften.
Innerhalb der apriorischen Wissenschaften wieder haben die formalen die
höhere Dignität, sie umspannen das Prinzipielle im höchsten Sinne. In ihrer
formalen Universalität der Geltung bilden sie einen Mutterboden prinzipi-
eller Erkenntnis, auf den alle Tatsachenwissenschaften, wie verschiedenen
Regionen sie angehören mögen, zurückbezogen und durch den sie formal
vereinheitlicht sind. Danach können wir auch sagen: Eine Wissenschaft ist
umso philosophischer, je größer die prinzipielle Verarbeitung in ihr ist, sie
ist umso mehr exakte Wissenschaft. Und an sich philosophischer ist die
reine Geometrie als die Physik, und die formale Mathematik gegenüber
der Geometrie.
Aber all diese Wissenschaften einer ersten, sozusagen gerade auf Ge-
genstände gerichteten Erkenntnisstufe sind dogmatisch. Sie alle bedürfen
der Rückbeziehung auf das reine Bewusstsein, genauer gesprochen: auf
das reine Vernunftbewusstsein. Hier bedarf es zunächst einer universalen
Phänomenologie als einer apriorischen Wissenschaft vom möglichen reinen
Bewusstsein überhaupt nach all seinen a priori vorgezeichneten Formen
phänomenologie als apriorische wissenschaft 285
zurückbezogen werden muss und dass eine Theorie der Vernunft die Vor-
aussetzung ist für eine durchaus notwendige wissenschaftliche Erkenntnis
von einer höheren Stufe, als welche die natürlich-dogmatisch gewachsenen
Wissenschaften sie darbieten. Die immer neuen Verwirrungen, in die die
Menschheit hineingerät durch die vernunfttheoretische Reflexion, und die
immer neu gewendeten Skeptizismen, welche die Menschheit beirren und
zeitweise innerlich lähmen, haben ihre Quelle in der Unvollkommenheit,
mit der die Problematik der neuen Dimension erfasst, in dem Mangel an
Radikalismus, mit der die Idee des reinen Bewusstseins verfehlt und ihm
immer wieder das empirische Bewusstsein untergeschoben wird.
Begreiflicherweise nimmt man die durch so strenge Wissenschaften, wie es
die Naturwissenschaften sind, erkannte Welt für die absolute Welt hin, selbst
nachdem man die Notwendigkeit von vernunfttheoretischen Forschungen er-
kannt hat. Begreiflicherweise sieht man bei diesen zunächst Vernunft als ein
Vermögen des menschlichen Geistes an und gerät so in eine bald empirisch-
naturwissenschaftlich behandelte, bald metaphysisch konstruierende Psy-
chologie. Locke, mit dessen Versuch über den menschlichen Verstand die
Erkenntnistheorie zum ersten Mal als eine eigene wissenschaftliche Disziplin
auftritt, gibt eine Psychologie der Erkenntnis und glaubt doch durch sie eine
Theorie der Vernunft, eine Aufklärung über Sinn und Leistung der Erkennt-
nis geben zu können. Und dieser Psychologismus ist noch bis zum heutigen
Tag in der Welt vorherrschend (obschon in verschiedenen Gestaltungen,
selbst solchen, die heftige Angriffe gegen das, was man Psychologismus
dann zu nennen beliebt, nicht ausschließen). Aber man muss sich nur diesen
Widersinn klar machen: Ist die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkennt-
nis überhaupt problematisch, versteht man nicht, wie Erkenntnis über sich
hinaus Bedeutung haben und was der Sinn eines in der Immanenz der Er-
kenntnis angeblich erkannten Transzendenten sein kann, so ist es doch ein
widersinniger Zirkel, irgendwelche transzendente Objektivität als gegeben,
als seiend vorauszusetzen, also die Welt, den Menschen, den menschlichen
Geist als Realität vorauszusetzen, da doch auch all das selbst problematisch
geworden ist. Erst die Herausarbeitung des reinen Sinnes der cartesianischen
Zweifelsbetrachtung und die Methode der phänomenologischen Reduktion
macht die Eigenheit und das Wesen des reinen Bewusstseins klar, eröffnet
die Pforte für eine Wissenschaft von den Wesensgestaltungen des reinen
Bewusstseins, damit aber auch die Pforte zu einer reinen Erkenntnistheorie,
die nicht von menschlicher Erkenntnis spricht, sondern vom reinen Wesen
möglicher Erkenntnis und möglichen Bewusstseins überhaupt nach Noesis,
Noema und noematisch gefasstem Sein. So ist die reine Phänomenolo-
phänomenologie als apriorische wissenschaft 287
gie mit ihrer unendlichen Fülle selbsteigener Erkenntnisse und mit ihrem
System von Sonderdisziplinen die Grundwissenschaft für alle Philosophie
im prägnanten Sinne und der Boden, auf den alle Probleme einer letzten
Welterkenntnis zurückbezogen sind.
Aus den Vorlesungen
„Einleitung in die Philosophie“ von 1916 und 1918
Descartes
1 Randbemerkung Aus Späterem: Rückblick, wichtig als Leitfaden der ganzen Behandlung
der objektiven Geltung der Evidenz, die in seinen Meditationes auch sonst
eine große Rolle spielt. Dadurch gewann nun die erkenntnistheoretische
Problematik eine neue Note. Das Problem der Transzendenz, an das wir
weder bei der Erörterung einer reinen Bewusstseinswissenschaft, noch bei
der ersten Erwägung einer Erkenntnistheorie gedacht hatten, kam uns,
und recht peinlich, zum Bewusstsein. Hatten wir früher unter dem Titel
„Erkenntnistheorie“ an eine systematische und bis zu den letzten Wurzeln
vordringende Methodologie gedacht, also alles auf die Evidenz bezogen,
deren Geltung dabei gar nicht in Frage gestellt war, verhält es sich jetzt
anders. Peinlicherweise wurde nun gerade sie zum Rätsel. Die Folge davon
ist: Die gesamte Möglichkeit einer über das reine Bewusstsein hinausrei-
chenden Erkenntnis schien in Frage gestellt, und das drohende Gespenst des
Solipsismus tauchte auf.
Meiner reinen Bewusstseinserlebnisse bin ich, der Erkennende, mir in
absoluter Zweifellosigkeit bewusst: also in meinem Wahrnehmen, dass ich
wahrnehme und dabei die und die „Wahrnehmungsbilder“ habe; wenn ich
mich erinnere, dass ich die und die Erinnerungsbilder habe; wenn ich urteile,
dass ich das und das meine; wenn ich physikalische Theorien durchdenke,
dass ich eben sie denke usw. Aber wie steht es mit dem Wirklichsein der
Welt, die ich in solchen Bewusstseinserlebnissen zu erfassen und wissen-
schaftlich zu erkennen vermeine? Der naive Mensch glaubt, sie sei in der
Erfahrung unmittelbar gegeben. Aber sind nicht in Wahrheit bloß Bilder
von ihr gegeben? Das Ding, etwa ein Haus, ist das, worauf sich die man-
nigfaltigen fließenden Wahrnehmungsbilder von diesem Haus beziehen, und
nicht das Haus selbst. Sonst hätte ich ja bei jeder Blick- und Kopfwen-
dung einen anderen Gegenstand. Die Wahrnehmungsbilder sind ja immer
neue.
Dabei ist zu beachten, dass mein Leib, den ich ohne weiteres zu meinem
Ich rechne, auch nur ein Transzendentes ist, wahrgenommen durch Wahrneh-
mungserscheinungen, so wie ein anderes Ding. Die Berufung auf die exakte
Wissenschaft nützt nichts. Denn die Einsichtigkeit ihrer Begründungen ist
selbst etwas im Bewusstsein selbst sich Einstellendes, ein Bewusstseinscha-
rakter der Erkenntniserlebnisse. Descartes hat aber die transzendente Trif-
tigkeit des Evidenzcharakters in Frage gestellt. In der Tat ist doch (wird man
sagen) denkbar, dass im Bewusstsein alles so läuft, wie es läuft, mitsamt den
Erlebnischarakteren, die da „einsichtige Begründung“ machen, während in
wirklicher Wirklichkeit gar nichts ist. Kann uns nun die Berufung auf die
göttliche veracitas nichts nützen, da Gott selbst für mich, den Erkennenden,
nur ein transzendent Gedachtes ist, so ist die Verlegenheit groß.
290 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Jeder Seinsprätention, möge sie auch als Aussage der Wissenschaft mir gegeben
sein, setze ich gegenüber den Ansatz „Es ist nicht“, und diesen Ansatz suche ich durchzuführen.
Das heißt, ich suche, mir diesen Gegenfall des Nichtseins zu vollkommener Klarheit zu bringen.
Gelingt das, so gewinne ich damit die Evidenz der Möglichkeit des Nichtseins. Was gegenüber
meinem, sei es auch wissenschaftlichen Überzeugtsein, so sich herausstellt als möglicherweise
nicht seiend, schließe ich aus. Bleibt nun aber ein Bestand übrig von solchem, was zur Evidenz
führt, dass ein Nicht-Sein unmöglich, undenkbar sei, was also notwendig als seiend gesetzt sein
und bleiben muss?
descartes 291
dass ich sagen müsste: „Ich nehme das für einen Menschen, und es ist eine
Puppe“, „Ich nehme das für ein Buch, und es ist eine Schokoladenbüchse“
usw. Ein Mensch, ein Buch: Das fordert einen bestimmten Übergang meiner
ersten Wahrnehmung, die etwa bloß Gesichtswahrnehmung war, in weitere
und weitere Wahrnehmungen und nicht bloß visuelle, sondern taktuelle
Wahrnehmungen, und so für Wahrnehmungen jeder Art, die in einem
bestimmten Stil sich zur einstimmigen Erfahrungseinheit verbinden müssen.
Ob nun aber der wirkliche weitere Verlauf meiner Erfahrung diesem Stil
entspricht, ist nicht absolut sicher; jedenfalls ist ein anderer Verlauf eine
anschauliche Möglichkeit. Mit anderen Worten, immer kann ich mir, und
das ist ganz evident, statt eines bestätigenden, einen widerlegenden, einen
das „wirklich sein“ aufhebenden Wahrnehmungsverlauf imaginieren; es ist
also das Wirklich-Sein jedes in einer gegebenen Wahrnehmung Wahrge-
nommenen nicht jedem möglichen Zweifel entzogen. Jedes, wie sehr es in
der Erfahrung als leibhaftig greifbare Wirklichkeit vor mir dasteht, könnte
trotz dieser Greifbarkeit nicht sein. Immerfort bleibt es offen, dass der
Rechtsanspruch der Erfahrung wirklich im Gang weiterer Erfahrung zur
Aufhebung, zur Entrechtung kommt.
Ist somit prinzipiell die ganze Welt der Dinge, der menschlichen Leiber
und damit der Menschen überhaupt und so die ganze reale Welt meiner
Erfahrung möglicherweise nicht seiend, trotz meiner jeweiligen aktuellen
Erfahrung, so setzt diese universell evidente Nichtseins-Möglichkeit etwas
doch als seiend voraus: das Faktum des Bewusstseins, in dem ich diese Zwei-
felsbetrachtung anstelle. Offenbar unberührt bleibt durch einen prinzipiellen
Zweifelsversuch der gesamten äußeren Erfahrungswirklichkeit das gesamte
„Bewusstsein“. Das „Bewusstsein“, das aktuelle cogito, das umfasst all die
Erlebnisse, die ich mit den Worten bezeichne: Ich nehme das und das wahr,
ich sehe, höre, fühle das, ich erinnere mich an das, ich erwarte das, ich denke
das, ich urteile, schließe, beweise, ich erwäge, zweifle, aber auch ich halte
das für schön, ich fühle das als unangenehm oder angenehm, nützlich oder
unzweckmäßig, ich begehre, ich will usw.1 Wo immer ein solches Ich-Erleben
im reflektiven Blick des „Ich nehme es wahr“ steht, schließt eben dieses
Wahrnehmen die Möglichkeit aus, dass sein Objekt, nämlich das Erleben
1 Gestrichen Das kann ich, der Erwägende, jeweils Reflektierende, Zweifelnde usw. sagen.
Ob das in diesen Bewusstseinsakten, den Akten des lebendigen cogito Bewusste wirklich sei,
ob Dinge, Menschen, Himmelskörper, ob Erlebnisse eines Menschen sind, ob das, was ich für
schön halte, schön ist, ob es gut, wert ist usw., das kann ich in weitem Umfang als nicht seiend
ansetzen und mir auch vorstellen, dass das Setzen des Nichtseins ein Recht haben könnte.
292 einleitung in die philosophie
nicht sei. Dieses Erleben ist seinerseits selbst Bewusstsein von dem oder
jenem, Vorstellen eines vorgestellten Dinges, Erinnern eines Erinnerten,
Denken irgendeines Sachverhalts usw.1
Also da habe ich einmal einen absoluten Seinsboden: dieser Strom meines
Bewusstseins, soweit ich ihn im reflektierenden Blick fixiere und in seiner
reinen Immanenz bleibe. Und da habe ich eine absolute Erkenntnis, wenn
auch zunächst nur in einer niedersten Form, die der immanenten Wahrneh-
mung. Jede Wahrnehmung hingegen von räumlichem Sein, der materiel-
len raum-zeitlichen Wirklichkeit, ist offenbar in prinzipieller Allgemeinheit
„bezweifelbar“, ein Wort, das aber nur sagt und sagen darf: Ein Zweifel,
eine Negation ist nicht absolut ausgeschlossen, trotz wahrnehmungsmäßiger
Gegebenheit. Völlig ohne Anlass und Grund ist der Zweifel allerdings in
jedem Fall, wenn ich eben keinen Erfahrungsgrund habe, der gegen meine
aktuelle Wahrnehmung, zum Beispiel von diesem Hörsaal mit diesen Her-
ren etc. spricht. Nur, dass eben immer die Möglichkeit offen ist, dass im
Fortgang der Erfahrung hinterher die Gegengründe kommen, während ich
für das Sein des „Ich nehme wahr“ und jedes reine Ich-Erlebnisses, das
ich im reflektierenden Blick als Erlebnisfaktum vorfinde, keine erdenklichen
Gegengründe finden kann, es ist absolut gegeben.
Also diesen höchst merkwürdigen Kontrast gilt es in den Brennpunkt
der Aufmerksamkeit zu stellen: Von der Ding- und Menschenwelt, kurzum
von der ganzen Welt, die im Raum sich ausbreitet, habe ich „äußere“
Erfahrungen und daraufhin Erfahrungserkenntnis. Jede solche Erfahrung,
während ich sie mache (darunter jede unmittelbare Wahrnehmung), lässt
die Möglichkeit des Nichtseins des Erfahrenen offen. Das betrifft natürlich
auch die Erfahrung von meinem Leib, diesem räumlichen Ding. Anderer-
seits kann ich meinen Blick auf mein Erlebnis des Erfahrens, auf mein
Wahrnehmen von all diesen Dingen, auf mein Erinnern, kurzum überhaupt
auf mein Bewusstsein richten (und somit von ihm Wahrnehmungen und
Erfahrungen haben). Stelle ich hier bei diesen „immanenten“ Wahrneh-
mungen den Negationsversuch an, so ist es evident: Während ich mein
Bewusstsein wahrnehme, bleibt das Nichtsein des Bewusstseins nicht offen.
Es ist, während ich mein Bewusstsein erlebe und es im wahrnehmenden
Blick habe, schlechthin unmöglich, dass es nicht sei. Das ist also der Sinn der
1 Gestrichen Im Voraus kann ich dabei offenbar sagen, auch ohne mich in Erwägung des Seins
und der Seinsmöglichkeit dieses im Bewusstsein Bewussten einzulassen, wie immer es sich
mit diesem Sein verhalten mag, Bewusstsein selbst ist, absolut und unzweifelhaft.
descartes 293
1 Gestrichen Sollte ich da nicht eine Reihe wertvoller und vielleicht absolut gültiger For-
schungen anstellen können? Da auch all die Erlebnisse, die der allgemeinste Titel „Erkenntnis“
umspannt, und darunter natürlich auch die mit dem Bewusstseinscharakter der Evidenz aus-
gestatteten in diesen Rahmen fallen, sollte da nicht eine Durchforschung des erkennenden
Bewusstseins nach seinen möglichen Gestaltungen, seinen Arten, Formen, möglichen Abwand-
lungen, Vereinheitlichungen und Evidenzmodi möglich sein? In Freiheit können wir doch Ab-
wandlungen der Erkenntniserlebnisse in Form reiner und immanenter Imagination vollziehen
und die idealen Möglichkeiten und Verträglichkeiten, andererseits Unmöglichkeiten und Un-
verträglichkeiten erfassen. Zum Beispiel, eine wirklich erlebte Wahrnehmung können wir uns
modifiziert vorstellen, sie übergeführt denken in verschiedene mögliche Wahrnehmungsreihen,
unter den Titeln etwa „Ich denke mir, ich ginge auf das Ding zu, ich berührte es, ich ginge herum“
usw. Auf diese Weise können wir den allgemeinen Stil der Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten
studieren, die zur Einheit eines und desselben Dinges gehören. Das können wir doch tun, ohne
die wirkliche Existenz irgendeines Dinges zu verwenden. Oder wir können einen Satz, der uns
vorschwebt, negiert denken, in hypothetischer Form verwandelt oder in disjunktiver Verknüp-
fung mit einem beliebigen anderen Satz usw. Das alles hält sich, wenn wir in Konsequenz un-
seres Entschlusses, von keiner Transzendenz Gebrauch zu machen, wirklich in der immanenten
Sphäre, obschon in einer Sphäre einer Phantasie-Immanenz, einer Immanenz von Möglichkeiten
immanenten Seins. Aber wenn uns eben die Möglichkeiten interessieren, so ist das der rechte
Boden. Genauso wie ja der Geometer kein Phantast ist, wenn er in seiner geometrischen
Phantasie Linien zieht und Figuren sich abwandeln lässt. Als reiner Geometer will er ja nichts
anderes als die Gesetzmäßigkeiten, die alle im reinen Raum möglichen Figuren beherrschen,
erforschen. Auf Denkmöglichkeiten ist er gerichtet. Können wir dann zum Beispiel nicht, rein
in dieser Sphäre verbleibend, erforschen, was zum Beispiel in der Idee der „Wahrnehmung“
als Typus für eine geschlossene Gruppe ideal-möglicher Bewusstseinsgestaltungen beschlossen
ist, welche möglichen Differenzierungen sich ergeben? Oder die Frage aufwerfen: Was macht
den eigentümlichen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Einbildung, von Wahrnehmung
und Erinnerung, Erinnerung und Erwartung usw.? All diese Unterschiede, so festgestellt, wie
sie aus dem eigenen Wesen solcher Akte selbst hervorgehen. Und so für alle Wesensartungen
von Erkenntniserlebnissen. Denn Erkenntnis ist weiter eine wunderbare Sache, die auch
umfassende Forschungsmöglichkeiten zu eröffnen scheint.
296 einleitung in die philosophie
aber auch als wert, als gut, als schön etc. Also ist der Titel „Bewusstsein“
allumspannend. Wenn wir von keiner Wissenschaft jetzt Gebrauch machen
dürfen, keine uns schlechthin gilt und gelten soll, so haben wir andererseits
alle Wissenschaften mit all ihren Erkenntnisakten in unserer immanenten
Sphäre; aber die Wissenschaften sind in ihr nur als Phänomene, genauer,
als Gebilde des Bewusstseins, als wirkliche und mögliche Zusammenhänge
von Erkenntniserlebnissen, die wir in der Reflexion studieren, und zwar in
sich selbst, als was sie sind und was sie über sich in der Weise des Meinens
hinausgehend meinen. Das „Über-sich-hinaus“ gehört zum Wesensbestand
des Bewusstseins selbst.
Wenn, ideal gesprochen, Wissenschaften aus einsichtig begründenden
Akten hervorgehen und durch und durch Einsehbares aussagen und wenn
sie dadurch ihr Gegenstandsgebiet als seiend und soseiend erkennen (wie
es in Wahrheit ist), so drücken diese Worte doch Zusammenhänge von
Phänomenen der Erkenntnis aus mit Beziehungen auf Erkanntes, das in
den Erkenntnissen selbst Gemeintes, eventuell im Charakter der Einsicht
als wahrhaft seiend Gegebenes ist. Also rein auf die immanenten Erlebnisse
selbst und auf den ihnen einwohnenden Sinn hinblickend und das Wesen
der Bewusstseinsbeziehungen von Bewusstsein und Bewusstem studierend,
können wir, scheint es, sehr wohl erkenntnistheoretische Studien treiben und
absolut voraussetzungslos, insofern als wir keinen Schritt über die absolute
Evidenz des (passend erweiterten) cogito hinaus zu machen haben.
Das wird wohl genügen, um Ihnen zunächst ganz allgemein den Gedan-
ken nahezubringen, dass hier vielerlei zu sehen, im Verhältnis von Meinen
und Gemeintem, Bewusstsein und Bewusstseinsgegenständlichkeit, vieler-
lei immanent zu studieren sein muss und in einer Weise, die keine der
gewöhnlichen, auf transzendente Sachen bezogenen Wissenschaften irgend
voraussetzt.
Wie ist da nun die Stellung von Descartes, der doch der Entdecker des
reinen Bewusstseins ist? War er der Schöpfer einer reinen Bewusstseins-
wissenschaft und speziell einer reinen Erkenntnistheorie? Nein. Dass sich
hier ein Feld der Wesensforschung eröffnet, das sieht er nicht. Er sieht
nicht, dass die von ihm selbst so lebhaft geforderte Vernunftforschung,
die vor allen Wissenschaften Wesen und Leistungsfähigkeit der Vernunft
klarstellt, sich auf diesem Feld zu bewegen hätte und im Rahmen einer
universellen transzendental-reinen Bewusstseinsforschung zu vollziehen sei.
Wie ihm auch nicht einen Augenblick auch nur der Gedanke beifällt, dass es
sich hier überhaupt um ein Forschungsfeld, um eine Domäne einer eigenen
Wissenschaft handeln könnte. Für ihn ist die ganze Zweifelsbetrachtung nur
298 einleitung in die philosophie
ein methodisches Mittel, um die Zweifellosigkeit der Existenz des Ich mit sei-
nen cogitationes herauszustellen, und dabei kommt es ihm vor allem auf die
Ich-Existenz an, der er sogleich unterschiebt die vermeintliche Feststellung
einer substantia cogitans. Wie viel Metaphysisch-Dunkles und jedenfalls die
reine Immanenz Transzendierendes mit dem traditionellen Substanzbegriff
einströmt, merkt er nicht.1 Er verfällt überhaupt, nachdem er auf wenigen
Seiten den absoluten Boden erreicht, in immer neue metaphysische Präsup-
positionen und immer aus demselben Grund, nämlich durch Verwendung
von ihm vermeintlich klar und deutlich erfassten Begriffen, wobei er eben
nicht sieht, dass alle letzten Begriffsklärungen und insbesondere die von fun-
damentalen Begriffen der Realität (wie Realität selbst, Substanz, Kausalität,
Raum, Zeit usw.) durchaus auf dem absoluten Feld geleistet werden müssen,
das durch ihn sichtlich geworden ist.
So wenig Descartes, und mit ihm die Folgezeit, die Nutzbarkeit des reinen
Bewusstseinsfeldes erkannt hat, so war seine Arbeit nicht umsonst getan. Die
bloße Tatsache, dass die Meditationes von ihrem Erscheinen an zu den gele-
sensten Werken der philosophischen Weltliteratur gehörten, lässt vermuten,
dass die Wendung zur Bewusstseinsanalyse und auch zum Idealismus, die in
steigendem Maß die Entwicklung der Philosophie bestimmt (mag sie auch
lange in psychologistische Abwege geraten), auf Descartes zurückzuführen
ist. Was ihn selbst anbelangt, so schließt, was wir gegen ihn mit Recht einzu-
wenden hätten, doch nicht aus, dass er in vielen gelegentlichen Reflexionen
vernunftkritisch höchst Wertvolles gesehen hat; nur, dass er vermöge seiner
prinzipiellen Unklarheit das Gesehene nicht rein zu erhalten und auf den
Boden jenes reinen Bewusstseins zu stellen vermag und dann in seinen
erkenntnistheoretischen Reflexionen auf folgenreiche metaphysische und
psychologistische Abwege gerät. Dem Führer von überwältigender Größe
folgt dann aber die Zeit. Und auch wo sie gegen ihn streitet, ist sie in ihren
Voraussetzungen, in ihrem ganzen Stil von ihm abhängig.
Unter den einflussreichen Lehren des Descartes bzw. unter jenen Abwe-
gen, die in der Linie unserer Betrachtungen liegen (die ja die Entwicklungs-
motive einer Philosophie neuen Sinnes, nämlich einer vernunftkritischen
Philosophie klarstellen wollen), kommt für uns jetzt besonders in Betracht
seine berühmte Lehre von den ideae innatae, in welcher über die letzten
1 Randbemerkung Die Hauptsache ist aber: Mit der substantia cogitans glaubt Descartes,
ein Stück der Welt absolut gesichert zu haben, und nun hält er es für seine Aufgabe, die
bewusstseinstranszendente Ergänzung zu erweisen: Vater des Realismus und Dualismus.
descartes 299
1 Randbemerkung Alle Sätze führen zurück auf Grundsätze. Alle Begriffe auf Grundbegriffe;
gesprochen: Die Seele erinnert sich der Ideen wieder, die sie dereinst in
ihrem vor-sinnlichen Leben, als sie noch auf geflügelten Gespannen im
Gefolge der Götter in der idealen Welt dahinflog, geschaut. Doch lassen
wir den schönen Mythus beiseite und lassen wir hier auch die Fragen der
historischen Umbildung der platonischen Lehre im Altertum und ihre Nach-
wirkung im Mittelalter beiseite, desgleichen die Art, wie sie in der Re-
naissance, hauptsächlich durch Ciceros Schriften vermittelt, in der Prägung
des Stoizismus von Neuem Wurzel gefasst hat und überlegen wir den Sinn
der cartesianischen Lehre von den eingeborenen Begriffen und Sätzen. Was
macht eigentlich ihren Vorzug gegenüber jener anderen Art unmittelbarer
Erkenntniselemente, nämlich der sinnlichen Erfahrungsgegebenheiten aus,
die da unter dem Titel „verworrene Sinnlichkeit“ vom Rationalismus degra-
diert werden?)
Da1 liegt ein uraltes Gedankenmotiv zugrunde. In der sinnlichen Erfah-
rung werden wir von außen bestimmt. Die sinnlichen Daten (Farben, Töne
etc.), mit denen bekleidet wir vermeintlich die Dinge gegeben haben, stam-
men von den Einwirkungen, die Dinge an sich selbst auf unsere Sinnesorgane
bzw. Sinnesvermögen haben. Aber wie sehr sie sich als vermeintliche Bilder
von Dingqualitäten ausgeben, sie für das zu halten besteht kein Grund. Die
Wirkung braucht der Ursache nicht ähnlich zu sein. Und zudem: Die neue
Naturphysik zeigt ja das wahre Sein als unsinnlich bestimmt. Jedenfalls:
Sinnlichkeit ist kein Prinzip der Geltung. Sie bezeichnet eine Ursprungs-
art von Erkenntnistätigkeiten, die prinzipielle Wahrheiten nicht verbürgen.
Ganz anders die rationale Erkenntnis, und zwar, um gleich die Grundstufe zu
nehmen, die Erkenntnis der Grundbegriffe und Grundsätze. Diese entspringt
nicht von außen her, sondern in uns selbst. Nun aber kommt der Zweifel:
Warum soll der Ursprung in der seelischen Innerlichkeit objektive Gültig-
keit verbürgen? Könnte nicht ein mächtiger Lügengeist solche rationalen
Vorstellungen und Urteile in unsere Seele hineinerzeugt haben und sogar
sie ausgestattet haben mit dem Licht der Evidenz, während ihnen doch
in Wahrheit, in der Objektivität selbst nichts entspricht? Nun endet die
Sache theologisch. Gott, der schöpferische Urquell aller Wirklichkeit und
seinem Wesen nach ein wahrhaftiger Gott, hat unsere Seelen geschaffen
und kann uns nicht täuschen wollen wie ein Lügengeist. Er hat unsere
rationale Erkenntnis finden und trägt ihre Grundbegriffe und Grundsätze in sich. Aber das
Empirisch-Sinnliche ist bloß subjektiv-relativ. Das liegt nicht in ewiger Identität in ihm, sondern
wechselt zufällig, „von außen her“.
1 Randbemerkung Das passt hier in dieser Form nicht gut.
descartes 301
Seelen mit dem ursprünglichen Vermögen, aus uns selbst diese Begriffe
und Sätze zu entwickeln, ausgestattet, und sie zu entwickeln mit dem Licht
der Evidenz. Dieses Licht hat uns Gott als Kennzeichen ihrer Triftigkeit
geschenkt.
In solchen Theorien bekundet sich sozusagen ein Sündenfall der echten
transzendentalen Erkenntnistheorie in die Theologie und in gewisser Weise
auch in die Psychologie: sofern der Ursprung der Geltung psychologisch
gefasst wird, als ein kausales Hervorgehen der realen Erkenntnisakte aus
der seelischen Innerlichkeit und mittelbar dann aus Gott, dem realen Prinzip
alles, auch des seelischen Seins. Natürlich liegt es hier nahe einzuwenden:
Vorausgesetzt ist in solchen Theorien das Dasein der Seele und ihr kau-
sales Verflochtensein in den Weltzusammenhang und in die Beziehungen
des göttlichen Schaffens. Wissen wir wirklich von all dem etwas, so sagt
das: Wir haben darauf bezüglich strenge Erkenntnisse, und diese sind doch
selbst wieder Erkenntnisse. Wie weisen sich diese strengen Erkenntnisse
als solche aus? Doch nur durch ihre Evidenz in unmittelbaren oder mittel-
baren Begründungen. Aber stellt nicht die vorliegende Theorie und jede
des bezeichneten Stils alle Evidenz hinsichtlich ihrer objektiven Geltung in
Frage? Fasst sie das natürliche Licht nicht als einen Erlebnischarakter auf,
der ebenso gut mit objektiver Triftigkeit als mit Untriftigkeit verbunden
sein könnte? Erst der Erweis des göttlichen Daseins und seiner Wesens-
beschaffenheiten stürzt angeblich die Hypothese des Lügengeistes, gibt der
Evidenz objektiven Wert; und so drehen wir uns offenbar im Zirkel. Auch
so kann man sagen: Erst wird da die Evidenz als das gefasst, was echte
Erkenntnis vom blinden Meinen unterscheidet, und dann wird sie doch selbst
wieder ganz wie ein blindes Meinen behandelt, das noch der Rechtfertigung
bedarf, einer Rechtfertigung, die doch selbst wieder nur durch ihre Evidenz
sich unterscheiden könnte von einer Scheinrechtfertigung und von vagem
Meinen.1
Wir sehen hier also an einem ersten Beispiel, wie peinlicher Widersinn
sich sofort herausstellt, sobald man im Bemühen, die Geltung der Erkenntnis
aufzuklären, darauf gerät, die Idee vom „Ursprung der Erkenntnis“ real-
kausal zu denken. Es ist von vornherein klar, dass derartige Fragen nicht bloß
die Natur und die Naturwissenschaft, sondern alle Wissenschaft überhaupt
1 Gestrichen Descartes gibt den ihn jedenfalls wie seine Zeitgenossen bestimmenden Ge-
dankengang nicht selbst in der beschriebenen Weise; er sucht erst den objektiven Wert der
Evidenz.
302 einleitung in die philosophie
angehen. Selbst die reine Arithmetik, obschon sie nicht auf Realität geht,
geht doch, wie es scheint, auf eine Objektivität, die der Erkenntnis und dem
Bewusstsein überhaupt transzendent ist. Sind doch Zahlen, was sie sind, ob
wir sie erkennend erfassen oder nicht erfassen, ihre Eigenschaften, ihre Ge-
setze im Erkennen treffen oder verfehlen. Also auch hier haben wir (scheint
es) eine Objektivität „an sich“, „an sich“ gegenüber der Subjektivität des
Bewusstseins.1 Doch in dieser Hinsicht wird das Problem in der Neuzeit nicht
gestellt, wie ich sogleich beifügen muss.
Also die Ursprungsfrage ist zu verstehen als Frage nach dem kausa-
len Ursprung der Erkenntnisse, die dabei gefasst sind als Erlebnisse der
menschlichen Seele, die ihrerseits im Naturzusammenhang, Weltzusammen-
hang, göttlichen Zusammenhang steht. Wir fühlen es: Ein Widersinn muss
1 Gestrichen Die hier sich aufrollende Problemsphäre führt offenbar vom Problem möglicher
objektiver Triftigkeit zu den Problemen vom Sinn einer in der Erkenntnis erkennbaren Gegen-
ständlichkeit, und das ist ein Problem, das sich nach den Grundtypen von Gegenständlichkeiten
spaltet. Nämlich findet man es problematisch, wie Natur an sich, Zahlen an sich usw. im Rahmen
der Erkenntnis, der bloßen Subjektivität nach Sein und So-Beschaffensein getroffen werden soll,
so ist es doch die Erkenntnis in sich selbst, welche die Forderung „an sich seiender“ Natur usw.
aufstellt. Deutlicher gesprochen: Der Ausgang ist offenbar der, dass in den Bewusstseinsakten
der Naturerkenntnis, von den niedersten bis zu den höchsten, von den schlichten Erfahrungen
an bis zu den Theorien der Naturwissenschaft, immerfort eine an sich seiende Natur vermeint
ist. Zum Beispiel, die Wahrnehmung ist mein Erlebnis, aber in diesem Erlebnis meine ich, ein
Ding zu erfassen. Und lege ich urteilend den Sinn dieser Meinung auseinander, befrage ich
sozusagen die Wahrnehmung, als was sie selbst das Ding meint, so muss ich sagen: Was da unter
dem Titel „Ding“ gemeint ist, ist etwas, was ist, auch wenn ich es gerade nicht wahrnehme.
Und so für alle auf Erfahrung sich gründende Erkenntnis, welch höherer Denkstufe immer. So
mache ich mir also überall klar, dass die Erkenntnis in sich selbst Gegenständlichkeit vermeint
und Gegenständlichkeit setzt und dass sie es ist, die ihr den Sinn vorschreibt: den Sinn, mit dem
diese Gegenständlichkeit in allen fortlaufenden und insbesondere in den wissenschaftlichen
Denkprozessen zur Bestimmung kommt. „Gegenstand“ ist für das Erkenntnissubjekt prinzipiell
nichts anderes und kann gar nichts anderes sein als das im Erkennen erkannte Etwas, als das
Etwas, das in vielerlei Erkenntnisakten, vielerlei Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteilen etc.
als Identisches und Seiendes bewusst ist und bewusst ist mit einem bestimmten Inhalt, gemeint
ist mit einem gewissen Sinn. Aller Fortgang der Erkenntnis ist Fortgang von dem mit dem Inhalt
oder Sinn Gemeinten und als wirklich Gesetzten zu demselben mit dem und dem bereicherten
Sinn Gesetzten. Dass im Bewusstsein selbst Gesetzte bestimmt sich und bestimmt sich immer
neu; und ist es als „Äußeres“, Ich-Fremdes gesetzt, so ist es das Bewusstsein selbst, das das
„außen“ bestimmt. Ist das dann aber so, dann ergibt sich die Frage: Wie ist diese Sinngebung
völlig klarzulegen, wie ist jenes „an sich“ der Gegenständlichkeit der Erkenntnis gegenüber zu
verstehen und für jede Grundgattung von Gegenständlichkeiten und demgemäß die Skepsis zu
überwinden, die vielleicht an diesem immanenten Erkenntnissinn sich versündigt? Wie können
wir also durch Studium der Erkenntnis, sei es überhaupt, sei es nach ihren besonderen Formen,
das in ihr selbst liegende Spiel von Erkennen und Erkanntem, von Meinen und Gemeintem,
von wahrem und falschem Meinen etc. aufklären?
descartes 303
hervorgehen, wenn und in welcher Weise immer das Gelten der Erkenntnis
als reales Vorkommnis in der Welt gefasst und aus realen, und darin liegt,
bewusstseinstranszendenten Tatsachen abgeleitet wird. Ist doch alle Realität
für unsere Erkenntnis nur Realität eben dadurch, dass sie erkannte ist. Hätte
Erkenntnis nicht schon im Bewusstsein ihre eigene Wertausweisung, so wäre
uns Realität ein Nichts. Ist aber Realität wirklich geltend für uns durch die
Ausweisung, so kann der Wert einer solchen Ausweisung nicht abgeleitet
werden von dem, was sie allererst leistet: von den durch sie herausgestellten
Tatsachen.1
Die Schwierigkeiten, in die Descartes in seiner Ursprungslehre und zuletzt
in seiner Lehre vom Ursprung der Geltung der Evidenz gerät, erinnern uns
an den Komplex von Bedenken und sonderlichen Fragen, die der antike
Skeptizismus entdeckt und in negationistischem Sinne erarbeitet hat.2 Sie
mussten jetzt wieder zu Tage drängen, nachdem durch Descartes’ geniale
Fundamentalbetrachtung eine gewisse Immanenz der Erkenntnis für alle
Philosophen eindringlich vor Augen stand: Die gesamte außerbewusst exis-
tierende Welt ist für uns da vermöge des Bewusstseins von ihr, vermöge der
Erfahrungen in denen sie erfahren ist, vermöge des Denkens (und sei es
auch rein rationalen Denkens), in dem sie gedacht ist. Nie und nimmer ist sie
für uns neben unserem Bewusstsein gegeben. „Gegeben“ besagt ja selbst:
uns, den Erkennenden, gegeben, gegeben durch unser Bewusstsein. Nichts
erscheint da selbstverständlicher, als das so zu fassen (und vermutlich werden
Sie da so wenig eine Wendung bemerken als die neuzeitlichen Philosophen):
Unmittelbar gegeben sind dem Erkennenden prinzipiell nur seine Bewusst-
seinserlebnisse. Also mir, der ich jetzt denke, die meinen. Und nun ist sofort
der große Zweifel da: Wie komme ich darüber hinaus und kann dessen je
sicher sein, dass meine Erkenntnisse, und mögen sie noch so exakt, in noch
so guter Methode entwickelt sein, der objektiven Wirklichkeit entsprechen?
Es ist die Art der Wissenschaft (diese Prätention liegt in ihrem Sinn), eine
an sich seiende Objektivität zu erforschen. Die Naturwissenschaft geht auf
1 Gestrichen Aber das nur zur Andeutung. Sie müssen, das ist für Sie die Hauptsache, lebendig
fühlen, dass hier Schwierigkeiten, aber auch Versuchungen sind. Gleiten Sie ja nicht über die
peinliche Unklarheit, die Sie befällt, leicht hinweg! Diese Unklarheit muss sich Ihnen in die
Frage kleiden: Wie kann man anders denn Erkenntnis als seelisches Erlebnis ansehen? Und
doch, warum gerät man dann in Widersinn? Die Betrachtung, die wir jetzt anknüpfen, wird und
soll Ihr intellektuelles Unbehagen noch verstärken. Wer nicht den Stachel solchen Unbehagens
als Pein erlebt, kann nicht die prinzipiellen Probleme sehen; und wer sie nicht sieht, kann
allenfalls philosophischer Literat oder Professor der Philosophie, aber nie Philosoph werden.
2 Randbemerkung Ich erinnere an Gorgias.
304 einleitung in die philosophie
die Natur, die Natur ist an sich, ob ich sie erkennen mag oder nicht.1 Sage
ich „Ich erkenne sie zunächst durch Erfahrung und dann durch darauf
gebautes Denken“, so ist dieses Erkennen, welche Formen es auch haben
mag, und sei es selbst die Formen exaktester neuzeitlicher Physik, doch
ein bloßer Ablauf meines Bewusstseins. Freilich, wenn ich naiv bin wie der
Alltagsmensch, meine ich, im Sehen die äußere Natur zu haben, und ich
meine zu wissen, was das heißt „Eine Aussage über die Natur stimmt zur
Natur selbst“. Ganz selbstverständlich erscheint mir daher die scholastische
Definition der Wahrheit als adaequatio rei ad intellectum. Nämlich, finde
ich, was die Aussage aussagt, in der Erfahrung selbst vor und so vor, wie
sie es aussagt, zum Beispiel sagt sie „Das ist rot“ und sehe ich dann „Es
ist rot“, nun, dann ist die Aussage objektiv wahr und ich finde darin kein
Rätsel. Überlege ich aber, dass das „Ich sehe die Dinge“ nicht ein Haben der
Dinge selbst ist, sondern das Haben eines Phänomens, das bloß Sache meiner
Subjektivität ist (überlege ich, dass mit jeder Augen- oder Kopfbewegung
das subjektive Bild sich modifiziert, dass ich mit dem Wahrnehmen in einem
grenzenlosen Fluss subjektiver Phänomen stehe; überlege ich, dass ich dabei
zwar immer sage „Ich sehe das Ding selbst“, aber dabei nie über diesen Fluss
hinauskomme), dann ist es klar, dass ich bei jenem „Ausweisen“ der Aussage
durch Erfahrung nicht mein Denken mit der Natur selbst zusammengebracht,
sondern es nur in bestimmter Weise mit meinen Wahrnehmungserlebnissen
zur Harmonie gebracht habe. Ich verbleibe hier und so in aller Erkenntnis
nur in meiner Subjektivität.
