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EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE

HUSSERLIANA
EDMUND HUSSERL
MATERIALIEN

BAND IX

EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE


VORLESUNGEN 1916–1920

AUFGRUND DES NACHLASSES VERÖFFENTLICHT VOM


HUSSERL-ARCHIV (LEUVEN) UNTER LEITUNG VON

ULLRICH MELLE
EDMUND HUSSERL

EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE


VORLESUNGEN 1916–1920

HERAUSGEGEBEN VON

HANNE JACOBS
Editor
Hanne Jacobs
Department of Philosophy
Loyola University
Chicago IL, USA

ISBN 978-94-007-4657-2 ISBN 978-94-007-4659-6 (eBook)


DOI 10.1007/978-94-007-4659-6
Springer Dordrecht Heidelberg New York London
Library of Congress Control Number: 2012938992

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INHALT

Einleitung der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE


Vorlesung 1919/20

Die eigentümliche Problemsphäre der Philosophie . . . . . . . . . . . 1


Die anfangende griechische Philosophie oder Wissenschaft . . . . . . . 7
Platon und die Entdeckung des Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Formale Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Aristoteles und die Idee einer realen Ontologie . . . . . . . . . . . . 88
Naturwissenschaftliche und teleologische Welterklärung . . . . . . . 104
Apriorische Wertelehre und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Soziale Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Rationalismus und Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Descartes’ Innenwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Phänomenologie als apriorische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 260

ANHANG

Aus den Vorlesungen „Einleitung in die Philosophie“ von 1916 und 1918

Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Locke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Erkenntnistheorie und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Berkeley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Hume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
Spinoza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
Nachweis der Originalseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
EINLEITUNG DER HERAUSGEBERIN

Der vorliegende Band enthält den Text der vierstündigen Vorlesung,


die Edmund Husserl unter dem Titel „Einleitung in die Philosophie“ im
Wintersemester 1919/20 in Freiburg gehalten hat.1 Der erste Teil dieser
Vorlesung stammt aus der gleichnamigen Vorlesung des Sommersemesters
1916,2 die Husserl im Sommersemester 1918 wiederholt hat.3 Derjenige Teil

1 Husserl hielt diese Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags jeweils von 17–18

Uhr. Die erste Vorlesung wurde am Montag, den 22. September 1919, gehalten. Die Vorlesung
wurde von etwa 300 Studenten gehört. Vgl. Karl Schuhmann: Husserl-Chronik. Denk- und
Lebensweg Edmund Husserls, Husserliana Dokumente i, Den Haag 1977, S. 236 (im Folgenden
zitiert als Husserl-Chronik).
2 Auch diese Vorlesung war vierstündig, und Husserl trug montags, dienstags, donnerstags und

freitags jeweils von 17–18 Uhr vor. Die erste Vorlesung wurde, wie Husserl auf f i 40/8a (unten
S. 1, Z. 4–22) vermerkt hat, am Dienstag, den 2. Mai 1916, gehalten. Vgl. Husserl-Chronik, S. 200
und unten Fußnote 3, S. ix.
3 Diese Vorlesung war ebenfalls vierstündig und Husserl trug wiederum montags, dienstags,

donnerstags und freitags jeweils von 17–18 Uhr vor. Die erste Kollegstunde fiel, wie Gerda
Walther in ihrer Nachschrift der Vorlesung angibt, auf Montag, den 29. April 1918. Vgl. Husserl-
Chronik, S. 225. Die letzte Kollegstunde, für die Walther eine Mitschrift angefertigt hat, hielt
Husserl am Freitag, den 26. Juli 1918. Die Nachschriften von Gerda Walther sind unter der
Signatur n i 15 im Husserl-Archiv Leuven archiviert; sie haben einen Umfang von 257 Seiten.
Es gibt verschiedene Hinweise, dass die Vorlesung von 1918 eine überarbeitete Wieder-
holung der Vorlesung von 1916 war. Husserl betrachtete die Einleitungen von 1916 und 1918
offenbar als eine Einheit. So vermerkt er z. B. auf dem Umschlag der Vorlesung von 1919/20:
„Das erste Stück stammt aus den Vorlesungen über Einleitung 1916 und 1918“ (f i 40/8a).
Auf dem Gesamtumschlag (f i 42/1 + 207), in den Husserl das erste Stück der Vorlesung von
1916 eingelegt hat, verweist er auch auf die beiden Vorlesungen: „Bruchstücke von Kant-
vorlesungen (Hume) und verschiedene Einleitungen in die Philosophie. Freiburg. Hume,
Descartes, Leibniz“. Auf dem Umschlag des Vorlesungsstückes selbst wird nur die Vorlesung
von 1916 angegeben: „Einleitung in die Philosophie im ersten Freiburger Sommersemester
1916“ (f i 42/112a). Husserl hat außerdem auf dem Umschlag des zweiten Vorlesungsstückes
folgendermaßen auf die beiden Vorlesungen verwiesen: „Stück der ersten Freiburger Einleitung
in die Philosophie Sommersemester 1916 (und 1918)“ (f i 30/1a). Dass es sich bei der
1918 gehaltenen Vorlesung wahrscheinlich um eine Wiederholung der Vorlesung von 1916
handelt, kann auch dem Schreiben an Winthrop Bell vom 13.xii.1922 entnommen werden: „Ich
lese, hier in Freiburg zum 4ten Male, ‚Einleitung in die Philosophie‘ und zum 3ten Male in
völlig neuer Gestalt.“ (Edmund Husserl: Briefwechsel, Husserliana Dokumente, in Verbindung
mit Elisabeth Schuhmann hrsg. v. Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, III, S. 43;
im Folgenden zitiert als Briefwechsel mit Bandnummer und Seitenzahl). Es geht hier um
viii einleitung der herausgeberin

des Vorlesungsmanuskriptes von 1916 und 1918, den Husserl nicht für die
Vorlesung von 1919/20 benutzt hat und der teilweise im Nachlass vorhanden
ist, wird im vorliegenden Band als Anhang abgedruckt.1
Husserl, der zum Sommersemester 1916 zum ordentlichen Professor der
Philosophie an der Universität Freiburg ernannt worden war, hielt in diesem
und in den darauffolgenden Jahren vier Mal Vorlesungen unter dem Titel
„Einleitung in die Philosophie“.2 Da die letzte der Einleitungsvorlesungen,
die vom Wintersemester 1922/23, bereits veröffentlicht ist3 und die vorlie-
gende Edition die gesamte „Einleitung“ vom Wintersemester 1919/20 sowie
die restlichen, zu den Einleitungsvorlesungen der Sommersemester 1916 und
1918 gehörigen Manuskripte enthält, sind Husserls Freiburger Einleitungen
in die Philosophie nun vollständig in der Husserliana veröffentlicht. Obgleich
Husserl seine Vorlesung von 1922/23 mit fast denselben Worten wie seine
anderen Freiburger Einleitungen beginnt,4 das Problemfeld der Philosophie
in gleicher Weise wie 1919 absteckt und wiederum für die Notwendigkeit
einer Bewusstseinslehre als Teil einer allgemeinen Wissenschaftslehre argu-
mentiert, hat die Einleitung von 1922/23 einen ganz anderen Charakter als
die Einleitungsvorlesungen von 1916, 1918 und 1919/20.5
Auch die Einleitung von 1919/20 ist keine bloße Wiederholung der zwei äl-
teren Vorlesungen; Husserl betrachtete sie geradezu als eine „völlig
neue“ Einleitung.6 Dass Husserl die Periode der Abfassung der Einleitungs-
vorlesung von 1919/20 als eine besonders fruchtbare Zeit empfunden hat,
wird in einem Brief an Winthrop Bell vom 11. viii. 1920 deutlich, in dem

die „Einleitung“ von 1922/23 (Edmund Husserl, Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen
1922/23, hrsg. von Berndt Goossens, Husserliana xxxv, Dordrecht 2002; im Folgenden zitiert
als Husserliana xxxv); diese Vorlesung stellt im Vergleich mit der Einleitungsvorlesung von
1919/20 und der Vorlesung, die Husserl 1916 gehalten und 1918 wahrscheinlich wiederholt hat,
eine ganz neue Vorlesung dar.
1 Es ist wahrscheinlich, dass Husserl diese Bruchstücke später für andere Vorlesungen benutzt

und bearbeitet hat. Vgl. unten, S. xi–xii.


2 Vgl. Husserl-Chronik, S. 200, 225, 236, 263.
3 Husserliana xxxv.
4 Im Jahre 1919 beginnt Husserl seine Einleitungsvorlesung mit den Worten: „Eine Ein-

führung in die Philosophie kämpft mit Schwierigkeiten, wie sie die Einführung in keine an-
dere Wissenschaft kennt.“ (unten S. 1). 1922 lautet der erste Satz: „Eine Einführung in die
Philosophie kämpft mit Schwierigkeiten, welche die Einführung in die sogenannten positiven
Wissenschaften, die man der Philosophie gegenüberzustellen pflegt, nicht kennt.“ (Husserliana
xxxv, S. 3).
5 Vgl. Husserliana xxxv, S. xv–xviii.
6 So schreibt Husserl am 12.iii.1920 an Roman Ingarden: „Ich las eine völlig neue ‚Einlei-

tung‘ “, Briefwechsel, iii, S. 203.


einleitung der herausgeberin ix

Husserl schreibt: „Ich lebte ganz der Lehrthätigkeit und hielt 3 Semester1
nacheinander neue 4stündige Vorlesungen, die für mich selbst viel Frucht
einbrachten. Ich war in guter ‚Form‘, ja ich stehe wieder, und eigentlich schon
seit 3 Jahren, in einer Periode neuen, mächtig fortschreitenden Werdens; es
ist als ob sich meine Lebenssehnsucht, die nach einer aus principiellen Ein-
sichten gefestigten, nach allen systematischen Hauptlinien vorgezeichneten
Philosophie erfüllen soll.“2
Ein Vergleich des von Husserl zusammengestellten Vorlesungstextes der
„Einleitung in die Philosophie“ von 1919/20 mit den Nachschriften, die
Gerda Walther im Sommersemester 1918 von der gleichnamigen Vorle-
sung gemacht hat, zeigt, dass der Anfang der Vorlesung von 1919/20 (f i
40/8a–f i 40/91b; S. 1, Z. 1–S. 88, Z. 4) und der Anfang der Vorlesung
von 1918 (n i 15/1–51) zu großen Teilen übereinstimmen.3 In diesen Vor-
lesungen thematisiert Husserl die eigentümliche Problemsphäre der Philo-
sophie im Vergleich zu anderen Wissenschaften, die Entstehung der grie-
chischen Philosophie in ihrem Verhältnis zur Wissenschaft, Sokrates’ Re-
aktion gegen die Sophisten (Gorgias und Protagoras), sowie Platons Ide-
enlehre. In der geschichtlich orientierten Herausarbeitung der Entdeckung
des Apriori bei Platon beschreitet Husserl in der Vorlesung 1919/20, wie
er einige Jahre später anmerkt, den Weg in die transzendentale Phäno-
menologie durch die Ontologie,4 und zeigt, wie die formale und materiale
Ontologie und die formale Logik der Sätze ihre Vervollkommnung in ei-
ner apriorischen Erkenntnistheorie bekommen (unten S. 65, Z. 33–S. 86,
Z. 14).