Damit stimmt ja, dass ich und jedermann zugesteht, dass lebendigste
Wahrnehmung nicht das Sein der Wirklichkeit verbürgt, dass sie Halluzina-
tion sein kann usw. (Wenn ich nun jene Ursprungsforschungen, von denen
wir unter dem Titel „Erkenntnistheorie“ sprechen, die Struktur „echter“
wissenschaftlicher Erkenntnis und Erkenntnismethoden kennenlerne, ge-
mäß der Scheidung, die ich zwischen vermeinter und einsichtig-zwingender
Erkenntnis mache, so nützen sie, wie es scheint, für den jetzigen Zweifel
gar nichts.) Es ist klar: Dieser Unterschied zwischen „Einsicht“ und Ein-
sichtslosigkeit, zwischen Klarheit, Deutlichkeit und Verworrenheit, zwischen
echter Erkenntnis und willkürlicher Meinung, ist ein solcher, der ganz in die
Subjektivität hineinfällt. Wie soll ein subjektiver Evidenzcharakter, der bei
gewissen Erkenntniserlebnissen sich einstellt und sich dort (wie wir zu er-
1 Gestrichen Und selbst die Mathematik, wenn sie als Arithmetik auf die Zahlenreihe geht,
geht doch auf etwas, das Bestand haben soll, ob ich es denke oder nicht.
descartes 305
1 Randbemerkung Notabene.
2 Gestrichen Jede Vernunftfrage geht auf eine disjunktiv zu fassende Möglichkeit. Frage ich
„Ist A B?“, „Wird noch dieses Jahr den Frieden bringen?“, so gehört dazu als Möglich-
keit: Entweder der Frieden wird kommen, oder er wird nicht kommen. Jede Möglichkeit ist
aber eine Denkbarkeit, eine Vorstellbarkeit. Eine Frage, deren Antwort von vornherein als
schlechthin undenkbar dasteht, somit als widersinnig, muss selbst eine widersinnige sein. So zum
Beispiel die Frage: „Ist ein Quadrat elliptisch?“ Jedes Vernunftproblem geht zum mindesten
descartes 307
doch auf eine Möglichkeit. Ich kann nicht als Problem hinstellen: „Wie überzeuge ich mich,
ob ein Quadrat elliptische oder hyperbolische Form hat?“ Denn im Problem ist ein Widersinn
eingeschlossen und daher ist es unlösbar.
308 einleitung in die philosophie
der Form stellen: Wie sollen wir die Sicherheit gewinnen, dass der immerfort
immanente Erkenntniszusammenhang mitsamt seinen Wissenschaftlichkeit
konstituierenden Evidenzen wirklich eine Natur sich gegenüber hat und
dass das, was er in sich herausstellt, ihr wirklich entspricht? Hier ist von
Entsprechen und nicht von Abbilden die Rede; und wie weit man es vom
Abbilden entfernen möge, der Widersinn ist unvermeidlich. Es würde auch
nichts helfen, wenn jetzt das Sein der Natur nicht vorausgesetzt würde. Was
in der Tat nicht notwendig ist, wie auch das Spezifische der Bildertheorie
nicht in dieser Voraussetzung gesucht werden müsste, wie sich im Weiteren
auch noch herausstellen wird.
Nun die nähere Erwägung. Zunächst: Beachten Sie von Neuem, dass
das Problem nicht ein mich, den zufällig erkennenden Menschen, sondern
ein die transzendente Erkenntnis überhaupt und als solche betreffendes ist.
Es ist dasselbe, wie immer wir uns das erkennende Ich ausgestalten und
selbst wenn wir ein absolut vollkommenes Erkenntnissubjekt, ein solches,
das die denkbar höchste Vollkommenheit der Erkenntnis hat, imaginieren.
Aber auch dieses steht unter dem selbstverständlichen Gesetz, dass sein
Erkennen, sein durch und durch evidentes Erkennen, ein Zusammenhang
seines immanenten Bewusstseins ist. So hätten wir auch für die göttliche
Erkenntnis zu fragen: Wie steht es mit dem Sich-Entsprechen oder Nicht-
Entsprechen des immanent Erkannten auf der einen Seite und dem An-
sich-Sein der äußeren Natur auf der anderen Seite? Offenbar setzt die
Fraglichkeit des Entsprechens, die selbst bei durch und durch einsichtiger
Erkenntnis eine Fraglichkeit sein soll, voraus, dass hier immer zwei Möglich-
keiten bestehen, genauso wie beim uneinsichtigen und vagen Meinen auch
bei wissenschaftlich-einsichtiger Erkenntnis: nämlich das Entsprechen und
Nicht-Entsprechen. Im Gedanken appellieren wir dabei an einen zweiten
Erkennenden, der den Bewusstseinsverlauf und seine subjektiven Urteile
vergleicht mit der Natur selbst und nun je nachdem das Sich-Entsprechen
oder Nicht-Entsprechen konstatieren kann. Aber nun geraten wir auf die
schiefe Bahn eines unendlichen Regresses. Der neu Erkennende stand ja im
Bann derselben Schwierigkeit: Die beiden Vergleichsglieder waren ja beide
für ihn transzendent und das Vergleichen selbst spielte sich mit all seinen
Unterlagen in seinem eigenen Bewusstsein ab. Also müssten wir wieder zwei
Möglichkeiten zulassen, nämlich die beiden Möglichkeiten des Entsprechens
und Nicht-Entsprechens, wofür wir wieder an einen möglichen Erkennenden
zu appellieren hätten usw.
Das alles kommt daher, dass das, was da als prinzipielle Möglichkeit
überall behandelt und dem Transzendenzproblem als Voraussetzung beige-
310 einleitung in die philosophie
geben wird, eine Undenkbarkeit, ein Widersinn ist. Ist Erkenntnis wirklich
einsichtige Erkenntnis und ist sie Erkenntnis äußerer Natur, dann ist eben
damit, dass Natur nicht sei und nicht so sei, wie die Erkenntnis es feststellt,
einsichtig ausgeschlossen. Es ist dann keine Möglichkeit, sondern Unmög-
lichkeit. Das sagt also, dass das Problem selbst, so wie es zunächst hingestellt
ist, ein durchaus widersinniges ist. Auch wenn man nicht, wie die naive Bil-
dertheorie es tut, die Existenz einer Außenwelt schon voraussetzt, setzt man
doch die Möglichkeit einer Außenwelt voraus, und zwar als einer solchen,
die sich sozusagen um die Erkenntnis und ihre Evidenz nicht zu kümmern
hat. Und man setzt umgekehrt als Möglichkeit voraus, dass auch einsichtige
Erkenntniszusammenhänge ein Spiel der bloßen Subjektivität wären, die
vernunftgemäß noch beides offen lassen könnten: dass die Natur sei und so
sei, aber auch, dass sie nicht sei und nicht so sei, wie die Erkenntnis es will.
Diese Voraussetzung ist aber der Gipfel der Verkehrtheit. Denn einsichtige
Erkenntnis ist vernünftige, und vernünftige ist einsichtige. Dass vernünftiges
Erkennen aussagt „Natur ist so“ und zugleich vernünftiges Erkennen aussagt
„Natur braucht nicht so zu sein, wie vernünftiges Erkennen sie erkennt“,
ist ein vollkommener Unsinn, wie es eben ein Unsinn ist, dass Einsicht
mit Einsicht streiten kann. Es ist also nicht nur das eine Verkehrtheit (in
allen Fällen, wo man die Möglichkeit der Erkenntnis in Frage stellt), eine
äußere Natur als existierende vorauszusetzen, sondern eine noch größere
Verkehrtheit, die äußere Natur für möglich zu halten, deren Sein und Sosein
mit Erkenntnis und Einsicht nichts zu tun hätte: Als ob Erkenntnis und
Sein nur zufällig zusammenkämen und ihr Stimmen oder Nichtstimmen wie
ein bloßes faktisches Verhältnis zweier Naturtatsachen angesehen werden
könnte.
Danach ist es also klar: Nur eine immanente Betrachtung der Erkenntnis
kann zu einem sinnvollen Erkenntnisproblem führen, nur eine Betrachtung
der Erkenntnis, die nicht in widersinniger Weise die im eigenen immanenten
Wesen der Erkenntnis liegende Beziehung zwischen Erkenntnis und Erkann-
tem in eine zufällige umdeutet und damit die Einsichtigkeit der Erkenntnis
in einen Zufallscharakter verwandelt, der in seinem Wesen mit dem tran-
szendenten Sein selbst eigentlich nichts zu tun hätte. Nur die immanente
Einstellung kann zu einem vernünftigen Problem der Erkenntnis führen
und das Vernunftproblem kann dann seine Lösung finden. Das Vernunft-
problem kann aber in nichts anderem liegen, als zu voller und allseitiger
Klarheit zu bringen, was das Wesen der Erkenntnis selbst ausmacht und was
zum Sinn der Transzendenz gehört, die in ihr selbst gemeinte und gesetzte
ist. So müssen alle widersinnigen Missdeutungen verschwinden, zu denen
descartes 311
1 Gestrichen Also Erkenntnis in sich selbst setzt Gegenständlichkeit und verleiht ihr den Sinn,
mit dem sie in den fortlaufenden und sich erhöhenden Denkprozessen zur Bestimmung kommt.
descartes 313
selbst, nach dem, was es in sich selbst ist und in sich selbst sinngebend
vermeint, können die echten transzendentalen Probleme gelöst werden1.2
Schon die Art, wie ich diese Probleme dargelegt habe, zeigt, dass sie,
dass alle Probleme dieses selben Typus prinzipiell nur auf dem phäno-
menologischen Boden zu lösen sind, d. i. auf dem aus der cartesianischen
Zweifelsbetrachtung sich ergebenden Boden des reinen Bewusstseins. Streng
muss dabei offenbar jener scheinbar eigensinnige Ausschluss aller Prämissen,
die von der Existenz bewusstseinstranszendenter Gegenständlichkeiten Ge-
brauch machen, gehandhabt werden. Ich sagte (und es bestätigt sich in der
ausführenden Einzelkritik), dass der Widersinn aller Skeptizismen darauf
zurückführt, dass sie, weil sie unsere Problemklarheit entbehren, sich am
eigenen Wesen der Erkenntnis, an dem was ihr immanenter Sinn fordert,
versündigen; das geschieht zumeist dadurch, dass sie mit transzendenten
Voraussetzungen als scheinbaren Selbstverständlichkeiten operieren und
dabei eo ipso dem Erkenntnisproblem Deutungen unterschieben, die nicht
nur falsch, sondern unsinnig sind. Das ist daher der Grundsatz jedes Anfangs
echter Philosophie: Transzendentale Probleme, d. h. Fragen, die gerichtet
sind auf Klärung des Wesens oder Sinnes des Sich-selbst-Transzendierens
des Bewusstseins in der Erkenntnis (auf die der Möglichkeit transzendenter
Erkenntnis), können und dürfen prinzipiell keine Voraussetzungen aus dem
Gebiet der Transzendenz des außerbewussten Seins machen. Ist der Sinn der
Transzendenz das Fragliche, ganz allgemein und radikal, so gehört jedwede,
besondere oder allgemeine, transzendente Behauptung, und möge sie sonst
noch so gut begründet sein, in den Rahmen des Fraglichen. Irgendeine tran-
szendente Wahrheit benützen, sie als geltend hinnehmen und zur Prämisse
1 Gestrichen eben als solche, die in diesen reinen Bewusstseinsrahmen hineingehören, nämlich
alle Probleme, die die prinzipielle Möglichkeit der Triftigkeit der Erkenntnis hinsichtlich der
Transzendenz angehen.
2 Gestrichen Sowie man die richtige Einstellung hat, sieht man sofort, dass schon in den
Problemfassungen, die da fragen „Wie ist, da mir nur mein Bewusstsein gegeben ist, Erkenntnis
der Außenwelt, sei es auch nur hinsichtlich ihrer Existenz, möglich?“, – dass, sage ich, schon in
diesen Problemfassungen Momente des Widersinnes stecken; und wieder, dass alle gewöhnli-
chen Auffassungen, die wie von einer Selbstverständlichkeit davon reden, dass Bewusstsein als
erfahrendes und naturwissenschaftlich denkendes von sich und seinem Gegebenen auf Äußeres
schließe, durch und durch verkehrt sind, weil nämlich gegen den Sinn verstoßend, den das
Bewusstsein in sich selbst der Gegenständlichkeit verliehen hatte. Doch uns Anfängern muss es
genug sein, dass wir die Problemmotive mitempfunden haben, die mit Descartes auftauchen, und
dass wir so die Probleme selbst verstehen, sei es auch in der allgemeinsten Fassung verstehen, die
da, die Erkenntnismöglichkeit bedrohend, den Entwicklungsgang der neuzeitlichen Philosophie
bestimmen.
314 einleitung in die philosophie
rung, in der er von der leitenden Idee einer absoluten Erkenntnis aus auf
die Methode des universellen Zweifels und damit auf die Absonderung des
reinen Bewusstseins als eines Feldes absoluten Seins gerät. Er gleicht dem
Moses, der das heiß ersehnte gelobte Land von ferne sieht, und gleicht wie-
derum dem Moses nicht: da er nicht weiß, dass er es sieht. Denn er weiß nicht,
dass dieses absolute Bewusstsein (freilich nach Erbauung gewisser Dämme,
die es vor Überflutungen schützen, und in einer gewissen Einstellung der
Wesensbetrachtung) das Feld aller vorbedingenden Erkenntnisse ist, von
denen die Möglichkeit einer absoluten Erkenntnis, soweit sie irgend Sinn
und Recht hat, abhängt.)1
Die2 Betrachtungen, die wir hiermit abgeschlossen haben, waren nicht nur
reich an wertvollen Erkenntnissen, die uns für unsere weiteren gemeinsamen
Überlegungen als Leitung dienen werden, sondern sie bringen uns eindring-
lich eine eigentümliche Tatsache zum Bewusstsein, die für sich herausgeho-
ben zu werden verdient. Das Sprichwort sagt „Ein Kind kann mehr fragen,
als sieben Weise zu beantworten vermöchten“. Wir sehen, dass andererseits
ein Weiser fragen kann, was kein Gott beantworten könnte. Nämlich selbst
die Weisheit eines Descartes war nicht vor seinen unweisen, vor seinen
widersinnigen Fragen behütet. Ja, fast möchte man sagen: Zu jeder Stufe der
Weisheit gehört eine notwendige Torheit. Widersinnige Probleme gewisser
Art können nur Weise stellen, und ihre Weisheit liegt darin, dass auf der
Stufe menschlicher Erkenntnis, die sie repräsentieren, solche widersinnigen
Probleme gestellt werden müssen. In ihnen liegen die wesentlichen Motive
des Fortschrittes. Das Kind, das nicht fällt, lernt nicht das Gehen; und in
Relation zu Gott sind wir immerfort Kinder und lernen immer in neuer
Weise gehen. Und nun was unsere Studien anlangt, so war aller Fortschritt,
den wir selbst in unseren Überlegungen gemacht haben, ein Fortschritt in
der Problematik; von unklaren und von widersinnigen Problemen gingen wir
durch Klärung oder durch Auflösung ihres Widersinnes zu den sinnvollen
Problemen empor, die, wenn wir Anfänger uns zur Philosophie erheben soll-
ten, formuliert werden mussten. Was aber für uns gilt, gilt für die Entwicklung
der Philosophie selbst in ihrer Geschichte. Das Eigene der Philosophie ist,
dass es der Arbeit von Jahrtausenden bedurfte, um zu ihrer reinen und
echten Problematik zu gelangen. Ihre Geschichte ist in der Hauptsache eine
Problemgeschichte, weil es in der Natur der menschlichen Erkenntnis selbst
1 Gestrichen In diesen Fragen kommt ein dunkles theoretisches Unbehagen mit der natür-
lichen Erkenntnis zum Ausdruck. Erst nachdem es sich ausgewirkt und nachdem es in
immer neuen Stufen Kritik, sei es auch in Form skeptischer Negation, sein Werk getan hat,
erwachsen die reinen, sinnvollen, notwendigen Probleme, bezogen auf den reinen Boden, der
in der Klarheit sichtlich wird.
2 Am Rande eine Null.
descartes 317
man gehindert, weil man durch Missdeutung von vornherein Metaphysisches in die erkenntnis-
theoretische Problematik hineingemengt hat. Und es nicht sieht, dass Erkenntnistheorie eine
eigene, auf dem Boden des reinen Bewusstseins zu etablierende Wissenschaft ist.
318 einleitung in die philosophie
Locke
werden wir auch hier in gewisser Weise auf Erfahrung zurückgewiesen. Je-
denfalls, wo Denken als reines nicht aktuelle Wahrnehmung und Erfahrung
benützt, kommen wir nicht von den bloßen Möglichkeiten zur Wirklichkeit.
Erst durch Verbindung solchen reinen Denkens und seiner reinen Erkennt-
nis mit Erfahrungen, also zum Beispiel in Form angewandter Mathematik,
gewinnen wir Realitätserkenntnis.)
Mit solchen Lehren macht der Empirismus Front gegen die spekulierende
Metaphysik, die aus reinen Begriffen, in einem reinen Denken über Gott und
Natur, über geistige und körperliche Substanzen, kurzum über alle Realität,
glaubte Erkenntnis, ja absolute Erkenntnis gewinnen zu können. (Dafür war
uns Spinozas Ethica das klassische Exempel.) Mit dem eben Ausgeführten
sind gemeinsame Züge alles Empirismus beschrieben, gegen welche rationa-
listischen Gegnerschaften er sich auch wenden mag. In dieser Hinsicht wen-
det sich Bacon noch gegen den scholastischen Rationalismus, Hobbes schon1
mit gegen Descartes, Locke zugleich gegen den Cartesianismus und gegen
die platonisierende Cambridger Schule.2 Diese Gemeinsamkeiten schließen
aber nicht gewaltige Differenzen aus, und sie bezeichnen nichts von dem, was
als völlig Neues in der Locke’schen Richtung gegenüber dem Empirismus
eines Bacon und Hobbes zur Entwicklung kommt. Versuchen wir dies Neue
zu bestimmen.
Man nennt Locke einen Begründer, wo nicht gar den Hauptbegründer
der neuzeitlichen Psychologie. Wohl ist auch Hobbes in dieser Hinsicht zu
nennen. Aber die Kontrastierung der beiden großen Philosophen wird uns
eine erste bedeutsame Eigenheit des Locke’schen Werkes sichtbar machen.
Hobbes in seinem Streben, die Geisteswissenschaften nach dem Vorbild
der neuen Mechanik als strenge Wissenschaft zu begründen, richtet dieses
Absehen natürlich auch und vor allem auf die Psychologie. Aber geblendet
durch sein Vorbild, die mechanistische Physik, die es ausschließlich mit der
kausalen Erforschung von Körpern und körperlicher Bewegungen zu tun
hat, deutet er alles Geistige materialistisch. Hobbes meint: Nur scheinbar
ist das Geistige ganz anders geartet als das Körperliche, aber in Wahrheit
handelt es auch da nur um Körper und körperliche Vorgänge. In objektiver
Wahrheit ist zum Beispiel die Empfindung nur ein Physisches, eine gewisse
„Wahrnehmungen“ heißen, in denen wir uns auf präsentes Dasein beziehen; andere seelische
Erlebnisse, genannt „Erinnerungen“, beziehen sich auf vergangenes Sein, in der Erwartung
auf Zukünftiges. Im urteilenden und aussagenden Denken, im Schließen, im Deduzieren und
Induzieren leuchten neue Serien von seelischen Erlebnissen auf, von denen es heißt, dass sie
objektives Sein zur Erkenntnis bringen. Alle solche Erlebnisse treten im seelischen Zusam-
menhang als Fakta auf, so wie in ihm auch mancherlei Gefühle, Begehrungen, Wollungen
auftreten, die nicht „Erkenntniserlebnisse“ heißen. Als Fakta können sie erforscht werden
genau in dem Sinne, in dem die Physik Fakta der physischen Natur erforscht. Sie treten
in bestimmten Zusammenhängen auf. Die Zusammenhänge sind teils im Bewusstsein selbst
zu verfolgende, teils sind es psychophysische Zusammenhänge; zum Beispiel Empfindungen
treten auf im Zusammenhang mit Reizvorgängen, die selbst materielle Vorgänge sind. Wie in
der bloß physischen Natur die Zusammenhänge unter Regeln stehen, wie jedes rein physische
Ereignis mit Beziehung auf seine raum-zeitlichen Umstände nach festen Gesetzen auftritt, so
ist Ähnliches auch für die psychische und psychophysische Tatsachensphäre zu erwarten und
somit danach zu forschen. Ein Urteil, das ich fälle, gleichgültig, ob es ein Vorurteil ist oder ein
Recht hat, eine Begründung, die ich Text bricht ab.
locke 323
1 Randbemerkung Im Kolleg habe ich, was hier fehlt, die jetzige Erörterung über Erkennt-
nistheorie in Kontrastierung zur Psychologie natürlich in Bezug gesetzt zu den früheren Be-
handlungen und dabei nicht vergessen, Geltung und gegenständliche Beziehung der Erkenntnis
zusammenzubringen.
324 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen ist wahr, schlechthin wahr, ist von Zeit und Raum, Person und Umständen, von
Gott und Welt unabhängig. Für Wahrheit oder Falschheit kommt der Satz in sich selbst auf
und für Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit nur das Urteilen in sich selbst und der Satz, der sein
geurteiltes Was ist.
locke 325
für sich stehend einsichtig ist, sei es, dass es Endglied eines beweisenden
Zusammenhangs ist, aus dem ihm die einsichtige Notwendigkeit zuteil wird.
Für das erstere sind die axiomatischen Einsichten Beispiele, für das letztere
die mathematischen Beweise, die wir einsichtig vollziehen und in denen
der Schlusssatz uns in urteilender Einsicht zuwächst. Aber Einsicht ist eine
Ausnahme. Wenn ich rechnend urteile „9 × 8 = 72“, geschweige denn, wenn
es sich um ein Urteilen handelt, in dem ein Satz der höheren Mathematik
ohne Erneuerung des Beweises behauptet wird, ist die Richtigkeit nicht ein
unmittelbar im Erlebnis gegebener Charakter. Ich meine, es sei so, aber nur
wenn ich die Einsicht habe, kann ich die Richtigkeit des Urteilens an ihm
selbst erfassen. In unzähligen Fällen urteile ich, bin ganz fest überzeugt, und
doch ist das Urteil sogar unrichtig.
Die Betrachtung der Urteile unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeit
führt also auf die Frage: Wie kommt den Urteilen (als möglichen Erleb-
nissen und ihrem Wesen nach) die Richtigkeit an sich zu, und zwar auch,
wenn sie nicht einen Richtigkeitscharakter an sich haben? Antwortet man:
Urteilsakte, die nicht einsichtig sind, lassen sich prinzipiell in einsichtige
verwandeln, in denen entweder die Richtigkeit oder Unrichtigkeit selbst
zu Tage tritt, so erwächst das Problem, diese Verhältnisse von Urteilen
überhaupt und einsichtigen Urteilen zur Klarheit zu bringen und die We-
sensverhältnisse, die da bestehen, in gesetzmäßiger Reinheit herauszustel-
len.
Was geht mit Urteilen vor, wenn sie sich in einsichtige verwandeln? Wie
sind die Wesensumgestaltungen zu charakterisieren, die sie dabei notwendig
erfahren? Und was sagt das „Es tritt nun an ihnen die Richtigkeit bzw.
Unrichtigkeit zu Tage“? Die Fragen differenzieren sich, wenn wir auf die ver-
schiedenartigen Erkenntnisfundierungen Rücksicht nehmen, zum Beispiel
uns an die Streitigkeiten über das Verhältnis von Anschauen und Denken
erinnern. Was für eine notwendige Rolle spielt für die Ermöglichung der
Evidenz bei geometrischen Urteilen die Raumanschauung oder bei Urteilen
vom Typus der auf materielle Dinge bezüglichen Tatsachenurteile die äußere
Erfahrung? Von da wird man bald zur Frage geführt: Welche möglichen
Strukturen der Urteile spielen für die Fragen der Richtigkeit und Evidenz
die bestimmende Rolle? Urteile haben doch einen verschiedenen Bau, so-
wohl nach Seiten des in ihnen geurteilten Was als auch nach Seiten ihrer
Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit, ihrer modalen Abstufungen als Ge-
wissheit, als Für-wahrscheinlich-Halten usw. Spielen vielleicht alle irgendeine
Rolle? Haben im Zusammenhang der begründenden Erlebnisse, in denen
(und in verschiedenen Formen) unmittelbare oder mittelbare Einsichtigkeit
locke 327
unserer letzten Betrachtungen? Bei diesen war die Idee der Richtigkeit, der
Geltung das Leitende. Bei einer Phänomenologie der Erkenntnis hingegen
ist diese Idee nicht vorangestellt, vielmehr ist ihr Ziel allgemein dies, alles,
was im Wesen der Erkenntnis als solcher liegt, zu erforschen. Indessen ist es
klar, dass man bei einer allgemeinen Wesensforschung der Erkenntnis bald
auch auf das der Erkenntnis innewohnende Telos stoßen, also dessen inne-
werden muss, dass Erkenntnis in Bezug auf Richtigkeit und Unrichtigkeit
betrachtet werden kann und muss. So kommt man also von selbst auf all die
Forschungen, die wir als erkenntnisteleologische umgrenzt haben.
Obschon Erkenntnisphänomenologie und Erkenntnisteleologie zunächst
zwei verschiedene Begriffe von Erkenntnistheorie darstellen, so ist doch die
wissenschaftliche Disziplin beiderseits genau dieselbe. Zunächst sieht man
nur, dass eine „Erkenntnisphänomenologie“ all die bezeichneten teleolo-
gischen Forschungen umspannt. Dass sie aber nicht mehr umspannt, dass
also Deckung statthat, sieht man so: Leitet uns bei der Wesenserforschung
der Erkenntnis zunächst nur das Interesse der Richtigkeit, so werden wir
doch bei dem Studium der verschiedenen Evidenzarten und der zugehörigen
Bedingungen der Möglichkeit der Evidenz sowie der Überleitung blinder in
evidente Erkenntnis zu einem allumfassenden Studium aller Erkenntnis-
gestaltungen nach allen Strukturen uns genötigt sehen. Denn an alle geht
ja die Frage der Richtigkeit, eventuell die Frage der Überleitung in Rich-
tigkeit ausweisende, in evidente Erkenntnis. Alle spielen auch irgendeine
hilfreiche Funktion für mittelbare Begründung. Erkenntnisteleologie erweist
sich also nicht als ein bloßer Ausschnitt der Erkenntnisphänomenologie,
sondern in voller Wissenschaftlichkeit durchgeführt decken sich beide ganz
und gar.
Ziehen wir auch die früher besprochenen Fragen heran nach dem Sinn
erkennbarer Gegenständlichkeit als solcher und der Kritik jener skepti-
schen Theorien, die sich in Missdeutungen des Sinnes der Erkenntnisge-
genständlichkeit verlieren und dadurch an der Möglichkeit objektiv gültiger
Erkenntnis verzweifeln. Auch diese Forschungsgruppe ergibt sich von selbst,
ob man ausgeht von dem Ziele, Erkenntnis überhaupt einer universellen
und reinen Wesenforschung zu unterziehen, oder ob man von der Idee der
Richtigkeit und Unrichtigkeit sich leiten lassen und somit der Erkenntnis-
theorie nachgehen will. Denn in sich selbst, durch ihr Wesen, bezieht sich
Erkenntnis auf Gegenständlichkeit, und zwar so, dass sie jeweils einen Sinn
hat, durch den die Idee der gemeinten Gegenständlichkeit umgrenzt ist. Das
gibt eben verschiedene, im Wesen der Erkenntnis vorgezeichnete Blickrich-
tungen, die auf den Bewusstseinscharakter, auf den Sinn oder Inhalt, auf die
330 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Der große Schritt zur reinen Wesensanalyse muss getan werden, d. i. zu einer
Analyse, die in der beschriebenen Weise alle Tatsächlichkeit ausschaltet und ähnlich, wie
es in der Geometrie geschieht, ausschließlich reine Notwendigkeiten, die im rein gefassten
Wesen gründen, herausstellt. Aber freilich: Eben für das, was hier „reines Wesen“ und „reine
Notwendigkeit“ heißt, ist der Empirismus nicht nur Lockes, sondern auch der Folgezeit blind,
und wir werden davon noch ausführlich zu sprechen haben. Doch, ehe ich weitergehe, muss
ich einen Ausdruck näher begrenzen, den ich soeben gebraucht habe. Ich sprach von einer
Innenwendung bei Locke, von einer Seelenanalyse in immanenter Tatsächlichkeit. Andererseits
hörten wir von dem Vorzug Lockes in Bezug auf psychophysische Untersuchungen über
Erkenntnis. Wir forderten, geleitet von der Klarheit über die echten erkenntnistheoretischen
Probleme, also für die Behandlung der Sinnes- und Geltungsfragen, die an die Erkenntnis
zu stellen sind, ein immanentes Studium der Erkenntnis. Das sagte, die verschiedenen Arten
und Formen der Erkenntniserlebnisse sollten unterschieden und einer genauesten Analyse
unterworfen werden: die Erkenntnisakte in sich selbst, zum Beispiel die Wahrnehmungen, die
Erinnerungen, das beziehende Urteilen usw., was für Strukturen in diesen Phänomenen selbst
liegen, zum Beispiel, dass sie etwas meinen und dass die Weise des Meinens bei Wahrnehmung
und Erinnerung eine wesentlich verschiedene ist. In der Wahrnehmung ist etwas als leibhafte
Gegenwart bewusst, in der Erinnerung in ganz anderer Weise, „es schwebt nur vor“, in der
eigentümlichen Weise der „Vergegenwärtigung“, des „Wiederbewusstseins“ u. dgl.
2 Randbemerkung Notabene. Gut.
locke 331
herbeibringt, man erhob sich nicht zur reinen und unbedingten Allgemein-
heit. Erst die platonische Ideenlehre entdeckt vollbewusst die reine Er-
kenntnis und ihre Freiheit von aller Erfahrungsbegründung. Die ungeheure
Bedeutung dieses Fortschritts liegt auch darin, dass nun erst, mit diesem
Bewusstsein der vollen Freiheit vom Empirischen, eine unendlich fruchtbare
geometrische Wissenschaft möglich wurde.1 In unvergleichbar größerer Frei-
heit konnte nun das Denken einsichtig walten; seine Grundlage war nicht
die gebundene Raumerfahrung, sondern die frei bewegliche geometrische
Phantasie. Ähnlich hinsichtlich der Erkenntnistheorie. Die erste Einstellung,
in der der Mensch steht und in der auch alle wissenschaftliche Überlegung
beginnt, ist die naturalistische. Der Mensch findet sich in der Natur selbst
als ihr Mitglied; selbstverständlich fasst er zunächst sich eben als Menschen
auf, seine Erlebnisse als seelische Erlebnisse, gebunden an leibliche Vorbe-
dingungen usw. So denkt er gar nicht daran, dass die Erkenntniserlebnisse,
auch nachdem sie ihm Geltungsprobleme gaben, anders betrachtet werden
könnten denn als Naturfakta.
Nach dieser Verständigung über den prinzipiellen Unterschied der Ziele
einer Wesenserforschung der Erkenntnis und insbesondere einer teleolo-
gischen Geltungsforschung gegenüber einer empirisch-naturwissenschaft-
lichen Erforschung der Erkenntnis, mit einem Wort, über den Unterschied
zwischen Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie, gehen wir zu Locke
zurück. Wir sagten schon, dass der Versuch über den menschlichen Verstand
ein Grundwerk der neueren Psychologie sei und dass andererseits doch die
eigentliche Intention des Werkes eine andere sei. In der Tat, nicht eine
systematische Psychologie des Intellekts, sondern vielmehr eine Erkenntnis-
theorie will Locke bieten. Das geht schon aus der Einleitung des Werkes
hervor und bestätigt sich durch Einblick in seinen Inhalt sowie durch seine
historische Wirkung: Es ist ja das Grundwerk der empiristischen Erkennt-
nistheorie und eines der Grundwerke der neueren Erkenntnistheorie über-
haupt. Sein Vorhaben bezeichnet Locke selbst dahin, dass er den Ursprung,
die Sicherheit und Ausdehnung des menschlichen Wissens untersuchen, dass
er die Gründe und Stufen des Glaubens und der Meinung erforschen will,
dass er die Grade der Gewissheit unserer Erkenntnis, die Grenzen zwischen
1 Gestrichen Die Befreiung vom Empirischen war zugleich Befreiung von praktischen, hier
speziell geodätischen Interessen: Man erkannte nun, dass das Reine in rein theoretischer Ein-
stellung und in der Freiheit reiner Anschauung zu erforschen sei und dass eine unendliche Fülle
reiner Universalität auch für die Praxis als ihre Normen höchst bedeutsam sein musste, während
diese von sich aus immer nur am einzelnen Fall hängen blieb.
334 einleitung in die philosophie
Meinen und Wissen ausfindig machen will usw. Das alles zielt offenbar auf
allgemeinste Geltungsprobleme, trotz mancher unklaren Ausdrucksweisen.
Aber freilich müssen wir von vornherein bedenklich sein, wenn wir daran
denken, dass Locke schon im Titel den menschlichen Verstand als sein Thema
bezeichnet und dass er in der Tat in all seinen Ausführungen im Werk nur vom
menschlichen Verstand und von den Eigenheiten menschlicher Erkenntnis-
weisen Auskunft zu geben beansprucht. Er behandelt dabei den Verstand als
ein menschliches Organ, dessen organische Funktionen in Frage seien. Also
die Leistungen des Verstandes als eines sehr vornehmen seelischen Organs
zu erforschen, das steht ihm gleich mit dem Erforschen etwa des Auges und
eines sonstigen Sinnesorgans.
Nun leugnen wir es natürlich nicht, dass der Mensch überhaupt mit
all seinen psychophysischen Vermögen Objekt einer Wissenschaft, dass er
Objekt biologischer Disziplinen ist, der Physiologie und der Psychologie
(gewiss besteht zu Recht die Parallelisierung der naturwissenschaftlichen
Forschungen der menschlichen Leiblichkeit und derjenigen der seelischen
Funktionen, darunter der intellektuellen). Aber die Psychologie des In-
tellekts, auf die wir in diesem Zusammenhang stoßen, oder, was dasselbe,
die Erkenntnis-Psychologie trennten wir mit Grund ganz und gar von der
Erkenntnistheorie; und die Trennung ist eine ganz radikale. Die eine ist als
Naturwissenschaft auf empirische Tatsächlichkeiten der menschlichen Natur
gerichtet, die andere als teleologische Wesenslehre der Erkenntnis aber ge-
richtet auf Erkenntnis als Idee, auf ein überempirisches, also auch nicht an
die zufällige Menschlichkeit gebundenes Wesen mit einem überempirischen
Telos. Deutlicher gesprochen: die eine ist wie alle Naturwissenschaft auf
Erfahrung gegründet (denn von Tatsachen kann nur aktuelle Erfahrung uns
vernünftigerweise kundgeben), die andere ist überempirisch wie die reine
Geometrie, weil sie eben nicht nach Tatsachen, sondern nach Wesensmög-
lichkeiten und Wesensnotwendigkeiten fragt.
Freilich. Die Scheidung, die wir erschaut und in scharfen Begriffen uns
fixiert haben, konnte einem Locke und konnte einem Philosophen des 18.
Jahrhunderts überhaupt nicht schon vertraut und zugänglich sein. Locke
fühlte allerdings, dass hier etwas zu scheiden ist. Es ist interessant, dass er
erklärt, seine Aufgabe fordere es nicht, sich mit einer psychophysischen,
er sagt „physischen“ Betrachtung des Geistes zu befassen und sich Mühe
zu machen, zu untersuchen, worin das psychophysische Wesen des Geistes
bestehe, durch welche Bedingungen unserer Lebensgeister oder durch wel-
che Veränderungen in unserem Körper wir dazu gelangen, etwa mittels der
Sinnesorgane Empfindungen zu gewinnen und „Ideen“ in unserem Bewusst-
locke 335
1 Gestrichen Etwas davon kommt sicher für eine Erkenntnistheorie in Betracht: Sie muss
sich ja in die Erkenntniserlebnisse selbst vertiefen, sie nach ihrem eigenen Wesen und den
durch ihr Wesen vorgezeichneten teleologischen Zusammenhängen studieren. Aber Locke
sieht eben dies durchaus nicht, er fühlt die Notwendigkeit einer Innewendung, aber nicht die
einer ausschließlichen Richtung in das Wesen der Erkenntnisakte selbst; und zudem sieht er
ganz und gar nicht das überempirische Niveau, auf dem sich die Untersuchung bewegen muss,
er sieht nicht, dass jede hierher gehörige Geltungsfrage eine nur außerwesentliche Beziehung
auf den faktischen Menschen und sein faktisches Seelenleben hat und dass sie daher in reiner
Allgemeinheit gestellt werden muss. Alle Ergebnisse gelten, wenn überhaupt, so absolut, sie
gelten nicht nur für den menschlichen Verstand, sondern für jeden Verstand überhaupt.
2 Am Rande zwei Nullen.
336 einleitung in die philosophie
Freilich muss man ja sagen, dass ohne das methodische Bewusstsein der
unbedingten Allgemeingültigkeit und der Reinheit von allen empirischen
Beschränkungen eine freie Entwicklung solcher Idealwissenschaften nicht
möglich ist. Und so ist es auch mit der Erkenntnistheorie. Immerhin aber
sind alle rein immanenten Analysen der Bewusstseinserlebnisse, wenn sie
sich an den wirklich im Phänomen vorfindlichen Bestand halten, sofort in
das überempirische Niveau zu erheben: etwa so wie der an der Erfahrung
erfasste Zusammenhang, dass zwei Äpfel und drei Äpfel fünf Äpfel sind,
alsbald in den überempirischen Satz übergeht: 2 + 3 = 5. Locke aber gerät
von Anfang an auf eine schiefe Bahn dadurch, dass er zwar sieht, dass eine
Erforschung der zur Geltung der Erkenntnis gehörigen Probleme oder, wie
er sagt, eine Erforschung des Verstandes diesen so, wie er in sich selbst
ist, einem analytischen Studium unterwerfen muss, aber da schiebt sich ihm
von vornherein der Vermögensbegriff der Erkenntnis, das Wort „Verstand“
dazwischen. Also heißt es: den Verstand in sich selbst erforschen mit dem
Kontrast: nicht psychophysisch erforschen, wie äußere materielle Einwir-
kungen in die Seele und ihr verstandesmäßiges Tun hineinwirken.
So bleibt Locke stehen bei dem Gedanken einer reinen Seelenforschung,
einer möglichst reinen, nämlich einer solchen, welche die menschliche Seele
für sich nimmt, nach dem, was ihr selbst eignet, in ihr selbst empirisch
sich wandelt, unter möglichster Abstraktion von den Kausalprozessen, die
zwischen der Seele und den Außendingen verlaufen. Und das insbesondere
für die Verstandessphäre. So wird also angeblich zu Zwecken der Lösung
der Geltungsprobleme eine Erkenntnispsychologie getrieben, die zwar auch
die verschiedenen Arten und Formen der Erkenntniserlebnisse betrachtet,
diese Erlebnisse aber nur als wechselnde Zuständlichkeiten der Seele nimmt,
deren bleibendes Sein in den seelischen Dispositionen, den sogenannten
seelischen Vermögen, seelischen Anlagen, seelischen erworbenen Charak-
tereigenschaften, Kenntnissen, Fertigkeiten etc. liegt.
In der Tat ist es eine ganz andere Sache, zum Beispiel Erkenntniserleb-
nisse nach ihrem inneren Gehalt, nach ihrem Wesen studieren und anderer-
seits in ihnen Bekundungen von seelischen Vermögen zu studieren. Den
Habitus des Gedächtnisses von Menschen studieren oder den moralischen
Habitus eines Menschen studieren ist etwas anderes als das immanente
Wesen der Erinnerungsakte oder der moralischen Erlebnisse studieren. Die
Seelenlehre ist eben eine Lehre von der Seele und von den Erlebnissen,
sofern sie seelische Zuständlichkeiten sind. In der Tat, in erheblichem Maß
kann man das Seelenleben nach der empirischen Entwicklung der seelischen
Dispositionen, die ihrerseits Reglungen für das Kommen und Gehen der Er-
locke 339
und erforscht, und wir haben es, weil eben psychologische Erfahrung selbst
eine transzendierende ist. Jede Fixierung eines Erlebnisses, das uns dient, ist
mit transzendenten Indizes behaftet, eben darum, weil in ihm und im Verlauf
mitbeobachteter Erlebnisse eine Bekundung von Seelischem gesehen wird.)