1 Im Sommersemester 1919 liest Husserl „Natur und Geist“ und im Sommersemester 1920

„Einleitung in die Ethik“. Die Vorlesung von 1920 ist veröffentlicht in Edmund Husserl, Ein-
leitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, hrsg. von Henning Peucker,
Husserliana xxxvii, Dordrecht, 2004 (im Folgenden zitiert als Husserliana xxxvii); die Vorlesung
von 1919 ist veröffentlicht in Edmund Husserl, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester
1919, hrsg. von Michael Weiler, Husserliana Materialien iv, Dordrecht, 2001.
2 Briefwechsel, iii, S. 14.
3 Vgl. auch Husserl-Chronik, S. 236. Auf dem Umschlag der Vorlesung von 1919/1920 (f i

40/1a) hat Husserl mit Blaustift geschrieben „Das erste Stück stammt aus den Vorlesungen
über Einleitung 1916 und 1918“. Auf der Seite f i 40/4a, wo Husserl eine zweite Inhaltsangabe
niedergeschrieben hat, steht oben mit Tinte geschrieben: „Anfang aus der ersten Freiburger
Einleitung in die Philosophie“. f i 40/8a trägt die Aufschrift: „In Freiburg die erste Vorlesung.
2.V.1916. Einleitung in die Philosophie“.
4 So schreibt Husserl in einem Manuskript aus dem Jahre 1923: „Weg in die transzendentale

Phänomenologie als die absolute, alle Relativitäten überwindende Ontologie, im Ausgang von
den positiven Ontologien und der universalen positiven Ontologie (Weg der Vorlesungen von
x einleitung der herausgeberin

In der Vorlesung von 1919/20 sind wahrscheinlich folgende Teile ganz neu
ausgearbeitet: der Abschnitt über Aristoteles (S. 91, Z. 7–S. 104, Z. 24), die
Reflexionen über teleologische Welterklärung in ihrer Relation zur Natur-
wissenschaft, in denen Husserl auch die Relation zwischen dem Bewusstsein
einer „bloßen“ Natur und den Akten des Gemüts und Willens beschreibt
(unten S. 104, Z. 26–S. 118, Z. 29), sowie der sich daran anschließende Exkurs
über apriorische Wertelehre und Ethik (unten S. 118, Z. 31–S. 181, Z. 11).
Bei einer späteren Durchsicht und Überarbeitung des Manuskriptes der
Vorlesung von 1919/20 verweist Husserl auf seine Einleitung in die Ethik,
die er im Sommersemester 1920 gehalten und später, im Sommersemester
1924, wiederholt hat (unten S. 153, Anm. 1).1
Wie die vorliegende Edition des restlichen Teiles des Vorlesungsmanu-
skriptes von 1916 und 1918 zeigt, sind die Überlegungen Husserls in diesem
Teil der Vorlesung überwiegend an der Entwicklung bestimmter philoso-
phischer Ideen in der Geschichte der modernen Philosophie orientiert, z. B.
an der Entwicklung der Idee einer apriorischen Erkenntnistheorie und des
sogenannten Transzendenzproblems.2 Diese historisch orientierten Ausfüh-
rungen setzen den Gang des Anfangs der Vorlesung von 1919/20, den Husserl
aus der älteren Vorlesung übernommen hat, fort.
Husserl hat sich in diesen Jahren auch in anderen Vorlesungen mit der
Geschichte der Philosophie auseinandergesetzt. So hat Husserl im Som-
mersemester 19153 und im Wintersemester 1916/1917 über „Allgemeine Ge-
schichte der Philosophie“,4 im Sommersemester 1917 über „Kants Transzen-
dentalphilosophie“5 und im Wintersemester 1918/19 über „Geschichte der

1919/20)“, Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänome-
nologischen Reduktion, hrsg. von Rudolf Boehm, Husserliana viii, Den Haag 1959, S. 219. Vgl.
auch S. 225.
1 Vgl. Husserliana xxxvii. Husserl hat in der Ethik-Vorlesung von 1920 auch auf die Vorlesung

von 1919/20 verwiesen (vgl. Husserliana xxxvii, S. 254).


2 So hat Husserl im Jahre 1918 an Martin Heidegger Folgendes über die laufende Einleitung

vom Sommersemester 1918 geschrieben: „Ich fand meine Einleitung in die Philosophie
hinsichtlich der ideengeschichtlichen Entwicklung des Ideals strenger Wissenschaft aus den
methodologischen Conceptionen Platons nicht klar genug u. musste eine Vorlesungsreihe
neu ausarbeiten. (Es handelt sich dabei auch um die Urmotive der Vernunftkritik bezogen auf
Gorgias’ 2. Argument, dann auf Descartes’ Feld der reinen cogitatio – im Contrast zur antiken
Entwicklung, die logisch-wissenschaftstheoretisch u. ontologisch lief, für die Neuzeit aber die
bleibende Frucht der exakten Wissenschaften brachte).“, Briefwechsel, iv, S. 130 f. Vgl. auch
Husserliana xxxv, S. xvi.
3 Vgl. Husserl-Chronik, S. 194.
4 Vgl. Husserl-Chronik, S. 204.
5 Vgl. Husserl-Chronik, S. 209.
einleitung der herausgeberin xi

Philosophie von den ersten Anfängen bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts“1
gelesen. Vom 4. Februar bis zum 16. April 1919, während des Kriegsnotse-
mesters,2 hielt er eine Vorlesung über „Geschichte der neueren Philosophie
von Descartes bis Kant“.3 Im Sommersemester 19214 und 19225 sowie im
Sommersemester 19266 hielt Husserl eine Vorlesung über die „Geschichte
der neueren Philosophie“. Auch der erste Teil der Vorlesung „Erste Philo-
sophie“ von 1923/24 behandelt die Geschichte der Philosophie.7
Wenn man die im Nachlass vorliegenden Manuskriptblätter, die Husserl
als Unterlagen für die Einleitungen von 1916 und 1918 gekennzeichnet
hat,8 mit Gerda Walthers Nachschrift von 1918 vergleicht, wird deutlich,
dass das Manuskript, das im vorliegenden Band als Anhang abgedruckt ist,
ausführlicher und umfassender ist als das, was wir in der Nachschrift von
Walther vorfinden. Während die Behandlung von Descartes und Locke im
Manuskript Parallelen mit der Nachschrift von Walther zeigt, finden wir in
der Nachschrift keine Behandlung von Berkeley, Hume, Spinoza, Leibniz
und Kant.
Da sich im Nachlass keine Nachschrift der Vorlesung von 1916 befindet
und die Nachschrift von Gerda Walther von der Vorlesung von 1918 nur teil-
weise mit den von Husserl dieser Vorlesung zugeschriebenen Manuskripten
übereinstimmt, ist es nicht völlig gesichert, dass alle im vorliegenden Band
im Anhang veröffentlichten Texte tatsächlich aus den Vorlesungen von 1916
und 1918 stammen.9 Es ist nicht ausgeschlossen, dass Husserl den Text, wie

1 Vgl. Husserl-Chronik, S. 230.


2 „Vom Februar bis Mitte April 1919 wurde an verschiedenen deutschen Universitäten ein
Kriegsnotsemester für zurückgekehrte Kriegsteilnehmer eingeschoben“, vgl. Briefwechsel, ii,
S. 107.
3 Vgl. Husserl-Chronik, S. 232.
4 Vgl. Husserl-Chronik, S. 246.
5 Vgl. Husserl-Chronik, S. 259.
6 Vgl. Husserl-Chronik, S. 304.
7 Vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte,

Husserliana vii, hrsg. v. R. Boehm, Den Haag 1956 (im Folgenden zitiert als Husserliana vii).
8 Siehe oben S. ix, Fußnote 3.
9 Eine Datumsangabe im Manuskript („26.6.“ auf der Seite f i 42/186a; S. 370, Z. 11–35) spricht

für eine Datierung auf das Jahr 1916. Der Text dieser Seite befindet sich auf der Rückseite eines
Briefes des Ministeriums des Kultus und Unterrichts, der aus dem Juni 1916 stammt (f i 42/187b
und f i 42/186b). Inhaltlich verweist dieses Vorlesungsstück auch auf Teile der Vorlesungen von
1916 und 1918, die in die Vorlesung von 1919/20 aufgenommen sind. So verweist Husserl z. B.
auf den Abschnitt über Gorgias (S. 303 Fn. 2); Husserl behandelte Gorgias am Anfang der
Vorlesung (S. 12 ff.) und, wie wir der Nachschrift von Walther entnehmen können, auch im Jahr
1918 (n i 15/14 ff.).
xii einleitung der herausgeberin

er jetzt vorliegt, später zusammengestellt1 oder paginiert hat2 und als Unter-
lage für andere Vorlesungen über die Geschichte der modernen Philosophie
benutzt hat. Dies könnte beispielsweise für das Kriegsnotsemester von 19193
oder für die Sommersemester 1921, 1922 und 1926, als Husserl die Vorle-
sung „Geschichte der neueren Philosophie“ gehalten hat,4 der Fall gewesen
sein.

*
Das Manuskript der Vorlesung von 1919/20 befindet sich in dem Konvolut
f i 40. Der Text ist in gabelsbergerscher Stenographie mit schwarzer Tinte
geschrieben; die Blätter sind größtenteils in der Mitte gefaltet. Der Text
ist zusammengestellt aus Blättern, die aus den Vorlesungen von 1916 und
1918 stammen, und 1919/20 geschriebenen Blättern. Husserl hat den Text
mehrmals durchgesehen5 und überarbeitet; darauf deuten seine wohl zu
verschiedenen Zeiten entstandenen Unterstreichungen, Streichungen, Ver-
änderungen, Hinzufügungen und Randbemerkungen mit unterschiedlichen
Schreibmaterialien (schwarzer Tinte, Bleistift, Blaustift und Rotstift).