Genauso wie es ein erkenntnistheoretisches Problem ist, wesensmäßig zu
verstehen, wie das Bewusstsein, das wir äußere Erfahrung nennen, in seiner
Immanenz ein ihm Transzendentes, nämlich eine materielle Natur bekunden
soll und wie der Sinn dieser Bekundung klarzulegen ist, genauso ist es das
erkenntnistheoretische Problem, die andere Bekundungsart von Transzen-
dentem aufzuklären, die sich unter dem Titel „psychologische Erfahrung“
vollzieht. Die Seele mit allen seelischen Zuständen und Eigenschaften, d. i.
mit Charaktereigenschaften, Dispositionen, Fähigkeiten, Vermögen, wie im-
mer man es nennen möge, ist nie und nirgends ein Wesensmoment der reinen
Bewusstseinssphäre. Sie ist ein darin Gemeintes, Erfahrenes, Gedachtes, aber
nie ein im echten Sinne immanent Gegebenes.1
Freilich2 gehört aller echte immanente Bestand des Bewusstseins auch
mit in die Interessensphäre eines Psychologen. Jedes Erlebnis hat seinen
vielgestaltigen Wesensgehalt, und in die Betrachtung des Erlebnisses mit
dem Auge des Psychologen, der in dem Erlebnis eine Tatsache der seelischen
Natur sieht, geht dieser ganze immanente Bestand auch ein: Er heißt nun
Bestand an Komponenten der psychologischen Zuständlichkeit des betref-
fenden Menschen. Aber es ist etwas prinzipiell anderes, ein Erlebnis mit all
seinen irreellen Erlebniskomponenten als Bekundung von Natur ansehen,
also eine transzendente Auffassung mitzuvollziehen und gelten zu lassen, als
es in der Weise der Phänomenologie und Erkenntnistheorie zu betrachten.
Im Nachdenken über solche Probleme ergeben sich zwar sehr früh Ein-
sichten, die, wie die syllogistischen Schlussregeln des Aristoteles und viele
andere, weniger bestimmt gefasste über Induktion und Wahrscheinlichkeit,
nur außerwesentlich auf das empirische menschliche Denkleben bezogen
waren. Streckenweise bricht da schon ein wirklich reines Denken durch,
wie zum Beispiel in der formalen Logik. Aber man merkt es nicht recht.
Man missdeutet es hinterher bei der Reflexion über das, was da vorlag.3
So gehen durch die ganze Geschichte der Philosophie vielerlei wertvolle
wie wenn wir etwa einsehen, dass 2 Äpfel + 3 Äpfel = 5 Äpfel sind. Dass es sich um Äpfel
handelt, um empirische Dinge, ist offenbar eine außerwesentliche Komponente. Sieht man das
nicht – und es ist die Art erkenntnistheoretischer Erkenntnisse, dass man das bei ihnen leicht
übersieht – so kann man meinen, es seien solche Wahrheiten, die au fond Wesenswahrheiten
sind, ebenso empirisch, wie es irgendwelche sind.
1 Randbemerkung Bis hier nicht gelesen.
2 Randbemerkung 5.6.1916.
344 einleitung in die philosophie
des ersten Buches seine Aufgabe darin, unter Ausschluss aller metaphysisch-
theologischen Substruktionen, im Geiste echter Erfahrungsseelenlehre, fest-
zustellen, wie die menschliche Seele mit „Vorstellungen“ versehen wird
(ideas). Anders ausgedrückt: Wie das menschliche Seelenleben in Ansehung
seiner intellektuellen Seite sich von den embryonalen Anfängen bis hinauf
zur vollen Reife entwickelt. In dieser Psychologie des Intellekts herrscht also
der biologische Gesichtspunkt der Entwicklung. Insbesondere geht Locke
im ii. Buch darauf aus, den psychologischen Ursprung der Grundvorstel-
lungen aufzuzeigen, durch die uns die gegebene Erfahrungswelt vorstellig
ist und die in den Grundbegriffen aller Wirklichkeitswissenschaften ihren
Ausdruck finden als Wissenschaften von der materiellen und geistigen Na-
tur.1
Also er will zeigen, wie unsere Seele dazu kommt, die Vorstellungen von
sinnlichen Qualitäten, die wir den äußeren Dingen zuschreiben wie Farbe,
Rauhigkeit, Glätte, Geruch usw., zu bilden und ebenso von Zuständen und
Tätigkeiten, die wir unserer eigenen Seele zuschreiben; desgleichen, wie wir
dazu kommen, die Vorstellungen von Dingen selbst, von körperlichen und
geistigen, zu bilden und all die sonstigen Vorstellungen, die auf sie Beziehung
haben, die Vorstellungen von Substanz, Materie, Kraft, Ursache, Wirkung,
Raum, Zeit, Zahl, Größe usw. Es sind das durchaus die Vorstellungen, an
deren Sinn und Erkenntniswert sich die Streitigkeiten der Skeptiker und
Metaphysiker knüpfen. Die Aufklärungen über den Ursprung sollen die
Grundlage abgeben, um für den gültigen Inhalt und Gebrauch der betref-
fenden Begriffe zu entscheiden.
Weiter untersucht Locke, wie das schon zum Teil bei der Darlegung
des Ursprungs dieser Grundvorstellungen von der Objektivität geschehen
ist, die stufenweise von der Seele ins Spiel gesetzten Erkenntnisvermögen:
das Kolligieren, das In-Beziehung-Setzen, Vergleichen, Unterscheiden, das
Abstrahieren; in einem eigenen, im iii. Buch untersucht er den Ursprung
der Sprache. Und obschon bei all dem immer wieder Fragen der Geltung und
1 Gestrichen Also er will zeigen, wie unsere Seele dazu kommt, die Vorstellungen von Raum,
Zeit, körperlichen und geistigen Dingen, Substanz, Eigenschaft, Ausdehnung, Bewegung, Zahl,
Größe, Materie, Kraft, Ursache, Wirkung, Seele, Seelentätigkeit usw. zu bilden, darunter auch
die Begriffe von Körpern, geistigen Substanzen, von Gott, wie solche Begriffe in der indivi-
duellen Entwicklung entspringen. Ebenso für die Begriffe, welche methodisch Grundformen
der wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeiten und ihrer Inhalte ausdrücken, wie Begriff, Urteil,
Schluss, Einsicht, Gewissheit, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit usw. Ausdrücklich sollen diese
Ursprungsuntersuchungen die Mittel liefern für die Lösung der eigentlichen Vernunftprobleme,
der Probleme der Geltung.
locke 345
1 Randbemerkung Sensualismus.
346 einleitung in die philosophie
Das Gleichnis von der Bewusstseinstafel und den auf sie geschriebenen
Zeichen scheint den Blick auf bloß sinnliche Bewusstseinsdaten zu lenken;
geschriebene Zeichen sind ja sinnliche Zeichen. Aber Locke ist weit ent-
fernt davon, einen Sensualismus des Sinnes zu empfehlen, dass alle Be-
wusstseinserlebnisse sich zuletzt auflösen in sinnliche Daten, dass sie also
bei näherer Analyse sich als bloße Komplexe von Farbendaten, Tondaten,
Geruchsdaten u. dgl. herausstellten. Die sogenannten „Ideen der Reflexion“,
nämlich die Vorstellungen, die in Hinblick auf die Tätigkeiten erwachsen,
welche die Seele an den ersten von außen her entsprungenen Sinnesdaten
übt, und die Gebilde, die sie dadurch erzeugt, bringen nach Locke vielmehr
wesentlich neue Bewusstseinsbestände. Anders ausgedrückt: Was Descartes
mit dem Ausdruck cogito bezeichnet hatte, Erlebnisse wie „Ich urteile“, „Ich
vergleiche“, „Ich zähle“, „Ich billige“, „Ich will“ usw., sind keine sinnlichen
Daten, sie mögen sich an solche anschließen, sich aus solchen Gebilden
erzeugen, die dann zu ihren Inhalten werden, aber selbst diese Gebilde sind
dann mehr als Summen von Sinnesdaten. Also von diesem Sensualismus (zu
dem späterhin Denker hinstrebten) ist Locke fern. Und doch nennen wir ihn
einen Sensualisten und finden einen Sensualismus im schiefen Tafelgleichnis
ausgedrückt; und an der Tendenz zu jenem andersartigen Sensualismus ist
er dadurch selbst mitschuldig geworden.
Eine Tafel ist ein Ding, und die Kreidestriche oder Pinselstriche auf
der Tafel sind wieder Dinge oder dingliche Geschehnisse. Wie der Raum
das Seinsfeld der äußeren Dinge ist, so ist die Seele oder das seelische
Bewusstsein ein Feld innerer Dinglichkeiten. Die Erzieherin der neuzeit-
lichen Philosophie, die physische Naturwissenschaft, beschäftigt sich mit den
Raumdingen, den Dingen der äußeren Erfahrung. Sie gewöhnt uns daran,
Objekte nach ihren Bestandstücken, nach Teilen und Momenten zu zerglie-
dern und dann ihre Zusammenbildungen, ihre Veränderungen, ihre kausalen
Abhängigkeiten in den Veränderungen zu erforschen. Die neue Psychologie
fängt demgemäß damit an, das Gebiet der inneren Erfahrung genau so
anzusehen, und will in ihm genau das leisten, was die Naturwissenschaft
auf dem der äußeren geleistet hat. Sie behandelt also die unmittelbaren
Gegebenheiten der inneren Erfahrung, die Bewusstseinserlebnisse, ganz so
wie Dinge1.
1 Gestrichen deren Teile und Momente analytisch herauszustellen, deren kausale Verände-
das ist offenbar das aktuelle Erleben mit seinem wirklichen Erlebnisgehalt,
während wir in objektiver Betrachtung aussagen: Derselbe Gegenstand wird
einmal von dieser, dann von jener und von immer neuen Seiten gesehen.1
Achten2 wir auf die fließenden und wechselnden Aspekte, die „Wahrneh-
mungsbilder“ sozusagen, die wir im Wahrnehmen von dem einen Gegen-
stand haben, so finden wir darin Farbendaten, Tastdaten, Geruchsdaten
usw. Wir finden sie als darstellende Daten. Nämlich es ist hier zu beachten,
dass das, was vom konkret vollen Gegenstand gesagt ist, sich auf jedes
wahrgenommene Merkmal des Gegenstandes übertragt. So wie der volle
Gegenstand nicht der Aspekt ist, sondern in ihm erscheint, so ist die gesehene
Farbe des Gegenstandes nicht der Farbenaspekt. Auch die Farbe stellt sich
immer wieder in verschiedener Weise dar; und man kann darauf achten, man
kann es wahrnehmen, dass die eine Gegenstandsfarbe eben das Eine ist, das
in einem ganzen Fluss unterscheidbarer Empfindungsfarben sich darstellt.
Die darstellenden Farbendaten und die erscheinende Farbe des Dinges sind
also zu scheiden. Und so für jedes Merkmal des erfahrenen Gegenstandes.3
Ist alles unter dem Titel „äußere Erfahrung“ Erfahrene, das Ding und jede
Dingqualität, in Bewusstseinserlebnissen erscheinend, sich mittels Bewusst-
seinsdaten darstellend, so ist dabei auch zu beachten, das dieses Sichdar-
stellen selbst etwas im Bewusstsein selbst Liegendes ist. Bewusstseinsmäßig
stellen die Empfindungsdaten dar. Sie sind im Bewusstsein von einem Sinn
umflossen, sie sind Substrate von Charakteren, die den immanenten Farben-
daten, Tondaten und schließlich den ganzen Aspekten eben den Sinn von
Darstellungen geben. Anders ausgedrückt, das Bewusstsein, das wir „äußere
Wahrnehmung“ und überhaupt „äußere Erfahrung“ nennen, ist nicht ein
blindes Durcheinander von Daten, die nichts bedeuten; Wahrnehmungen
sind nicht bloß Sachen, bloße Striche auf einer Bewusstseinstafel. Sie sind
cogitationes, Bewusstseinserlebnisse. Jedes solche ist Bewusstsein-von. Das
wahrnehmende Bewusstsein in sich selbst ist ein Mit-solchen-Daten-ein-so-
und-so-Bestimmtes-Meinen. Es konstituiert in sich einen gegenständlichen
Sinn durch eine gewissen Bewusstseinsdaten (in gewissen Zusammenhän-
gen) erteilte Sinngebung. Nur so ist alles „Äußere“, alle Natur für das
Bewusstsein da.
1 Randbemerkung Immer wieder wird betont, dass wir hierbei die äußere Wahrnehmung in der
immanenten Schauung studieren und aus deren Eigenheit die Eigenheit eines Bewusstseins
klarmachen.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung Vergleiche die nächste Vorlesung, diese vorliegende war eigentlich miss-
Weise einer äußeren Anschauung sich gegenüber haben, in der Weise einer
Erinnerung vergegenwärtigt, in der Weise eines Denkens gedacht haben:
das sind Eigenheiten, die bei Dingen suchen zu wollen gar keinen Sinn
gibt. Wir können nun auch sagen: Locke und der Empirismus beschäftigen
sich mit dem Bewusstsein, wollen seinen Entwicklungsgang erforschen und
dazu natürlich vorher auch seinen eigenen Gehalt an Merkmalen deskriptiv
erforschen, aber sie übersehen prinzipiell die Eigenart des Bewusstseins, die
ihm immanente Intentionalität.
Wir waren in der letzten Vorlesung dabei, die Tabula-rasa-Auffassung
des Bewusstseins zu kritisieren, die von Locke auf den ganzen positivisti-
schen Empirismus übergeht und ihm den Charakter eines grundverkehrten
Sensualismus aufprägt. Der Sensualismus naturalisiert das Bewusstsein. Die
Gegebenheiten der äußeren Erfahrung und die der inneren Erfahrung oder
besser der immanenten Erfahrung (reflektiven Erfassung immanenter Erleb-
nisse) gelten ihm ihrer Seinsart nach prinzipiell als gleich.1 Im äußeren Raum
sind Dinge, Komplexe von abstückbaren Elementen, sich zusammenbildend
und wieder auflösend, ihr Sein durchaus ein kausales Sein. (Als Ganze und
nach ihren Teilen sind sie Substrate realer Eigenschaften, die als solche unter
Kausalgesetzen stehen, welche alle Veränderungen in der Raumwelt regeln.)
Das Bewusstsein, der einheitliche Strom meiner reinen Ich-Erlebnisse, soll
nun ebenso eine Art Raumwelt, eine tabula sein, auf der die Erlebnisse so
wie sinnliche Zeichen auf einer Tafel kommen und gehen, sich verbinden zu
Komplexen usw.
Aber das ist grundverkehrt. Erlebnisse sind nicht eine Art Realitäten, ihr
Sein ist von allem dinglichen Sein toto coelo verschieden. Den Grundcha-
rakter des Immanenten bezeichnet das Wort „Bewusstsein“, „cogito“. Jedes
cogito bezieht sich in sich auf ein cogitatum, jedes Bewusstsein ist in sich
selbst – das ist die Grundart seines Seins – bezogen auf ein Etwas, wovon es
Bewusstsein ist. Vorstellen ist Vorstellen von etwas, Erinnerung Erinnerung
an etwas, Aussagen Aussagen über etwas, Begehren begehrt etwas, Werten
hält etwas für wert usw. Alles, was von den Bewusstseinserlebnissen aus-
zusagen ist, alles, was ihnen nach ihrem eigenen Wesensgehalt zukommt,
das geht auf dieses Bewussthaben von etwas, etwas Meinen, sich intentional
auf etwas Beziehen zurück, ist eine Näherbestimmung davon. Speziell was
die Erlebnisse anlangt, die der weite Titel „Erkenntnis“ umspannt, so ist
ihr Sein erkennend Meinen (vorstellend, urteilend, schließend, begründend
Meinen), und alle Zusammenhänge der Erkenntnis als solcher, also auch all
jene teleologischen Eigenschaften, von denen wir gesprochen haben, sind
ausschließlich bestimmt durch Wesenseigentümlichkeiten der erkennenden
Intentionalität. (Alles gründet im erkennenden Ich-Bezogensein auf etwas,
im es Meinen und dann je nach Umständen richtig oder unrichtig Meinen.)
Ein Ding, ein Holzklotz etwa, ist, aber meint nichts. Und was er ist, ist er
als reales Ganzes realer Teile und als Substrat real-kausaler Eigenschaften,
als Glied eines naturgesetzlich verbundenen Weltganzen. Nichts von all dem
gilt aber für das Bewusstsein, wofern wir es rein in sich selbst nehmen.
Vielleicht wird Ihnen der Kontrast und der Grundfehler der Verdinglichung
des Bewusstseins am schnellsten klar, wenn ich zunächst auf Folgendes
hinweise. Nehmen wir einmal die Erlebnisse, wie sie in der immanenten
Erfahrung gegeben sind, ganz im Sinne der Tabula-rasa-Auffassung, wie
Sächelchen auf einer Tafel; übersehen wir ihren Grundcharakter, dass sie
cogitationes sind, Bewusstsein von etwas. So ergibt sich sogleich die Frage:
Wie ist es möglich, dass die Bewusstseinstafel je über diese ihre Zeichen
hinauskommt und von etwas Anderem weiß, als was auf ihr selbst auftritt.
Ich erlebe meine Erlebnisse, sie machen den Strom meines Erlebens aus. Auf
sie kann ich hinblicken und habe sie dann unmittelbar in absoluter Evidenz
gegeben. Von ihnen habe ich die cartesianische Evidenz des cogito. Aber wie
steht es mit dem Sein der Welt außerhalb dieser Bewusstseinstafel? In der
Tat, sagt Locke, unmittelbar sind uns nur gegeben unsere eigenen „Ideen“.
Eben damit war der weiteren Entwicklung des Empirismus die Tendenz
zur positivistisch immanenten Philosophie eingeprägt, die in Berkeley damit
anfängt, die äußere Welt zu leugnen, und in Hume damit endet, alle und jede
Bewusstseinstranszendenz als Bewusstseinsfiktion zu deuten. Unmittelbar
sind uns nur gegeben unsere eigenen Ideen. Aber wie kann uns Transzendenz
nur mittelbar gegeben sein? Wie wollen wir von dem, was nicht auf dieser
Tafel sich vorfindet, auch nur eine Ahnung haben?
Achten Sie darauf wie verkehrt die ganze Fragestellung ist und das
Gleichnis, das hier leitet. Das Bewusstsein ist nicht ein Kommen und Gehen
von Sächelchen in einem Raumfeld, und die immanente Erfahrung nicht ein
schauender Blick, der diese Sächelchen herausschaut und fixiert. Vielmehr,
ich bin in dem Strom meines Bewusstseinslebens, und das Leben entfaltet sich
in Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, Gefühlen der Freude, in
Begierden, Wollungen usw. Jedes davon ist nicht nur, sondern ist Bewusstsein
von etwas.
Darunter vor allem genannt waren Wahrnehmungen. In der Tat, im
Strom unseres Ich-Bewusstseins treten immerfort neue und neue Erlebnisse
352 einleitung in die philosophie
auf, die wir allgemein als äußere Wahrnehmungen bezeichnen. Sie sind
Wahrnehmungen von den und den Dingen, von den und den dinglichen
Bewegungen, Veränderungen, Wirkungen und Gegenwirkungen. Es ist also
grundverkehrt, wenn der Sensualismus sagt, unmittelbar gegeben sind uns
nur unsere Erlebnisse. Nein, unmittelbar gegeben sind uns Dinge, ist uns
eine ganze Umgebungswelt. Ganz unmittelbar steht sie in leibhafter Wirk-
lichkeit vor unseren Blicken: Es ist nur ein anderer Ausdruck, wenn wir
sagen: „Wir nehmen äußerlich wahr“. Daran wird gar nichts geändert, wenn
es mit Grund heißt: „Äußere Wahrnehmung kann täuschen“. Auch in der
trügenden Wahrnehmung steht das (hinterher als Trug bezeichnete) Ding als
gegeben da. Die immanente Reflexion belehrt uns, dass diese unmittelbare
Gegebenheit von Außendingen vorliegt und wie sie sich vollzieht. Direkt
erfassen wir diese Bewusstseinsart „äußere Wahrnehmung“ und was in ihr
liegt: also, dass diese in sich selbst Bewusstsein von dem Ding ist, weiter aber
auch, dass dieses „Bewusstsein-von“ nicht ein leerer Charakter ist, sondern
dass in ihm notwendig jene eigentümlichen Strukturen auftreten müssen,
von denen wir letzthin sprachen.
So geartet ist das wahrnehmende Bewusstsein etwa von unserem Dom,
dass zu scheiden ist zwischen dem Dom selbst als dem im Wahrnehmen
Wahrgenommenen und den Aspekten vom Dom; desgleichen, dass nicht eine
einzelne Wahrnehmung den Gegenstand Dom zur allseitigen Gegebenheit
bringt, dass vielmehr eine Mannigfaltigkeit, ideal gesprochen, eine Unend-
lichkeit von Wahrnehmungen nötig wäre, um den Dom fortschreitend zu voll-
kommener Gegebenheit zu bringen. Und dabei laufen die Wahrnehmungen,
soweit wir sie im vielseitigen Wahrnehmen des Domes aktualisieren, nicht
bloß nebeneinander ab und kumulieren sich nicht. Nicht wie irgendwelche
Striche- oder Pinselkleckse auf einer Tafel, sondern sie einigen sich in der
Weise, wie sich eben Bewusstsein als Bewusstsein von einem Gegenstand
einigt. Eine höhere Bewusstseinseinheit baut sich auf, das Ganze ist ein Be-
wusstsein, von dem einen Dom, während jede Phase selbst schon Bewusstsein
von ihm ist. Jede Phase hat ihre Aspekte, und aus den einzelnen Aspekten
baut sich gleichsam auf der fließende Gesamtaspekt von dem Dom als das
Erscheinungsganze, in dem er, der eine und selbe, erscheint.
Bewusstsein verbindet sich mit Bewusstsein, nicht wie Dinge sich zusam-
menmengen oder zu kausal vereinheitlichten Komplexen sich verbinden;
sondern die Bewusstseinsphasen verbinden sich zur Einheit eines Bewusst-
seins, das als Bewusstsein Einheitliches meint (in unserem Fall: Einheitliches
zur Wahrnehmungsgegebenheit bringt). So nicht nur Wahrnehmungen mit
Wahrnehmungen. Sehe ich den Dom und taucht dann eine Erinnerung daran
locke 353
in mir auf, wie ich gestern vom Dom gesprochen habe und ihn früher einmal
gesehen habe, so haben wir nicht bloß nebeneinander mehrere Erlebnisse,
Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungserlebnisse, Aussageerlebnisse, son-
dern jedes ist ein Bewusstsein, und ein höheres synthetisches Bewusstsein
verknüpft dieses Bewusstsein zu einem Bewusstsein von demselben, jetzt
wahrgenommenen, vordem erinnerten und besprochenen Dom.
Bewusstsein ist nicht bloß, sondern hat in sich bewusst. In-sich-bewusst-
Haben heißt aber nicht: in sich in der Weise einer Realität einen Teil, ein
Stück haben. Der Dom ist kein Stück des Dombewusstseins. Er ist in ihm
gemeinter Gegenstand. Und das „gemeint“ ist ein wesentlich Verschiede-
nes, je nachdem es heißt: wahrnehmungsmäßig gemeint, erinnerungsmäßig,
denkmäßig gemeint usw. Gemeint kann dabei der Gegenstand sein, ob das
Bewusstsein ein fingierendes ist oder in Gewissheit meinendes und ob es in
Richtigkeit, Gültigkeit meint oder nicht. Das Bewusstsein hat in sich selbst,
als ihm immanenten Sinn dieses „sich Beziehen auf“ den so und so gemeinten
Gegenstand als solchen. Und wieder Sinnesverschiedenheiten liegen vor im
Wie der Darstellung des Gegenstandes: ob er von dieser oder jener Seite
gegeben wäre, er, derselbe Gegenstand.
Desgleichen kann verschiedenes Bewusstsein der Art des Denkens einen
und denselben Gegenstand denken und ihn denken als bestimmt durch die
oder jene Begriffe. Den Dom kann ich begrifflich denken als „aus Sandstein
gebaut“, als „Kirche“, als „Dom zu Freiburg“ usw. Ich kann hinterher dazu
kommen, das eine und andere Prädikat als falsch zu verwerfen, aber im Denk-
bewusstsein war es als Sinn vorhanden. Dieses Als-Sinn-Vorhandensein muss
dabei genommen werden, wie das Bewusstsein selbst in seinem Wesensbe-
stand es vorzeichnet: genau so und ohne alle Tabula-rasa-Verkehrtheiten. Es
handelt sich nicht um Stücke einer Sache, wie der Dom Stücke hat, sondern
um ein ideales Enthaltensein im Denkbewusstsein und jene ganz einzige
Art, wie Sinnesgehalt einem Bewusstsein und Momente des Sinnesgehaltes
ihm einwohnen. Bewusstseinsanalyse ist also nicht Sachanalyse, sie ist nicht
Anatomisieren eines dingartigen Seins, sondern eben Auseinanderlegung
eines Bewusstseins, sie ist intentionale Analyse.
Gewiss finden wir in der Einheit eines Bewusstseinserlebnisses Bestand-
stücke, die nicht selbst Bewusstsein sind, aber alles, was im Bewusstsein
auftritt, hat intentionale Funktionen, Bewusstseinsfunktionen. So in der
äußeren Wahrnehmung: Im Aspekt eines Dinges, in irgendeiner der Erschei-
nungen, in denen uns der Dom wahrnehmungsmäßig erscheint, finden wir
zum Beispiel Farbendaten und Gestaltdaten. Aber die Farben- und Gestalt-
daten, die zum Aspekt gehören, sind nicht die Farbe und Gestalt des Doms
354 einleitung in die philosophie
selbst, nicht die Farbe und Gestalt, mit der er selbst in der Wahrnehmung
erscheint. Vielmehr, während uns im Wechsel der Wahrnehmungen (etwa
beim Herumgehen) die Farbe des Domes und seine Gestalt als objektiv
völlig unveränderte vor unseren Augen steht, ändern sich in den Aspekten
die Farben- und Gestaltdaten. Sie sind im reflektierenden Blick in ihrem
Wandel leicht zu erfassen. Sie sind bewusst, aber nicht Bewusstsein. Sie ge-
hören zur Wahrnehmung nicht, wie die Farbe und Gestalt zum Dom gehört,
zu irgendeinem Ding gehört. Vielmehr, sie gehören zu ihm als Träger der
darstellenden Wahrnehmungsfunktionen. In den wechselnden Farbendaten
stellt sich die objektive Farbe dar, in den wechselnden Gestaltabschattungen
die objektiv eine Gestalt. Dass sie es tun, dass sie nicht nur sind, sondern
darstellend sind, das ist keine Theorie, sondern aus dem immanenten Gehalt
und Sinn der Wahrnehmung selbst zu entnehmen, ist darin selbst zu finden.
Von all dem haben Locke und der Sensualismus nicht die entfernteste
Ahnung. Immerfort wird gesprochen von „Ideen“, von Vorstellungen, von
Wahrnehmung, Erinnerung, Vergleichen, Unterscheiden, Denken usw. und
dabei natürlich auch bestimmter von der Wahrnehmung, zum Beispiel als
Wahrnehmung von dem Haus, von dem Vergleichen zwischen den und jenen
Gegenständen usw. Aber die Tabula-rasa-Auffassung lässt nie den Gedan-
ken aufkommen, dass Bewusstsein als Bewusstsein zu erforschen ist. Man
übersieht, dass in solchen Erlebnissen wesensmäßig eine gegenständliche
Beziehung liegt, dass sie Sinnesbestand haben und durch wechselnden Sin-
nesbestand vermittelte Identität des Gemeinten durchhalten können. Man
merkt nicht, dass alle solchen intentionalen Strukturen, in einer Überfülle
von Sondergestaltungen, das eigentliche Thema sowohl der Erkenntnistheo-
rie als auch der Psychologie sind. In beiderlei Hinsicht ist das selbstverständ-
lich. Alle erkenntnistheoretischen Fragen sind ja eo ipso Fragen, welche
die gegenständliche Beziehung der Erkenntniserlebnisse betreffen: Das er-
kennende Bewusstsein als Bewusstsein von etwas soll Gegenständlichkeit
treffen, darauf gehen hier die Fragen. Aber auch für die Psychologie ist das
Gesagte selbstverständlich. Sie will empirische Wissenschaft vom mensch-
lichen Seelenleben sein. Das aktuelle Seelenleben ist Bewusstseinsleben.
Vor allem anderen müssen also die im Wesen des Bewusstseins liegenden
Strukturen erforscht werden.
Da der Empirismus sozusagen blind ist für die Intentionalität, während
er doch das Bewusstsein als Thema hat, wimmelt es bei ihm von den gröbs-
ten Verwechslungen, wie sie ganz unmöglich wären, wenn er auch nur den
Sinn einer Bewusstseinsforschung erfasst hätte. Dahin gehört die beständige,
bis in die neueste Psychologie hineinreichende Verwechslung von Empfin-
locke 355
uns ist, was sie ist, durch Bewusstseinserlebnisse, in denen sie gegebene,
vermeinte und schließlich in Vernunftdenken richtig gedachte ist. Ist Meta-
physik die Wissenschaft vom wirklichen Sein und endgültige Wissenschaft
von ihm, also diejenige, die den echten Sinn des Seins aus unseren Meinungen
und Wissenschaften herausschält, so ist eine echte Erkenntnistheorie die
Bedingung der Möglichkeit einer Metaphysik.
Es1 gilt heute zunächst, die durch die Pfingstferien entstandene Pause
in unseren systematischen Gedankengängen durch eine Rekapitulation zu
überbrücken. Eine Einleitung in die Philosophie muss, sagte ich zu Anfang,
aus notwendigen Gründen einen ganz anderen Charakter haben als eine
Einleitung in die positiven Wissenschaften, die uns von der Schule her
mindestens nach ihren ersten Elementen vertraut sind. Die Domäne der
Philosophie liegt nicht in den Dimensionen, die uns durch Erfahrung und
mathematische Intuition eröffnet sind und in denen wir uns natürlich und
frei zu bewegen gelernt haben. Die neuen Dimensionen aber, die der Phi-
losophie eigen sind, gewinnt man nicht durch eine einfache Blickerhebung.
Es bedarf vielmehr mühsamer intellektueller Vorbereitungen, um die pein-
lichen Unklarheiten und Zweifel in sich zu erfahren, die durch eine noch so
vollkommene Entwicklung der positiven Wissenschaften nicht gelöst werden
können, und um die neuartigen Probleme zu reiner Formulierung zu bringen,
die (wie zu vollster Evidenz zu bringen ist) außerhalb der eigentümlichen
Arbeitsrichtungen dieser Wissenschaften gelegen sind.
Um diese intellektuelle Vorbereitung zu schaffen, mit anderen Worten,
um den Anfänger in die Philosophie einzuleiten, wählten wir einen ideen-
geschichtlichen Weg. Denn dieselben intellektuellen Bedürfnisse, die jeder
Anfänger in sich erwecken muss, um die im eigentümlichen Sinne philo-
sophischen Fragestellungen gegenüber denen der sonstigen Wissenschaf-
ten verstehen zu können, erwuchsen im Entwicklungsgang der griechisch-
europäischen Wissenschaft überhaupt und bedingten als ein sehr spätes Ent-
wicklungsresultat die Abgrenzung einer Philosophie im prägnanten Sinne,
deren Realisierung in Form einer strengen Wissenschaft die Aufgabe der Ge-
genwart ist. Nicht eine Geschichte der Philosophie, sondern eine Geschichte
der Idee „Philosophie“ kam für uns in Frage; und eine Geschichte der Idee
„Philosophie“ ist untrennbar eins mit einer Geschichte der Idee der Wissen-
schaft nach ihren notwendigen Differenzierungen. Diese Differenzierungen
sind Produkte einer längeren, in den wesentlichen Zügen notwendigen Ent-
wicklung.
Philosophie im ersten und auch sachlich ursprünglichsten Sinne ist Stre-
ben nach Wissen um des Wissens willens. In der Natur solchen Strebens
liegt die Tendenz auf allumfassende und absolute Erkenntnis. (Das Prädikat
„absolut“ fügen wir vom Aspekt entwickelter Philosophie und Wissenschaft
aus hinzu: Von notwendigen Einseitigkeiten der Erkenntnis, von Relativitä-
ten, denen sie unterliegen könnte, um deren willen eine gewonnene Wissens-
stufe einen bloß relativen Wert haben konnte, weiß man in den Anfängen
natürlich nichts.) Und natürlich hat man in den Anfängen noch nicht reine
Problemscheidungen, noch nicht strenge Methoden, echte wissenschaftliche
Begriffe und Theorien, sondern all das arbeitet sich erst in der Entwicklung
heraus.
Im Altertum gibt es nach unseren Darstellungen, trotzdem es die bei
weitem größte und bewunderungswerteste Vorarbeit für die Ermöglichung
von Wissenschaft und Philosophie geleistet hat, noch keine reinen Scheidun-
gen zwischen sonstiger Wissenschaft und Philosophie, keine Abhebung der
notwendigen Haupttypen der Wissenschaft, auch keine reife Entwicklung
innerhalb irgendeines dieser Haupttypen. Oder vielmehr: Nur ein solcher
Typus kommt zur Reife des echten Anfangs. Nämlich die Mathematik, wie
hoch auch die neuzeitliche Mathematik über der alten steht. Euklidische
Geometrie ist ein ausgereiftes Stück exakter mathematischer Wissenschaft,
ein vollendetes Entwicklungsprodukt, obschon freilich wie jede Vollendung
in echter Wissenschaft, Anfang für immer neue Entwicklungen und neue
Vollendungen. Das Altertum hat eine ungeheure Geistesarbeit an die Er-
kenntnis der Natur und des Geistes gewendet, also Natur- und Geisteswis-
senschaften vorbereitet, es hat erst recht ungeheure Geistesarbeit an die Me-
taphysik gewendet. Und doch, im Altertum gibt es keine reifen Vollendungen
in diesen Beziehungen. Keine Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist
zu einem ausgereiften Anfang gekommen (in dem Sinne wie die Geometrie
bei Euklid) und ebensowenig irgendeine der philosophischen Disziplinen.
Zu einer vollendeten Realisierung kommt nach der Mathematik zuerst
die Idee der Naturwissenschaft, und zwar im Zusammenhang der Geistes-
bewegungen der Renaissance. Sowie diese Stufe erreicht war, wirkte sie
motivierend auf die ganze weitere Entwicklung der Wissenschaft, soweit sie
solcher Vollendung noch entbehrte. Die neue mathematische Naturwissen-
erkenntnistheorie und metaphysik 359
schaft und mit ihr im Bund die reine Mathematik werden zum Vorbild für alle
wissenschaftlichen Bestrebungen, bestimmen umfassende methodologische
Reflexionen und darauf gegründete Reformversuche. Es breiten sich nicht
nur die Naturwissenschaften in immer neuen Theorien und Disziplinen aus,
es erweitern sich nicht nur die rein mathematischen Disziplinen, sondern eine
neue Wissenschaft, eine Wissenschaft von einem völlig neuen Typus, ja einer
neuen Dimension entfaltet einen gewaltigen Auftrieb: die Erkenntnistheorie.
Wir versuchten, uns in die innersten Problemmotive, die hier wirksam
werden und die, zum Teil freilich aus antiken Quellen stammend, hier
eine neue und höchst folgenreiche Entwicklung erfuhren, zu versenken, nun
nicht mehr bloß historisch, sondern philosophisch interessiert. Wir versuch-
ten, uns klar zu machen, was die Gegensätze zwischen Rationalismus und
Empirismus von innen her bestimmte, was für Probleme da zur Formulierung
kamen, was an Unklarem, Unausgewickeltem in den Problemen noch lag,
welche prinzipiellen Scheidungen, Reinigungen, Fortbildungen sie erfahren
mussten. Wir vertieften uns in den Sinn des epochemachenden Anstoßes,
den Descartes durch seinen Versuch, Wissenschaft auf absolut zweifellosen
Grund zu bauen, gegeben hatte. Wir überlegten, was in dem cartesianischen
Reduktionsversuch aller Erkenntnis auf das cogito als absolut zweifellose
Urquelle beschlossen war, was aber bei ihm selbst ohne jede Entfaltung
blieb. Wir erhoben uns zur Idee einer Wissenschaft vom reinen Bewusstsein
nach all den Gestaltungen, die der Titel cogito befassen kann, und allen
Wesenszusammenhängen, die durch den Eigengehalt dieser Gestaltungen
notwendig bestimmt sind.
Wir gingen ferner den zwischen Rationalismus und Empirismus strittigen
Ursprungsproblemen nach, kritisierten die auf beiden Seiten herrschenden
Vermengungen zwischen empirisch-psychologischen Ursprungsproblemen
und Problemen des Geltungsursprungs. Wir machten uns in selbsttätigem
Denken hier die Idee einer universellen und radikalen Wissenschaftstheorie
klar und gewannen die Einsicht, dass die ihr zugehörigen Probleme von
den idealen Grundbedingungen, Grundformen, Grundgesetzen, an die die
Gültigkeit von Wissenschaften gebunden ist, nur gelöst werden können,
wenn jederlei Präsuppositionen aus dem Bestand besonderer Wissenschaf-
ten, insbesondere empirischer, prinzipiell ausgeschieden bleiben.
Wir gingen dann über zur Kritik der verkehrten cartesianischen Evidenz-
theorie und zur Ursprungsquelle der radikalen Transzendenzprobleme, der
Probleme der Möglichkeit transzendenter Erkenntnis überhaupt, auf die
schon der antike Skeptizismus gestoßen war und die er, unfähig, zu einer
reinen Bewusstseinsforschung durchzudringen, negativ entschieden hatte.
360 einleitung in die philosophie
Wir gewannen im Zusammenhang damit eine neue Idee, zunächst die Idee
einer Erkenntnistheorie als Wissenschaft vom Wesen transzendenter Er-
kenntnis und vom Sinn transzendenter Erkenntnisgegenständlichkeit und
dann ganz allgemein einer Wissenschaft von dem möglichen Sinn von Er-
kenntnisgegenständlichkeiten überhaupt, sofern sie im Bewusstsein sollen
gegeben und erkannt werden können. Wir überlegten das Verhältnis einer
solchen Erkenntnistheorie zur Wissenschaftstheorie und dann weiter zur
Bewusstseinsphänomenologie, jener Wesenslehre vom reinen Bewusstsein,
der Descartes so nah gewesen war, ohne sie schon zu entwerfen. Wir machten
uns völlig klar, dass es sich dabei nicht um verschiedene Wissenschaften,
sondern wesentlich um eine einzige Wissenschaft handelt, die prinzipiell
auf dem Boden des reinen Bewusstseins und der in ihm selbst vollzogenen
gegenständlichen Setzungen sich bewegt. Ferner: Da in ihr der geltende
Sinn jeder möglichen Erkenntnisgegenständlichkeit zum Problem wird, darf
sie keine Existenz solcher Gegenständlichkeiten voraussetzen und damit
auch keinerlei wissenschaftliche Feststellungen über existierende Gegen-
stände.
Nachdem wir den Rationalismus lange bevorzugt hatten, gingen wir näher
in den Empirismus ein. Wir knüpften dann unsere weiteren Erörterungen an
das große Werk Lockes über den menschlichen Verstand an, mit dem sich
die Erkenntnistheorie zuerst äußerlich als eine eigene Disziplin dokumen-
tiert, ein Werk aber, dass zugleich Grundwerk der Erkenntnispsychologie
und Erkenntnistheorie ist. Früher hatten wir bei der Kritik der rationalis-
tischen Lehre von den eingeborenen Ideen den theologischen Psychologis-
mus kennengelernt und dabei hatten wir die prinzipielle Widersinnigkeit
jedweder Begründung der Erkenntnistheorie auf theologische und psycho-
logische Vorannahmen eingesehen. Nun lernten wir den die ganze Neuzeit
beherrschenden sensualistischen, naturalistischen Psychologismus kennen.
Im Wesentlichen hatten wir dessen Charakteristik und Kritik abgeschlossen
und für unsere weiteren Studien wichtigste Ergebnisse gewonnen. Es ist
nicht nur ein Grundfehler des von Locke ausgehenden Empirismus, dass
er die Erkenntnistheorie auf Erfahrungsseelenlehre gründen will, sondern
grundirrig ist auch die Tabula-rasa-Interpretation des Bewusstseins, die völlig
darüber hinwegsieht, dass die unübersehbar mannigfaltigen Erlebnisse, die
Descartes dereinst unter dem Titel cogito zusammengefasst und als absolut
zweifellose Gegebenheiten der inneren Reflexion hingestellt hatte, die völ-
lig einzigartige Eigentümlichkeit der Intentionalität haben. Bewusstsein ist
Bewusstsein von etwas, Bewusstsein ist in sich selbst auf Gegenständlichkeit
bezogen. Diese allgemeine Charakteristik aber umfasst unzählige besondere
erkenntnistheorie und metaphysik 361
Modi, die sich übrigens in Klassen sondern, von denen die eine der Titel
„Erkenntnis“ bezeichnet. Es gehören aber zur immanenten Beziehung auf
Gegenständlichkeit eigentümliche Arten der ursprünglichen Anschauun-
gen und eigentümliche Arten von Synthesis von Bewusstseinserlebnissen
mit Bewusstseinserlebnissen. Und alle Probleme der Geltung, der richti-
gen Beziehung auf Gegenständlichkeit oder andererseits der unrichtigen,
beziehen sich auf Bewusstseinsakte, sofern sie gewisse auf ursprüngliche
Anschauung zurückführende Synthesen fundieren können, Synthesen, die
wir „Ausweisungen“, „evident machende Begründungen“ nennen und
„einstimmige Übergänge von Erfahrungen in Erfahrungen“. (Welche Fülle
von Gestaltungen Bewusstsein einer und derselben Gegenständlichkeit, zum
Beispiel in Form einstimmiger Erfahrungsübergänge, annehmen kann und
wie doch all diese streng wissenschaftlich zu beschreibenden Gestaltungen in
Funktionen der Erkenntnis teleologisch zusammengehören, das kann freilich
erst in einer systematischen Erkenntnistheorie allseitig gesehen werden.)