1 Der erste Teil des Vorlesungsbruchstücks liegt in einem Umschlag vom 29. März 1921 (f i

42/112 + 205) und der zweite Teil in einem Umschlag datierend vom 24. November 1919 (f i
30/1 + 78). Vgl. die Manuskriptbeschreibung unten S. xviii ff.
2 Die Paginierung ist nicht durchlaufend. So hat Husserl mit einer Paginierung von „1“

bis „43“ begonnen (f i 42/114–155) und diese dann auf Seite f i 42/155a mit einer zweiten
Paginierung von „301“ bis „421“ fortgesetzt (f i 42/155–204; S. 333, Z. 17–S. 388, Z. 10 und f i
30/2–77; S. 388, Z. 11–S. 477, Z. 8).
3 Auf einem Umschlag im Konvolut f i 42, in den Husserl auch das erste der Bruchstücke

der Vorlesung 1916 und 1918 eingelegt hat, notiert er mit Bleistift: „Abfälle aus ‚Einleitung‘
in die Philosophie. Vorlesungen 1916–1919“. Er verweist hier wahrscheinlich, neben der
Vorlesung von 1916 und 1918, auf die Vorlesung des Kriegsnotsemesters von 1919. Vgl. die
Manuskriptbeschreibung unten S. xviii ff.
4 Dass Husserl die Manuskriptunterlagen für die Vorlesungsreihe „Geschichte der neueren

Philosophie“ benutzt und überarbeitet hat, ist möglich, da er auf dem Gesamtumschlag des
Konvoluts f i 41 mit Blaustift schrieb: „Anfangsstück des ii. Teils der ‚Einleitung‘ 1916. Ra-
tionalismus und Empirismus. Vgl. die neue Einleitung zur Geschichte der neueren Philosophie
(Vorlesungen)“. Es könnte also sein, dass Husserl hier auf den Text verweist, welcher im Anhang
des vorliegenden Bandes abgedruckt wird (S. 288–S. 477) und der von Husserl in den Konvoluten
f i 42 und f i 30 hinterlegt wurde, nachdem er das Anfangsstück dieses zweiten Teils überarbeitet
hat. Der Umschlag von f i 41 ist ein Dokument vom 6. November 1919 (vgl. Husserl-Chronik,
S. 237).
5 Husserl hat die Vorlesung offenbar 1924 und 1925 erneut durchgesehen. Dafür gibt es zwei

Indizien. 1) 1924 hat er eine „Note zu den Ausführungen des Einleitungskollegs Winterse-
mester 1919/20. Seite 228 ff. = S. 271 ff.“ geschrieben, die in b iv 6/48–73 zu finden ist.
Die Blätter 48–73 liegen in einem Umschlag (b iv 6/47 + 74), auf den Husserl mit Blau- und
Bleistift geschrieben hat: „Ad 1919/20“, darunter mit Tinte „Analyse zu der Herausstellung
des Widersinnes des transzendentalen Realismus“ und mit Blaustift „1924“. Die Blätter 48–59
einleitung der herausgeberin xiii

Das Konvolut f i 40 besteht aus 277 Blättern. Husserl hat die Blätter der
Vorlesung in einen Umschlag gelegt, der aus einem braunen Briefumschlag
einer an ihn gerichteten Drucksache der Buchdruckerei des Waisenhauses
mit Poststempel vom 07.03.1922 besteht. Die zweite Hälfte des Umschlages
(Blatt f i 40/277) ist unbeschrieben. Die Vorderseite der ersten Hälfte des
Umschlages (f i 40/1a) trägt die Blaustiftaufschrift: „Wintersemester
1919/20. Vorlesungen über Einleitung in die Philosophie. Systematisch. Das
erste Stück stammt aus den Vorlesungen über Einleitung 1916 und 1918.“
Rechts oben auf dieser Vorderseite hat Husserl mit schwarzer Tinte eine
grobe Inhaltsangabe (mit Angabe der Blattnummern) geschrieben: „Über-
gang zur Phänomenologie: von der Frage der Möglichkeit einer teleologi-
schen Weltanschauung (also einer Metaphysik) und von Bl. 165 = S. 196,
Z. 23–S. 197, Z. 30 ab Unterschied von Natürlichem und dem Geistigen
(verstehenden Erklärens). Schon Bl. 168 = S. 200, Z. 12–S. 201, Z. 19,
der Hauptsache nach von Bl. 171 = S. 204, Z. 1–S. 205, Z. 1 ab. Verste-
hende Erklärung vgl. besonders Bl. 171 ff. = S. 204, Z. 1 ff..“ Darunter
findet sich der mit Bleistift geschriebene Hinweis: „Metaphysik und teleo-
logische Weltanschauung Bl. 158 = S. 188, Z. 38–S. 190, Z. 3.“ Auf der
unteren Hälfte der Vorderseite finden sich folgende mit schwarzer Tinte
geschriebene und auf die jeweiligen Blattnummern bezogenen Aufschriften:
„ ‚Philosophie‘ Bl. 180 = S. 213, Z. 39–S. 215, Z. 16. Rationalismus und
Empirismus, Positivismus Bl. 191–199 = S. 226, Z. 30–S. 236, Z. 4. Positiv
erklärende Naturwissenschaften gegenüber den antiken teleologischen.
Dann Phänomenologie. Rückgang zur Idee der Wissenschaftslehre und zu
dem Aufbau der ontologischen Disziplinen Bl. 222 = S. 263, Z. 13–S. 264,
Z. 7. Ausgezeichnete Stellung der transzendentalen Phänomenologie Bl.
225 = S. 268, Z. 4–S. 269, Z. 4.“ Darunter schrieb Husserl mit schwarzer
Tinte: „Formale Ontologie“ und daneben mit Bleistift: „Bl. 43 ff. = S. 55,
Z. 17 ff.“. Darunter mit Blaustift „Formenlehre der Sätze“ und mit Bleistift
„Bl. 62 = S. 76, Z. 32–S. 78, Z. 2“ und darunter mit schwarzer Tinte:
„Reale Ontologie Bl. 74 = S. 91, Z. 7–S. 92, Z. 2. Formale Axiologie

sind veröffentlicht in Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Zweiter Teil:
1921–1928, Husserliana xiv, hrsg. v. Iso Kern, Den Haag 1973, S. 341–356 als Text Nr. 17. Die
Blätter 61–68 sind veröffentlicht in Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana
xxxvii, hrsg. v. Robin Rollinger in Verbindung mit Rochus Sowa, Dordrecht 2003, S. 174–182
als Text Nr. 10. – 2) Die Blätter f i 40/228–232 (Fußnote 1, S. 236–S. 239), die Husserl später in
die Vorlesung eingeschoben und f i 40/233a zugeordnet hat (S. 235, Z. 16–S. 236, Z. 4), können
mit Sicherheit auf 1925 datiert werden, da das letzte Blatt ein Schreiben der Oberrheinischen
Automobil-Gesellschaft von Januar 1925 ist. Husserl hat die Vorlesung also auch 1925 noch
einmal zur Hand genommen und zumindest teilweise gelesen.
xiv einleitung der herausgeberin

und Praktik. Übergreifen der formalen Disziplinen aufeinander Blätter


128 ff. = S. 155, Z. 1 ff.“. Rechts unten auf der Seite schrieb Husserl mit
schwarzer Tinte: „Wesensgliederung der Welt und Abbau Bl. 1522 = S. 181,
Z. 31–S. 182, Z. 14. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Bl.
153 = S. 182, Z. 14–S. 183, Z. 18. Mathesis universalissima Bl. 153 ff. =
S. 182, Z. 14 ff.. Ethik, Verbesserungen über das Prinzip der individuellen
Liebe bis Bl. 120 = S. 144, Z. 12–S. 147, Z. 21. Formaler Charakter der
hedonistischen Ethik Bl. 1302 = S. 157, Z. 32–S. 158, Z. 14. Materiale Ethik.
Egoismus, Altruismus Bl. 139 = S. 168, Z. 12–S. 169, Z. 7. Soziale Ethik
Bl. 1402 = S. 169, Z. 7–S. 170, Z. 20. Apriorische Ontologie der Sozialität
Bl. 150 = S. 179, Z. 5–S. 180, Z. 3.“ Die Rückseite des Umschlagsblattes
(f i 40/1) ist unbeschrieben.
Blatt f i 40/2 ist ein nicht paginiertes, durch Abreißen unsauber halbiertes
Blatt. Auf der Vorderseite (f i 40/2a) befinden sich die letzten Sätze eines mit
Tinte von Husserl geschriebenen Textes. Auf der Rückseite notierte Husserl
folgenden Buchtitel: Alfred Loewy: Lehrbuch der Algebra I.i Grundlagen
der Arithmetik, und darunter „m 526b “ (wohl die Signatur des Buches in
der Freiburger Universitätsbibliothek) sowie folgende Bemerkung: „In der
Einleitung wichtige mathematische Mitteilungen über den Schluss von n auf
n + 1 und über die Methode der Beweise der Widerspruchslosigkeit eines
Axiomensystems.“
Die Blätter f i 40/3–7 enthalten zwei von Husserl mit Unterstreichungen
und kleinen Korrekturen versehene Inhaltsangaben der Vorlesung. Diese
beiden Inhaltsangaben wurden in die vorliegenden Edition nicht übernom-
men. Sie wurden allerdings teilweise benutzt für die Einteilung des Textes der
Vorlesung von 1919/20, da das stenographische Original der Vorlesung selbst
weder eine Gliederung durch Überschriften noch durch Nummerierung der
einzelnen Vorlesungen enthält. Die sich im Drucktext der Vorlesung von
1919/20 findende Gliederung sowie alle Titel stammen von der Herausgebe-
rin. Bei der Formulierung der Titel wurden oft Formulierungen der beiden
Inhaltsangaben oder Randbemerkungen Husserls oder Teile von Sätzen des
Vorlesungstextes benutzt.
Die erste, relativ knappe Inhaltsangabe auf Blatt f i 40/3 bezieht sich auf
die Blätter „40“ (f i 40/58; S. 52, Z. 4–S. 53, Z. 12) bis „240“ (f i 40/275;
S. 285, Z. 4–S. 286, Z. 10) und ist eine Auflistung und Beschreibung der
verschiedenen besprochenen Themen. Die untere Hälfte der Seite f i 40/3b
ist umgekehrt beschrieben; dieses Textstück ist gestrichen. Am Rand findet
sich die mit Bleistift geschriebene Bemerkung „ad 224, nicht gelesen“ (f i
40/259; S. 267, Z. 1–S. 268, Z. 3), was vermuten lässt, dass Husserl erst die
einleitung der herausgeberin xv