Jede Grundart von Gegenständen, zum Beispiel materielle Dinge, or-
ganische Leiber, Personen, personale Gemeinschaften, hat ihre Art von
intentionalen Erlebnissen, durch die sie allein zu originärer Gegebenheit
kommen können. Die äußere sinnliche Wahrnehmung ist zum Beispiel das
Erlebnis unmittelbarer anschaulicher Gegebenheit von physischen Dingen
und bezeichnet eine Grundart der Wahrnehmung, an der vielerlei immanente
Eigentümlichkeiten, die für die Naturerkenntnis grundlegend, ihren Sinn
mitbestimmend sind, zu unterscheiden und wissenschaftlich zu erforschen
sind. Solche immanenten Wesensmomente hatten wir in kleinen Anfängen
der Analyse berührt: so die wechselnden Empfindungsdaten (Farbendaten,
Gestaltdaten etc.); die einheitlich beseelende Auffassung, wodurch diese Da-
ten als abschattende Darstellung gegenständlicher Merkmale (Farbe, Form
des Gegenstandes) bewusst sind; den Gesamtaspekt des Gegenstandes, in
dem die „eigentlich wahrgenommene Seite“ des Gegenstandes erscheint;
das Mitgemeinte vom Gegenstand, das jede solche Wahrnehmung notwendig
mit sich führt; weiter auch das identisch Gemeinte, der eine Gegenstand,
der im Übergang von Wahrnehmung zu Wahrnehmung bei allem Wechsel
der Empfindungsdaten, der Aspekte, der erscheinenden Merkmalskomplexe
eben als eines und dasselbe Gegebene bewusst ist und als Träger der zur
Darstellung kommenden Merkmale gemeint ist; desgleichen der Charakter
des leibhaftigen gewissen Daseins, der in andere Richtung jede normale
Wahrnehmung charakterisiert usw. Das sind beispielsweise aufweisbare Be-
wusstseinsmomente, jedes Ausgang für weitere und weitere Vorzeichnun-
gen.
362 einleitung in die philosophie
längst da, aber nun scheidet sie sich notwendig für sich ab und setzt sich den
mathematischen und Naturwissenschaften gegenüber. Davon sprachen wir
schon. Metaphysik hatte schon das Altertum in dem ersten systematischen
Entwurf durch Aristoteles.1
In dieser aristotelischen Metaphysik nun, die bei der historischen Lage
selbstverständlich kausale und finale (teleologische) Probleme ineinander-
schlingt, ist der finale Gesichtspunkt, was bei einem Schüler des Platon
begreiflich ist, der durchaus herrschende. Alles was ist, ist so, wie es ist und
wie es wird, gesetzmäßig bestimmt, aber all solche Gesetzmäßigkeit ist im
letzten Grund eine teleologische. Alles Werden in der Welt ist zweckmäßiges
Werden; die Welt ist eine teleologische Werdenseinheit, deren letztes Prinzip
die absolute Vernunft, die Gottheit, ist. Gott ist der unbewegte Beweger, die
selbst nicht werdende Urquelle alles Werdens, die absolut unveränderliche
Vernunft. Das alles, bemüht Aristoteles sich, wissenschaftlich zu erweisen in
seiner Metaphysik. Durch den Hinweis auf solche Probleme der Weltteleolo-
gie, auf die Gottesprobleme und die damit zusammenhängenden Weltwert-
probleme (wozu natürlich auch die Probleme der menschlichen Bestimmung
gehören) ist uns der Begriff der Metaphysik vorläufig illustriert; wir haben
eine Problematik damit bezeichnet, die durch das ganze Altertum bis in
die Neuzeit hindurchgeht und an die man unter dem Titel „Metaphysik“
vorzugsweise denkt.
Für uns Modernen ist hierbei aber schon bestimmend die Abscheidung
von den naturwissenschaftlichen Problemen, die das Altertum noch nicht
kennt. Die Neuzeit bringt als ein in der Tat Neues die Konstitution von nicht-
teleologischen Weltwissenschaften, die aufgrund der Erfahrung real-kausale
Zusammenhänge und ihre Gesetzlichkeiten unter völligem Ausschluss al-
ler Frage nach Teleologie, nach Gott und Weltvernunft behandeln; und in
dieser Richtung geht immer mehr und immer ausschließlicher die forschende
1 Gestrichen Zunächst, was den Titel „Metaphysik“ als Name einer eigenen Wissenschaft
anbelangt, so geht er auf Aristoteles zurück, obschon dieser selbst den Namen nicht gekannt hat.
Sein Name lautet „Erste Philosophie“, im Gegensatz nämlich zu den „Zweiten Philosophien“.
Zu beachten ist dabei, dass bei ihm Philosophie so viel heißt wie „theoretische Wissenschaft“.
Er hält es für notwendig, dass eine eigene Wissenschaft vom Seienden überhaupt, vom Realen
nach seinen allgemeinen Wesensbestimmungen, handle, und stellt ihr gegenüber die theore-
tischen Wissenschaften, die von den besonderen Arten und Gebieten der Realität handeln,
unter beständiger Anwendung der in der ersten Philosophie herausgestellten allgemeinen
Seinserkenntnisse. Die zufällige äußere Stellung der aristotelischen Schrift Erste Philosophie
bestimmte die üblich gewordene Zitation: τ+ μετ+ etc., „die hinter der Physik“. Und daraus
wurde der Name „Metaphysik“, der zufällig eine andere und sachlich passende Deutung zuließ:
als eine über Physik, über Naturwissenschaft hinausliegende Wissenschaft.
erkenntnistheorie und metaphysik 369
Energie der Neuzeit. Das geht so weit, dass wohl die meisten heutigen Natur-
forscher unter dem Einfluss des beherrschenden Positivismus andere als die
naturwissenschaftlichen Fragen nicht mehr gelten lassen. Aber jedenfalls zu
Anfang der Neuzeit war das nicht die Meinung, und auch in der Folge konnte
es bei dieser Beschränkung nicht sein Bewenden haben. Der Naturforscher
muss alle teleologischen Fragen, alle Fragen nach einer göttlichen Vernunft,
nach Wertideen, von denen sie geleitet ist (denen gemäß diese Natur von
innerer Rationalität durchleuchtet ist, zwecktätig Gestaltung nach Kausal-
gesetzen hervorgehen lässt), beiseitelassen: Das fordert ja der Sinn seiner
Wissenschaft. Aber historisch waren diese Fragen doch da und die ältesten;
und sie waren doch nicht aus der Luft gegriffen, sondern durch die Welt,
wie sie sich dem menschlichen Bewusstsein nun einmal gibt, nahegelegt. Sie
mussten also wissenschaftlich angegriffen werden.
Descartes ist einer der Begründer der neuen Naturwissenschaft. Als sol-
cher fordert er energisch den Ausschluss aller Fragen nach den „finalen“
Ursachen, nach Zwecken, also auch Werten innerhalb der naturwissenschaft-
lichen Forschung. Aber darum ist für ihn Naturwissenschaft doch nicht alles.
Das Gottesproblem, als die Frage nach dem absoluten Seinsprinzip, das
den teleologischen Grund der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit abgibt
und die rationale Ordnung der Natur unter mathematischen Naturgesetzen,
unter Erhaltungsprinzipien, erklärt, die Frage nach dem Verhältnis dieser
absoluten Substanz „Gott“ zu den endlichen Substanzen, den Dingen im
gewöhnlichen Sinne – alle solche Fragen sind für ihn von brennendem
Interesse, sind für ihn Hauptfragen. Sie liegen seit Galilei aber außerhalb
der Linie der neu konstruierten Naturwissenschaft. Also Metaphysik als
eine Wissenschaft neuer Art und wieder neuer Dimension sondert sich
ab; und diese verselbständigende Absonderung ist bedingt durch die Art,
wie vorher Naturwissenschaft sich, in sich abgeschlossen, ihr eigentümliches
Aufgabenfeld sich abgegrenzt hatte.
Wieder ist es eine Wissenschaft „neuer Dimension“. Eine neue Dimen-
sion ist auf die alten bezogen. Das sagte für die Erkenntnistheorie: Alle
Naturwissenschaft, wie alle Wissenschaft überhaupt, ist als Erkenntnissystem
zu betrachten und hat seinen erkenntnistheoretischen Aspekt. Das Paral-
lele haben wir für Metaphysik. Hier sagt die Rede von einer Wissenschaft
neuer Dimension: Alles was Naturwissenschaft an Sätzen und Theorien
ableitet (und vor allem die oberste Naturgesetzmäßigkeit, die alle Natur
umspannt, die letzten Naturelemente nach Arten und Formen, aus denen
Natur sich gesetzmäßig aufbaut), all das hat einen metaphysischen Aspekt,
der wissenschaftliche Betrachtung fordert, während die Naturwissenschaft
370 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Das wird sich alsbald zeigen, wenn wir den Einfluss der Erkenntnistheorie, schon
in ihren unvollkommeneren Ausgestaltungen zu Anfang der Neuzeit, auf die Interpretation der
naturwissenschaftlich bedachten und bestimmten Natur beachten und dessen innewerden.
2 Randbemerkung 26.6.1916. Wir erholen uns.
erkenntnistheorie und metaphysik 371
1 Randbemerkung Dogmatisch ist die gesamte Wissenschaft und Metaphysik des Altertums,
dogmatisch ist auch die auf die neuzeitliche Naturwissenschaft bezogene, etwa gar auf sie
gegründete Metaphysik, wenn sie vom Geiste reiner Erkenntniskritik nicht berührt ist, wie das
von dem größten Teil der von Naturforschern betriebenen Naturphilosophien unserer Zeit gilt.
erkenntnistheorie und metaphysik 373
sehr bald dahin – auf der einen Seite schon in Leibniz, auf der anderen in
Berkeley – die materielle Natur zu deuten als eine in den erfahrenden geisti-
gen Subjekten verlaufende Gesetzmäßigkeit von Bewusstseinsphänomenen.
Descartes hatte noch die neue mathematische Naturwissenschaft als eine
absolute Wissenschaft angesehen, die nur durch metaphysisch-teleologische
Interpretationen zu ergänzen sei. Durch seine energische Forderung einer
absoluten Erkenntnis und durch seinen Rückgang auf die zweifellose Ge-
gebenheit des reinen Bewusstseins im cogito hatte er zwar für alle weiteren
Entwicklungen den entscheidenden Anstoß gegeben, aber allzu schnell hatte
er vom cogito den Sprung in die Metaphysik gemacht, einen vermeintlich
zweifellosen Gottesbeweis geführt und durch Berufung auf die angeblich
miterwiesene göttliche veracitas die objektive Geltung der rationalen Natur-
erkenntnis, der mathematischen, vollzogen.
In seinem Ideengang standen sich erkenntnistheoretisch geistiges Sein
und materielles Sein nicht gleich. Einen Vorzug unmittelbarer und absolu-
ter Gewissheit hatte die Erkenntnis der Bewusstseinsgegebenheiten oder –
in der bedenklichen Wendung, die er häufig sogleich machte – die Er-
kenntnis, die der Geist von sich selbst hat. Was andererseits die im Geist
erscheinende und durch eingeborene Ideen des Geistes rational erkannte
Körperwelt anbelangt, so hat sie nicht die gleiche absolute Erkenntnisdi-
gnität; sie kann nur erschlossen sein, und der Schluss läuft bei Descartes
als bloßer Kausalschluss in der angedeuteten Weise über den Gottesbe-
weis. Gegenüber diesem Unterschied der Erkenntnisdignität besteht nach
Descartes hinsichtlich Geist und Körper Koordination in der Seinsdignität,
denn seine Untersuchung endet mit dem Resultat, dass es zwei irredu-
zible Grundarten von endlichen Substanzen (endlichen Realitäten) gibt,
die res cogitantes und res extensae, und zudem die eine unbedingte, un-
endliche Substanz Gott, das schöpferische Prinzip der endlichen Substan-
zen. Die Abhängigkeit der endlichen Substanzen und insbesondere auch
der körperlichen von Gott ändert nichts an ihrer wirklichen Wirklichkeit,
nur dass sie eben gottbedingte sind. Dieser Dualismus in der Naturauf-
fassung stimmte sehr gut zu der in der neuen Naturwissenschaft selbst
vollzogenen Einstellung. Ihr gemäß gelten in äußerer und innerer Erfah-
rung gegebene Realitäten eben als gegebene Realitäten: Körper und mit
Körpern verbundene Geister sind da; sie nach ihren objektiven Beschaf-
fenheiten und Gesetzen zu erforschen, ist die naturwissenschaftliche Auf-
gabe.1
1 Gestrichen Schon bei Hobbes, dem Zeitgenossen des Descartes, bemerken wir einen Einfluss
376 einleitung in die philosophie
Der Empirist Locke vertritt den gleichen Dualismus wie Descartes. Nicht
als ob er die cartesianische Deduktion durchaus mitmachen wollte, sondern
weil er eben als Empirist der Erfahrung folgen und sich durch die erfahrungs-
wissenschaftliche Auffassung leiten lassen will. Von Descartes übernimmt er
dabei die Lehre von der absoluten Gegebenheit, die für das Bewusstseins-Ich
sein eigenes Sein und Bewusstseinsleben hat, und in weiterer Folge die Lehre,
dass dem Ich alles Äußere nur durch die eigenen Ich-Erlebnisse gegeben sein,
dass das Äußere sich im Bewusstseinsinneren nur darstellen kann. Wir sollen
nach Locke eine unmittelbare Intuition von dem Verursachtsein unserer Sin-
nesempfindungen durch Äußeres besitzen, und so sollen wir mit Gewissheit
ein äußeres Sein, vor allem eine Körperwelt annehmen. Das wird in der
von Locke ausgehenden Linie der Entwicklung wirksam.1 Dieser Ausgang
vom immanenten Bewusstsein führt zum sogenannten „Idealismus“, das
heißt, zur Auffassung, dass die materielle Natur, mit den gesamten Gehalten
genommen, die die Naturwissenschaft herausstellt, in letzter Wahrheit nur
eine Bewusstseinswirklichkeit hat, dass sie nichts anders sei als eine Regelung
von Zusammensetzungen von „Ideen“.
In der Redeweise des 18. Jahrhunderts heißen „Ideen“ Bewusstseinser-
lebnisse. Das Wort hat also einen ganz anderen Sinn, als er heute üblich ist.
Die Entwicklung führt also dahin, dass der cartesianische (und Locke’sche)
Dualismus der Naturauffassung aufgegeben und alles reale Sein in geistiges
Sein umgedeutet wird: Es gibt nur geistige Realitäten, und in den geistigen
Realitäten treten sinnliche Phänomene auf in gewissen geregelten Ordnun-
gen. Materielle Körper erscheinen, sie sind als gegenständliche Phänomene
in der Erfahrung gegeben. Aber es kommt ihnen kein außerbewusstes Dasein
zu. Sie sind bloße Indizes für Bewusstseinsregelungen, die übereinstimmend
alle empirischen Subjekte übergreifen und in ihnen das geregelte Phäno-
men einer ihnen äußeren materiellen Welt erzeugen. Diese dem natürlichen
Bewusstsein paradox anmutende Auffassung bleibt selbstverständlich nicht
ohne Bestreitung.
Dem Idealismus steht bis zum heutigen Tag gegenüber der sogenannte
Realismus. Dabei pflegt man unter „naivem Realismus“ die vor aller Theo-
rie liegende natürliche Auffassung zu verstehen, welche die gegebene ma-
terielle Natur als vorbehaltlos geltende Wirklichkeit hinnimmt, ohne sich
erkenntnistheoretischer Motive auf die Interpretation der Natur, da die mathematische Physik
die Sinnesqualitäten, mit denen die Dinge in der schlichten äußeren Erfahrung erscheinen, aus
einer puren qualitätslosen Körperlichkeit rein mechanisch erklärt.
1 Randbemerkung Cf. Locke über Existenz, das Außending und sonstige Gewissheit.
erkenntnistheorie und metaphysik 377
Skeptizismus endet.) Lockes Essay, das Grundwerk, auf das die ganze Ent-
wicklung zurückbezogen ist, ist ein durch und durch widerspruchsvolles
Werk. Eine Erkenntnistheorie will es entwerfen und verfehlt den Sinn er-
kenntnistheoretischer Problematik so sehr, dass es von Anfang an Erkennt-
nistheorie und Erkenntnispsychologie verwechselt, also in einen widersinni-
gen dogmatischen Psychologismus verfällt.
Die1 natürlich gegebene geistige und körperliche Natur und mancherlei
auf sie bezogene vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnisse
werden von Locke in naiv-realistischer Weise als Gültigkeiten hingenommen,
während doch der allgemeine Sinn und die Möglichkeit dieser Erkenntnis
und ihrer Gegenständlichkeiten selbst zum erkenntnistheoretischen Thema
gehören, selbst in Frage stehen; ja, für Locke selbst in Frage stehen, denn die
beständige naiv-realistische Benutzung der Existenz der Natur und der Gel-
tung der Naturwissenschaft hindert Locke nicht, in widerspruchsvoller Weise
die Möglichkeit dieser Erkenntnis zugleich zum Problem zu machen. Also,
was selbst in Frage steht, das dient, als ob es nicht in Frage stehe, zugleich
mit zur Beantwortung der Fragen. (Die Verkehrtheit dieses Verfahrens, die
eben mit der Unfähigkeit, den radikalen und reinen Sinn erkenntnistheo-
retischer Problematik zu erfassen, zusammenhängt, brauchen wir nicht von
Neuem zu erörtern) und ebenso sei nur erinnert an den allgemeinen Sinn
des Sensualismus, der sich im Bild von der tabula rasa ausprägt.
Was für die Fortentwicklung des Locke’schen Empirismus für uns aus dem
Gehalt des Locke’schen Essay besonders interessant ist, ist aber die in dem
ganzen Verfahren Lockes angelegte Tendenz zur nachmaligen immanenten
Philosophie, deren erste und noch unvollständige Auswirkung Berkeleys
„Idealismus“ (Spiritualismus, Immaterialismus) ist. Lockes herrschender
Gedanke ist zunächst folgender: Wenn wir dem endlosen Streit der Menschen
über Natürliches und Metaphysisches ein Ende machen, wenn wir die Macht
der scholastischen Wortklauberei und der mystischen Verstiegenheiten ra-
dikal bekämpfen wollen, wenn wir echte Wissenschaft wirksam vorbereiten
und in jeder Hinsicht dauernde Fortschritte menschlicher Erkenntnis erzie-
len wollen, dann müssen wir zu den letzten Quellen von Erkenntnis und
Irrtum überhaupt zurückgehen.
Was die Erkenntnis anbelangt, so ist es für Locke ein Grundsatz (dessen
Abstammung aus der cartesianischen Philosophie uns bekannt ist), dass
unserer Erkenntnis unmittelbar gegeben nur unsere eigenen Ideen sind,
In dieser Art Locke nachgehend, fragen wir uns aber, wie geltende Be-
griffe und Urteile erwachsen sollen, die je über die Bewusstseinstafel hin-
ausreichen, nämlich wie sie etwas anderes ausdrücken sollen denn einfa-
che oder komplexe psychische Vorkommnisse, die darin aufgehen, auf der
Bewusstseinstafel zu sein, auf ihr zu kommen und zu gehen. Für die zum
Wesen des Bewusstseins als solchen gehörige Intentionalität ist Locke ja
blind. In seinen Darstellungen ist also keine Rede von der zum Bewusstsein
wesentlich gehörigen Eigenheit, in der Weise des Meinens über sich selbst
hinaus zu meinen und in der Weise des gemeinten Sinnes, des vermeinten
Gegenständlichen als solchen, etwas in sich zu bergen, was nicht als reelles
Datum im Erlebnis selbst ist. All dergleichen ist also nie für die Analyse
bestimmend, sie ist nie intentionale Analyse; also wir haben immerfort
nur Daten auf einer Bewusstseinstafel, und was über die im engeren Sinne
sensuellen Daten (Farben-, Tondaten) hinaus auftritt (vermöge der Selbst-
tätigkeit der Seele), ist doch wieder ein reelles Datum, also nicht prinzipiell
vom Sensuellen verschieden. Das führt nun schon Locke selbst auf radikale
Schwierigkeiten, die in gewissen Analysen von ihm selbst bemerkt werden,
in anderen ihm verhüllt bleiben, aber sofort von seinen Nachfolgern ihre
Enthüllung erfahren.
Wir heben einige für die Folgezeit bedeutsame Beispiele hervor. Da ist der
Begriff des materiellen Dinges bzw. der materiellen Substanz. Wir verstehen
alle das Wort und halten es für ein rechtmäßig bedeutsames. Soll es das
sein, so muss in der entsprechenden klaren Anschauung die einfache oder
komplexe „Idee“ sich aufweisen lassen, für die das Wort das Zeichen ist. In
der Tat führt nun Locke diese Ursprungsanalyse durch, und zwar behandelt
er die Begriffe „Ding“ und „Substanz“ unter den zusammengesetzten Ideen.
Jeder Sinn liefert uns, sagt Locke, gesondert seine Ideen: der Gesichtssinn
Farben und gesehene Figur, Größe, der Tastsinn Tastdaten und getastete
Figur und Größe usw. Wie kommt es dann, dass wir davon sprechen, dass wir
ein Ding wahrnehmen? Warum sagen wir nicht, dass wir einen Haufen von
vielen sinnlichen Daten und Datengruppen wahrnehmen? Wo ist die eigene
Idee, die der Dingeinheit entspricht?
Wir wollen davon absehen, dass Locke von vornherein gesehene Ding-
farbe und das empfundene Farbendatum vermengt und so überhaupt die
Dingeigenschaften des Wahrnehmungsobjektes mit den in den Wahrneh-
mungserlebnissen darstellenden sinnlichen Daten. Aber stellen wir uns auf
seinen Boden, so müssen wir ihm doch vorhalten: Entweder es ist auf der
Bewusstseinstafel ein eigenes Band nachweisbar, das die vielen Sinnesdaten
verbindet, oder ein Träger, in dem sie alle verknüpft sind und der dem
382 einleitung in die philosophie
Begriff „Ding“ wirklichen Sinn gibt, oder es ist nicht aufweisbar, und dann
müssen wir diesen doch unentbehrlichen Begriff als leer, als bedeutungsloses
Wort verwerfen.
Was sagt da Locke selbst? Der Verstand beobachtet, meint er, dass all
die nachher „Eigenschaften“ genannten sinnlichen Daten der verschiedenen
Sinne sich gewohnheitsmäßig miteinander assoziiert haben. Und da wir uns
nun in solchen Fällen nicht vorstellen können, dass das von den einzelnen
hier zusammenstehenden Vorstellungen Vorgestellte für sich bestehe, zum
Beispiel, dass Farbigkeit sei ohne etwas, das farbig ist, so gewöhnen wir uns,
ein Substrat vorauszusetzen, in dem dieses Vorgestellte bestehe und woher es
entspringe. Und dieses Substrat nennen wir „Substanz“. Die in diesem Sub-
strat verknüpfte Einheit von Eigenschaften ist dann die Dingeinheit. Dieses
Substrat, das erkennt Locke ausdrücklich an, ist nicht in der Anschauung
selbst gegeben, ist nicht eine eigene Idee, ein aufweisbares Band u. dgl. Es
ist „ein unbekanntes Etwas“, ein je ne sais quoi, das den Eigenschaften
zugrunde liege. Aber dann ist es doch im Sinne der Prinzipien der Locke’-
schen Begriffsanalyse ein „leeres Wortwesen“ und das Wort „Substanz“ ein
Wort ohne Sinn, ohne ihm entsprechende aufweisbare Idee! Locke selbst
spottet über die scholastischen Philosophen, die so viel über Substanzen
zu spekulieren wussten, und doch gibt er den Substanzbegriff nicht preis,
wie er ihn bei konsequenter Durchführung seines Sensualismus preisgeben
müsste.1 (Eigentlich hätte er aber schon bemerken müssen, dass selbst die
Dingeigenschaften ein Transzendentes sind, das auf der Bewusstseinstafel
sich nicht finden lässt und das doch in der äußeren Wahrnehmung als einem
anschaulich gebenden Meinen Gemeintes ist.)
Gehen wir zu anderen Beispielen über. Locke unterscheidet verschiedene
Erkenntnisweisen: intuitive, demonstrative, sensitive Erkenntnis. Unter dem
ersteren Titel behandelt er neben der unmittelbaren Erfassung der eigenen
Erlebnisse im inneren Bewusstsein die axiomatische Erkenntnis. Habe ich
die Idee „rot“ und die Idee „grün“, dann sehe ich in absoluter Gewissheit,
dass Rot verschieden von Grün ist.2 Aber Locke nimmt das als Axiom in
allgemeiner Geltung in Anspruch. Wir sehen nicht nur dieses Verschieden-
heitsverhältnis im einzelnen Fall, sondern sehen auch ein, dass es gelten
bleibt, solange die Ideen gleicher Art sind, solange Rot überhaupt Rot,
Grün überhaupt Grün ist. Wir sehen die unbedingte Allgemeinheit und Not-
1 Randbemerkung Sie begreifen, dass den Schülern Lockes, die bereit waren, seine methodi-
wendigkeit der Geltung ein. – Ja, da müssen wir wieder fragen, ist allgemeine
Geltung, ist Notwendigkeit ein Zeichen auf der Bewusstseinstafel? Wäre es
das, so wäre es ja selbst ein Einzelnes. Was kann das Auftreten des Datums
„notwendig“ hier und jetzt an diesen einzelnen Fällen von „Rot“, „Grün“
mit ihrer Verschiedenheitsrelation für neue Fälle besagen?1
Und nun gar die sensitive Erkenntnis. In der sinnlichen Wahrnehmung er-
fassen wir nach Locke äußeres Dasein. Woher aber das Recht, aus diesem Er-
leben hinauszugehen und es zur Anzeige eines Transzendenten zu stempeln?
Locke sagt: Phantasien, reproduktive Vorstellungen können wir willkürlich
ummodeln, an die Gegebenheiten der Wahrnehmungen sind wir gebunden.
Sie drängen sich uns auf, mag es uns lieb sein oder nicht, ändern können
wir daran unmittelbar nichts. Das hindert ihre Stärke, Eindringlichkeit usw.
Wir müssen sie, als nicht aus uns selbst entsprossen, auf eine äußere Ursache
beziehen. – Aber ist das wirklich eine brauchbare Betrachtung? Es gibt
doch auch Reproduktionen, die sehr lebhaft sind, die nicht unserer Willkür
unterstehen, die uns verfolgen, die wie Halluzinationen oder Träume unserer
Willkür nicht unterliegen und stark, fest, eindringlich sind. Und was den
Kausalschluss anlangt, so hat er ohnehin seine Schwierigkeiten. Kann er denn
vom Gegebenen auf etwas führen, was seiner ganzen Artung nach nie gege-
ben war und gegeben sein kann, wie nach Locke die äußeren Substanzen?
Wie weit bei Locke selbst die mit dem Sensualismus sich verflechtende
Tendenz zu einer immanenten, ja solipsistischen Philosophie gediehen ist,
zeigt besonders stark seine Definition der Erkenntnis im iv. Buch des Werkes.
Es heißt da in § 1: „Da der Geist für alle seine Gedanken und Schlussfolge-
rungen kein anderes unmittelbares Objekt hat als seine eigenen Ideen, […]
so ist es einleuchtend, dass unser Wissen es nur mit diesen zu tun hat.“ Und
nun wird daran zugleich angeschlossen (§ 2): „Die Erkenntnis scheint mir
deshalb nichts zu sein als die Wahrnehmung des Zusammenhanges und
der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung und des Widerstreites
zwischen irgend welchen von unseren Ideen.“2
Natürlich fragen wir: Wie sollen wir dann unter dem Titel „sensitive“,
also auch „naturwissenschaftliche Erkenntnis“ irgendetwas von einer Natur
wissen? Die Natur ist doch nach Locke nicht irgendein Ideenkomplex, also
kann die Übereinstimmung unserer Ideen mit der Natur nie Gegenstand
1 Randbemerkung Cf. Bl. 345 = S. 384 f. ausführlicher und so ausführlicher alles Weitere,
auch Berkeley.
2 Zitiert nach der in Husserls Bibliothek befindlichen Ausgabe: Über den menschlichen Ver-
stand. Eine Abhandlung von John Locke. Aus dem Englischen übersetzt von Th. Schulze.
Zweiter Band. Leipzig: Reclam. o.J., S. 172. – Anm. der Hrsg.
384 einleitung in die philosophie
der Erkenntnis werden. Das hindert Locke aber nicht, um in breitester Weise
über die Naturerkenntnis zu handeln und dabei in Anlehnung an die ersten
großen Naturforscher und in scharfer erkenntnistheoretischer Deutung die
Lehre vorzutragen, dass an den äußeren Substanzen selbst nur die sogenann-
ten primären oder originalen Qualitäten reale Wirklichkeit haben, nämlich
die mathematisch-mechanischen Eigenschaften: Ausdehnung, Große, Zahl,
Solidität, Undurchdringlichkeit u. dgl., während die spezifischen Sinnesquali-
täten, die wir als den Dingen unmittelbar zugehörig ansehen, die Dingfarben,
Wärme und Kälte usw. bloß subjektive Bedeutung haben, nämlich aus bloßen
Wirkungen der Dinge selbst und aus Wirkungen von Veränderungen ihrer
primären Eigenschaften auf unseren Organismus und schließlich auf unseren
Geist resultieren.
Nach dieser Darstellung wird es nun leicht verständlich werden, wie Ber-
keley1 (übrigens einer der originellsten Denker der Neuzeit) dazu kommen
konnte, die Locke’sche Philosophie in einen Immaterialismus umzuwenden.
Er geht eben nur rücksichtslos ihrer eigenen Konsequenz nach und das eben
in Hinsicht auf die angedeuteten Locke’schen Lehren von den materiel-
len Substanzen und der sensitiven Erkenntnis. Jenes je ne sais quoi, jener
unperzipierte und unperzipierbare Träger der sinnlichen Eigenschaften ist
nach seiner Ansicht eine ganz heillose und lächerliche Substruktion. Wären
die sinnlichen Eigenschaften wirklich ohne Substanz undenkbar, so wären
sie auch anschaulich ohne einen Träger nicht vorstellbar, es müsste in der
Anschauung ein solcher Träger gegeben sein und dann hätten wir ja eine
originale Idee für die Substanz und sie wäre nicht ein je ne sais quoi; aber
freilich wäre sie damit eine Idee, und eine Idee ist im Geist. Doch ich
greife schon vor. Berkeley bestreitet aber nicht bloß diesen „Träger“ der
Eigenschaften. Er bestreitet Text bricht ab
Wir haben in der letzten Vorlesung an einigen markanten Beispielen zu
zeigen versucht, wie stark in dem Locke’schen Werk Tendenzen zu einer im-
manenten und dabei sensualistisch orientierten Philosophie emporstreben,
wobei Locke selbst in seiner widerspruchsvollen, vor allen radikalen Kon-
sequenzen ausweichenden Art an der natürlichen Transzendenzerkenntnis
durchaus festhält. Zuletzt erwähnten wir seine Definition der Erkenntnis als
Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung irgend-
welcher unserer eigenen Ideen.
herausgearbeitet Bl. 347 ff. = S. 387 ff..1685–1753, A Treatise Concerning the Principles of
Human Knowledge oder Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, 1710.
erkenntnistheorie und metaphysik 385
Ein aufmerksamer Leser Lockes müsste da doch fragen: Wie ist dann
noch jene sensitive Erkenntnis möglich, die aller Naturwissenschaft zugrunde
liegt, jene unmittelbare sinnliche Erfahrung einer dem erfahrenden Bewusst-
sein nach Locke transzendenten materiellen Natur? Wie könnten wir je
die Übereinstimmung unserer sinnlichen Ideen mit der bewusstseinstran-
szendenten Natur erkennen? Locke fühlt die Schwierigkeit. Er spricht sich
über sie weitschweifig aus, eifert gegen den Skeptizismus, ohne irgendetwas
Befriedigendes hervorbringen zu können. Neben dem schon erwähnten Ar-
gument, dass wir die Sinnesempfindungen und die konsistenten Komplexe,
in denen sie uns entgegentreten, nicht willkürlich erzeugen und umgestal-
ten können so wie die Sinnesphantasmen, und dass wir demgemäß für die
ersteren, als nicht von uns erzeugten, äußere Ursachen annehmen müssen,
gibt er noch andere und nicht bessere Argumente. Er1 weist auf die den
Empfindungen eigene Frische und Lebendigkeit hin sowie auf die damit
zusammenhängende Macht über unsere Gefühle. Der Skeptiker möge die
Hände ins Feuer stecken, und er wird die Realität des Feuers empfinden.
Die Empfindung der Hitze tut weh, die Einbildung der Hypothese wird uns
nicht verbrennen. Ferner weist Locke auch hin auf die erfahrungsmäßige
Konstanz, mit der die Empfindungen verschiedener Sinne in Komplexen
auftreten und die es mit sich bringt, dass sich die verschiedenen Sinne bei
der Erfahrungsausweisung unterstützen. Das Feuer sehend, weiß ich, dass ich
beim Hineinstecken der Hände die Empfindung der Hitze haben würde, wie
umgekehrt, wenn ich diese Empfindung hätte ohne zu sehen, so würde ich bei
einem Hinwenden der Augen sofort die entsprechende visuelle Empfindung
haben. Und nicht nur ich, sondern auch jeder andere. Meine Sinnesaussagen
können Bewährung durch die anderer erfahren und umgekehrt. Im Traum,
in der vorübergehenden Illusion fehlt diese durchgehende Konstanz und
Möglichkeit der Bewährung durch die noch unbeteiligten Sinne und durch
meine Nebenmenschen.
Indessen, wer in sich die Kraft der von Locke selbst geltend gemachten
Immanenzmotive erfahren hat, wird solche Argumente nicht befriedigend
finden können. Sind Unterschiede der Stärke und Lebendigkeit, sind Un-
terschiede sich anknüpfender Gefühle des Schmerzes oder Lust, sind Unter-
schiede der erfahrungsmäßig geregelten Konstanz im Zusammen-Auftreten
gegenüber der Inkonstanz im Traum, sind das nicht Unterschiede, die rein
in die Bewusstseinsphäre fallen? Und wenn man sich auf fremde Menschen
mitberuft, so wäre erst doch das Problem, wie wir zur Erkenntnis ihrer
Berkeley
Den ersten Schritt auf diesen Weg bezeichnet die Philosophie Berke-
leys, des frommen Bischofs von Cloyne (1685–1753). Die hier allein fragli-
chen Schriften desselben sind der Treatise (Abhandlung über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis, 1710) und die Dialoge zwischen Hylas und
Philonous. Diese Schriften gehören zu den anregendsten und schönsten
Schriften der neuzeitlichen philosophischen Literatur. Berkeley geht den in
388 einleitung in die philosophie
nenden Geistern ist.“1 Sehen wir uns doch vorurteilsfrei die Dinge an, so
wie sie sich uns in der Erfahrung geben. Als was finden wir sie da? Nun,
doch als farbig, als tönend, als warm oder kalt, als rund oder eckig usw.
Was bezeichnen diese Worte? Doch nichts als sinnliche Ideen, entweder
aktuelle Empfindungen oder mitgedachte Vorstellungen, die von früheren
Empfindungen herstammen. Die einen verdanken wir dem Gesichtssinn, wie
Farben, in den verschiedenen qualitativen Modifikationen, oder gesehene
Gestalten; dem Tastsinn verdanken wir Härte und Weichheit, auch Gestalt,
Bewegung, Widerstand, usw. Diese verschiedenen Sinnesideen bleiben aber
nicht isoliert, sie treten erfahrungsmäßig vereint auf, und vermöge ihres
regelmäßigen Zusammenauftretens in Koexistenz und Sukzession werden
sie mit einem Namen benannt und als ein Ding, zum Beispiel als dieser
Apfel, aufgefasst. Das eine Ding ist (in moderner Mach’scher Redeweise
ausgedrückt) eine denkökonomische Einheit.
Würden wir, sagt Berkeley, für jede einzelne der sinnlichen Ideen und
für jede Veränderung derselben im Abfluss ihres Kommens und Gehens
eigene Namen einführen, so bräuchten wir eine Unzahl von Benennungen,
das wäre praktisch undurchführbar. Dem entgehen wir, wenn wir Namen
nur einführen für die erfahrungsmäßigen Komplexe von Sinnesdaten, die
allein für uns eine praktische Bedeutung haben. Auch bei all dem, was wir
„Naturerkenntnis“ nennen, kommt es uns nur darauf an, die erfahrungs-
mäßigen Zusammenhänge unserer sinnlichen Ideen kennen, bestimmen,
bezeichnen zu können. Die Sprache ist ein vom Volk und nicht von gelehrten
Philosophen erzeugtes Gebilde und erzeugt einzig zur Bequemlichkeit und
schnellen Erledigung bei den Handlungen des täglichen Lebens. Steine, Häu-
ser, Bäume, das sind nur einheitliche Auffassungen und Bezeichnungen von
erfahrungsmäßigen Gruppen von Sinnesdaten für erfahrungsmäßige Koexis-
tenzen und Sukzessionen, deren Zusammengehörigkeit ausschließlich aus
Erfahrung und Gewohnheit entstammt. Natürlich sind also diese Gruppen
gänzlich subjektiv; es wird aus Subjektivem durch die Gruppenbildung der
Erfahrung nichts Außer-Psychisches erzeugt. Wirkliche Existenz hat dabei
aus den Gruppen nur das aktuell Gegenwärtige. Aber vermöge der Erfah-
rung dient dieses als Zeichen für künftig unter passenden Umständen zu Er-
wartendes, wie zum Beispiel die wirklich gesehene Farbe der „Vorderseite“
des „Dinges“ für andere Farben, die ich beim Herumgehen sehen würde.
1 Nicht wörtlich zitiert nach folgender in Husserls Bibliothek befindlicher Ausgabe: Berkeley’s
Abhandlung über die Principien der menschlichen Erkenntnis. In’s Deutsche übersetzt und mit
erläuternden und prüfenden Anmerkungen versehen von Dr. Friedrich Ueberweg. Berlin 1869.
Verlag von L. Heimann, S. 24. – Anm. der Hrsg.
390 einleitung in die philosophie
Ebenso sind die Daten der verschiedenen Sinne nur assoziativ einig und
in Bezug auf andere erfahrungsmäßige Zeichen. An und für sich ist jedes
solche Datum vereinzelt im Geist, der es nur eben vermöge der Erfahrung
als Zeichen für den Verlauf der weiteren Ideen verwendet.
Dinge reduzieren sich also auf Ideen; und dass das richtig ist im Sinne
der natürlichen Rede, also der Auffassung des natürlichen Menschen, davon
überzeugen wir uns, wenn wir fragen, was er denn und wir alle, wenn wir
nicht an Philosophie denken, unter „Existenz“ verstehen. Sage ich „Der
Tisch, an dem ich schreibe, existiert“, so heißt das: Ich sehe oder fühle ihn.
Ich sage hinterher, auch wenn ich nicht im Studierzimmer bin, „er existiert“,
aber dann doch nur in dem Sinne, dass ich ihn sehen und fühlen würde, wenn
ich in das Studierzimmer ginge. Natürlich löst sich auch dies „ins Studierzim-
mer Gehen“ für Berkeley in gewisse Gruppenfolgen von Sinnesdaten auf,
die empirisch mit dem Wiederauftreten der Schreibtisch-Ideen in aktuellen
Komplexen verknüpft sind. Nun wird man fragen: Wie, wenn ich überhaupt
nicht bin, wenn ich sterbe, da bleibt doch die Existenz des Tisches nach
natürlicher Auffassung bestehen? Gewiss, antwortet Berkeley, dass der Tisch
existiere, meint nicht, dass er gerade von mir wahrgenommen wird oder unter
erfahrungsmäßigen Umständen wahrgenommen werden könnte, sondern,
dass entweder ich oder jemand sonst, Mensch oder Gott, ihn wahrnehme.
Doch1 hier wird nicht jeder mittun. So mancher wird vom Boden der
Abbildtheorie aus einwenden: Die sinnlichen Ideen und Ideenkomplexe
sind freilich bloß in einem Geist. Aber sie sind nur Abbilder äußerer Dinge,
die unperzipiert existieren. Und daher bedürfte es gar keines Geistes für
ihre Existenz. Damit stimmt, dass wir die Existenz der Welt nicht abhängig
machen von der Existenz irgendwelcher Menschen oder Tiere. Und was Gott
anbelangt, so wollen wir den Sprung ins Theologische lieber vermeiden. Auf
solche Einwände antwortet Berkeley: Die Ideen sollen Abbilder sein? Aber
eine Idee kann nur einer Idee ähnlich, also nur eine Idee Abbild einer
Idee sein: eine Farbe einer Farbe, ein Ton einem Ton etc. Also wäre die
supponierte Außenwelt selbst nur ein Komplex von Ideen. Aber Ideen sind
nur denkbar als Ideen in einem perzipierenden Geist. Es ist ganz undenkbar,
dass eine Idee unperzipiert existiere. Also zum Beispiel undenkbar ist ein
ungehörter Ton, eine ungesehene Farbe und überhaupt ein unempfundenes
Sinnesdatum, ebenso wenig als eine unvorgestellte Vorstellung, ein ungeur-
teiltes Urteil, ein ungefühltes Gefühl. Jedweder Bewusstseinsinhalt ist nur als
Bewusstseinsinhalt, als Bewusstes in einem Bewusstseinssubjekt denkbar.