Vorlesung mit Bleistift paginiert, dann dieses Blatt in den Vorlesungstext


hineingelegt und als „ad 244“ paginiert hat, es später aber wieder aus der
Vorlesung entnommen und darauf die Inhaltsangabe niedergeschrieben hat.
Eine zweite, sehr detaillierte Inhaltsangabe umfasst vier mit Bleistift von
„1“ bis „4“ nummerierte Blätter (f i 40/4–7), deren Vorder- und Rückseiten
mit Tinte von „i“ bis „viii“ paginiert sind. Die Inhaltsangabe beschränkt
sich auf das Anfangsstück der Vorlesung. Dieses Anfangsstück hat Husserl
der Vorlesung von 1916 (und 1918) entnommen. Dies bezeugt der sich am
oberen Rand der ersten Seite (f i 40/4a) der Inhaltsangabe befindliche Hin-
weis „Anfang aus der ersten Freiburger Einleitung in die Philosophie“. Mit
Blaustift hat Husserl hinzugefügt „Reicht nur bis Bl. 52 = S. 65, Z. 33–S. 66,
Z. 23“. Hier ist ihm ein Fehler unterlaufen, die Inhaltsangabe erstreckt sich
bis Blatt „53“ (f i 40/73; S. 66, Z. 1–S. 68, Z. 5).
Das Vorlesungsmanuskript selbst beginnt mit Blatt f i 40/8. Dessen Vor-
derseite (f i 40/8a) trägt die mit Bleistift geschriebene Aufschrift: „In Freiburg
die erste Vorlesung. 2.V.1916“ sowie den ebenfalls mit Bleistift geschriebe-
nen Titel „Einleitung in die Philosophie“. Das ganze Manuskript ist teils auf
liniertem, teils auf nicht liniertem Papier geschrieben. Es ist möglich, dass
die nicht linierten Blätter aus der Vorlesung von 1916 (und 1918) stammen,
weil die eindeutig der Vorlesung von 1916 (und 1918) zuzuordnenden Blätter
ebenfalls nicht liniert sind.1 Husserl hat die ersten 48 Blätter der Vorlesung
teils mit Tinte, teils mit Bleistift paginiert, von Blatt „49“ ab (f i 40/68; S. 61,
Z. 3–S. 62, Z. 27) weist die Vorlesung eine konsistente Bleistiftpaginierung
auf.
Blatt f i 40/16 ist nicht paginiert und enthält folgende Notizen „Aus
Groos, Untersuchungen über den Aufbau der Systeme, Bd. 71, Z. f. Ps. (1.
Abhandlung der alten Zeitschrift Z. f. Ps. und Phys.), 1915, S. 54 ff.“.2 Rechts
oben auf diese Seite schrieb Husserl mit Tinte „Leitfaden der Entwicklung
der Philosophie bis Aristoteles“. Das Blatt wurde von Husserl hinter das
mit „8“ paginierte Blatt eingeschoben (S. 8); aber weil Husserl darin nicht
auf den Vorlesungstext verweist und es auch nichts zum Verständnis des
Vorlesungstextes beiträgt, wird der Text dieses Blattes im vorliegenden Band
nicht abgedruckt. Blatt f i 40/25 (S. 19, Z. 12–S. 19, Z. 31) wurde von Husserl

1 So ist zum Beispiel das auf 1916 datierte Blatt f i 40/8 (S. 3) nicht liniert. Andererseits ist

der Abschnitt über Ethik teils auch auf nicht liniertem Papier geschrieben, und dieser ist nicht
1916 und 1918 vorgetragen worden.
2 Es handelt sich um K. Groos, „Untersuchungen über den Aufbau der Systeme“, Zeitschrift

für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abteilung. Zeitschrift für Psychologie, 71.
Band, Leipzig 1915, S. 54–137.
xvi einleitung der herausgeberin

als „16a “ paginiert und wird, da der Text nahtlos anschließt, in den Haupttext
zwischen die mit „16“ und „17“ paginierten Blätter aufgenommen. Blatt f i
40/27 (S. 20, Fußnote 1) ist als Beiblatt „ad 172 “ gekennzeichnet; der Text
dieses Blattes wurde als Anmerkung zu Blatt f i 40/26 (S. 20, Z. 31–S.21, Z. 9)
aufgenommen, wo Husserl auf dieses Beiblatt als „Beilage“ verweist. Blatt
f i 40/28 (S. 21, Z. 9–S. 22, Z. 29) hat Husserl als „17b “ bezeichnet; es wurde,
da sein Text an den des vorangehenden Blattes anschließt, in den Haupttext
nach dem mit „17“ paginierten Blatt aufgenommen. Auf dieses eingefügte
Blatt schrieb Husserl mit Bleistift: „Cf. die neue Vorlesung“. Diese neue
Vorlesung fängt wahrscheinlich auf dem folgenden Blatt f i 40/29 (S. 22,
Z. 29–S. 23, Z. 37) an, da es nicht paginiert ist und Husserl rechts oben mit
Bleistift „Recapitulation“ geschrieben hat. Die Paginierung geht auf Blatt
f i 40/30 (S. 23, Z. 9–S. 31, Z. 8) mit „18“ weiter. Blatt f i 40/32 (S. 26,
Z. 17–S. 27, Z. 20) ist nicht paginiert, der Text schließt jedoch an den Text
des Blattes f i 40/31 (S. 25, Z. 8–S. 26, Z. 17), das mit „19“ paginiert ist, an
und läuft weiter auf Blatt f i 40/33 (S. 27, Z. 21–39), paginiert mit „20“.
Die Blätter f i 40/36 (S. 30, Z. 9–S. 31, Z. 8) und 37 (S. 31, Z. 8–S. 32, Z. 35)
hat Husserl mit „22a “ und „22b “ paginiert. Auf Seite f i 40/35b (S. 29, Z. 25–
S. 30, Z. 8) hat Husserl unten rechts am Rand mit Bleistift angemerkt: „Den
Übergang zur nächsten Vorlesung neu ausarbeiten“. Auf Seite f i 40/36a
(S. 30, Z. 9–31) hat er am Rand mit Blaustift geschrieben: „Vgl. nächste
Vorlesung. Eingeklammertes über Gorgias’ und Protagoras’ Wirkung auf
Platon. Dieses Blatt gelesen, aber wertlos. Vgl. nächste Vorlesung“. Seite f i
40/37a trägt einen ähnlichen Vermerk: „Wertlos. Vgl. nächste Vorlesung“.
Diese neue Vorlesung fängt wohl auf Blatt f i 40/38 (S. 33, Z. 1) an und ist
mit Bleistift mit „23“ paginiert.
Blatt f i 40/41 ist nicht paginiert und ist teilweise gestrichen. Der gestri-
chene Text dieses Blattes schließt an einen gestrichenen Absatz auf Seite f i
40/45b an; der nicht gestrichene Text bricht nach einem Absatz auf Seite 41b
ab; dieses Textstück wurde als Fußnote in den Editionstext aufgenommen
(S. 39, Fußnote 2). Blatt f i 40/46 (S. 41, Z. 1–29) ist als „29a“ gekennzeichnet;
es bildet den Anfang einer neuen Vorlesung und liegt zwischen den mit „29“
und „30“ paginierten Blättern. Blatt f i 40/53 ist von Husserl als „Beilage
zu 35“ gekennzeichnet und wurde als Anmerkung dem Editionstext des
Blattes f i 40/52 (S. 47, Fußnote 1) an der Stelle eingeordnet, an der Husserl
auf diese Beilage verweist. Blatt f i 40/59 kennzeichnete Husserl als „zu
40“ und paginierte es dann auch als „41“; der Text dieses Blattes ist unten
in den laufenden Text aufgenommen (S. 53, Z. 12–S. 54, Z. 25), weil der
Text der Seite 59b an den Text der Seite 60a anschließt. Blatt f i 40/66 hat
einleitung der herausgeberin xvii