1 Randbemerkung Hier müsste ausgeführt werden, dass für Berkeley die Kausalität in der
Natur keine wahre Kausalität ist, sondern nur empirisch-assoziative Anzeige. Das führt zum
Hume’schen Problem.
2 Am Rande eine Null.
berkeley 393
beachten, dass mein Leib, wie ein anderes materielles Ding, ein bloß denk-
ökonomischer Komplex sinnlicher Ideen ist. Mein Leib ist also perzipierter
Inhalt, ist aber nicht perzipierendes Subjekt. Das Ich, das geistige Subjekt, ist
nicht gegeben wie solch ein Ideenkomplex, es ist überhaupt nichts Sinnliches.
Erfasst wird es nicht in der Sensation, sondern in der Reflexion, und zwar
intuitiv in völliger Gewissheit und Zweifellosigkeit, und erfasst wird es darin
als aktives Prinzip, als Subjekt von mannigfaltigen Tätigkeiten, als geistige
Substanz. Also nicht ist „Substanz“ überhaupt für Berkeley ein leeres Wort
oder ein widersinniger Begriff, sondern nur „materielle Substanz“. Der
Substanzbegriff ist ein berechtigter und notwendiger Begriff, und als das
ist er Begriff vom geistigen Subjekt.1
Substanz2 sein ist: als ein Ich tätig zu sein oder zu leiden, als ein Ich
zu wirken, Kausalitäten zu üben und zu erfahren, aber auch als ein Ich
sinnliche Ideen haben und eventuell dann an ihnen sich, etwa wie wir es bei
unserer sinnlichen Phantasie tun, wirkend betätigen. Berkeley, der mit allem,
was sich auf die Naturerkenntnis bezieht, und desgleichen in seiner höchst
einflussreichen nominalistischen Abstraktionslehre die Locke’schen Motive
des Sensualismus so kräftig aufgenommen und fortgebildet hat, macht in
dieser Hinsicht Halt in der Geistessphäre. Charakteristisch ist dafür, dass
zwar das Ich in der Reflexion intuitiv gegeben ist, aber doch in total anderer
Weise wie ein sinnliches Datum: Ein solches gibt sich sozusagen als Totes,
als ein Passives, und der Geist hat es als ein Perzipiertes.3 Das Subjekt selbst
ist aber kein bloßes Datum, sein Sein ist Tätigsein, Aktivität; und das kann
man nicht vorfinden, wie man ein sinnliches Datum vorfindet. Daher will
Berkeley das Wort „Idee“ auf den Geist am liebsten gar nicht anwenden, er
fordert einen prägnanten und damit beschränkten Begriff von Idee, der nur
die passive Gegebenheit umspannt. Vergleiche Berkeleys Begriff der notion,
der nicht nur auf die Ich-Erfassung, sondern auch auf die Erfassung von
Tätigkeiten und Relationen, also auf Kategoriales geht. Gelegentlich (in der
Einleitung zum Essay über Abstraktionstheorie) wird auch bei der Erfassung
von Begrifflichem von notion gesprochen und damit deutet sich wohl die
1 Randbemerkung Nicht zu übersehen ist auch: Der Geist gibt sich in der Reflexion als ein
Natur nach nicht von sich selbst perzipiert werden, sondern nur perzipiert können werden
die Wirkungen desselben. Vgl. Sektion 27 in A Treatise Concerning the Principles of Human
Knowledge.
berkeley 395
der sinnlichen Impressionen, die wir in uns unter dem Titel „Natur“ vorfin-
den, die wir aber nicht selbst gemacht haben, als wirkende Ursache aufzu-
kommen hat. Die Subjekte, die wir als Nebenmenschen rechtmäßig anneh-
men, können diese Ursache nicht sein. Denn in der Einfühlung sind sie nur
rechtmäßig gesetzt als Subjekte, die wie wir eine Natur, und zwar eine gleiche
ihnen aufgenötigte Natur haben wie wir, mit anderen Worten, die gleiche
ihrer Willkür entzogene Regelordnung von sinnlichen Komplexionen haben
wie wir, von denen sie daher sowenig wie wir die Ursache sind.
Beachten wir nun die Rationalität dieser Natur, die sich in der physi-
kalischen Gesetzmäßigkeit ausspricht, die Unendlichkeit dieser Ordnung
und dann die ganze wunderbare Teleologie, die sich in der organischen
Natur, im Menschenleben usw. ausspricht, so ist es klar, dass wir einen
unendlichen und unendlich vollkommenen Geist als Ursache annehmen
müssen: Gott. Und Berkeley hat damit das theologische Prinzip in einer
neuen Wendung des teleologischen Beweises gewonnen, auf das er auch
die Existenz der endlichen Geister zurückführt.1 Gott ist also Geist; und
sicher sind wir, hiermit einen möglichen Gottesbegriff zu haben, da der
Begriff des Geistes seinen rechtmäßigen Ursprung in der Intuition unseres
eigenen Ich hat. Ferner: Die Gotteserkenntnis ist prinzipiell von derselben
Art wie die Erkenntnis, die wir von unseren Nebenmenschen haben und die
uns allen eine ganz selbstverständliche und gewisse ist. Wir sagen geradezu:
Wir sehen die Nebenmenschen. Nun, in der nämlichen Weise „sehen“ wir
Gott. Der ganze Unterschied liegt darin, dass während gewisse begrenzte
Ideengruppen, genannt „Leiber“, Anzeigen sind für zugehörige Geister,
nun die ganze sinnliche Welt, also die gesamte Ideenmannigfaltigkeit nach
allem und jedem, Anzeichen und Wirkung der göttlichen Macht ist und in
ihr also die Gottheit gleichsam gesehen werden kann.2
nicht die angebliche Wirksamkeit eines Physischen auf ein anderes Physisches: der Stoß einer
Kugel auf eine andere. Dahinter steht der Gedanke: Materie ist etwas gänzlich Passives, Wirken
ist aber eine Aktivität; Agieren als Ursache und Reagieren ist so viel wie tätig Wirken und durch
tätige Wirkung etwas erledigen.
Der Occasionalismus endet damit zu erklären: Alle psychophysische und bloß physische
Wirkung, die wir in der Naturbetrachtung zu erfahren vermeinen, sei bloß Schein. In Wahrheit
gebe es nur ein wirkendes Prinzip: Gott. Am metaphysischen Dualismus aber rüttelte der Occa-
sionalismus nicht. Von da her ist Berkeley mitbestimmt. Nämlich er eignet sich diese Auffassung
von der Kausalität an, wonach die allein verständliche Kausalität psychische Kausalität sei.
398 einleitung in die philosophie
Weise auf Gott zurückgeht, ist man auf das wirkliche kausale Prinzip zu-
rückgeführt.1 (Wichtig ist auch der Hinweis Berkeleys darauf, dass man das
naturwissenschaftliche Deduzieren und Erklären nicht verwechseln dürfe
mit dem logisch mathematischen Demonstrieren. Der erklärte Naturvorgang
ist nicht als notwendig erwiesen, sondern nur auf die allgemeine faktische
Naturordnung zurückgeführt.)
Vergleichen2 wir Descartes’ und Lockes Theorien über Naturwissenschaft
und Natur mit denjenigen Berkeleys, so hat sich der psychophysische Dualis-
mus der ersteren, die zwei Substanzenlehre, bei Berkeley verwandelt in einen
spiritualistischen Monismus: Alles Sein ist von einer Art: geistiges Sein.
Zugleich bestätigt sich bereits, was wir in die Einleitung der letzten Vorle-
sung über den Einfluss der Erkenntnistheorie auf die Weltanschauung gesagt
haben. Berkeley und Locke gemeinsam ist der Empirismus, beide wollen die
Natur als das interpretieren, als was sie sich in der Erfahrung gibt. Und beide
lassen natürlich die neue Naturwissenschaft als echte Wissenschaft gelten
(wie erst recht der rationalistische Dualist Descartes). Berkeley hat allerdings
an den neuen exakten Wissenschaften allerlei zu mäkeln, insbesondere an
ihrem Instrument, der reinen Mathematik: Leerer Raum, absoluter Raum,
unendliche Teilbarkeit, mathematische Kontinuität, kurz, die Grundbegriffe
der idealen reinen Geometrie und Mathematik weist er als Fiktionen ab,
da er sensualistisch nur die sinnlichen Ideen gelten lässt. Aber für seine
philosophischen Theorien von der Natur ist das so außerwesentlich, dass
bedeutende Naturforscher unserer Tage, so Ernst Mach und seine Anhänger,
in Ansehung der Natur Ideen entwickelt haben, die sich fast ganz mit den
Berkeley’schen decken (wofern wir nur die Gottes- und Geisteslehre des
Theologen abziehen). Andererseits hat auch der ungeheure Fortschritt der
Naturwissenschaften es nicht verhindert, dass auch sehr viele Naturforscher
und Philosophen heutzutage den dualistischen Standpunkt eines Locke und
Descartes vertreten.
Wir ersehen daraus zugleich (was ohnehin aus der Art der beschriebenen
theoretischen Betrachtungen ersichtlich ist), dass solche Gegensätze, wie die
des Dualismus und Monismus vom Fortschritt der Naturwissenschaften ganz
unabhängig sind. Die Sachlage ist also in der Tat die: Da steht fest und blüht
immerfort eine Form der Naturerkenntnis, die wir „Naturwissenschaft“
1 Randbemerkung Die viel gepriesene Naturwissenschaft ist nicht im höchsten Sinne Natur-
nennen. Sie fixiert immer neue Wahrheiten über die Natur, die jeder Ver-
nünftige gelten lässt und die auch jene streitenden Parteien gelten lassen.
Und doch haben wir eben Parteien. Dieselbe naturwissenschaftlich erkannte
Natur interpretiert ein Locke als ein System transzendenter materieller
Substanzen und ein Berkeley immaterialistisch als ein System immanenter
Empfindungsgebilde, die übereinstimmend und geordnet in Geistern auftre-
ten und nur in ihnen Realität haben. Mit anderen Worten: Dieselbe Natur
mit derselben strengen Naturwissenschaft lässt eine doppelte metaphysische
Interpretation zu und lässt vielleicht noch andere Möglichkeiten für meta-
physische Interpretationen offen; diese Möglichkeiten sind ausschließlich
bestimmt durch Reflexion über Sinn und Leistung der Naturerkenntnis,
also durch Erkenntnistheorie. Wirklich kann also Naturwissenschaft nicht
das Ende sein, über sie hinaus brauchen wir eine durch Erkenntnistheorie
wissenschaftlich vermittelte ergänzende Wissenschaft von der Natur, eine
Metaphysik der Natur.
An Berkeley lernen wir aber auch schon verstehen, dass auch die natur-
teleologischen Probleme und die innig zugehörigen theologischen Probleme
mit dem Auftreten der Erkenntnistheorie eine eigene Prägung und mit den
metaphysischen Problemen der unteren Schicht einen nahen Zusammen-
hang erhalten. Scheiden wir um der Klarheit willen die naturalen Pro-
bleme der Metaphysik, die Probleme der Interpretation des Sinnes der
psychophysischen Natur, von den supranaturalen, den theologischen Pro-
blemen. Bei Descartes und Locke ist die Verbindung noch recht äußerlich;
die Erkenntnistheorie wirkt schon ein, aber nicht so tiefgreifend wie bei
Berkeley. Sowie dieser die Natur in ein immanentes Gebilde übereinstim-
mender Ideenordnung in reinen Geistern umgedeutet hat, gewinnen die
theologischen Fragen einen neuen Aspekt, der erkenntnistheoretisch be-
stimmt (und zugleich durch die erkenntnistheoretischen Reflexionen über
das Wesen der Erkenntnis vom Geist bestimmt) ist. Gottes Wirken besteht
jetzt nicht in einem Wirken, das irgendwie zu vergleichen ist mit dem, was
innerhalb der absolut hingenommenen Natur als Wirken gilt, nach Art
von Stoß und Gegenstoß. Das göttliche Wirken ist ein geistiges Tun, und
geistiges Tun kann sich nur vollziehen in einer reinen Geistessphäre, also
in der Regelung von Tätigkeiten und in der Erzeugung oder Ordnung von
Ideen und Ideenkomplexen. Alles wahrhafte Sein reduziert sich auf Ich-
Subjekte mit ihren Tätigkeiten und ihren sinnlichen Ideen. Gott als das
schöpferische und unbedingte Subjekt tritt nun in eine besondere Bezie-
hung zu den endlichen Ich-Subjekten und durch sie hindurch zu ihrem Ich-
Leben und zur Natur als phänomenaler Umwelt des Ich. In den genannten
400 einleitung in die philosophie
Hume
Im2 Sinne unserer vorgezeichneten Absichten gehen wir nun zum Hume’-
schen Skeptizismus über, der seine Nahrung aus den Philosophien Lockes
und Berkeleys geschöpft hat.3 Es war Berkeley, dem glaubenseifrigen Theo-
logen, dem unermüdlichen Bekämpfer des Atomismus und Skeptizismus,
das arge historische Schicksal beschieden, dass gerade die Lehren, die ihm
1 Ergänzung Gewiss lag in Berkeleys Skizzen eine große Kraft und nicht nur, wo er Lo-
cke und die herrschende Philosophie kritisiert. Geradezu eine epochemachende Bedeutung
müssen wir diesem Anfang einer rein immanenten und dabei empirischen Naturinterpretation
zuerkennen. Dieser Anfang musste nämlich gemacht, eine empirische immanente Philosophie
musste versucht werden. Alle transzendente Objektivität ist für unsere Erkenntnis doch nur
gegeben und gedacht in Bewusstseinserlebnissen, in gewissen Erlebnissen des Wahrnehmens
und sonstigen Erfahrens und dann weiter des Erfahrungsdenkens in den Formen der natur-
wissenschaftlichen Methode. So einfach der Locke’sche Satz, von dem der Anstoß ausgeht,
auch ist (der Satz: Unmittelbar gegeben sind nur unsere eigenen Ideen), so viel ist sicher, dass
die Natur als Objekt der Naturerkenntnis einer rein aus der Immanenz dieser Erkenntnis zu
schöpfenden Interpretation bedarf. Es bedarf durchaus einer reinen Wesensdurchforschung der
Naturerkenntnis nach allen ihren typischen Stufen, von der sinnlichen Erfahrung an, bis hinauf
zu den höchsten Formen methodisch-wissenschaftlichen Denkens. Es gilt hierbei klarzustellen,
was diese Erkenntnisse in sich selbst, ihrem eigenen Wesen gemäß, unter dem Titel „Natur“
meinen, welche Sinngebungen das Bewusstsein unter diesem Titel schrittweise vollzieht und in
der Einsicht als gültige vollzieht. Alles in allem, es gilt klarzustellen, was die Idee objektiver
Naturwirklichkeit als sich im Erkenntnisbewusstsein schrittweise konstituierende enthält, was
sie vermöge dieser Konstitution notwendig enthalten muss.
Sowenig Berkeley in dieser Hinsicht geleistet hat und bei seinem alle Intentionalität über-
sehenden Sensualismus leisten konnte, epochemachend war es, dass er zuerst hinsichtlich
der physischen Naturerkenntnis die rein immanente Einstellung vollzieht und in Form sei-
ner paradoxen Theorie als der Erste die Natur als ein im Erkenntnisbewusstsein selbst sich
konstituierendes Gebilde zu verstehen sucht. Aber Berkeley kann uns hier nicht Genüge tun:
Über sehr unzureichende und unklare Anfänge kommt er nicht hinaus. Sehr eifrig behauptet
er, steif und fest.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung 1711–1776. Hume: Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of
selbst, die sich auf Ideenkomplexe reduzieren soll, ist rätselhaft der Ursprung
des erfahrungsmäßigen Anscheins einer bewusstseinsäußeren Objektivität.1
Die Natur gibt sich uns doch als ein Äußeres. Es gibt sich uns doch,
was als Komplex nie aufgewiesen werden kann, ein unendlicher Raum und
eine unendliche Zeit; es geben sich uns im Raum, wir meinen sie zu sehen,
äußere Dinge; und diese Objektivitäten sind doch gemeint als Dauerein-
heiten, die sind, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen, während die jewei-
ligen wirklichen Impressionen, die wir dingartig als solche Dauereinheiten
auffassen, nur so lange sind, als sie eben erlebte sind. Mit den dauernden
Dingen und zusammengenommen mit der dauernden und von der Sub-
jektivität unabhängigen Natur, die wir als solche unmittelbar anzuschauen
vermeinen, hat es aber die Naturwissenschaft zu tun, auf sie bezieht sich
die Naturkausalität; und als spezielle Besonderungen derselben werden die
mathematischen Naturgesetze als schlechthin und notwendig gültige ausge-
sprochen.
Das alles hat Berkeley nicht aufgeklärt. Er nimmt die Rationalität der
Naturwissenschaften hin und beschränkt diese Rationalität nur, darin übri-
gens genau Locke folgend. Er leugnet also zwar, dass wir in der naturwissen-
schaftlichen Erkenntnis demonstrative Notwendigkeiten erfassten wie in der
reinen Logik und Arithmetik; er spricht ihrer Erkenntnis nur Wahrschein-
lichkeit zu. Aber die Wahrscheinlichkeiten sollen dabei doch rational sein,
was die Naturwissenschaft als höchstwahrscheinlich gültig hinstellt. Das muss
doch jeder Vernünftige anerkennen. Aber ist diese Vernünftigkeit wirklich
verständlich zu machen? Nach Berkeley sind die Dinge bloße Ideenkom-
plexe, deren Einheit nicht in den Ideen selbst liegt, sondern in der gewohn-
heitsmäßigen assoziativen Verflechtung, die sich im Geist vollzieht. Wo Ideen
oft zusammen auftreten, da wachsen sie in der Weise zusammen, dass sie
wechselseitig aufeinander hinweisen, den Charakter des gewohnheitsmä-
ßigen Zusammengehörigen annehmen. Sind von den Ideen aus solch einer
empirisch erwachsenen Gruppe nur einige in wirklicher Impression erfahren,
da fungieren die wirklich erfahrenen als Zeichen für die nicht erfahrenen: So
wie die gesehene Vorderseite eines Dinges die Rückseite mit sich führt, näm-
lich bloß als Erfahrungsmöglichkeit anzeigt. Auch die empirische Kausalität
gehört nach Berkeley hierher, nur dass sie sich bezieht auf die geregelten zeit-
lichen Folgen: Feuer macht heiß, erwärmt die Umgebung. Nichts weiter liegt
und auf Umstände bezogen, sie laufen jeweils in vertrauter Weise, eben
gewohnheitsmäßig ab. Aber ist das alles? Ist damit das große Phänomen Na-
turwissenschaft verständlich? Wie ist sie möglich, wenn das alles ist? Habe ich
nur assoziative Gebilde und somit nur die Möglichkeiten, in gewohnheitsmä-
ßigen Abläufen mich zu bewegen, dann gibt es für mein Denken nur Schlüsse
von gewohnheitsmäßigen Umständen auf gewohnheitsmäßige Folgen. Aber
alle solchen Schlüsse sind doch vage und entbehren der wissenschaftlichen
Notwendigkeit.
Kann die Naturwissenschaft als eine Sphäre vager Gewöhnlichkeiten
aufgefasst werden, ist sie aufzulösen in ein, wenn auch kompliziertes Sys-
tem von Schlüssen aus empirischen Zeichen auf das durch sie angezeigte?
Wer möchte bezweifeln, dass Naturwissenschaft eine echte, von Rationalität
durchleuchtete Wissenschaft ist? Aber als was lehrt sie uns die Natur kennen?
Alles Reale der Natur, ist, wie sie lehrt, einig unter dem Gesichtspunkt
mathematisch exakter Gesetzlichkeit. Einheit der Realität ist Einheit der
Notwendigkeit. Ein bloß anderer Ausdruck dafür ist, dass alles in der Natur
unter strengen, mathematisch formulierbaren Gesetzen steht, dass jede Ver-
änderung, jedes Geschehen in der Natur eine kausale, eine mathematisch-
exakte Folge der gesetzlich zugehörigen Veränderungen der Umstände ist.
Kausalität ist das beständige Thema der Naturwissenschaft, die Erklärung
kausale Erklärung. Berkeley freilich hatte eine Kausalität der Natur geleug-
net; aber das konnte er nur, weil er seinen Begriff von Kausalität, den des
geistigen Tuns und Wirkens mit dem naturwissenschaftlichen identifiziert
hatte. Freilich pflegten die Naturforscher selbst diesen die populäre Rede
von Wirkung und Kraft beherrschenden Begriff ungeschieden zu mengen mit
dem naturwissenschaftlichen, mit dem, der ihre wissenschaftliche Methode,
ohne dass sie sich darüber klar waren, ausschließlich bestimmte.
Jedenfalls durfte Berkeley nach der berechtigten Ausscheidung des Tä-
tigkeitsbegriffes aus den Verhältnissen physischer Natur nicht die Notwen-
digkeitszusammenhänge übersehen, auf die es der Naturwissenschaft, wo
sie von Kausalität spricht, allein ankommt, eben weil die Natur in ihrem
Sinne nichts anders ist als der Notwendigkeitszusammenhang in Raum und
Zeit. Ist das aber gesehen, dann ist eben dies das Problem, klarzulegen (und
zwar durch eingehendes Wesensstudium der Naturerfahrung und der natur-
wissenschaftliches Denken ausmachenden Bewusstseinszusammenhänge),
wie die Eigenart dieser Bewusstseinserlebnisse und der in ihnen vollzoge-
nen Sinngebungen es verständlich macht, dass das an der Kette der na-
turwissenschaftlichen Methode fortschreitende Erkennen in sich eine von
Notwendigkeit durchherrschte Natur als erkannte Gegenständlichkeit er-
hume 405
kennen lässt und wie auf diese Weise der Sinn der materiellen Natur und
ihre Notwendigkeit zu seiner letzten Verständigung kommt.
Was aber speziell Berkeley anlangt, so wäre zu sagen: Hatte ihn die imma-
nente Betrachtung des Bewusstseins von Natur dahin geführt, die erfahrene
Natur auf assoziative Komplexe von Sinnesempfindungen zu reduzieren, so
hätte er das Rätsel nicht übersehen dürfen, das nun gestellt war: Wie kommt
in diesen Komplex nicht nur erscheinungsmäßige Dingeinheit, sondern auch,
in eins damit, natur-kausale Notwendigkeit hinein? Damit habe ich Ihnen
aber eigentlich schon ein großes Stück Hume vorgetragen, wenn auch nur
implizite. Denn darin bestand die Größe Humes, und das ist die Quelle seiner
ungeheuren Wirkung auf Kant und seiner noch unmittelbareren Wirkung auf
die Gegenwart, dass er zuerst diese Probleme einer immanenten Philosophie
gesehen, dass er, was in Berkeley lag, herausverstanden hat und so viel besser
als Berkeley selbst. Freilich, die Problemdarstellungen und Lösungsversuche
Humes bewegen sich wieder und recht nur auf dem Niveau des Sensualismus
der Tabula-rasa-Theorie des Bewusstseins, die er in schroffster Einseitigkeit
durchführt. Eben damit aber hängt es zusammen, dass Hume in einem Skep-
tizismus endet und, wie wir verstehen werden, notwendig enden muss, der
an jeder rationalen Weltinterpretation verzweifelt und die Welt selbst als ein
System von widervernünftigen Fiktionen auffasst.
Zunächst vollendet Hume den Sensualismus, der in Berkeley nur zur
Auflösung der physischen Natur in Empfindungskomplexe geführt hatte,
dadurch, dass er des letzteren methodische Inkonsequenz überwindet und
nicht wie dieser bei der geistigen Substanz Halt macht. In der reflektiven
Intuition finden wir nach Berkeley unser Ich vor, die geistige Substanz, und
nicht vor als ein Perzipiertes, als ein Datum derart, wie in der Sensation die
Farben- oder Tondaten. So zweifellos wahr das ist, es war eine Inkonsequenz,
da doch Berkeley das Parallele in der äußeren Erfahrung leugnet, nämlich die
erfahrene Einheit und Identität des Dinges, der er unterschiebt die Komplexe
von Empfindungsdaten. Hume also, ins Extreme gehend und nichts als im-
manent vorfindlich anerkennend als Daten des sinnlichen Typus, streicht nun
auch die geistigen Substanzen fort; er übt also an Berkeleys Lehre von der
geistigen Substanz eine analoge Kritik, wie dieser sie an Lockes Lehre von
der materiellen Substanz geübt hatte. Was nicht perzipiert ist und perzipiert
ist wie ein sinnliches Datum, das ist überhaupt nichts, ist eine metaphysische
Konstruktion.1
1 Randbemerkung Die Intuition geistiger Substanzen wird mit dem Gespenster-Sehen auf
„Es gibt“, sagt er, „einige Philosophen die sich einbilden, wir seien uns
dessen, was wir unser Ich nennen, jeden Augenblick unmittelbar bewusst.
Wir erführen seine dauernde Existenz, seine Identität, Einfachheit. Aber
eine solche Idee vom Ich haben wir nicht. Ich meinesteils, wenn ich mir
möglichst unmittelbar klar mache, was ich, von mir sprechend, vorfinde,
kann nicht umhin, jedes Mal über die einen oder anderen Perzeptionen zu
stolpern. Ich finde nichts anders vor als zum Beispiel Perzeptionen von Hitze
und Kälte, Licht und Schatten, Liebe und Hass, Lust oder Unlust. Niemals
finde ich etwas anders, ein davon Unterschiedenes unter dem Titel ,Ich‘,
einen eigenen inneren Eindruck.“1 Ich, das ist, sagt Hume, also nichts anders
als ein Bündel oder Zusammen verschiedener Perzeptionen, die aneinander
in unbegreiflicher Schnelligkeit folgen. Freilich erwächst auch hier wieder
das Problem: Wir halten uns doch alle für bleibende Subjekte, für dauernde
Persönlichkeiten, dauernd, während die Bündel von Perzeptionen beständig
wechseln. Also es erwächst das parallele Problem zum Problem der ver-
meintlichen Erscheinung eines äußeren dauernden unabhängigen Dinges.
Eines und das andere Problem hat Hume ausführlich behandelt und für
den Ursprung des Phänomens der Persönlichkeit nach dem Vorbild der Ber-
keley’schen Naturtheorie ausschließlich auf Assoziation und Gewohnheit
rekurriert.
So hat der Sensualismus der Weltinterpretation seine volle Extension
und Geschlossenheit erlangt. Die Welt der Körper und die Welt der Geister,
also die gesamte Welt der physischen und psychischen Erfahrung wird, in
der gewöhnlichen Auffassung einer Welt an sich seiender Realitäten, weg-
gestrichen. Alles Sein reduziert sich auf Bewusstsein, auf ein subjektloses
Bewusstsein, und dieses selbst ist keine Realität, sondern ein Haufen oder
Bündel von Perzeptionen. Das ist nichts weiter als die radikale Durchführung
der Tabula-rasa-Auffassung des Bewusstseins. Auf diese Auffassung gerät
die Philosophie im ersten Versuch, die immanente Einstellung zu vollziehen
und die immanenten und absoluten Gegebenheiten zu fixieren: Perzeptionen
und nichts als Perzeptionen sind die immanenten Gegebenheiten, Daten und
nichts als Daten, zunächst sinnliche Daten, Farbendaten usw., dann Gefühle,
Affekte u. dgl., die prinzipiell nichts anderes, nur etwas andersartig sind,
sozusagen pure Sachen, die darin aufgehen zu sein und die in sich nichts
von Sinn tragen. Man kann wohl sagen, dass darin sich der Einfluss der
1 Randbemerkung Nicht wörtlich. Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, Book i,
Nun besteht aber jene Gleichstellung nicht. Das einzige Absolute ist ja
für den Schüler Berkeleys das Bewusstsein; alles Bewusstseinstranszendente,
alle Natur ist ein bloß assoziatives Gebilde im Bewusstsein, und Bewusstsein
selbst bedeutet nichts anderes als ein Schauplatz für Erlebnisse, die eben
sind, wie Atome sind, wie bloße Sachen sind. Die Grundeigenschaft des
Bewusstseins, die Eigenschaft Bewusstsein von etwas zu sein, wird bei-
seitegeschoben oder nur als eine assoziativ erwachsende Gefühlsfärbung an
Erlebnissen, als Hinzutreten eines neuen Erlebnisdatums betrachtet.1 Das
ist der Boden, auf dem Hume sich bewegt. Und die Konsequenz der Aus-
bildung einer Erkenntnistheorie und einer erkenntnistheoretischen Natur-
Geist-Interpretation auf diesem Boden ist die Größe Humes; sie liegt in der
radikalen Ausbildung des Sensualismus und der Enthüllung seines imma-
nenten Widersinnes.
Gehen wir nun auf die philosophischen Theorien Humes ein, welche die
oben genannten und von Hume entdeckten Problemen betreffen: die imma-
nente Aufklärung der realen Einheiten „Ding“ und „Persönlichkeit“ und
andererseits der die reale Welt durchherrschenden kausalen Notwendigkeit.
Oder vielmehr, wir besprechen näher nur das letztere historisch besonders
wirksame Problem der Kausalität. Wir gehen also in die Gedankenreihen
des Hume’schen Essay ein, die dem ganzen kantischen Denken die entschei-
dende Wendung gaben und von denen er selbst sagt, dass sie es waren, die
ihn aus seinem dogmatischen Schlummer erweckt hatten.
Reales Dasein erfassen wir unmittelbar in seiner Gegenwart durch Wahr-
nehmung, auf vergangenes Dasein beziehen wir uns unmittelbar in Form der
Erinnerung. Lassen wir diese Erkenntnisquelle ohne nähere Kritik gelten;
im Essay spricht Hume geradezu so, als böten sie kein Problem. Interes-
sieren wir uns aber jetzt speziell für die Frage: Wie kommen wir dazu
Wirklichkeiten anzunehmen, die wir nicht wahrnehmen und deren wir uns
als früher wahrgenommene nicht erinnern? Die Antwort lautet: Der Kausal-
schluss ist es, der über die unmittelbare Evidenz unserer Sinne und unseres
Gedächtnis hinausführt. Wir schließen von Ursachen auf Wirkungen, oder
umgekehrt; wir leiten aus Naturgesetzen ab, die aber ihrerseits Kausalgesetze
sind. Also auf Erfassungen von Kausalverhältnissen, von einzelnen, oder
von Kausalgesetzen, eventuell auch auf das allgemeine Kausalitätsgesetz
szendentes Objekt – letztes immanentes Objekt, vor der Natur als bereitliegende Sache für ein
aktives Subjekt?
hume 409
werden wir zurückgeführt. Wie steht es nun mit der Rationalität der Kausal-
Erkenntnis? Das ist die Hauptfrage der Aufklärung der Rationalität der
Naturwissenschaft. Denn bloß Erfahren ist noch keine Wissenschaft; erst
wenn wir über das unmittelbar Gegebene der Erfahrung hinausgehen, kann
von Wissenschaft die Rede sein. Und dieses Hinausgehen ist hier eben das
kausale, der kausalen Relation gehen wir nach.
Hume fragt nun nach der Impression, welche der „Idee“ der Kausalität
bzw. den Begriffen „Ursache“ und „Wirkung“ zugrunde liegt. Soll der Be-
griff kein leerer sein, kein leeres Wort, so muss sich sein ursprünglicher Sinn
als Impression ausweisen lassen, als ursprüngliche Anschauung, sei es in der
Sensation oder Reflexion. Es handelt sich um einen Relationsbegriff. Würde
es sich um die Relation eines Nebeneinander handeln oder eines Nachein-
ander, so wären wir sogleich fertig. Der Begriff, die Idee des Nebeneinander
berechtigt sich ohne weiteres, wenn wir auf zwei nebeneinander stehende
Dinge hinblicken und beziehend mit dem Blick von dem einen zum anderen
übergehen. Mit den Beziehungspunkten sehen wir dann unmittelbar die
Relation des Neben. Ebenso für den Begriff des Nacheinander. Nicht minder
auch für Relationen wie Intensitätsrelationen, Relationen der Tonhöhe, des
qualitativen Abstandes u. dgl.1
Was finden wir nun im Fall einer Kausalität, eines Verhältnis von Wir-
kung und Ursache vor, wenn wir es zu impressionaler Gegebenheit bringen
wollen? Zum Beispiel ein geworfener Stein zerschlägt eine Fensterscheibe.
Wir finden da den Stein in der Bewegung bis zur Scheibe und dann das
Zerfallen der letzteren. Einen kontinuierlichen Prozess des Nacheinander.
Das erschöpft natürlich nicht die Sache, wird man sagen. Zum Sinn der
Rede von Kausalität, von Ursache und Wirkung, gehört nicht bloß das post
hoc, sondern das propter hoc. Eines folgt nicht nur auf das andere, son-
dern infolge des Ursache-Vorganges muss der Wirkungs-Vorgang eintreten.
Gemeint ist Notwendigkeit der Folge, und die macht also das Wesentliche
der Kausalität aus. Aber hier bleiben wir stehen. Wo ist die Impression,
müssen wir fragen, für dieses „infolge“, dieses „muss“, für Notwendigkeit?
Vielleicht sind wir nur ungeschickt und finden nicht gleich, was doch da
ist.2
1 Gestrichen Überall gilt es: Mit den Beziehungspunkten erfassen wir im Übergang unmittel-
ähnlich wie man in einer anderen Sphäre, in der des logischen und mathematischen Schließens,
sagen wir allgemein des apriorischen Schließens, von Hervorgehen spricht: Bei einem solchen
410 einleitung in die philosophie
Sehen wir zu, ob wir nicht in anderen Fällen besser so etwas wie Not-
wendigkeit originär erfassen können. In der Tat ist dieses Wort kein leeres
Wort, es hat einen Ursprung. Von Notwendigkeit sprechen wir nicht nur
bei Kausalschlüssen gemäß den Verhältnissen von Ursache und Wirkung,
sondern in der gesamten Sphäre der Vernunftschlüsse in Logik und reiner
Mathematik. Auch da ist die Rede von notwendigem Hervorgehen. Zum
Beispiel, aus a > b und b > c geht hervor a > c, es geht notwendig hervor.
Erschließen heißt hier: ein Verhältnis herausstellen, das in einem Paar ande-
rer Verhältnisse im Voraus beschlossen, notwendig beschlossen ist. Hierher
gehören auch einfachere Verhältnisse. Sage ich „2 < 3“, so gilt das notwendig,
und intuitiv erfasse ich, was da ausgesagt ist. Ich erfasse, dass das Verhältnis
des „kleiner“ notwendig zu den Beziehungspunkten 2 und 3 gehört. Ebenso,
dass das Gleichheitsverhältnis notwendig zu den Summen a + b und b + a
gehört usw.
Was sagt hier das „notwendig“? Hier, wo ich seinen Sinn in Form in-
tuitiver Erkenntnis klar erfasse? Es handelt sich hier überall um gewisse
Relationen, die wir nicht nur in dem einzelnen Fall und nur in aktueller
Erfahrung in seinen einzelnen Beziehungspunkten erfassen; sondern es ist
uns intuitiv klar, dass, wenn immer wir gleiche Beziehungspunkte haben,
auch die Relation dieselbe sein muss.1 Nicht nur der impressional gegebene
Fall von 2, etwa von zwei Äpfeln, und weiter der von drei Äpfeln führt
das Verhältnis des „größer“ mit sich, sondern wir haben die allgemeine
Vernunfteinsicht, dass das für jeden gleichartigen Fall gilt.2 Überhaupt ist
2 < 3. Ebenso: Überhaupt liegt in a > b > c das a > c beschlossen. Und ebenso
für alle logisch-mathematischen Axiome.
(Das Verhältnis dieses Beschlossen-Seins ist für alle Größenverhältnisse
dieses Typus dasselbe.) Also es gibt Relationen zwischen Inhalten (die selbst
wieder Relationen sein können) von solcher Art, dass die Relation zu gleich
gearteten Inhalten überhaupt gehört, und das wird in einer intuitiven Er-
kenntnis unmittelbar erfasst. Überall da sprechen wir von Notwendigkeit,
Schluss heißt es: Aus den Prämissen geht notwendig der Schlusssatz hervor. Da haben wir also
wieder die Rede von notwendigem Hervorgehen. Stehen die verglichenen Fälle auf gleicher
Stufe, das kausale und logische und mathematische Verhältnis, Ursache und Grund, Wirkung
und logisch mathematische Folge?
1 Gestrichen Ein beliebiger in bloßer Phantasie vorstelliger Fall genügt, um diese intuitive und
von der Notwendigkeit des Bestandes der Relation. Das Gebiet dieser Not-
wendigkeit erweitert sich in Form der Demonstration, wie in der reinen
Geometrie: Aus den intuitiv erfassten Axiomen, die unmittelbare Notwen-
digkeiten aussprechen, gehen wir in Schritten, deren jeder einzelne Not-
wendigkeit mit sich führt, weiter und gewinnen notwendige Erkenntnis von
Sachverhalten, die nicht unmittelbar als notwendig zu erkennen wären. Für
diese Klassen von Relationen, die Gegenstände möglicher intuitiver oder
demonstrativer Erkenntnis sein können, gebraucht Hume den Ausdruck
„relations of ideas“. Dies ist die Sphäre echter Vernunft. Hier sehen wir
nicht nur ein vereinzeltes „so ist es“, sondern „so ist es überhaupt und so
muss es sein“.
Das Charakteristische dieser Sphäre kann man noch durch einige Kri-
terien bezeichnen: Die Leugnung einer Ideen-Relation bzw. die Leugnung
einer intuitiv oder demonstrativ einsehbaren Wahrheit führt einen Wider-
spruch, eine Absurdität mit sich. Einen Widersinn gibt es, leugnend zu
sagen: „Es ist nicht 2 < 3“, „es ist aber a > b > c und nicht a > c“.
Und das gilt für die gesamte Sphäre der Erkenntnis großer Wissenschaf-
ten wie der reinen Mathematik. Und ebenso die weiteren Kriterien: Alle
hierhergehörigen Erkenntnisse sind a priori, sie sagen über tatsächliche
Existenz nichts aus. Ob es eine reale Welt gibt oder nicht, die mathema-
tischen Sätze gelten, gelten für jede erdenkliche Welt, aber urteilen über
keine wirkliche. Und dem entspricht: Es bedarf nicht der Erfahrung, um
festzustellen, dass 2 < 3 ist, es genügen die bloßen „Ideen“, die bloßen
Vorstellungen. Phantasiere ich mir eine 2 und eine 3, so genügt das; ich
erkenne auch daran, dass 2 überhaupt kleiner als 3 überhaupt ist. Natürlich,
der Satz gilt und wird eingesehen vor aktueller Erfahrung, nicht aufgrund
der Erfahrung.1 Ferner: Jeder Versuch, die Negation einer Relation zwischen
Ideen sich anschaulich zu machen, schlägt fehl. Ein Widersinn ist prinzipiell
unvorstellbar, durch keine anschauliche Vorstellung einheitlich vorstellig zu
machen.
Die Sachverhalte oder Relationen, die hier beschrieben sind, sind aber
nicht die einzigen Themen möglicher Erkenntnis. Den apriorischen Erkennt-
nissen stehen die aposteriorischen gegenüber, in Hume’scher Rede: den
relations of ideas stehen gegenüber die matters of fact. An den bezeichneten
1 Gestrichen Es kommt auf die Tatsächlichkeit, die uns aktuelle Erfahrung gibt, nicht an,
sondern nur auf den Inhalt, Wesensgehalt der jeweiligen Beziehungspunkte, der ja in der
Impression und bloßen Vorstellung der Phantasie derselbe ist.
412 einleitung in die philosophie
Kriterien können wir sie erkennen. Dass morgen die Sonne aufgehen wird
ist eine Wahrheit, aber eine bloße Tatsachenwahrheit, nur durch wirkliche
Erfahrung kann sie festgestellt werden; ihre Leugnung ist ganz ohne Wi-
dersinn, ihr Gegenteil ist klar vorstellbar. Also Tatsachenwahrheiten führen
nichts von jener Notwendigkeit mit sich, die sich damit ausdrückt: Es ist
undenkbar, dass es anders sei; es ist absurd, ein Widerspruch. Hier heißt es
vielmehr: Faktisch verhält es sich so, so lehrt es die Erfahrung, aber es könnte
sehr wohl anders sein.
Nach dieser Überlegung kehren wir zur Frage des Kausalverhältnisses
zurück. Gehört es zu den Ideenrelationen oder zu den bloß tatsächlichen
Relationen? Ist der Kausalschluss ein echter Vernunftschluss, führt er Not-
wendigkeit mit sich in jenem echten Sinne, den Intuition und Demonstration
uns kennenlernen? Legen wir unsere Kriterien wieder an. Welches Beispiel
wir uns auch anschaulich klarmachen, zur Lebendigkeit voller Impression
bringen, wie „Feuer macht Eisen erglühen, das Wasser sieden“, „durch
das Hämmern verändert das Eisen seine Form“ u. dgl., immer finden wir
ein bloßes Nacheinander, aber nichts von der Notwendigkeit der Wirkung.
Denn immer ist das Gegenteil der eintretenden Wirkung anschaulich vor-
stellbar, nicht das Mindeste von Widersinn oder Widerspruch ergibt sich,
wenn wir solche Kausalaussagen negieren und etwa behaupten wollten
„Feuer macht das Wasser frieren“ usw. Das Beschlossen-Sein der Wir-
kungen in ihren Ursachen ist kein wirkliches Beschlossen-Sein. Man darf
sich durch die bildliche Rede nicht täuschen lassen, es ist kein Analogon
des Beschlossen-Seins einer logischen oder mathematischen Folge in ih-
ren Gründen. Also darf man die apriorische Notwendigkeit, die zu den
Vernunftschlüssen gehört nicht auf die kausalen Schlüsse erstrecken wol-
len.
Nun könnte man sagen: Gewiss! Das Kausalverhältnis wird nicht a priori,
sondern a posteriori erkannt, oder der Kausalschluss, der Schluss von gege-
benen Ursachen auf ihre künftigen Wirkungen vollzieht sich nicht a priori,
sondern beruht auf Erfahrung. Ja freilich, antwortet Hume, aber geholfen ist
damit wenig. Denn unsere Ursprungsanalyse hat hier wie überall den Zweck,
dem Ursprung der Geltung nachzuprüfen. Wie kann die Erfahrung dem
Kausalschluss Rechtfertigung verleihen? In der apriorischen Sphäre ist der
Grund der Geltung klar.1 Wo die Negation Widersinn wäre, da sind wir in der
1 Gestrichen In der Intuition bzw. Demonstration erfassen wir im einzelnen Fall im gegebenen
Ideengehalt die ihm generell zugehörige Relation, im Ideengehalt der Prämissen finden wir den
hume 413
des Schlusssatzes nicht nur beschlossen, sondern wir sehen das generelle Beschlossen-sein für
alle Fälle gleichen Ideengehalts ein.
414 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Ist das Kausalprinzip, wenn nicht unmittelbar, also intuitiv gewiss, so doch
demonstrativ erweisbar?
hume 415
Gewiss, wir erwarten, weil wir es bisher immer so gefunden haben. Aber in
diesem Weil liegt kein Vernunftgrund, sondern nur die Bezeichnung einer
psychologischen Entstehung des Glaubens.
Und nun durchschauen wir den natürlichen Trug: Dem Glaubenszwang
der gewohnheitsmäßigen Erwartung können wir uns nicht entziehen. Ver-
suchen wir zu leugnen, so bricht sich der Leugnungsversuch an diesem
lebendig fühlbaren Zwang. Dieses Nicht-leugnen-Können, diese Aufhebung
der Negation durch Gewohnheit verwechseln wir mit der rationalen Auf-
hebung durch den hervorspringenden Widersinn. Wir unterliegen hier also
einer natürlichen Fiktion. Den irrationalen Zusammenhängen, die Erfah-
rung, also Gewohnheit stifteten, unterschieben wir, ohne es zu merken,
Zusammenhänge rationaler Notwendigkeit. Unsere Natur ist gewissermaßen
so geartet, dass sie gern überall Rationalität finden möchte. Äußerlichste
Analogie reicht ihr dafür hin, und so spiegelt sich uns, vermöge der gesetz-
lichen Konstitution unseres Bewusstseins, eine Welt vor, die angeblich von
rationaler Notwendigkeit getragen ist, die nach allen ihren Vorgängen unter
Kausalgesetzen steht.
Ergänzend muss ich noch bemerken, dass Hume sich auch ausführlich
mit dem Gedanken auseinandersetzt, ob nicht der Rekurs auf die Wahr-
scheinlichkeiten die Rationalität der Kausalerkenntnis retten kann. Man
könnte sagen: Erfahrungsschlüsse sind bloße Wahrscheinlichkeitsschlüsse,
und nur als das dürfen sie und wollen sie gelten. Kann man sie als Wahr-
scheinlichkeitsschlüsse einsichtig rechtfertigen, waltet in den Verhältnissen
der Wahrscheinlichkeit echte Rationalität? Hume sucht aber auch hier zu
zeigen, dass uns dieser Ausweg versperrt ist. Er gründet die ganze Theorie
der Wahrscheinlichkeiten auf blind-gewohnheitsmäßige Assoziation. Alle
Erfahrungsschlüsse, die sicherlich nur wahrscheinliche Geltung haben, sind
ohne rationale Rechtfertigung. Es handelt sich überall um psychologisch
erklärliche Unterschiebungen rationaler Verhältnisse für Irrationales.
Was ergibt sich aus all dem für die Interpretation von Natur und Naturer-
kenntnis? Naturwissenschaft will Wissenschaft, will rationale Erkenntnis von
Natur sein. Erweist sich aber der Kausalschluss, der es allein ermöglicht, über
unmittelbare Erfahrung hinauszukommen und dann weitere allgemeine Er-
fahrungsgesetze zu erschließen, als unvernünftig, jeder Rechtfertigung bar,
so fällt eigentlich die ganze Naturwissenschaft dahin. (Echte Wissenschaften
sind die mathematischen Wissenschaften; hier sehen wir ein, hier ist jede
Leugnung Widersinn. Aber mathematische Wissenschaften sagen kein Wort
über reale Wirklichkeit. Andererseits, die Naturwissenschaften, diese großen
und stolzen Naturwissenschaften von der realen Wirklichkeit, sind im echten
416 einleitung in die philosophie
Sinne gar keine Wissenschaften (so müssten wir wenigstens, wenn wir Humes
Schlüsse anerkennen, sagen).) Von da aus ist es nur ein Schritt weiter zu
sagen: Bietet die Naturwissenschaft mit ihren mittelbaren Methoden keine
Vernunfterkenntnis über die Natur, dann wissen wir überhaupt nichts von
einer Natur. Denn unmittelbare Erfahrung und die unmittelbaren Wahrneh-
mungsurteile geben noch keine wissenschaftlich-objektive Erkenntnis, und
solange wir nicht objektive Erkenntnis haben, die in einer Weise, die volle
Rechtfertigung in sich birgt, haben wir auch kein Recht, von einer objektiven
Natur zu sprechen.
Hume löst auch den Wert der unmittelbaren Erfahrung von physischer
und psychischer Natur skeptisch auf, und damit hebt sich auch von da aus
und eigentlich noch radikaler der Wert der exakten Naturwissenschaften auf.
Damit berühre ich die zweite Hume’sche Problemgruppe im Treatise, die auf
die Einheit des Dinges und der Persönlichkeit bezügliche. Hume versucht
nämlich zu zeigen, dass die phänomenale Einheit des dauernden und vom
subjektiven Wahrnehmen unabhängigen Dinges ebenfalls ein natürlicher
Schein ist, der nur aufgrund der Gesetze der Ideenassoziation und Ge-
wohnheit zu erklären ist. Es ist ein allgemein-menschlicher, natürlicher und
durchaus irrationaler Schein. Vor der Vernunft und ihrer Kritik erweist sich
das identische Ding als eine Fiktion; über die Empfindungskomplexen hinaus
etwas Identisches anzunehmen, besteht gar kein Vernunftgrund. Aber so ge-
artet ist unsere menschliche „Imagination“, dass wir im Lauf der Erfahrung
solche Fiktionen wie die Dingeinheiten bilden, sie den faktisch allein vorhan-
denen assoziativen Empfindungsgruppen unterschieben müssen. Eben solch
eine Fiktion ist die identische Persönlichkeit. Wir selbst also, sofern wir uns
nehmen, wofür wir uns doch immerfort nehmen, für identische Personen,
sind bloße Fiktionen der Einbildungskraft, welche die Vernunft als haltlos
und widersinnig verwirft. Dasselbe gilt für die großen Formen der realen
Welt. Der einheitliche und bleibende Raum, in dem die Dinge sich bewegen
und verändern, ist erst recht Fiktion unserer Imagination, desgleichen die
mathematische Kontinuität des Raumes und der Zeit, usw. Berkeley hatte in
der Theorie des Sehens den Versuch gemacht die phänomenalen objektiven
Raumbestimmungen (Entfernung, Größe) assoziativ-psychologisch zu erklä-
ren. Das war die Quelle aller späteren Bemühungen, die „Raumvorstellung“
überhaupt, das Phänomen des Raumes als ein assoziatives Gebilde von sen-
suellen Daten zu erklären. Hume knüpft in dieser Hinsicht an Berkeley nicht
an. Er behandelt das phänomenal Räumliche (soweit ich mich erinnere) als
gegeben, wie die Sukzession (die freilich keine Impression sein soll). Aber
seine skeptische Argumentation richtet er gegen den mathematischen Raum.
hume 417
Die skeptische Kunst Humes besagt überall, dass die menschliche Er-
kenntnis so wie ein Theater zu behandeln sei, auf dem Vernunft und Ein-
bildungskraft als die Aktoren auftreten und sich als unversöhnliche Feinde
zunichte machen. Die Vernunft hat ihre fest umgrenzte Herrschaftssphäre,
ihre Grenzmauer trägt überall die Inschrift: Widersinn. Innerhalb dieser
Rechtssphäre gibt es keine reale Welt. Diese Welt mit ihren physischen und
geistigen Realitäten hat ganz und gar ihren Ursprung in dem anderen Vermö-
gen: in dem der Einbildungskraft. Die menschliche Vernunft hält sich freilich
nicht in ihren Schranken. Sie begnügt sich nicht mit den einstimmigen und
unabänderlichen Ideenrelationen, mit den einzigen rechtmäßigen wirklichen
Existenzen, den Perzeptionen, den immanenten Daten. Sie treibt auch Na-
turwissenschaft und Metaphysik. Als naturwissenschaftliche Vernunft nimmt
sie die erfahrene Welt als eine Welt wirklicher Körper und Geister hin
und übt hier unter der Fahne naturwissenschaftlicher Methode Anwendung
der rein logischen und mathematischen Vernunftwahrheiten. Aber keine
noch so vernünftige Methodik der Naturwissenschaft und noch so viel ange-
wandte Mathematik ändert etwas daran, dass ihre als Wirklichkeit hingenom-
mene Arbeitsdomäne, nämlich die erfahrene Natur eine bloß psychologische
Schöpfung der Imagination ist nach Gesetzen der Ideen-Assoziation und Ge-
wohnheit. Diese Schöpfung ist aber nicht etwa eine solche, dass die Vernunft
hinterher die mit der Aufdringlichkeit des Erfahrungsglaubens auftretenden
imaginativen Gebilde rechtfertigen könnte. Die prüfende Vernunft findet
so wenig irgendeinen Rechtsgrund des Glaubens, dass sie den schlechthin
der Imagination Nachgehenden vielmehr nachweist (nämlich in Form der
Hume’schen Philosophie nachweist), dass die imaginativen Gebilde aus wi-
dersinnigen Grenzüberschreitungen der Domäne aktuellen Bewusstseins,
der aktuellen Impressionen und Erinnerungen, erwachsen.
Der Prozess ist immer der, dass die Imagination nach ihrer blinden Ge-
setzmäßigkeit zuerst einen Widersinn erzeugt und dann, um diesen ersten
Widersinn schmackhafter zu machen, einen zweiten Widersinn hinzuerdich-
tet. Das allgemeine Prinzip der Imagination liegt in einer eigentümlichen,
zur menschlichen Seele gehörigen Trägheit, vermöge deren sie sich, durch
bisherige Erfahrung in einen Gewohnheitsschein gekommen, nicht halten
kann und über die Erfahrung hinaus schließen muss. Wo sich ihr irgendetwas
von Regelmäßigkeit der Existenz und Folge in wirklicher Erfahrung darge-
boten hatte, muss sie sofort dazu übergehen diese Regelmäßigkeit über die
bisherige Erfahrung hinaus zu verlängern, sie in die Zukunft zu projizieren,
sie zu verabsolutieren als schlechthin objektiv bestehend.1 So erfindet sie
1 Randbemerkung Trägheitsgesetz der Seele.
418 einleitung in die philosophie
aufgrund ungefährer Koexistenzen von Daten bleibende Dinge und als vom
Bewusstsein unabhängige Dinge, so erfindet sie kausale Zusammenhänge
mit vermeinten Notwendigkeiten usw.
Die erfahrene Welt ist also nach Hume in einem bestimmten Sinne eine
bloß phänomenale, bloß Phänomen im Bewusstsein. In der allein zwei-
fellos gegebenen immanenten Wirklichkeit, in dem Ablauf unserer Emp-
findungen, Gefühle, Affekte usw. erscheint eine andere Wirklichkeit, die
räumlich-zeitliche Natur mit Körpern und Geistern. Und das ist die Welt,
die wir beständig unmittelbar zu erfahren vermeinen. Dieses Erscheinen
ist aber nichts weiter als ein in die aktuellen Erlebnisdaten durch Assozia-
tion und Gewohnheit hinein erzeugtes und gänzlich unvernünftiges Mei-
nen, das so mit den Daten verschmilzt und von solcher Lebendigkeit ist,
dass wir diese Fiktionen eben wirklich zu erfahren glauben, als wären sie
unmittelbar da. Es handelt sich da nicht um einen Phänomenalismus, der
zwischen Erscheinung und Erscheinendem scheidet und lehrt, an sich sei
eine transzendente Welt, die sich in unseren Erscheinungen, wenn auch
noch so sehr verhüllt, doch irgend bekundet, in ihnen erscheint oder noch
so indirekt durchscheint. Die Vernunft gestattet weder, die erscheinende
Welt (die transzendent ist, sofern sie Realitäten setzt, die nicht selbst die
Erlebnisdaten sind) in gewissem Sinne als seiend gelten zu lassen, noch
gestattet sie, diese Dingwelt als Bekundung einer noch weiter zurücklie-
genden transzendenten Welt anzusehen. Ein in unserem Bewusstsein nicht
vorfindliches Sein ist zwar nach Hume eine Denkmöglichkeit: Aber nur
im Gegebenen können Anhalte liegen, Nichtgegebenes anzunehmen, und
der einzige Weg dazu ist der der Assoziation und Gewohnheit, die ihre
Dingfiktionen schafft, und nichts berechtigt; einen berechtigenden Weg gibt
es nach Hume nicht.
Freilich spricht er wiederholt als Agnostiker und als wäre doch eine völlig
unbekannte und unerkennbare transzendente Welt, die als Seinsprinzip und
Ursache für unseren Bewusstseinsverlauf anzunehmen sei. Aber das wider-
spricht so krass seinen Theorien, dass es nur als eine unehrliche Akkomo-
dation an die herrschenden und von den Kirchen behüteten Auffassungen
anzusehen ist. Also, die Hume’sche Philosophie können und müssen wir
also als eine Philosophie der Fiktionen oder als eine Philosophie des Als-
ob bezeichnen. Treiben wir Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, so
tun wir so, als ob die Fiktionen unserer Einbildungskraft Wirklichkeiten
wären; und der einzige Grund dafür ist, dass diese Fiktionen mit einem so
starken blind-instinktiven Glauben ausgestattet sind, dass wir nichts anderes
können.
hume 419
Ich möchte hier noch anmerken, dass der Begriff der Einbildungskraft
bei Hume, wie schon bei Descartes und im ganzen 18. Jahrhundert, nicht
ein bloßes Vermögen frei-willkürlich gestaltender Phantasie bedeutet und
überhaupt nicht bloß ein Vermögen der Phantasie. Das gehört auch dazu,
aber sehr viel mehr. Der Gegensatz von Imagination ist zum Beispiel bei
Descartes Intellektion. Es handelt sich um den Gegensatz all der Erkennt-
nisprozesse des Erfahrens und jedweden empirischen Anschauens und Vor-
stellens von Singulärem gegenüber dem reinen Denken, das sich aber auch
an anschaulichem Material betätigen kann. Die Imagination Humes ist die
das Weltbild der Erfahrung gestaltende Gesetzmäßigkeit der menschlichen
Seele; und sie gestaltet es aus dem Material der Sensation und Reflexion.
Jedes menschliche Bewusstsein untersteht der gleichen Gesetzmäßigkeit,
daher haben wir alle die gleichen psychologischen Gebilde: Erfahrungen
von Dingen und menschlichen Gemeinschaften.
Wie steht es nun, nachdem mit dieser Interpretation von Natur und
Naturwissenschaft die naturalen Probleme der Metaphysik erledigt sind,
mit der Metaphysik im engeren Sinne, also den supranaturalen Problemen
von Gott, Welt-Teleologie usw.? Natürlich fallen sie gänzlich dahin. Hume
belebt hier ein wenig ehrliches Verfahren – es ist so etwas wie englischer
Cartesianismus –, nämlich in der relativen Wertung von Naturwissen-
schaft und Metaphysik. Es beliebt ihm, die radikale Skepsis im Erkennt-
nisgebiet der Naturwissenschaft zu verhüllen, um desto entschiedener den
Erkenntnisanspruch der Metaphysik bestreiten zu können. Die Vernunft
kann zwar den Kausalschluss nicht anerkennen (und muss die ganze Natur
nur als eine haltlose Fiktion werten, wenn wir dem Treatise folgen), aber die
menschliche Natur oder genauer die psychologische Kraft der Imagination ist
stärker als die Vernunft. Immerhin: Wenn wir die Wirklichkeit der Natur hin-
nehmen und Kausalschlüsse gemäß dem Kausalprinzip vollziehen, verfahren
wir natürlich, wir folgen ja den Gesetzen unserer seelischen Natur. Wenn
wir aber Schlüsse ins Supranaturale machen und die Grenzen möglicher
Erfahrung überschreiten, wenn wir uns nicht in der Sphäre halten, in der
mögliche Assoziation und Gewohnheit walten kann, so verfahren wir nicht
nur unvernünftig, sondern unnatürlich. Ich kann nur finden, dass das eine
starke Zumutung ist, die dem Leser des Hume’schen Essay gemacht wird,
die dabei von Hume etwas niedrig eingeschätzt wird. Ernst kann das nicht
gemeint sein.
Schon aus dem Bisherigen geht hervor, dass die konsequente Durchfüh-
rung des Empirismus in Form eines sensualistischen Psychologismus in der
Hume’schen Philosophie eine Art Bankrott der Philosophie darstellt. Sie
420 einleitung in die philosophie
fängt damit an, der Erfahrung alle Ehre zu geben, und endet damit, ihr alle
Ehre zu nehmen. Wer nicht durch skeptische Argumente verwirrt ist, wird es
doch als ein Unmittelbares anerkennen müssen, dass Erfahrung, und zwar als
äußere Erfahrung ihre Evidenz in sich trägt, dass in ihr unmittelbar ein ding-
liches Sein, eine räumlich-zeitliche Körperlichkeit gegeben und rechtmäßig
gegeben ist, ebenso das Sein von Menschen als einheitlichen Persönlichkei-
ten, das Sein von menschlichen Gesellschaften, von Staat, Gemeinde, Verein
usw. Gewiss hat die Reduktion auf das Immanente und zum Beispiel der
Rückgang auf Empfindungsdaten, die an aller äußeren Erfahrung einen
Anteil haben, seinen erkenntnistheoretischen Wert. Aber so wenig sind
diese das unmittelbar Gegebene, dass erst ein reflektiver und reduktiver
Prozess zu den Empfindungsdaten hinführt. Die ausgezeichnete Evidenz
des immanenten Seins, die sich dabei herausstellt, hebt aber nicht die, ob-
schon begrenzte Evidenz der äußeren Erfahrung auf. Humes geistvolle und
nach vielen Stücken auch wertvolle psychologische Untersuchungen über
den genetischen Ursprung der Dingerfahrung sollen aber dazu dienen, den
eigenen Gehalt der Erfahrung und ihre ursprüngliche Evidenz umzudeuten
in ein Bewusstsein leerer Fiktion. Das ist grundverkehrt. So grundverkehrt,
wie wenn man durch psychologische Ursprungsuntersuchungen über die
Entstehung des allgemeinen Denkens erweisen wollte, dass das einsichtige
Erfassen eines axiomatischen Gedankengehalts wie a + 1 = 1 + a wertlos sei,
als ein nach psychologischen Gesetzen erwachsener Schein.
Es würde zu weit führen, in diesen Beziehungen an Hume eine ins Ein-
zelne gehende widerlegende Kritik zu üben. Wie sehr aber seine Philoso-
phie in Widersinn endet und nicht bloß in einem paradoxen Streit gegen den
Wert der Welterfahrung und gegen die von uns allen als stringent gefundene
Naturwissenschaft, zeigt folgende kurze Überlegung:1 Die Erkenntnistheo-
rie Humes und damit in eins seine negative Metaphysik, die als absolutes
Sein nichts übrig lässt als die momentanen Bewusstseinsdaten, beruht auf
Psychologie. Woher weiß Hume etwas von den psychologischen Gesetzen,
aus denen er seine Erklärungen erstreitet? Sind sie apriorische Gesetze, im
Hume’schen Sinne relations of ideas? Offenbar nicht. Sind sie durch unmit-
telbare Wahrnehmung oder Erinnerung in der immanenten Sphäre gegeben?
Auch das nicht. Gesetze sind doch keine singulären Bewusstseinsdaten oder
Komplexe. Sie sind also erschlossene matters of fact. Welch ein Widerspruch,
müssen wir nun sagen! Im Inhalt der Hume’schen Theorien wird angeblich
erwiesen, dass keinem Schluss, der über das Immanente und wirklich schon
Erfahrene hinausgeht, und somit keinem empirischen Gesetz eine vernünf-
tig zu rechtfertigende Geltung zukommen kann. Andererseits setzt Hume
in seinen Begründungen überall voraus, dass die psychologischen Gesetze
erfahrungsmäßig gelten, dass sie also vernünftig sind, sie, die doch selbst
Tatsachengesetze sind, durch Schlüsse der unvernünftigen Art gewonnen. Im
Inhalt der Theorien wird erwiesen, dass alle und jede Kausalität subjektive
Fiktion sei. Im Beweis aber fungiert beständig die psychische Kausalität, die
also doch wohl keine Fiktion sein darf.
Ein anderer Punkt radikaler Kritik an Hume wäre folgender: Nirgends
finden wir bei ihm das Problem behandelt, mit welchem Recht wir andere
Menschen neben uns annehmen. Ihre Leiber sind für unsere Erkenntnis
imaginative Fiktionen. Ihre Persönlichkeiten auch. Aber wie steht es mit
ihrem Bewussteinslauf? Hume spricht immer so als ob intersubjektive Ver-
ständigung und intersubjektive psychologische Erfahrung möglich wäre. Mit
welchem Recht? Offenbar kann es für ihn kein solches Recht geben und
somit reduziert sich für den Erkennenden die Welt auf den eigenen Lauf von
Impressionen und Ideen. Solipsismus.
Ferner muss noch auf Folgendes aufmerksam gemacht werden. Humes
Skeptizismus ist ein sehr viel weiter gehender, als es zunächst und insbeson-
dere beim Studium des Essay den Anschein hat. Insofern war unsere Darstel-
lung seiner Kausalitätstheorie, die dem Essay folgte (und die um des leich-
teren Verständnisses des Kontrastes von Vernunftschlüssen und Erfahrungs-
schlüssen willen noch den Anschein verstärkte) nicht korrekt. Hume verfährt
wie ein bildender Künstler, der um charakteristische Momente seiner Gestalt
durch Kontrast besonders wirksam zu machen, absichtliche Verzeichnungen
macht. Das betrifft die Charakteristik der Vernunftsphäre. Hume übernimmt
die sensualistisch-nominalistische Abstraktionstheorie Berkeleys, sie wo-
möglich noch übertreibend. Es gibt keine allgemeinen Vorstellungen. Es gibt
zwar allgemeine Namen, aber sie haben keine allgemeinen Bedeutungen im
eigentlichen Sinne eines mit dem Namen verbundenen Allgemeinheitsbe-
wusstseins, in dem ein Allgemeines als gegenständliches Korrelat bewusst
wäre. Es gibt nur individuelle Vorstellungen.1 Zum Beispiel, mit dem Wort
„rot“ ist keine allgemeine Rot-Vorstellung verbunden, sondern bestenfalls
schwebt eine einzelne Rot-Idee vor. Darüber hinaus hat das Wort aus psy-
chologischen Gründen die Funktion angenommen, nicht nur ein bestimmtes
erfahrenes Rot, wie ursprünglich, zu bezeichnen, sondern Anwendung zu
finden auf alle ähnlichen Daten. Das Faktum, dass wir so etwas wie ein be-
griffliches Meinen haben, ein Bewusstsein, in dem wir eben nicht dieses Rot-
Moment, das uns vor Augen steht, meinen, sondern Rot überhaupt, wie wenn
wir sagen „Rot (überhaupt) ist eine Art von Farbe (überhaupt)“, das wird
psychologistisch weggedeutet. Es verwandelt sich damit die ganze Sphäre
der Denkallgemeinheit, die als reine Gesetzessphäre eine Sphäre idealer
Gegenständlichkeiten ist, in psychologische Fiktion. Damit ist aber auch das
gesamte Gesetzesdenken und Gesetzeseinsehen skeptisch entwertet.
Was tut nun Hume? Alles eigentliche Denken reduziert er auf ein Erfassen
von Relationen, und zwar von Relationen an individuell einzelnen Daten. Er
sondert dann eine Klasse von Relation zwischen Ideen ab, welche die merk-
würdige Eigenheit haben sollen, dass sie Relationen sind, die unabänderlich
zu den Ideen gehören und so, dass alle ähnlichen oder gleichen Ideen dieselbe
Relation mit sich führen müssen. Aber unter anderem müssen wir natürlich
fragen: Woher weiß er das? Natürlich aus der allgemeinen Einsicht, dass 3
überhaupt > 2 überhaupt ist, oder dass überhaupt, wenn a > b und b > c, a > c
ist, für beliebige a, b, c.1 Aber eben dies, dass je ein Allgemeines gegeben ist
und je sein kann, leugnet er in seiner Abstraktionstheorie in widersinniger
Weise. Damit hängt der ganze Kontrast zwischen Vernunft und Imagination,
zwischen apriorischen Erkenntnissen und Tatsachenerkenntnissen in der
Luft. Wenn er auf der einen Seite, bei den Tatsachen, nach der Impression
der Notwendigkeit sucht und keine findet, so hätte er doch auch offen sagen
müssen, dass er nicht minder bei den Ideenrelationen keine Impression von
Notwendigkeit findet bzw. von unbedingter Allgemeinheit. Das ist ja gerade
eine „abstrakte Idee“. Also wäre auch alles rein Logische und Mathemati-
sche Fiktion der Einbildungskraft.
Hume ist zwar konsequent darin, den Sensualismus bis in alle Erkennt-
nissphären hin durchzuführen, aber nicht ohne Absicht unterlässt er es, alle
Schlüsse aus diesen sensualistischen Einzeluntersuchungen zu ziehen. Denn
sonst hätte er allzu früh damit enden müssen, zu sagen: Alles objektive
Erfahren und alles Denken überhaupt ist unverständlich und unverständig;
das einzige, was man rechtmäßig aussagen kann, ist „dies-da“ und „dies-
da“, nämlich in Hinweisung auf die immanenten Impressionen, auf Affekte
etc. Das ist nun wirklich voller Bankrott der Erkenntnistheorie und Philo-
sophie überhaupt. Nicht einmal reine Logik und reine Mathematik haben
irgendeinen Erkenntniswert.
1 Randbemerkung In der allgemeinen Einsicht ist eben intuitiv der allgemeine Gesetzesinhalt
gegeben.
hume 423
Spinoza
bildet er nicht aus. Üppig blüht er als dogmatistische Metaphysik, die zwar
beständig von erkenntnistheoretischen Motiven bestimmt ist, aber, was das
Entscheidende ist, eben nicht auf eine phänomenologisch reine, von al-
len transzendenten Suppositionen befreite Erkenntnistheorie gegründet ist.
Erkenntnistheoretische und metaphysische Gedankenreihen gehen unge-
schieden ineinander, sich wechselseitig beeinflussend und verflechtend. Das
schließt nicht aus, dass die erwachsenden Systeme nicht nur historische Kraft
erweisen, sondern dass sich in ihnen auch, trotz aller Unreinheit, sachlich
wertvolle Motive emporarbeiten.
Wir besprachen früher den Einfluss eines allgemeinen, aber ungeklärten
erkenntnistheoretischen Motivs auf die ganze Entwicklung des Rationalis-
mus, nämlich den Einfluss der Vorbildlichkeit der mathematischen Theorie,
die als Prototyp echter und endgültiger Wissenschaften angesehen wurde.
Damit hängt die im 17. und 18. Jahrhundert grassierende Mode zusammen,
alle Wissenschaften in euklidischer Demonstrationsform zu begründen und
darzustellen. Die extreme Konsequenz dieser Vorbildlichkeit, die auf einer
noch völligen Unklarheit über die erkenntnistheoretische Wesensstruktur
mathematischer Erkenntnis beruhte, war der Ontologismus des Spinoza,
wie wir das früher schon erörtert haben, der eine Metaphysik à la Euklid,
ordine geometrico demonstrata aufbaute, der also glaubte ein rein rationales
Axiomsystem aufweisen und als Fundament nützen zu können, auf dem in
rein logischer Deduktion eine absolute Wissenschaft von der Realität zu
gründen sei, eine Wissenschaft von Gott und den göttlichen Attributen, von
der Art, wie aus Gottes begrifflichem Wesen, vermöge dessen er notwendig
die eine und einzige Substanz sei1.2
1 Gestrichen, durch rein apriorische Explikation (nach Art der Mathematik) die Körper- und
Geisterwelt als Modifikationen der göttlichen Attribute hervorgehe, der Parallelismus körper-
licher und geistiger Kausalitäten usw. Diese mathematisch-exakt seinwollende Metaphysik ist
eine allgemeine Metaphysik; sie will nicht die exakten Naturwissenschaften, soweit sie in der
Tat schon mathematische Strenge erreicht haben, bestätigen, sondern sich darauf beschränken,
die allgemeinsten Grund- und Wesensbestimmungen des Realen herauszustellen, und zwar
rein a priori, und daraus das System allgemeinster Realitätserkenntnis zu gewinnen. Offen-
bar ist dabei der unausgesprochene Gedanke der, dass eine vollkommene Rationalisierung
der besonderen Naturerkenntnis zu oberen Sätzen führen muss, die abwärts alle besonderen
physikalischen, mechanischen etc. Wahrheiten in rein rationaler Deduktion hergeben und die
andererseits aufwärts sich als rein rationale Folgen der Ergebnisse der allgemeinen Metaphysik
herausstellen würden, sich diesen also einordnen. Dass diese leitende Idee ein Irrwahn war,
eine grundverkehrte Reduktion aller Tatsachenerkenntnis auf apriorischer Erkenntnis, das hat
die weiter folgende Entwicklung zur Klarheit gebracht. Gleichwohl tritt hier eine bleibend
bedeutsame und nur durch Überschreitung ihrer berechtigten Grenzen verderblich wirkende
Idee in einem großen systematischen Wurf zu Tage, und diese rechtmäßige Idee soll unser
Interesse beschäftigen.
2 Das folgende, von Husserl wohl versehentlich nicht gestrichene Textstück ließ sich nicht in
426 einleitung in die philosophie
In der letzten Vorlesung begannen wir mit einer an der Ethica, dem
metaphysischen und ethischen Hauptwerk des Spinoza anknüpfenden Be-
trachtung. Es ist, sagten wir, eine allgemeine und apriorische Metaphysik
und dazu, wie ich noch beifüge, eine monistische. Ihr extremer Apriorismus
ist bestimmt durch die von Descartes herstammende Auffassung des Typus
mathematischer Erkenntnis als des Grundtypus strenger und endgültiger
Erkenntnis überhaupt. Diese Vorbildlichkeit der mathematischen Erkennt-
nis, die den Rationalismus charakterisiert, nimmt Spinoza so ernst, dass er
den Vorlesungstext einfügen und führen die Tendenz mit sich, keine anderen Realitätswissen-
schaften neben sich anzuerkennen. Die Erkenntnistheorie ist auf den Plan getreten und stellt
sich als positivistische Metaphysik in den Dienst des Naturalismus, leugnet also jedwede teleo-
logische Metaphysik gegenüber der allein selig machenden Naturwissenschaft. Die Möglichkeit
der Metaphysik wird ein großes Problem, und wenn es mit dem Auftreten der Erkenntnis-
theorie für immer zur Gewissheit ward, dass jede absolute Welterkenntnis auf dem Boden
der Erkenntnistheorie erwachsen muss, so gab das hinsichtlich der Metaphysik einerseits und
Naturwissenschaft andererseits einen gewaltigen Unterschied, dass die letztere im Voraus als
anerkannte und zweifellos rechtmäßige Wissenschaft vor aller Augen dastand, die erstere aber
nicht. Die Metaphysik ist nur repräsentiert durch eine Vielheit von voneinander nach dem
Gehalt an wesentlichen Lehren unterschiedenen metaphysischen Systemen. Viele Systeme, aber
nicht eine Wissenschaft. Immerhin, es waren Systeme da und schon vom Altertum und Mittel-
alter überlieferte. Ein unermüdlicher Eifer musste, wo es sich um so unabweisliche Probleme,
wie es die Gottes- und weltteleologischen Probleme waren, handelte, darauf gehen, daraus
Wissenschaft zu gestalten und so, dass erkenntnistheoretische Kritik damit zurechtkommen
konnte. Begreiflicherweise, die Haupttriebkräfte hatten dabei die allgemeinen metaphysischen
Probleme. Man erstrebte naturgemäß vor allem die Gewinnung allgemein metaphysischer Vor-
stellungen, mindestens solcher, die eine Gewähr ihrer Möglichkeit mit sich führten und deren
Erkenntnismöglichkeiten von Seiten der Erkenntnistheorie gerechtfertigt werden konnten.
Indem man sich in der Neuzeit immer wieder in die allgemeinen Seinsfragen metaphysischer
Art vertiefte, vollzogen sich aber notwendig Scheidungen und solche von großer Bedeutung. Spi-
nozas allgemeine Metaphysik war eine rein apriorische gewesen. Das gehörte, wie schon gesagt,
nicht zum notwendigen Sinne einer allgemeinen Metaphysik. In der Tat werden wir hören, wie
der Rationalismus in seiner Fortentwicklung geneigt ist, für die absolute Realitätswissenschaft
das Ideal geometrischer Erkenntnis aufzugeben. Aber andererseits entdeckt sein geschärfter
Blick für das Rationale, dass höchst umfassende Seinsprobleme in der Tat apriorische sind und
dass also die Wissenschaft von der Realität teils auf apriorischen Erkenntnissen beruht und teils
auf aposteriorischen.
Apriorische Wissenschaften handeln von unbedingten Notwendigkeiten und Gesetzlichkei-
ten. Jedes Faktum aber bindet, ist zufällig, kann auch anders sein. Mit anderen Worten, sie
bewegen sich als rein apriorische im Reich idealer Möglichkeiten und sprechen nicht von der
gegebenen Wirklichkeit. Die Metaphysik als Wissenschaft von der gegebenen Welt scheidet
sich von der apriorischen Ontologie als Wissenschaft von möglichen Realitäten überhaupt,
möglichen Welten überhaupt, in allgemeinster Allgemeinheit. Sie legt auseinander was der Idee
„Realität“ wesentlich, unabtrennbar zugehört, und das ist dann eine unbedingte Gesetzesnorm,
die Anwendung findet in jeder aktuellen Metaphysik und insofern zu ihrem Bestand selbst
beiträgt. Hier tritt aber eine weitere Differenzierung allmählich hervor: Text bricht ab.
spinoza 427
seine Metaphysik ordine geometrico aufbaut und damit sozusagen der Euklid
der Metaphysik werden will. Dass in diesem Apriorismus der Metaphy-
sik oder, wie man auch sagt, im Ontologismus ein erkenntnistheoretischer
Grundirrtum liegt, das hat die weitere Entwicklung des Rationalismus selbst
herausstellen müssen und wir werden davon noch zu sprechen haben.1
Ehe wir auf diesen Punkt im Sinne der letzthin schon gegebenen Andeu-
tungen eingehen, knüpfen wir an Folgendes an. Die Metaphysik des Spinoza
ist eine allgemeine Metaphysik. Und in der Regel hat man, wo von Meta-
physik die Rede ist, ohne weiteres die allgemeinen, endgültigen Seinswahr-
heiten im Auge (Sein = reales Sein). So ist ja schon das historische Grundwerk
der Metaphysik, die aristotelische Erste Philosophie, ausdrücklich einge-
führt als Wissenschaft, die vom real Seienden in Allgemeinheit handelt und
nicht von dem, was den besonderen Seinsgebieten in eigentümlicher Weise
zukommt; da spricht Aristoteles von „Zweiten Philosophien“. Die Erste
Philosophie, die nachmals sogenannte Metaphysik, erforscht also die allem
Realen überhaupt zukommenden Wesensbestimmungen und dann auch das,
was allem einzelnen Sein mit allem anderen Einheit gibt. Alle realen Einzel-
heiten und alle einzelnen Werdensgestaltungen schließen sich zusammen zur
Einheit eines Kosmos, und das ist nicht ein toter Mechanismus, sondern nach
Aristoteles eine teleologische Einheit. Zum Wesen alles Werdens gehört es,
ein zweckvolles Werden zu sein; und letztlich werden wir zurückgeführt auf
einen letzten realen Urgrund für alles Werden, auf die Gottheit. Sie ist das
letzte Finalprinzip für die einheitliche teleologische Gestaltung des ganzen
Weltalls. Das alles gehört zu den allgemeinen Seinsfragen. Andererseits,
1 Gestrichen Als Probleme könnten wir formulieren: Inwiefern ist apriorische Erkenntnis von
absoluter Realität möglich? Soll die Metaphysik die endgültige und somit absolute Wissenschaft
von der Wirklichkeit sein, von der gegebenen, existierenden Wirklichkeit, dann fragt es sich,
ob etwa neben dieser Wissenschaft von der gegebenen Wirklichkeit noch Raum sei für eine
Wissenschaft von möglicher Wirklichkeit überhaupt, etwa so, wie wir scheiden zwischen der
naturwissenschaftlichen Mathematik als Wissenschaft von den Bedingungen der gegebenen
Natur und einer apriorischen Bedingungslehre, die von möglichen geometrischen und realen
Bedingungen überhaupt und möglichen Bedingungsgesetzen überhaupt handelt, unangesehen
der besondern und faktischen Wirklichkeit und ihrer faktischen Gesetze. Wäre diese Scheidung
richtig, so würde sich also ergeben eine apriorische Ontologie, das ist eine apriorische Wissen-
schaft vom Realen überhaupt und eine aposteriorische Ontologie. Das ist eben die Metaphysik.
Vorläufig ist es zum Verständnis nur nötig, dass Sie den Sinn apriorischen Verfahrens klar haben,
wozu etwa die Erörterungen über Relationen zwischen Ideen und Tatsachen bei Hume helfen
können. Die mathematischen Axiome sind apriorische, sie drücken keine Tatsachen aus, sind
nicht aus Erfahrungsfeststellungen hergenommen, sie drücken aus, was ohne Widersinn nicht
geleugnet werden kann, also auch nicht von einem Faktum.
428 einleitung in die philosophie
1 Gestrichen Und geschieht das (diese Leistung heißt eben scientia intuitiva), so ist es, ist alles
besondere Sein zugleich in seinem realen Hervorgehen aus Gott begriffen. Das mathematische
Hervorgehen und das reale wird bei Spinoza im Sinne seines Ontologismus identifiziert. Diese
Scheidung zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik kehrt offenbar auf allen Stufen
der Entwicklung notwendig wieder. Auch wir, die wir zwischen natürlich-dogmatischen und
philosophischen Wissenschaften scheiden und der Erkenntnistheorie die erkenntniskritische
Funktion verleihen, sie sozusagen zum Scheidweiser machen, werden diese beiden Stufen
anerkennen müssen.
spinoza 429
Aber das bedeutet für Spinoza nicht bloß, dass überhaupt wissenschaftlich
nachgewiesen wird, dass und wie alles aus der äußeren und psychologi-
schen Erfahrung bekannte endliche Sein seinen letzten realen Grund in
der absoluten Substanz hat, sondern im Sinne seines mathematisierenden
Ontologismus, dass alles, was ist, durch adäquate Begriffe fassbar ist, Begriffe
die ihrerseits im begrifflichen Wesen Gottes logisch beschlossen sind. Da nun
das Wesen Gottes im Voraus in einer einfachen Definition adäquat, also voll
erschöpfend, zu erfassen ist, so ist die Aufgabe, in reiner Deduktion aus
der Definition Gottes und aus den sonstigen primitiven Definitionen und
Axiomen die Wesensbestimmungen allen Seins abzuleiten. So, wie wir das
Wesen des Raumes adäquat begreifen, so, wie wir es in den geometrischen
Fundamentaldefinitionen und Axiomen zu adäquat-begrifflicher Ausprä-
gung bringen und wie nun alles, was im geometrischen Raum in Form von
Sondergebilden seine geometrische Existenz hat, in reiner Deduktion abzu-
leiten ist und in dieser Ableitung absolut begreiflich wird, genau so soll es sich
mit Gott und Welt verhalten. Gottes Wesen soll seine adäquat-begriffliche
Ausprägung finden in Definitionen und Axiomen, und in rein rationaler
Notwendigkeit sollen nun darin alle sogenannten endlichen Substanzen als
Modi des göttlichen Wesen beschlossen, also deduktiv abzuleiten sein, so,
wie alle Figuren bloße Modi des reinen Raumes sind.
Die Idee einer allgemeinen Wissenschaft vom Realen überhaupt gegen-
über den besonderen Realitätswissenschaften ist offenbar eine notwendige
Idee. Das Problem ist nur, wie diese Idee in gültiger und dann weiter in
endgültiger Weise auszuführen ist. Sie verstehen die angedeutete Scheidung
von „relativ gültig“ und „endgültig“. Die Frage wird ja auch sein müssen,
inwiefern hier wiederum Stufen der Ausbildung einer solchen Seinslehre
unvermeidlich sind, nämlich als Unterstufe eine nur relativ berechtigte vor-
erkenntnistheoretische Seinslehre und dann die höhere, durch Erkennt-
niskritik hindurchgegangene und endgültige Seinslehre. Andererseits aber
stellt Spinozas Metaphysik gerade vermöge ihres vollendeten und extremen
Rationalismus das Problem, inwiefern eben eine rein apriorische Metaphysik
möglich sei, und wenn nicht, inwiefern doch eine rein apriorische Seinslehre
notwendig und für die Ausbildung einer Metaphysik unentbehrlich sei. Die
Metaphysik soll eine Wissenschaft (eine endgültige, somit absolut fundierte)
Wissenschaft von der Wirklichkeit sein, von der faktisch existierenden, von
der dem Erkennenden gegebenen Wirklichkeit. Ist rein a priori eine Wis-
senschaft von individueller realer Existenz möglich? Eine Wissenschaft nach
dem Vorbild also vom Typus der reinen Geometrie? Ist reine Geometrie, ist
irgendeine Wissenschaft ähnlichen Typus befähigt und befugt für irgendein
430 einleitung in die philosophie
freilich, sie fassten Wirken als Tätigsein und fassten Gott als Brennpunkt
aller den innersten Sinn alles Seins und Geschehens ausmachenden Aktivität.
Alle Kausalität war im Grunde Finalität, die ihrerseits zwecktätiges Wirken
Gottes ist. Spinoza aber, und das erregte die leidenschaftliche Opposition,
interpretierte das Verhältnis der absoluten Substanz zu den Geistern und
Körpern und somit zur ganzen gegebenen Welt der endlichen Dinge in einer
Weise, die mit der gesamten antiken und christlichen Tradition in scharfen,
ganz unerhörten Gegensatz trat. Bisher war Gott immer als reales Prinzip
der Vernunft in der Welt gefasst worden; die Rationalität der Welt aber lag
in ihrer zweckmäßigen Vollkommenheit, in ihrer Wohlordnung, Schönheit,
in einer Werthaftigkeit, die auf ein zwecksetzendes Prinzip zurückwies. Das
sagte aber: Zurückwies auf einen absoluten Geist als schöpferisch tätiges
Subjekt oder mindestens als in der Ordnung tätiges Subjekt.
Spinoza aber in seiner radikalen Durchführung der mathematischen Vor-
bildlichkeit musste Gott ein begriffliches Wesen zuschreiben, wie der Geome-
ter dem Raum, ein begriffliches Wesen, in dem die ganze Welt rein deduktibel
beschlossen sei. Die mystische Tendenz, die Dinge in Gott zurückzunehmen,
die wir in dieser Zeit auch sonst, so auch bei Malebranche, wirksam finden,
realisiert sich bei Spinoza in mathematischer Weise. Malebranche lehrte, dass
Gott der Ort aller Geister ist (analog wie wir uns den Raum als Ort aller
Körper denken). Spinoza macht Gott gleichsam zum Raum aller endlichen
Dinge, aber um die Mathematisierung durchführen zu können, lässt er alle
endlichen Wesen analytisch im Begriff Gottes beschlossen sein. Darin liegt,
dass alles, was wir reales Hervorgehen nennen, identifiziert wird mit dem
mathematischen Hervorgehen in der Deduktion. Darin liegt weiter, dass
die ganze Welt mit allem und jedem, mit allem geistigen und körperlichen
Geschehen, ein starrer Mechanismus ist, der nicht die leiseste Möglichkeit
für Selbsttätigkeit und Freiheit offen lässt. Sowenig die Raumgestalten der
Geometrie, die Dreiecke, die Hexaeder usw. irgendwelche Spontaneität ha-
ben, von sich aus etwas tun können, da alles absolut eindeutig determiniert
ist, sowenig die Körper und Geister der Welt. Ihr Sein geht darin auf, ein ma-
thematisches Wesen zu haben, das notwendige Folge des göttlichen Wesens
ist.
Aber auch für Gott selbst fällt alles weg, was wir sonst mit der Idee „Gott“
verknüpfen. Sein Wesen erschöpft sich in gewissen Definitionen, die einen
rein begrifflichen Bestand abgrenzen. Ein starres totes Wesen, das die Quelle
einer starren Begriffswelt ist. Gott ist nicht Geist, nicht Subjekt einer Sponta-
neität, und die endlichen Geister selbst sind erst recht nicht in wahrem Sinne
Geister, sondern Analoga geometrischer Figuren im geometrischen Raum,
434 einleitung in die philosophie
dem Analogon Gottes.1 Damit fällt die ganze Teleologie und die absolute
Wirklichkeit heraus. Alle Rede von einem göttlichen Schaffen, göttlicher
Zwecktätigkeit, von zweckmäßiger Ordnung und Schönheit der Welt, von
einem selbstverantwortlichen Wirken endlicher Subjekte unter Leitung gött-
lich gebilligter Ideale usw., alles verliert in dieser Mathematisierung seinen
Sinn; mathematische Rationalität ist ein starrer Zusammenhang von begriff-
lichen Wesen. Teleologische Rationalität ist ein lebendiger Zusammenhang
von frei tätigen Subjekten oder von realen Leistungen, der aus schöpferi-
schen Spontaneitäten entsprungen ist. So erklärt sich die leidenschaftliche
Bestreitung des Spinoza und der beständige Vorwurf des Atheismus.
Freilich er selbst war nichts weniger als Atheist; in seinem System spricht
sich ein inniger Mystizismus aus, der, widerspruchsvoll genug, die mystische
Einheit Gottes in aller Welt mathematisch zu deuten suchte. Aber bei seiner
Weise, den von der Naturwissenschaft geforderten Mechanismus oder Kau-
salismus auf absolute Prinzipien zurückzuführen, konnte man sich in der
Tat nicht beruhigen. Die tief in den Gemütern verwurzelte Überzeugung,
dass die Welt ein teleologisches Seinsprinzip fordere, dass die Welt einen
teleologischen Sinn hat, dass sie im letzten Grund und trotz aller einzeln
empfundenen Irrationalitäten eine Gotteswelt sei, musste nach neuen Phi-
losophien suchen. Diesen war aber die Aufgabe gestellt, in besserer Weise,
als es Descartes vermocht hatte, und gegen Spinoza teleologische und me-
chanische Weltauffassung zu versöhnen und dabei jeder doch ihr Recht zu
lassen.
Hier lagen also die Haupttriebkräfte für die weitere Entwicklung der ra-
tionalistischen Philosophien, wobei andererseits die erkenntnistheoretischen
Motive eine begleitende und keineswegs unbedeutende Rolle spielten.2 In
dieser Hinsicht ist zu bemerken, dass das Vorherrschen der metaphysi-
schen Interessen einer Versöhnung von Determinismus und Teleologie zwar
die Entwicklung einer rein phänomenologischen Erkenntnistheorie hemmt,
aber andererseits dahin wirkte, der erkenntnistheoretischen Problematik
eine neue und eigenartige Wendung zu geben. Ich meine hier die Wendung
zur sogenannten transzendentalen Methode und zur transzendentalen Philo-
sophie im prägnanten Sinne. Damit ist gegenüber der letzthin bezeichneten
1 Randbemerkung Oder vielmehr: Eines mit dem anderen ist doch unverträglich. Kann denn
ein Geist, ein göttlicher, absolut vernünftiger Geist, in seinen Vernunfttätigkeiten mathematisch
gedacht werden? Hier genauer durchdenken! Den Widerstreit darstellen!
2 Gestrichen Das Letztere zeigte ja gerade das System Spinozas, in dem eine wissenschaftstheo-
retische Vorüberzeugung dem Inhalt der Metaphysik gerade die Gestalt gab, die den Vorwurf
des seelenlosen Mechanismus und Atheismus bedingte.
leibniz 435
Leibniz
Der zentrale Geist für alle diese Entwicklungen ist Leibniz (1646–1716).
14 Jahre nach Spinoza und Locke geboren, 502 nach Descartes. Anfangend
als Rationalist, aber von vornherein bei seiner außerordentlichen histori-
schen Bildung und Anregsamkeit vielfältig motiviert, hat er nicht nur von
der neuen Naturwissenschaft und vom Cartesianismus her Bestimmungen
erfahren, sondern auch aus antiken und mittelalterlichen Philosophien,
von den italienischen Naturphilosophen und von den englischen Platonikern
und sonstigen Philosophen der Renaissance. Charakteristisch ist die absolute
Hochschätzung, mit der er immer wieder von Platon und Aristoteles, selbst
von den Neu-Platonikern spricht, der Ernst, mit dem er die Scholastik gegen
die modischen Einwürfe verteidigt, wie er denn von Thomas und auch von
Duns Scotus erheblich beeinflusst war. Die teleologische Weltanschauung
hat in seinem Gemüt feste Wurzeln gefasst. Von konfessionellen Schranken,
von kirchlichem Dogma ist er, der Mann eifriger Versöhnungsversuche aller
christlichen Kirchen, frei. Andererseits ist er einer der epochemachenden
Begründer der modernen Mathematik, der Schöpfer der Differenzialrech-
nung, der bedeutende Förderer der neuen Physik und unermüdlich darauf
bedacht, in allen Wissenschaften reformatorisch, in noch brachliegenden Er-
kenntnisfeldern als Pionier der Wissenschaft zu wirken, und all das immer im
Geist der neuen strengen Wissenschaften. Mit all dem bekundet er sich als der
ohne Frage größte und universalste wissenschaftliche Genius seit Aristoteles.
Was uns hier interessiert, ist, dass Leibniz, als schöpferischer Repräsen-
tant der neuen Naturwissenschaft selbstverständlich an ihrer Naturauffas-
sung durchaus festhalten will: Also in der Natur herrscht überall eindeutige
Determination alles Geschehens nach strengen, mathematisch zu formulie-
renden Gesetzen. In dieser naturwissenschaftlich betrachteten Natur bleibt
alle Finalität außer Betracht. Aber andererseits steht ihm im Voraus fest, dass
die finale, die teleologische Weltauffassung auch ihr Recht haben muss, ja
1 Randbemerkung Cf. Bl. 460 Dieses Blatt liegt nicht vor, da die Paginierung mit 433
aufhört..
2 Im Manuskript 38 statt 50. – Anm. der Hrsg.
436 einleitung in die philosophie
auch der Occasionalismus und Berkeley) ist: Es gibt nur eine Art verständlichen Seins, das ist
geistiges Sein, und nur eine Art verständlichen Wirkens (echten), das ist geistiges Wirken.
2 Gestrichene Randbemerkung Knüpfen wir hier eine erste Reihe von Betrachtungen an, die
auch außer Stande, die die erfahrene Natur beherrschenden Gesetze, die
in Wahrheit rationale Gesetze sind, a priori zu deduzieren. In Wahrheit
sind die Naturgesetze nichts weiter als sehr entlegene Folgen der zu den
Elementen gehörigen rationalen Axiome. Hätten wir diese, so könnten wir
Physik rational deduzieren.
Nach der prinzipiellen Scheidung zwischen rationalen und empirischen
Wahrheiten fiel diese Auskunft dahin. Aber ganz gab er den Gedanken nicht
Preis. Musste er der Erfahrung schließlich ein irrationales Element auch
zugestehen, so bildete er auch auf dem Boden seiner Metaphysik, nämlich
seiner Monadenlehre eine Theorie der Erfahrungserkenntnis aus, die die
Erfahrung als ein verworrenes Denken interpretierte, also annahm, dass das
sinnliche Bild nur durch die analytische Ungeschiedenheit der verworren-
einheitlichen Auffassung sich als ein völlig irrationales gibt. Wie konnte das
methodische Verfahren der mathematischen Physik, die Mathematisierung,
die doch durchaus mit reinen Denkformen operiert und sich in spontanen
Denkleistungen aufbaut, wie konnte sie aus wirklich irrationalen, denkfrem-
den Stufen eine vernünftige Welt herausarbeiten? Das wissenschaftliche
Denken erfindet doch nicht die objektive, die exakt-physikalische Natur
und die Naturwissenschaft ist doch kein willkürliches Gebilde. Die theore-
tischen Konstruktionen der Physik sind doch durch die Gegebenheiten der
Erfahrung geforderte, also muss in diesen schon Rationalität liegen.1
1 Eingelegtes Blatt Es ist die Art konstruierender Metaphysik, dass sie zwar immer den
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, aber ihre Voranschläge schon für wissenschaftliche
Theorien ausgibt. Freilich war ihr gerade der progressive Weg dadurch verschlossen, dass sie
die transzendentale Subjektivität nicht als den Urgrund für alle metaphysischen Progressionen
erkannte, es nicht sah, dass alle letzten Fragen auf sie zurückführen und darum alle von ihr
ausgehen und in einer rationalen Methode Schritt für Schritt zu den Höhen emporsteigen
müssen. Andererseits fehlt es nicht an dem leidenschaftlichen Bemühen, über Anschläge von
vager Sachferne hinauszukommen und sie in intuitiv geschöpften Einsichten fest zu veran-
kern. So viele und tiefe Einsichten wirklich gewonnen und den Systemen angefügt werden,
es bleiben philosophische Systeme, aber nicht philosophische Wissenschaften; es bleiben im
Ganzen geniale Antizipationen, selbst wo sie der Wahrheit nahekommen. Nie kann in solcher
Methode Philosophie als wirkliche Wissenschaft werden, also ihren eigensten Beruf angemessen
erfüllen. Gestrichen Illustrieren wir die Art konstruktiver Naturinterpretation an Leibniz, dem
größten erfindenden Genius des 17. Jahrhunderts, und zugleich die Art wie erkenntnistheo-
retische Gedanken zu wesentlichen Bestimmungsstücken werden mussten. Ihm zuerst war die
Klarheit über die prinzipielle Scheidung zwischen Vernunfterkenntnis und Tatsachenerkenntnis
aufgegangen, die im Rationalismus vor ihm und am krassesten von Spinoza verhängt worden
war. Sowie die Scheidung da war, musste die Tatsachenerkenntnis und die Bedeutung der
rationalen Erkenntnis für ihr Zustandekommen als wissenschaftliche Tatsachenerkenntnis zum
Problem werden. Denn nur Denken, speziell nur wissenschaftliches führt zur Wahrheit, und
auch empirisch-wissenschaftliches Denken ist Denken.
440 einleitung in die philosophie
über die methodische Form desselben reflektiert und eine eigene Methode
proklamiert, wie das erst viel später die Transzendentalpsychologie getan
hat.1
Das Verfahren transzendental-psychologischer Konstruktion, das uns bei
Leibniz, wenn auch noch keimhaft entgegentritt, hängt sichtlich zusammen
mit der konstruktiven Methode, die das Charakteristikum aller dogmatisti-
schen Metaphysik ist. Der dogmatistische Metaphysiker hat seine festen Pole,
denen gemäß er sein philosophisches Schifflein steuert. Er hat vor seinen
philosophischen Theorien gewisse leitende Überzeugungen; sie sind ihm
Endziele, in welchen er die allererst zu gestaltenden Theorien terminieren
lassen will. Natürlich wird es sich dabei im Allgemeinen um Überzeugungen
handeln, die in ihm von höchsten Gemütswertungen getragen und verklärt
sind; sie ziehen also aus der Gemütssphäre ihre bestimmende Kraft. Der
theoretische Verstand soll nachkommen und theoretisch begründen, was im
Voraus in einem gläubigen Vertrauen angenommen worden ist. Der Seins-
glaube folgt hier den im Gemüt vollzogenen Stellungnahmen nach, so dass
der Erkenntniswille im Voraus gebunden ist. Eine Welt, die keine Gotteswelt
wäre, die eines teleologischen Sinnes entbehrte u. dgl., wäre unerträglich, sie
kann also nicht sein.
Doch braucht es sich nicht immer um ein gläubiges Vertrauen in der religi-
ösen Sphäre zu handeln, wir finden ja auch Analoges in der Verstandessphäre.
1 Gestrichen Leibniz ist eben der echte „Metaphysiker“, das Wort in der eigentümlichen
Färbung verstanden, die es im letzten Jahrhundert zumindest angenommen hat: Die drückt
eine tadelnde Abwertung aus. Der Metaphysiker hat seine festen Pole, denen gemäß er sein
philosophisches Schifflein steuert. Er hat im Voraus seine leitenden Überzeugungen, Endziele
der philosophischen Theorien, die er erreichen will, in denen die allererst zu gestaltenden
Theorien terminieren müssen. Er hat also Vorurteile, zielgebende Vorurteile. Sie werden im
Allgemeinen von höchsten Gemütswertungen getragen und verklärt sein; und vielleicht ist das
selbst ein Hauptstück der Teleologie der Welt, dass das, was das Gemüt im gläubigen Vertrauen
ergriffen und sich in evidenten Wertungen als höchsten Wert zugeeignet hat, mindestens einem
wesentlichen und dann eigentlich Wert begründenden Kern nach sich auch vor der kühlen
Vernunft als berechtigt herausstellen muss. Ich spreche von Glauben. Sie merken, dass das
vor allem auf die religiösen Grundüberzeugungen sich bezieht und auf die mit ihr einigen
teleologischen Weltanschauungen. Doch wäre dies eine Beschränkung. Wer durch skeptische
Argumentationen oder durch erkenntnistheoretische Reflexionen dessen inne wird, dass die
Naturwissenschaft mit all ihrer zwingenden Rationalität unter gewissen notwendigen Gesichts-
punkten sich als etwas völlig Unklares darstellt, mag doch in der Weise des „gläubigen
Vertrauens“ fest zu ihrer Rationalität halten und sie als festen Pol hinnehmen, nach dem
er sich eine Erkenntnistheorie konstruiert: also nicht vorurteilslos und rein theoretisch die
Erkenntnis jeder Form und Art studierend und aus ihr Theorien schöpfend, sondern eben
gegen ein Vorurteil hin konstruierend.
leibniz 443
1 Randbemerkung Man muss jederzeit bereit sein, seine liebsten Überzeugungen zu opfern.
444 einleitung in die philosophie
dann muss eben die Vernunft hinterher dieses Recht sowie seine Grenzen
ursprünglich ausweisend bestimmen, wenn sie philosophierende Vernunft
sein will. Der religiöse Glaube hat gewiss seinen religiösen Wert. Aber wer
sich von ihm theoretische Prämissen vorgeben lässt, der treibt Theologie und
nicht Philosophie. Denn das ist die Art der Theologie, dass sie das Dogma
als ein festes vor sich hat und dass sie nun Theorien konstruktiv ersinnt, um
das fest Vorgegebene nun auch theoretisch zu begründen. Nicht wesentlich
anders verfahren dogmatistische Metaphysiker, auch wenn sie sich nicht von
einem konfessionellen Dogma leiten lassen; die Verstandeswege haben ein
geheimes Vorurteil.
Echte Philosophie aber, Philosophie als strenge Wissenschaft und als Wis-
senschaft, die der Idee absoluter Erkenntnis genugtun will, muss prinzipiell
all solcher Metaphysik den Krieg erklären. Sie kann nur Philosophie von
unten, von absolut evidenten Gründen aus sein und gemäß Methoden fort-
schreiten, die in allen Schritten absolut einsichtig sind. Nie und nimmer darf
sie von oben her konstruieren, sie darf keine festen Pole haben, sie muss alle
noch so hoch zu bewertenden Vormeinungen ausschalten. Sie verlangt nicht,
dass man das gläubige Vertrauen auf eine von Wertideen aus realisierende
Vernunft in der Welt wegwerfe, aber mitreden darf es nicht in Form von
leitenden Prämissen.
Doch zurück zu Leibniz. Leibniz strebt sicherlich danach, auch in der
Metaphysik sich als wissenschaftlicher Forscher zu bewähren. Aber so viele
wertvolle Einzelerkenntnisse er gewonnen hat, im Ganzen ist er dogmatisti-
scher Metaphysiker. Man merkt es überall, wie er seine Vorüberzeugungen
hat,1 seine teleologische Weltanschauung, seine Gottesüberzeugung, sein
Vertrauen auf die objektive Geltung der mathematischen Naturwissenschaft,
und wie er überall sich die Welt und das Bewusstsein so konstruiert, dass er
mit diesen Vorüberzeugungen durchkommen kann. Eine solche Konstruk-
tion ist seine berühmte Monadenlehre. Sie ist, wie das bei einem großen
echten wissenschaftlichen Genius nicht anders zu erwarten ist, keineswegs
eine leere Konstruktion; denn unermüdlich sucht Leibniz nach Grundgege-
benheiten als wissenschaftlichen Ankergründen. Und so zeichnen seine Kon-
struktionen ein Weltbild, das einer künftigen wissenschaftlichen Philosophie
die vermutlichen Wege vordeutet. Leibniz konstruiert sich die metaphysische
Wirklichkeit als eine spiritualistische, eine Generation vor Berkeley macht
er, der Rationalist, den Schritt, alles absolute Sein als geistiges Sein zu deuten.
Wie kommt er dazu?
1 Randbemerkung Er spricht sie ja auch in seinen Erörterungen immer wieder direkt aus.
leibniz 445
Fragen wir „Was kann die Welt in metaphysischer Wahrheit sein?“, so ist
uns die Welt schon durch Erfahrung und Erfahrungswissenschaft gegeben.
Religion und Dogma haben zu ihr Stellung genommen und sie in Bezug
zu Gott gesetzt. Vermeintlich wissen wir, was die Welt ist: Eine Welt von
Körpern und Geistern, wie die Religion sagt: von Gott geschaffen und erhal-
ten. Die mathematische Naturwissenschaft werden wir dabei von vornherein
nicht bekritteln wollen; sie hat ihr sicheres Recht; es muss also auch richtig
sein, dass die materiellen Dinge sind und in ihrer Sphäre die Naturgesetzlich-
keit, ein strenger Mechanismus, herrscht. In der materiellen Natur, in der
in der neuen Naturwissenschaft exakt mathematisch erkannten Natur, treten
auch Leiber auf und, mit diesen vereint, geistige Subjekte, mit den Leibern,
wie es scheint, durch psychophysische Kausalität verbunden. Hat Descartes
recht, wenn er diese Auffassung philosophisch unter Übernahme der ma-
thematischen Naturwissenschaft in der bekannten Deutung sanktioniert, die
Welt der endlichen Substanzen auf zwei gleichberechtigte Grundarten von
Realitäten, mathematisierte Körper und Geister, zurückführt, wobei alle
diese endlichen Substanzen unter Dingkausalität stehen sollen und bloße
Träger mathematischer Bestimmungen sein sollen? Aber Recht soll nun
auch die teleologische Weltanschauung, die der Religion, haben, mit der
der Mechanismus oder Kausalismus der naturwissenschaftlichen Auffassung
unverträglich zu sein scheint.
Überlegen wir zunächst: Kann die dualistische Auffassung der beiden
gleichberechtigten Substanzen gültig sein? Offenbar stehen sie einander gar
nicht gleich, wie das schon bei Descartes eigentlich hervorgetreten war.
Nämlich nicht gleich hinsichtlich ihrer Erkenntnisweise: Der Erkennende
hat nur von sich unmittelbare Gegebenheit und zweifellose Erkenntnis, nicht
aber von der materiellen Welt, die in seinen Erfahrungen erfahrene, aber in
ihnen nicht reell enthaltene und gegebene Welt ist. Was kann aber eine
Welt sein, die sich in mir, in meinem Geist, dem einzigen Sein, von dem ich
absolut weiß, bekundet? Kann sie eine Welt ungeistiger Substanzen, kann
sie prinzipiell von einer mir, als einem Geiste, absolut fremden Seinsart sein?
Von vornherein muss man sagen: Bin ich für mich das einzige absolut
Gegebene, so kann ich nur aus mir selbst die Grundbegriffe rationaler
Erkenntnis schöpfen; alles was ich mir vernünftig denke und aus absoluten
Gründen, muss ich nach seinen Elementen, Grundkategorien aus mir selbst
entnommen haben, also auch wenn ich Substanzen außer mir annehme und
dabei den Substanzbegriff als rationalen Grundbegriff verwende! Ich habe
ihn aus mir selbst geschöpft, und nur daraus gewinnt er seinen möglichen
Sinn. Welchen Inhalt muss der Substanzbegriff als aus meinem eigenen Sein
446 einleitung in die philosophie
abgeschlossen; alles, was in ihnen ist, ist ihre Bewusstseinsaktion, die von
ihrem Sein untrennbar ist; und Bewusstsein geht in einer festen Regelung
des Forttendierens in neues Bewusstsein über, ein absolut abgeschlossener
Zusammenhang. Und doch fehlt ihnen nicht jede intersubjektive Einheit,
wenn auch reale Verbindung fehlt: Die Monade stellt vor. Vorstellen als
ein Bewusstsein kann etwas vorstellen, was es ist nicht selbst ist. Vorstellend
beziehen sich die Monaden aufeinander und alle aufeinander: In jedem dieser
Einheitspunkte spiegelt sich gleichsam die ganze absolute Wirklichkeit in
Form von Repräsentationen.
Aber wie steht es nun mit der materiellen Welt? Die Naturwissenschaft
setzt doch die Materie aufgrund der Erfahrung und bestimmt sie in objektiver
Wahrheit durch rationale Begriffe. Materie existiert also und existiert mit
den Bestimmungen, die ihr die mathematische Naturwissenschaft zuerteilt.
Wie verträgt sich das mit der Lehre, dass alles Sein monadisches Sein ist?
Leibniz würde darauf antworten: Die Geltung, die wir der gemeinen Er-
fahrung faktisch zuschreiben, und in höherer Stufe die Geltung der natur-
wissenschaftlich bestimmten Materie, jede hat auf ihrer Stufe die Wahrheit,
aber das ist nicht die endgültige, die metaphysische Wahrheit. Die wahr-
genommenen Dinge und Vorgänge, der Wahrnehmungsraum, die Zeit, die
erfahrenen Kausalitäten, all das sind bloße Phänomene, aber phaenomena
bene fundata. Als das stellt sie schon die wissenschaftliche Physik hin, sie
fasst die sinnlichen Erscheinungen der Wahrnehmungen in ihrem geordneten
Wahrnehmungsverlauf als Existenzzeichen auf für die wahren physischen
Dinge und letztlich also für die Atome, die aber, genau besehen, ihr nichts
weiter sind und sein können als reale Einheitspunkte, die als Träger von
Kräften fungieren. Zu den Kräften gehören aber Gesetze, deren Kenntnis
es ermögliche, den Verlauf des realen Geschehens zu rekonstruieren, denen
aber auch Regeln der immanenten Erscheinungen und ihrer empirischen
Zusammenhänge entsprechen.
Was besagt das nun aber: Kraftpunkt und Kräfte? Da die einzig wahre
Vorstellung von Kraft uns auf Tätigkeit und damit auf Subjektivität, auf
monadisches Sein zurückführt, so löst sich alle Schwierigkeit, wenn wir sagen:
Die unsinnlichen Atome, die der Physiker mit Kräften, mit zugehörigen
mathematischen Kraftgesetzen ausstattet, sind nichts anders als Monaden
und wir selbst, die naturwissenschaftlich Erfahrenden und Erkennenden,
sind auch Monaden. Wir alle haben eine gemeinsame sinnliche Welt mit
einem gemeinsamen Raum, einer gemeinsamen Dinglichkeit usw. Das heißt,
in uns allen laufen in zusammenstimmender Weise sinnliche Phänomene
ab und nach zusammenstimmenden Reglungen, des Näheren aber so, dass
448 einleitung in die philosophie
jeder rational Erkennende aus dem Gehalt und Verlauf der Phänomene
dieselbe rationale Physik schöpfen kann, dass er in gleicher Weise seinem
Weltphänomen eine und dieselbe Atommannigfaltigkeit unterlegen kann
und muss. Metaphysisch besagt das aber: Es besteht eine gewisse Mannigfal-
tigkeit von monadischen Punkten mit einem geregelten Lauf von sinnlichen
Phänomenen: die wahre Welt im letzten Sinne.
Diese spiritualistische Interpretation der Welt ermögliche nun die er-
sehnte teleologische Weltanschauung. Was ist der Grund für die faktische
Aufeinanderbezogenheit der Monaden, für diesen wunderbaren Accord, ver-
möge dessen alle in solcher Weise mit Phänomenen verworrener Sinnlichkeit
ausgestattet sind, dass sie sich als mit phänomenalen Leibern ausgestattete
Menschen auffassen und sich in eine und dieselbe sinnlich anschauliche Welt
hineinversetzt finden können und weiter dass in allen die phänomenalen
Abläufe im Sinne derselben Naturwissenschaft theoretisiert werden können?
Diese Harmonie ist doch keine Denknotwendigkeit, sie ist eine Tatsache und
muss als ein Fall unter unendlich vielen möglichen Fällen, ihren realen Grund
haben. Das ist natürlich Gott.1 Es ist eine gottgewollte, von Gott gestiftete
Harmonie. Schon darin haben wir ein Stück universeller Teleologie und
dann weiter, wenn wir uns diese Erfahrungswelt ansehen und sie, je weiter
wir gehen, mit umso größerer Schönheit und Zweckmäßigkeit ausgestattet
finden usw. Aus der empirisch zu konstatierenden Teleologie ist der Schluss
auf ein teleologisches Prinzip im Sinne des teleologischen Gottesbeweis
zu machen und nach Leibniz in der Tat auf ein unendlich vollkommenes
Wesen, das den Seinsgrund für jedes einzelne monadische Sein und für die
vollkommenste Harmonie des Ganzen abgibt. Freilich endet das in Mystik,
sofern, was das Hervorgehen der Monaden aus Gott, der zentralen Monade,
anlangt, Emanation in Aktion tritt.
An diesem bedeutenden und relativ einfachen Beispiel einer konstrukti-
ven Metaphysik sehen Sie das Eigentümliche der konstruktiven Methode,
die immer regressiv ist von vorgegebenen Überzeugungen zu den Bedingun-
gen ihrer Möglichkeit. Natürlich verfährt auch jeder streng-wissenschaftliche
Forscher gelegentlich konstruktiv: Nämlich in seinem erfindenden Gedan-
kengang lässt er sich von Vorausahnungen leiten, deren er vielleicht im
Voraus stark zuneigt, und regressiv sucht er sich nun im Voraus einen mögli-
chen Weg zu gestalten, der über schon feststehende Wahrheiten als Etappe
1 Randbemerkung Der Schluss auf Gott, auf einen geistigen realen Grund der Harmonie, ist
zu dem vermuteten Resultat führen dürfte. Aber mit all dem ist für ihn nur
ein Anschlag gewonnen, das Bild einer vielleicht auszuführenden Theorie,
während die wirkliche Arbeit progressiv ist, in jedem Schritt von erwiesenen
Daten zu neu erwiesenen, und das Ende ist in der Regel eine wesentlich
anders lautende, wenn auch vielleicht dem Typus nach ähnliche Theorie
und andere Ergebnisse, die den leitenden Ahnungen keineswegs ganz, wenn
überhaupt, entsprechen werden.
Es ist die Art dogmatistischer Philosophie nach Art der Leibniz’schen,
dass sie zwar den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, aber ihre Vor-
anschläge für erwiesene Theorien ausgibt. In der Philosophie darf man nicht
laxer sein wie in anderen Wissenschaften, im Gegenteil: Sie wird ihrem
eigenen Sinn untreu, wenn sie irgend die äußerste und peinlichste Strenge
vermissen lässt. Sie soll ja die Wissenschaft aus den letzten Gründen und
von der endgültigen Wahrheit sein. Der Grund liegt aber doch darin, dass
man keine Klarheit über den Boden der ausführenden Arbeit und über
die auf ihm vorgeschriebene Methode gewinnen kann für eine progressive
Untersuchung und für diese ausführende Arbeit selbst.
Wir haben jetzt in Anknüpfung an Leibniz von den Anfängen einer
apriorischen Ontologie zu sprechen, worüber sich freilich die gewöhnlichen
historischen Darstellungen der Leibniz’schen Philosophie ausschweigen, ob-
schon in dieser Richtung wenigstens m. E. eines der bleibendsten Verdienste
Leibniz’ für die künftige wissenschaftliche Philosophie liegt. Wir sind hin-
reichend vorbereitet, um den sachlichen Fortschritt, den er vollzieht, nicht
mühsam aus seinen Anfängen herauskritisieren zu müssen. Es wird hier
vorteilhafter sein, ein Stück sachlicher Darstellung zu geben und dann das
Aufgewiesene auf Leibniz zurückzubeziehen. Ich erinnere zunächst an die
aristotelische Idee der Ersten Philosophie als Wissenschaft vom Seienden
in Allgemeinheit. Ihr Thema ist, genauer gesprochen, aber nur das Seiende
im Sinne der realen Wirklichkeit und die auf sie bezogenen allgemeinen
Wahrheiten.
Ziehen wir die fundamentale Scheidung Leibnizens heran zwischen ratio-
nalen Wahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Die einen sind als unbedingte
Allgemeinheiten und Notwendigkeiten anzusehen, und es liegt in ihrem Sinn,
dass sie nicht die leiseste Behauptung über ein wirkliches Dasein machen;
die anderen, umgekehrt, sprechen von wirklichem Dasein, das nur durch
Erfahrung gegeben werden, nur auf ihrem Grund erkannt werden kann. Wir
nennen die einen auch „apriorische Wahrheiten“, eben weil sie ohne Re-
kurs auf Erfahrung zur Erkenntnis kommen, die anderen „aposteriorische“.
Im Übrigen halten wir alle die schiefen Ursprungslehren wie die von der
450 einleitung in die philosophie
Eingeborenheit der ersteren von der Definition fern. Dies vorausgesetzt ist es
verständlich, wenn wir sagen, dass in der Ersten Philosophie des Aristoteles
keine apriorische Seinslehre vorliegt und dass er überhaupt nicht daran
denkt, die Wahrheiten, die sich auf das Reale überhaupt in umfassendster
Allgemeinheit beziehen, scharf zu sondern und zwei Disziplinen zu bilden:
eine a priori und eine a posteriori. Machen wir uns zunächst klar, dass es in
der Tat mancherlei apriorische Wahrheiten gibt, die für Seiendes überhaupt,
für Gegenstände als solche in unbedingter Allgemeinheit gelten, und dass zu
diesen apriorischen Allgemeinheiten Begriffe gehören, die als reine Begriffe
uns an keine Sphäre empirischer Tatsachen binden. Weiter denkt Aristoteles
noch nicht daran, der Metaphysik als der Lehre vom Realen überhaupt
gegenüberzustellen eine Wissenschaft vom Seienden überhaupt. Denn nicht
alles Seiende ist ein Reales.1
Halten wir uns zunächst irgendeinen empirischen Begriff vor Augen, d. i.
ein empirisches Prädikat, durch das wir einen Gegenstand überhaupt be-
stimmt denken, etwa den Begriff eines Europäers. Sofort denken wir dabei,
das liegt offenbar in der Intention des Begriffs, an den Weltteil Europa. Der
Begriff verliert seinen Sinn bzw. die Möglichkeit, prädikativ zu fungieren,
wenn wir den Boden der gegebenen Welt, der Welt der Erfahrung preisgeben.
Genau besehen, gilt das für die meisten Begriffe des gewöhnlichen Lebens,
auch für die Begriffe der Zoologie und Botanik u. dgl. „Löwe“, das ist ein
Index für Bestimmungen, die teils aus der Erfahrung gewisser Tiere schon
gewonnen sind, teils noch ergänzt werden würden, wenn wir immer in der
Erfahrung dem nachgehen würden, was solchen Tieren auf der Erde allge-
mein zukommt. Demgegenüber gibt es „reine“, nämlich von aller Beziehung
auf Feststellungen faktischer Erfahrung reine Begriffe. Nehmen wir gleich
Begriffe von einer umfassendsten Anwendbarkeit, wir nennen sie formal-
allgemeine, so allgemein, dass jeder erdenkliche Gegenstand überhaupt ih-
nen untersteht. Da haben wir gleich eben diesen Begriff „Gegenstand“, der
nicht etwa besagen soll räumlich-zeitliches Ding, nicht Ding der Erde, nicht
Ding im Weltraum, auf der Sonne usw. überhaupt nicht Ding, nicht Reales,
sondern Gegenstand überhaupt, etwas überhaupt. Und sogleich haben wir
da eine ganze Kette solcher Begriffe: Beschaffenheit überhaupt, Beziehung
1 Gestrichen Machen wir uns das klar, denn es ist, die Geschichte der Wissenschaften und
die der Philosophie haben es gelehrt, von ungeheuer prinzipieller Bedeutung, Apriori und
Aposteriori, rein rationale und empirische Erkenntnis scharf zu sondern und in eigenen Diszi-
plinen systematisch zu erforschen, was a priori für Gegenstände überhaupt gilt, also sofern sie
ausschließlich durch reine Begriffe bestimmt gedacht werden.
leibniz 451
ist der vermeinte Sachverhalt als solcher und genau in der Weise, mit den
begrifflichen Bestimmungen, in den Formen, in der er eben da vermeinter ist.
Das Urteilen ist ein fließendes Phänomen und ein flüchtig Vorübergehendes,
es ist immer wieder ein neues, wenn ich oder jemand sonst so urteilt. Aber das
identisch Gemeinte „2 × 2 = 4“, was wir schlechthin den „Satz“ nennen, ist
ein und dasselbe. Und Satz in diesem gewöhnlichen Sinne ist nicht Wortlaut
und nicht Urteilen, sondern Gemeintes, eine ideal-identische Einheit, die
Bedeutung, der identische Sinn. (Ich habe dafür den Terminus „Noema“
eingeführt.)
Das gibt nun zu zweierlei Forschungen Anlass. 1) Einmal kann man den
Blick auf den Satz (oder, wie man vieldeutig auch zu sagen pflegt, auf das
Urteil) gerichtet haben, auf das Noema. 2) Das andere Mal auf das Urteils-
bewusstsein, das Urteilen, auf die Urteilsnoesis. Überlegen wir das Erstere:
In der urteilenden Einsicht lebend, sie vollziehend, erfasst man an dem
Satz die Eigentümlichkeit der Wahrheit, die also mit in diese Blickrichtung
gehört. Im Versuch, einen Widerspruch zu vollziehen, erfasst man einsichtig
am widersprechenden Sinn oder Urteilsinhalt die Falschheit, die also wieder
hierher gehört. Es ist genau die Einstellung, die wir arithmetisch haben.
Zählend und rechnend vollziehen wir arithmetische Akte, aber der Blick ist
gerichtet auf die damit bewusst werdenden Zahlen und ihre Charaktere.1
In dieser Blickstellung forschend, können wir entdecken, dass zu diesen
idealen Einheiten, die wir da unter dem Titel „Sinn“ oder „Bedeutung“
erfassen, gewisse mögliche Formen gehören, dass diese notwendig unter
einem Formensystem stehen, speziell, dass Bedeutungen sich abschließen
zu selbständigen Sätzen mannigfaltiger und geregelter Formen; dass dann
weiter alle Sätze unter dem Gegensatz wahr und falsch stehen und dass
dazu dann weitere Gesetze gehören, welche Bedingungen der Möglichkeit
der Wahrheit und Falschheit aussprechen, und zwar Bedingungen, die an
der bloßen Form hängen. Das ist die Sphäre der eigentlich formalen Logik,
die Sphäre, die Aristoteles de facto in der von ihm so genannten Analytik
behandelt, aber keineswegs selbst richtig interpretiert hat.
Es ist von einer nicht genug hoch zu schätzenden Bedeutung für die
philosophische Einsicht in der Stufenfolge der Wissenschaften, sich dessen
zu vergewissern, dass Urteilsakt und Urteilsbedeutung, Noesis und Noema
nicht vermengt werden und erkannt wird, dass das Noema das Feld einer
1 Randbemerkung Wir sprechen von der doppelten Forschungsrichtung beim Denken, Be-
eigenen formalen Wissenschaft ist, die es gar nicht mit dem Denken, mit dem
Urteilen und Begreifen, sondern mit Urteilsbedeutungen und Begriffen zu
tun hat. An sich sind diese Sachen leicht klarzumachen. Am geurteilten Was,
am Satz selbst, erfassen wir Formen und erkennen, dass a priori jeder Satz
eine Form hat, die in reiner Allgemeinheit herauszustellen ist: An mehreren
Sätzen gleicher Form erfassen wir sogleich die allgemeine und reine Form; es
ist gleich, ob es richtige oder falsche Sätze sind. Stellen wir etwa nebeneinan-
der „alle Menschen sind sterblich“, „alle Deutschen sind Barbaren“, „alle
Engländer sind Engel“ u. dgl., es springt da der formale Typus hervor, den
wir in den Worten aussprechen, wie das schon Aristoteles getan hat, „alle A
sind B“.
Ebenso verstehen Sie die Formtypen heraus aus den Bezeichnungen
„einige A sind B“, „dieses A ist B“. Ebenso den Unterschied des Affir-
mativen und Negativen, „ein A ist B“, „ein A ist nicht B“ usw. Sie erfassen
da zugleich den Gegensatz von Form und Materie in formal-logischem Sinne.
Das A ist Zeichen für eine beliebige „Materie“, das heißt, in jedem wirklich
vollständigen Satz drückt das A ein Sinnesmoment aus, das wechselt von
Satz zu Satz, aber so, dass die logische Formung gleich bleiben kann, die
des allgemeinen Satzes, des partikulären Satzes, des singulären etc. Wir
sehen an diesen Beispielen zugleich, dass die Formen so rein herausgestellt
sein können, dass mit ihnen eine Allgemeinheit erwächst, die wieder auf
jede erdenkliche Gegenstandssphäre Beziehung annehmen kann oder, was
dasselbe, in jeder möglichen Wissenschaft vorkommen kann. Wissen ge-
winnen wir in Form von Urteilen, logisch gesprochen, von Aussagesätzen.
Im Urteilen beziehen wir uns auf beurteilte Gegenstände, aber notwendig
geschieht das so, dass wir im Urteilen einen Satz bewusst haben, der Satz über
diesen Gegenstand ist. Vermittels der Bedeutung ist der Gegenstand Urteils-
gegenstand. Ob wir nun Physik treiben oder Chemie oder Theologie usw.,
überall können „allgemeine“ oder „besondere“ Urteile auftreten, überall
müssen Urteile auftreten, die dem reinen Formensystem möglicher Urteile
oder Sätze zugehören. Das „alle“, das „einige“, das „ist“, das „nicht“, das
„wenn“ und das „so“, das „entweder“ und „oder“, all diese Formworte ent-
halten nichts, was von vornherein uns binde an die materielle Natur, an den
Geist, an Gott oder Engel usw. Aus diesen rein-logischen Formenelementen
baut sich aber jede Satzform auf. Anders ausgedrückt: So wie „Gegenstand“
ein formal-apriorischer Begriff ist, genau so ist nun in korrelativem Sinne
der Begriff „Satz“ ein formal-apriorischer Begriff, und wieder ist das ganze
System ideal-möglicher Satzformen, Formen die zur formalen Idee „Satz“
als solcher gehören, formal-apriori.
456 einleitung in die philosophie
Nun gehört aber – das führt erst in die logische Normenlehre – zu den
Satzformen eine ideale Gesetzmäßigkeit, sowie wir sie unter dem Gesichts-
punkt der Wahrheit und Falschheit betrachten. Und ebenso unter parallelen
Gesichtspunkten der Möglichkeit und Notwendigkeit, der Zweifelhaftigkeit
usw. Halten wir uns an den Hauptgesichtspunkt der Wahrheit, so zeigt es sich,
dass nicht jede Satzform, also auch nicht jede beliebige aus Satzelementen
und ganzen Sätzen als Elementen gebildete komplexe Form, Form eines
wahren Satzes sein kann. Ein Widerspruch, zum Beispiel, bezeichnet eine
Form, aber eine Form, die kein wahrer Satz haben kann. Hierher gehört die
ganze Schlusslehre, genauer die Lehre von den rein logischen Verhältnissen
der Folge. Traditionell spricht man hier von deduktiven Schlüssen oder Syl-
logismen. Aus Sätzen können neue Sätze folgen, und der Zusammenhang
der Folge aus Prämissensätzen als logischen Gründen ist selbst eine der
hierhergehörigen Formen. Es gibt aber Gesetze, welche Bedingungen der
Möglichkeit der Wahrheit der schließenden Zusammenhänge und damit der
möglichen Wahrheit der Schlusssätze, wenn die Wahrheit der Prämissen
vorausgesetzt ist, ausdrücken. In forma zum Beispiel ist es evident, dass
jeder Schluss der Form: „wenn alle A B sind, und alle B C, so sind alle
A C“ richtig ist, andererseits der Schluss gesetzmäßig falsch ist „wenn alle
A B, und alle B C, so sind nicht alle A C“. Es ist ein falscher Schluss aus
zwei partikulären Prämissen einen partikulären Schlusssatz zu ziehen
usw. Aristoteles war es, der zuerst einige hauptsächliche Gruppen zusam-
mengehöriger Satzformen wie bejahende und verneinende, wie allgemeine,
besondere und einzelne herausgestellt und systematisch durchüberlegt hat,
welche Schlussformen, rein formal betrachtet, gesetzmäßig richtig sind und
welche nicht. Mit anderen Worten, er hat gewisse systematische Gruppen
von Wahrheits- und Falschheitsgesetzen rein formaler Art, bezogen auf die
reinen Satzformen, herausgestellt.
Zweierlei haben wir dabei gelernt: 1) Einerseits, dass eine rein auf die
idealen Urteilsinhalte, Urteilsnoemata, bezogene Forschung möglich ist, und
2) dass diese Forschung gerichtet sein kann auf die reinen Formen möglicher
Urteilsnoemata und die Gesetze der Wahrheit und Falschheit, sofern diese
durch die reine Form vorgezeichnet ist.1
1 Gestrichen Fügen wir nun noch einen weiteren Punkt hinzu: Es ist klar, dass diese formale
Disziplin ohne weiteres auch als eine solche aufgefasst werden kann, die sich auf Gegenstände
überhaupt in formaler Allgemeinheit bezieht, also als formal-ontologische, die auf alle mög-
lichen Gegenstandssphären überhaupt Beziehung hat. Offenbar hat jeder Bedeutungssatz der
leibniz 457
Wir fügen nun ein Wichtiges hinzu. Wir sprachen von formalen und
apriorischen Erkenntnissen, die sich auf Gegenstände beziehen, für Ge-
genstände in formaler Allgemeinheit Gesetze herausstellen, und in diesem
Zusammenhang kamen wir auf die Idee unserer formalen Disziplin von
den Urteilsbedeutungen, den Sätzen. Dass sie in der Tat in diesen Zusam-
menhang gehört, ist klar. Verstehen wir unter „Ontologie“ eine apriori-
sche Wissenschaft von Gegenständen irgendwelchen Umfangs und unter
„formaler Ontologie“ eine solche, welche die weiteste Weite der Gegen-
ständlichkeit umspannt, also all das erforscht, was zu Gegenständen als
irgendetwas gehört, die dabei ausschließlich durch formal-apriorische Be-
griffe bestimmt gedacht sind, dann ist die formale Logik, in dem von uns
bestimmten noematischen Sinne, in der Tat eine Disziplin der formalen
Ontologie. Die logischen Noemata sind ja Denkbedeutungen, durch die
Gegenstände überhaupt und in der Tat in formaler Allgemeinheit gedacht
sind. Ein Gegenstand muss notwendig im Denken mit irgendeiner Bedeutung
gesetzt sein, und derselbe Gegenstand kann als sehr verschieden bedeuteter,
mit verschiedenem Sinn ausgestatteter Urteilsgegenstand sein: wie gleich-
seitiges Dreieck und gleichwinkliges Dreieck. Es ist nun klar, dass Gesetze
für Formen von Bedeutungen hinsichtlich ihrer Wahrheit und Falschheit
zugleich den Wert von Gesetzen für Gegenstände, sofern sie in solchen
Formen bedeutet sind, besitzen müssen. Um es an einem primitiven Beispiel
zu zeigen: Spreche ich für kontradiktorische Sätze der reinen Formen „A
ist B“, „A ist nicht B“, das Gesetz aus „Je einer von diesem Paar ist wahr
und einer falsch“, so spreche ich freilich über Sätze, nicht über Gegenstände
überhaupt. Denn nicht alle Gegenstände sind Sätze. Aber es ist klar, dass eine
äquivalente Umwandlung das Gegenstandsgesetz gibt: Jedem Gegenstand
A überhaupt kommt von einem Paar kontradiktorischer Prädikate B und
nicht B eines zu und das andere nicht zu. Es wäre offenbar verkehrt, die
Logik der Sätze und aller ähnlichen Bedeutungen und die Wissenschaft
von den Gegenständen überhaupt, die formale Ontologie, trennen zu wol-
len.
Besprechen wir jetzt die korrelative noetische Forschungsrichtung, also
die auf das Urteilsbewusstsein. Seinem Wesen nach ist es Bewusstsein von
Logik zugleich gegenständlichen Wert: Es ist gleichwertig, zum Beispiel zu sagen von zwei
Sätzen, kontradiktorischen kategorischen Sätzen, ist einer wahr und einer falsch, und zu sagen:
Jedem Gegentand kommt von einem Paar kontradiktorischer Prädikate eines zu und das andere
nicht.
458 einleitung in die philosophie
Etwas, es hat seinen Sinnesgehalt und bezieht sich durch ihn auf Gegen-
ständlichkeit. Lostrennen lässt sich das vom Urteilsbewusstsein nicht.1 Was
das Urteilen, in seinen Aktgliederungen sich so und so aufbauend, meint,
das bestimmt immerfort mit sein eigenes Wesen. Wir können also das Urtei-
len und das Denken überhaupt in all seinen Gestaltungen und Leistungen
nicht studieren ohne immerfort mit die Beziehung auf sein Noema mit im
Auge zu haben. Studieren wir das Urteilen als seelisches Erlebnis, als Akt
des menschlichen oder tierischen Subjekts, erfahrungswissenschaftlich oder
eidetisch, so treiben wir Psychologie des Denkens (empirisch und rational).
Wir können aber das Urteilen als das reine cogito studieren und nach seinem
rein apriorischen Wesen fragen, was in diesem an möglichen Gestaltungen
liegt und wie es sich diesen gemäß a priori auf Gegenstände mittels ihm
zugehöriger Noemata bezieht. Ich brauche nicht zu sagen, dass wir damit
in der Erkenntnisphänomenologie stehen und der Erkenntnistheorie. Sie
sehen zugleich, dass die formale Logik, die Wissenschaft von den λγοι im
Sinne der Urteilsbedeutungen, rein objektiv und ohne Rücksicht auf Er-
kenntnistheorie behandelt werden kann, genauso wie die Arithmetik ohne
phänomenologisches und erkenntnistheoretisches Studium des arithmeti-
schen Bewusstseins. Andererseits sehen Sie aber, dass die Denkphänome-
nologie wesentlich mitbezogen sein muss auf die formale Logik und auf
die formalen Denkgehalte jeder Art: Jede logische Form und jedes logisch-
noematische Gesetz ist ein Index für mannigfaltige mögliche Denkerlebnisse,
deren noematischer Gehalt von dieser Form ist und gibt also einen Leitfaden
für phänomenologische Untersuchungen.
Wir verstehen nun die herrschenden Unklarheiten über die Begrenzung
des Begriffs „Logik“. Dem Hauptgehalt nach war die traditionelle Logik
seit Aristoteles formale Logik gewesen, Wissenschaft von den Satzformen,
den zugehörigen Begriffsformen, den Schlussformen usw.: noematische Wis-
senschaft. Statt aber diese Wissenschaft so rein herauszustellen wie die reine
Arithmetik, wurden die formal-logischen Lehren immer wieder vermengt
mit noetischen Ausführungen, dazu sehr oberflächlich, außerdem mit psycho-
logischen Ausführungen, die hereinkamen durch den Gesichtspunkt einer
praktischen, uns Menschen im Erkennen anleitenden Kunstlehre. Aber wie
wir reine Arithmetik und Rechenkunst scheiden und reine Geometrie und
1 Gestrichen Wird dieses also zum Forschungsobjekt und wird es zum Objekt einer apriori-
schen Forschung oder, was dasselbe, einer Wesensforschung, so umspannt dasselbe Noetisches
und Noematisches notwendig in seinen Wechselbeziehungen.
leibniz 459
Feldmesskunst, so müssen wir scheiden rein formale Logik als eine rein
theoretische Doktrin und die sie benützende, auf die empirische Eigenheit
des Menschen bezogene Kunstlehre des Denkens. Denn wenn man in der
Weise einer Technik menschlicher Vernunft das menschliche Denken und
Forschen nützlich so regeln will, dass der Zweck der Wahrheitserkenntnis
in möglichstem Umfang erreicht wird, so müssen natürlich die spezifisch
menschlichen Eigentümlichkeiten, d. i. die Psychologie seines Seelenlebens
in Rechnung gezogen werden.1
Die Betrachtungen, die wir soeben abgeschlossen haben, geben uns mit
der echten Interpretation der traditionellen formalen Logik als einer noe-
matischen Disziplin auch das Verständnis ihrer nahen, ja untrennbaren Be-
ziehung zu den sonstigen Erkenntnissen über Gegenstände in formaler All-
gemeinheit. Wir sprachen vorhin den Titel aus „formale Ontologie“ als Titel
einer Wissenschaft. In der Tat gehört doch zur Einheit einer Wissenschaft al-
les zusammen was an Erkenntnissen durch das erforschte Gegenstandsgebiet
als zusammengehörig gefordert ist. So sind alle Erkenntnisse formaler Art
zusammengehörig und zu einer Wissenschaft verbunden. Es gibt mancher-
lei Wissenschaften von besonderen gegenständlichen Gebieten, aber auch
eine Wissenschaft von Gegenständen überhaupt in weitester, eben formaler
Allgemeinheit. Die verschiedenen formalen Kategorien, die zu Gegenstän-
den gehören, wie Beschaffenheit, Beziehung, Ordnung, Menge, Ganzes und
Teil, Größe, Zahl usw. mögen verschiedene Sonderdisziplinen bedingen,
wie die formale Zahlenlehre, Mengenlehre, Ordnungslehre, Größenlehre
usw., aber die Grundgesetze aller dieser Disziplinen sind, weil eben auf
die Idee des Gegenstandes überhaupt bezogen, insgesamt durch apriorische
1 Gestrichen Machen wir einen Schritt weiter. Hat man einmal die Idee des formalen noemati-
schen und ontologischen Apriori erfasst, so ergibt sich notwendig die Idee einer allumfassenden
Wissenschaft mit vielerlei Disziplinen, in welcher alle Gegenstände überhaupt und die auf sie
möglicherweise zu beziehenden Bedeutungen und sie betreffenden Wahrheiten systematisch
entwickelt werden, eine universale Wissenschaft also vom formalen Apriori. In der Tat jedes
formale Apriori hat mit jedem eben durch die Beziehung auf die Idee des Etwas überhaupt, der
Gegenständlichkeit überhaupt, einen Zusammenhang, der sich in verbindenden apriorischen
Gesetzen auch nachweisen lässt, bezogen auf Gegenstände überhaupt und die Bedeutungen
überhaupt, durch die sie zu möglichen gedachten Gegenständen werden. Aus zufälligen histo-
rischen Gründen erscheint uns wie etwas völlig Getrenntes die formale Wissenschaft, die wir
Arithmetik nennen und dann weiter reine Analysis, andererseits formale Logik der Urteils-
noemata, weil zufällig seit Jahrhunderten das eine von Professoren der Mathematik und das
andere von Professoren der Philosophie vorgetragen wird. Erst die Neuzeit, die allerjüngste,
hat die Brücken hergestellt und die systematischen Gesetzeszusammenhänge, die hierüber und
hinüber laufen.
460 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Doch überzeugt man sich, dass ein erheblicher Bestand dieser apriorischen
Naturwissenschaft „formal“ ist, wie die Lehre von der Realität in forma, wozu Kausalität etc.
gehört; das kann hier nicht näher ausgeführt werden, und schließlich bleibt nur als ungelöster
Rest das Hyletische.
464 einleitung in die philosophie
1 Randbemerkung Hier ist nichts gesagt von der Erweiterung der formalen Ontologie bis zur
Einheiten des Sinnes in sich birgt, also seinen noematischen Gehalt hat
in Form von Begriffen und Sätzen, sondern auch für das erfahrende Be-
wusstsein gilt Ähnliches, zum Beispiel, für das äußere Erfahren, in dem
uns die Naturgegenstände unmittelbar anschaulich gegeben sind. Was wir
gegenwärtig „Phänomenologie der Erfahrung und Erfahrungsgegenständ-
lichkeit“ nennen, das geht einerseits auf das Erfahren, auf die Akterlebnisse
des Wahrnehmens, Erinnerns, Phantasierens usw. Aber nicht nur auf das.
Sondern all diese Erlebnisse haben ihren noematischen Gehalt. Sie geht
auf beides.1 Auch auf die sogenannten Dingerscheinungen, d. i. die sin-
nenanschaulichen Gegebenheiten, die das Was des Erfahrens ausmachen.2
So ist ein und dasselbe Ding als Einheit von kontinuierlichen und idealiter
unendlichen Mannigfaltigkeiten von sinnlichen Erscheinungen gegeben, und
diese Erscheinungen sind weder die Akte noch die Gegenstände, sondern
die Aspektgehalte der Erfahrung. Als solche fordern sie ihre systematische
Wesenserforschung, und man bezeichnet diese gegenwärtig als Phänome-
nologie der Erfahrungsgegenständlichkeit, deutlicher als noematische Phä-
nomenologie der Erfahrung. Konsequenterweise müsste man die formale
Bedeutungslehre auch als Phänomenologie, nämlich als Phänomenologie
der formalen Urteilsnoemata bezeichnen, was ganz korrekt wäre.
Diese ontisch-noematischen und noetischen Forschungen sind hinsicht-
lich aller a priori zu unterscheidenden Gegenstandsregionen zu vollziehen;
und erst in dieser Allseitigkeit der Wesensforschungen, die zu möglicher Ge-
genständlichkeit überhaupt gehören und zu den systematischen Zusammen-
hängen, die ihnen a priori vorgezeichnet sind, gewinnen wir die Zugangswege
1 Randbemerkung 1) Die Ich-Akte und Ich-Affekte. 2) Die Erlebnisse der Phansis, wie
ich es früher nannte, die Dingerscheinungen, in dem einen Sinn, Empfindungsdaten in ihren
„Auffassungen“, das und das „Ding von der Seite“ darstellend. 3) Das erscheinende Ding
selbst, und zwar Ding von der und der Seite (Erscheinung im zweiten Sinne). 4) Das Ding
selbst, Identisches aller Seiten.
2 Randbemerkung 1) Der Gegenstand selbst. Also 2) Erscheinungen = Aspekte als Dinge
im Wie der Gegebenheitsweisen, erscheinend als rot, quadratisch etc., der „Rückseite“ nach
unbestimmt etc. Dingsinn, Noema. 3) Die Einheit der Darstellung als Darstellung dieses
Sinnes, die Empfindungsdaten, erlebt als Sinn habend, darstellend, und darüber hinaus Ein-
heit eines über die wirkliche Darstellung hinausreichenden Sinnes tragend. Dann aber auch
„Leervorstellungen“ 1) als Erlebnisse, 2) als Sinn in sich „habend“, implizierend, 3) als diesen
Sinn in einer Erscheinungsweise in sich „implizierend“. Das Leere in sich beschlossen, das
zur Erfülltheit zu bringen ist. Wie im sprachlichen Urteilen und urteilenden Denken, wie im
anschaulich beschreibenden und explizierenden Denken? Im Explizieren haben wir, wenn es
anschaulich ist, das Vermeinte, die Bedeutung, genau so wie das Erlebnis als das diese Bedeutung
in sich Tragende etc. Voranstehend der Sachverhalt. Gegenstand. Sinn = Gegenstand im Wie.
Intentionales Erlebnis, Bewusstsein-von.
466 einleitung in die philosophie
zur absoluten Erkenntnis und das in der Sphäre des Apriori. Wir sind dann
auch in die Lage gesetzt, nicht nur das zum Wesen einzelner Gegenstände ir-
gendeines regionalen Typus Gehörige zu betrachten, sondern alle möglichen
Verknüpfungen, und schließlich uns zu erheben zur Idee möglicher Welten
überhaupt mit ihren noetischen und noematischen Korrelaten. Und daran
schließen sich dann (immer innerhalb des Apriori) die Fragen nach Welt-
schöpfung und nach Gott an, in der Sphäre des Apriori, wiederhole ich, dass
heißt unter dem Gesichtspunkt idealer und ganz prinzipieller Möglichkeit
und nach den letztklärenden Ursprüngen solcher Möglichkeit.
Es ist nicht ein phantastisches Ziel, das damit gezeichnet ist. Hat man
einmal die Idee einer universellen formalen Ontologie erfasst, hat man die
wirkliche Durchführbarkeit dieser Leibniz’schen Ideen einer scientia oder
mathesis universalis erkannt und den Entwicklungsgang der modernsten
Mathematik als Gang der Realisierung dieser Idee begriffen, dann ist es
nur ein Schritt zu erkennen, dass dieser Idee gleich laufen muss die Idee
einer scientia universalis hinsichtlich aller materialen Seinsregionen, wie
zum Beispiel „Natur“ und „Geist“.1 Dann ist also auch eine universelle
apriorische Ontologie als Wissenschaft von den a priori möglichen Welten
als Korrelaten einer ideal-möglichen Welterkenntnis eine notwendige Idee.
Weiter ist dann klar, dass diese Erkenntnis, in der sich die möglichen Welten
konstituieren und sofern sie es tun, einer apriorischen noetischen und noe-
matischen Forschung zugänglich ist, womit sich a priori der absolute Sinn
jeder möglichen Welterkenntnis theoretisch klarlegen lässt. Damit erwächst
aber ein Gegenstück dessen, was wir bisher „Metaphysik“ genannt hatten.
Metaphysik ist die endgültige, durch Erkenntnistheorie zu leistende Inter-
pretation der gegebenen Welt, die vordem Gegenstand der dogmatischen
Wissenschaften gewesen war. Die gegebene Welt ist aber ein faktischer Ein-
zelfall der a priori möglichen und in einer apriorischen Disziplin systematisch
zu erforschenden Welten. Der tatsachenwissenschaftlichen Metaphysik ent-
spricht also eine „apriorische Metaphysik“, wie wir sehr gut sagen können,
die das Apriori der gegebenen Metaphysik und jeder möglichen Metaphysik
umspannt und die prinzipielle metaphysische Interpretation jeder möglichen
Welt und dogmatischen Weltwissenschaft a priori und im Voraus leistet.
Es sind also letzte Auswirkungen von Leibniz’schen Intentionen, die
hier eine begriffliche Ausgestaltung erfahren haben, wie denn Leibniz das
1 Randbemerkung Aber Natur und Geist sind schon in der formalen Sphäre regionale Formen
große Prinzip letzter und höchster Wissenschaft wohl erkannt hat, nämlich,
dass der letzt-wissenschaftlichen Erkenntnis jedweder Wirklichkeit voran-
gehen muss die Erkenntnis der idealen Möglichkeiten, unter die sich diese
Wirklichkeit als Einzelfall ordnet. So versteht er den großen Schritt, den
die exakte Physik gegenüber der früheren Naturbetrachtung macht. Nur
dadurch konnte Natur exakt erforscht werden, dass sie zur mathematischen
Naturwissenschaft wurde. Das aber sagt, dass in immer weiterem Ausmaß
Raum, Zeit, Bewegung, Kraft usw. vor der faktischen Natur in apriorischer
Reinheit, eben als reine Mathematik erforscht wurde. Das ist der tiefste
Sinn der rationalistischen Philosophie, dass diese Tendenz zur höchsten und
universalsten Auswirkung des Apriori sie bewegte und die Überzeugung,
dass nur auf dem Grund universaler apriorischer Erkenntnis aposteriorische
Erkenntnis zu endgültiger Exaktheit und Strenge kommen könne. Aber
das ist auch ihre Grenze, dass sie sich doch weder über den echten Sinn
des Apriori noch über die Verhältnisse des Apriori und Aposteriori klar
wurde, dass sie das formale und materiale Apriori nicht zu scheiden wusste
und, nicht zum mindesten, dass sie das Gegenüber von dogmatischer und
phänomenologischer Forschung nicht sah, ferner das Bewusstsein nicht als
Feld noematischer und noetischer Erkenntnis, und zwar als ein Feld rein
apriorischer Erkenntnis erschaute. Eben damit fehlte ihr die erkenntniskri-
tische Metaphysik und sie blieb im Dogmatismus stecken.
Freilich der Vorwurf gilt der ganzen Philosophie seit dem 18. Jahrhundert
und die notwendigen Aufgaben, die wir uns herausgearbeitet haben, be-
zeichnen bis jetzt nur Postulate, zu deren Erfüllung die phänomenologische
Philosophie unserer Zeit nur eben die ersten Schritte tun konnte. Aber
der Anfang ist gemacht. Und das Wichtigste ist: Was in den Bewegungen
des Rationalismus nach Seiten der Ontologien und in den Bewegungen des
Empirismus nach Seiten des Bewusstseins und der Ursprungsaufklärung im
Bewusstsein an dunklen und so viel irrenden Tendenzen lebendig war, haben
wir uns zur vollen Reinheit und zu begrifflicher Bestimmtheit gebracht.
Wir haben feste und in ihrer Sinnesbestimmung völlig evidente und darum
notwendige Ziele. Natürlich gewinnen sie noch manche, nicht unwesentliche
Züge durch die Motivationen, die in der Fortentwicklung der neuzeitlichen
und insbesondere in der deutschen philosophischen Kultur neu aufgetreten
sind. Indessen, die Art, wie wir uns die innersten Tendenzen des 17. und
18. Jahrhunderts gedeutet, sie durch Kritik gereinigt und in die Gestalt einer
streng wissenschaftlichen Problematik gebracht haben, schuf einen Rahmen,
in den sich das Fehlende einordnen bzw. die naturgemäßen Erweiterungen
eingliedern lassen.
468 einleitung in die philosophie
Kant
Es ist jetzt vor allem notwendig, einiges über Kant zu sagen und Ihnen
zu erklären, warum bisher so wenig an ihn angeknüpft wurde, an ihn, den
überwältigenden Genius, von dem Sie ja wissen, dass er die philosophischen
Bewegungen unserer Zeit bestimmt, wo nicht gar beherrscht. Dass ich erst
jetzt Kants vernunftkritische Philosophie heranziehe, erst am Schluss des
Semesters, hat seinen Grund in dem Ziel dieser Vorlesungen, in die Phi-
losophie einzuleiten. Freilich, der Neuling der Philosophie pflegt als erstes
philosophisches Buch Kants Kritik der reinen Vernunft zur Hand zu neh-
men. Nicht selten meint er, das Werk mindestens in Hauptstücken auch zu
verstehen, und wo das nicht der Fall ist, berauscht er sich mindestens an
dem Tiefsinn desselben. In Wahrheit ist das Werk und sind die kantischen
Hauptwerke dem Anfänger m. E. unzugänglich. Kant bietet nichts weniger
als fertige Stücke einer wissenschaftlichen Philosophie, die eben im Geiste
echter Wissenschaft von evidenten Gegebenheiten, die jedem unmittelbar
zugänglich sind, ausgehen und in evidenten Schritten, also in beständiger
Klarheit und Einsicht, zu Resultaten emporführen.1 Genialer, aber unklarer
Tiefsinn, das ist das Charakteristikum ringender, aber noch nicht zu wissen-
schaftlicher Bestimmtheit durchgedrungener Menschen und Zeiten. Diese
Signatur passt leider zu sehr auf Kant, daher die ungeheure Kantliteratur,
eine Kantphilologie mit den vielen verwirrenden Kantinterpretationen.2
1 Gestrichen Seine Ausgangspunkte sind durchaus unklar, sie sind vermeintliche Selbst-
verständlichkeiten, was eben in seiner Zeit, in seiner und ihrer historischen Bedingtheit als
selbstverständlich hingestellt werden konnte. Und so geht es auch im Aufbau des Ganzen.
2 Gestrichene Seite Kant ist ein Kind dieser Zeit. Aus ihr bzw. aus der festen Tradition
der neuzeitlichen philosophischen Entwicklungen seit Descartes hat er unklare und schiefe
Problemstellungen übernommen, deren verführerische Kraft in einer scheinbaren Klarheit fest
gefügter Schlagworte lag. Unklare und schiefe Theorien hat er ausgebildet, die an sich gegen-
über seinen Vorgängern keinen wirklichen prinzipiellen Fortschritt bedeuten. Das muss einem
orthodoxen Kantianismus gegenüber scharf herausgesagt werden. Die ungeheure Bedeutung
Kants für die lebendige Philosophie unserer Zeit liegt nicht in den kantischen Theorien, so
wie Kant selbst sie verstanden und mit solcher suggestiven Kraft gelehrt hat, sondern in dem,
was er geschaut hat, was als Gehalt seiner gewaltigen Intuitionen vor seinen begrifflichen
Prägungen und theoretischen Erarbeitungen liegt. In seinen Theoretisierungen ist er von tra-
ditionellen Begriffen und Vormeinungen bestimmt. Aber darin liegt seine Größe, dass er ein
schauender Denker war und dass sich ihm schauend mächtige und höchst bedeutsame neue
Problemgebiete eröffnet haben; desgleichen, dass in der Stufenfolge seiner Untersuchungen
wie in seinen Scheidungen zwischen transzendentaler Ästhetik, Analytik und Dialektik sich
grundwesentliche Demarkationen von notwendigen Forschungssphären eröffnen, die für jede
künftige Philosophie bedeutsam werden müssen. Freilich können sie erst wirklich fruchtbar
kant 469
werden, wenn man Kants Begriffe und Theorien ihres durchaus zeitlich bedingten und falschen
Sinnes entkleidet hat. Also Kant kann nur historisch verstanden werden, nur im Nachverstehen
der unausgereiften (im ersten Moment und scheinbar so klaren und doch durchaus unkla-
ren) Probleme, die seit Descartes zwischen Rationalismus und Empirismus spielten, und der
verborgenen Vorurteile, an die sie dabei gebunden waren. Speziell kann Kant nur verstanden
werden unter der speziellen historischen Perspektive, unter der er steht. Leibniz, Christian Wolff
und die deutsche Schulphilosophie, mit den ersten oppositionellen Gegenströmungen, die auf
Einflüssen des englischen Empirismus beruhen.
1 Am Rande dieses Absatzes drei Nullen.
470 einleitung in die philosophie
1 Gestrichene Randbemerkung Die reine Naturwissenschaft Kants ist formal. Sie ist in meinem
ein System von apriorischen Erkenntnissen, die auf die Natur bezüglich und
doch aus uns selbst geschöpft sind, so wie die rein mathematischen Begriffe
und Grundsätze aus uns selbst geschöpft sein müssen. Ihre Apriorität bekun-
det sich in ihrem eigentümlichen Charakter: Der Naturforscher wendet sie
an mit dem Bewusstsein, dass prinzipiell alles Reale durch sie bestimmbar
sein muss, in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Vor aller
Erfahrung sind wir durch diesen Bewusstseinscharakter der Notwendigkeit
und Allgemeingültigkeit dessen völlig sicher, dass sie für alle mögliche Er-
fahrung gelten müssen. Dieser Charakter ist das Kennzeichen alles echten
Apriori und somit all dessen, was nicht der Wahrnehmung und der induktiven
Erfahrung entsprungen sein kann. Zum Beispiel: Dass alles und jedes Gege-
bene äußerer Erfahrung notwendig zählbar und messbar sein muss oder dass
alles und jedes Geschehen als Veränderung eines realen Substrates erfassbar
und dann unter Kausalgesetzen stehen muss, also auffassbar sein muss als
Ursache oder Wirkung, das kann man nicht wahrnehmen, das kann man nicht
durch Sammlung von einzelnen Erfahrungen erweisen, wie Hume richtig sah,
um aber nachher in verkehrter Weise auf Gewohnheit zurückzugehen.
Aber nun ergibt sich ein großes Problem: Wie ist es zu verstehen, dass
Begriffe und Sätze, die a priori, also rein aus uns selbst entsprungen sind, für
Gegenstände der an und für sich seienden Natur Geltung haben? Gleich-
wertig können wir auch sagen: Aus uns selbst und nicht aus der Erfahrung
geschöpfte Begriffe sollen aller möglichen Erfahrung die Regel vorschreiben
und damit dem Gang der Natur. Denn gegeben sind uns Naturgegenstände
durch Erfahrung. Dass unser Denken für Erfahrungsgegenstände Gültigkeit
haben kann, das ist in gewissen Gruppen von Fällen ganz verständlich,
also kein Problem. Das ist der Fall der bloßen Wahrnehmungsurteile und
überhaupt der empirischen Urteile des gemeinen Lebens. Nämlich da wo
unser urteilender Verstand sich nach den erfahrenen Gegenständen richtet,
Bestimmungen, die an ihnen miterfahren sind, begrifflich fasst und sie aussa-
gend, urteilend auf den Gegenstand bezieht. Wie zum Beispiel, wenn ich ein
rotes Ding sehe und sage „Dies ist rot“. Ebenso bei komplizierteren Fällen
und überall da, wo wir mit einem Worte empirische Begriffe bilden und sie
so urteilsmäßig verknüpfen, wie es die Einheit der Erfahrungsgegenständ-
lichkeit und der erfahrenen Beziehungen und Verknüpfungen vorschreibt.1
1 Randbemerkung Die Synthesis unserer Begriffe im Urteil richtet sich nach der Synthesis der
Erfahrung. Keine Schwierigkeit macht auch eine gewisse Klasse apriorischer Urteile, nämlich
die von Kant so genannten analytischen Urteile.
kant 473
Nämlich, wenn ich einmal solche Begriffe gebildet habe und dann, ohne
neue Erfahrungen zu machen, ihren Inhalt auseinanderlege, so ist es klar,
dass dann die Ergebnisse für Erfahrung gelten müssen. Habe ich einmal den
Begriff „Löwe“, so kann ich eine logische Analyse an ihm vollziehen und
gewinne analytische Urteile: zum Beispiel „Ein Löwe ist ein katzenartiges
Raubtier, ein Säugetier“ usw. Die logische Analyse habe ich im bloßen
Denken vollzogen. Aber natürlich gilt jedes solche analytische Urteil auch
in der Erfahrung. Denn es wäre ein Widerspruch den Begriff zu prädizieren
und seine analytischen Teilbegriffe ihm abzuleugnen.
So kann ich überhaupt sagen: Reine Logik kann ich in aller Erfahrung,
bei allem empirischen Denken der Erfahrung anwenden. Ihr Grundprinzip
ist der Satz vom Widerspruch. Die objektive Geltung der reinen oder for-
malen Logik bietet also kein Problem. Das Reich des analytischen Apriori
umspannt aber nicht etwa das gesamte Apriori, wie das der Rationalismus
gemeint hat. Vielmehr es gibt Begriffe und Sätze, die einerseits den of-
fenbaren Charakter der apriorischen Gesetze haben und die andererseits
nicht aus einem bloß analytischen Denken entsprungen sind. Sagen wir aus,
dass jedes Geschehen seine Ursachen hat, dass in allen Veränderungen der
Natur das Quantum der Materie erhalten bleibt, so sind das nicht Sätze, die
der Erfahrung abgenommen sind, wie wenn wir sagen „Im Herbst ziehen die
Schwalben nach dem Süden“. Es sind auch nicht analytische Sätze, wie „Ein
Löwe ist ein Säugetier“, „Ein Körper ist ausgedehnt“ oder wie syllogisti-
sche Schlussgesetze. Die Verknüpfung der Begriffe in solchen Urteilen der
reinen Naturwissenschaft richtet sich nicht nach der empirischen Anschau-
ung und andererseits nicht nach logischer Identität (deren Leugnung also
Widerspruch ergibt). Aber wie steht es mit dem Recht dieser Verknüpfung,
wonach richtet sie sich? Was gibt solchen apriorischen Sätzen ihre objektive
Geltung? Was kümmern sich die Natur selbst und der Naturverlauf um
die Verknüpfungen, die unsere Vernunft, rein, ohne sich nach der Natur
zu richten, ohne sie der Erfahrung abzulesen, vollzieht? Also, wie können
aus reiner Vernunft entsprungene Begriffe und Sätze objektive Bedeutung
haben? Die Frage betrifft also die nicht-analytische Vernunft.
Ein Hauptstück der kantischen Kritik an Hume, aber auch der ganzen
zeitgenössischen rationalistischen Philosophie besteht darin, dass er dieser
vorwirft, dass sie hier eine radikale Scheidung nicht gesehen, dass sie ferner
und in Folge davon die Sphäre der Vernunft mit der des formal-logischen
(des „analytischen“) Denkens identifiziert und somit das Kriterium vom
Widerspruch als Kriterium der Vernunft überhaupt behandelt hätte. Der
Vorwurf trifft sicherlich den Wolff’schen Rationalismus, er trifft sicherlich
474 einleitung in die philosophie
nicht Hume, den Kant hier nicht verstanden hat und der sicherlich nicht
Relationen zwischen Ideen und analytisch-logische Verhältnisse identifiziert.
Kant legt den größten Wert auf die Lehre, dass die gesamte reine Mathe-
matik zwar Wissenschaft a priori sei, aber nicht eine Wissenschaft, die in
jedem Satze und Fortschritte unter dem Satz vom Widerspruch stehe, also
nicht analytische Wissenschaft sei. Analytische Wissenschaft überhaupt
gibt es nicht. Bloß analytische Urteile sind nur erkenntniserläuternd, nicht
aber erkenntniserweiternd.
Kant nennt nicht-analytische Urteile „synthetisch“, unterscheidet dann
synthetische Urteile a priori und synthetische Urteile a posteriori. Die letz-
teren sind die gewöhnlichen Erfahrungsurteile, die ersteren die rein ma-
thematischen Urteile und die Urteile der reinen Naturwissenschaft. Der
Grundirrtum des Rationalismus und Humes spricht sich darin aus, dass sie
die Existenz synthetischer Urteile a priori noch nicht sahen, dass sie die
Begriffe „apriorisches Urteil“ und „analytisches“ zur Deckung gebracht
hätten. Demgemäß ergibt sich jetzt das Problem etwas differenzierter: 1)
Eine erste Frage ergibt sich „Wie ist reine Mathematik möglich?“, das heißt:
Wie kommen die a priori entsprossenen mathematischen Begriffe und Ur-
teile dazu, mit der ihnen charakteristischen Notwendigkeit und Allgemein-
gültigkeit eine übersubjektive Bedeutung zu beanspruchen, eine unbedingte
und notwendige Geltung für alle Realität, obschon sie doch nichts sagen,
was sich nach der Realität in der Erfahrung richtet?1 2) Fürs zweite und
in gleichem Sinne: „Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?“ 3) endlich:
„Wie ist reine Metaphysik möglich, wenn sie überhaupt möglich ist?“
Genauer besehen, sind diese Fragen für Kant Doppelfragen. Nämlich,
zum Beispiel was die Mathematik anlangt, so gewinnen wir, reine Mathema-
tik an und für sich treibend, Systeme a priori synthetischer Erkenntnis, ohne
irgend an die wirkliche Natur zu denken und an Anwendungen auf sie. Das
rein apriorische Erkennen der Mathematik ist für sich ein Problem: Wie kom-
men wir dazu, die rein mathematischen Begriffe zu Sätzen zu verknüpfen und
für diese Sätze a priori eine Wahrheit zu beanspruchen, eine Art notwendiger
und jedermann verpflichtender Geltung, die zunächst gar nicht danach fragt,
ob es eine seiende Natur gibt und geben kann oder nicht? Wonach richtet
sich die Synthesis, die wir vollziehen? Nach der Erfahrungsanschauung nicht,
denn es sind apriorische Sätze. Wonach also sonst? Es bedarf dafür nur
unbedingte.
kant 475
rein geometrischen Gesetze als Gesetze dieser Form für alle besonderen
Dinge, für alles Geformte Geltung haben müssen, also für alle erfahrbaren
Dinge, sofern sie als solche notwendig räumliche Erscheinungen sind. Hin-
gegen über Dinge an sich, die wir als Gründe der sinnlichen Affektionen
in die Transzendenz versetzen, lehren wir durch die Geometrie gar nichts.
Ihnen können wir keinen Raum zuschreiben, das hieße, ihnen ohne leises-
ten Anhalt eine Verdopplung der zu unserer Subjektivität und zu unseren
Erscheinungen gehörigen Formen andichten.1
1 Die Fortsetzung des Textes findet sich als Beilage xxi in Edmund Husserl, Erste Philosophie
(1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. Rudolf Boehm, Husserliana vii, Nijhof,
Den Haag, 1956 – Anm. der Hrsg.
NACHWEIS DER ORIGINALSEITEN
In der linken Kolonne findet sich die Angabe von Seite und Zeile im
gedruckten Text, in der rechten Kolonne die des Manuskriptkonvoluts und
der Blattzahlen im Manuskript nach der offiziellen Signierung und Numme-
rierung des Husserl-Archivs.
Kant 23, 121, 166 f., 206, 268, 103 f., 123, 167, 187, 194–196,
274, 316, 318, 321, 405, 424, 431, 198–201, 204, 210, 211 Anm. 1,
463, 468–471, 472 Anm. 1, 474 f. 213, 219, 230, 241 Anm. 2, 299,
Kepler 320 368, 435
Krösus 6 Protagoras 12–16, 18, 21–23, 25,
30 Anm. 2, 63, 195
Lambert 431, 463
Leibniz 59, 233, 275, 314, 316, Rüdiger 469
375, 424, 431, 435–438, 439
Anm. 1, 441 f., 442, 444, 446 f., Schopenhauer 174
449, 462, 466, 469 f. Sokrates 16, 22, 24–26, 28–30,
Leukipp 10, 192 Anm. 3, 193 33 f., 36–38, 39 f. Anm. 2, 41 f.,
Locke 243, 286, 317–321, 330, 46, 48, 73, 75–77, 158, 194, 196,
332–340, 343–347, 350 f., 354 f., 200
360, 376–388, 392, 398–402, 405, Solon 6–8
413, 435–437, 469 Spinoza 227 f. Anm. 3, 235, 236 f.
Lotze 272 Anm. 1, 239 f., 243, 314, 316,
319, 424–426, 426–429, 431–436,
Mach 4, 5 Anm. 1, 398 439 Anm. 1
Malebranche 388, 392, 433
Michelangelo 167 Thales 7 f., 10
Mill 161
Vives 320
von Ockham 219
Windelband 192 Anm. 1
Paulsen 4, 5 Wolff 316, 469
Parmenides 10, 24 Wundt 5
Patroklos 44
Platon 19, 24, 28–30, 33–36, 39 Xenophon 191
Anm. 2, 41–44, 46, 48–51, 53–
55, 57, 59 f., 63, 65, 67, 85 f., 88, Zenon 24