Husserl als „ad 48“ gekennzeichnet; es wurde in die Fußnoten des zu Blatt
65 (paginiert mit „48“), gehörigen Textes aufgenommen (S. 61, Fußnote 2).
Blatt f i 40/69 (S. 62, Z. 28–S. 63, Z. 13) ist mit „49a “ paginiert; sein Text ist
in den laufenden Editionstext aufgenommen und zwischen die Texte der mit
„49“ und „50“ paginierten Blätter eingefügt. Blatt f i 40/95 (S. 93, Fußnote 1)
ist ein halbiertes Blatt, das Husserl als „ad 75“ gekennzeichnet hat; sein Text
wurde als eine Fußnote dem Text des Blattes „75“ zugeordnet.
Das rückseitig mit Vorlesungstext beschriebene Blatt f i 40/103 (S. 100,
Z. 36–S. 101, Z. 10) ist ein von Husserl ausgefülltes Zeugnisformular der
philosophischen Fakultät Freiburg „zur Vollendung der Strassburger Dok-
torprüfung des Kandidaten Ludwig Lampert“ vom 6. November 1919. Blatt
f i 40/107 ist mit Rotstift als Blatt „86“ paginiert; es wird im vorliegenden
Band nicht abgedruckt. Dieses Blatt ist weniger als ein Viertel eines norma-
len Blattes groß; auf der Vorderseite (f i 40/107a) hat Husserl die folgende
Angabe niedergeschrieben: „Naturwissenschaftliche – teleologische (natura-
listische – geistige) Welterklärung. Bl. 86–152 = S. 104, Z. 29–S. 181, Z. 11
wird nicht davon, sondern vom System der formalen Disziplinen gehandelt.
Rekapitulation Bl. 152 = S. 181, Z. 13–31 zu lesen. Da wird nachträg-
lich erst die richtige Scheidung zwischen Natur und Geist herangebracht“.
Auf der Rückseite hat Husserl mit Tinte angemerkt: „Also eigentlich der
nachträgliche Versuch, in den Gedankengang Ordnung hineinzubringen“.
Die Blätter f i 40/125 und 126, paginiert als „1031 “ und „1032 “, wurden
in den laufenden Text zwischen die Blätter „102“ und „104“ eingefügt
(S. 125, Z. 4–S. 127, Z. 14). Blatt f i 40/127 ist ein nicht paginiertes, mit
Bleistift beschriebenes Blatt; sein Text ist unten als Anmerkung zu Blatt 126
aufgenommen (S. 127, Fußnote 2). Die Blätter f i 40/144 und 145 sind von
Husserl nicht paginiert worden; der Text dieser Blätter wurde, da er sich nicht
in den fortlaufenden Vorlesungstext einfügen ließ, in die Fußnoten zu Blatt
143 aufgenommen (S. 146, Fußnote 1). Blatt f i 40/148 wurde von Husserl als
Beilage bezeichnet; er war aber selbst unschlüssig, ob es als Beilage dem als
„123“ paginierten Blatt oder dem mit „130“ paginierten Blatt zugewiesen
werden sollte; im vorliegenden Band findet sich der Text als Fußnote zu dem
Text des als „130“ paginierten Blattes f i 40/156 (S. 256, Fußnote 1). Blatt
f i 40/153 wurde, Husserls Zuweisung folgend, dem mit „126“ paginierten
Blatt 152 als Fußnote zugeordnet (S. 153, Fußnote 2). Auf Blatt f i 40/178,
das Husserl als „150a “ paginiert hat, hat er einen „Zusatz“ zu Blatt 177
geschrieben, der in die Fußnoten zu dem Text dieses Blattes aufgenommen
ist (S. 180, Fußnote 1). Blatt f i 40/183 ist ein nicht paginiertes Blatt; es findet
sich als Fußnote zu Blatt 182 abgedruckt (S. 184, Fußnote 1).
xviii einleitung der herausgeberin

Die fünf mit „1“ bis „5“ nummerierten Blätter f i 40/228–232, die mit
„Problematik des Rationalismus. Descartes – Spinoza“ überschrieben sind,
wurden von Husserl erst 19251 in die Vorlesung eingeschoben und mit dem
Vermerk „ad 199“ dem Blatt f i 40/233 zugewiesen; diese Blätter sind als
Fußnoten in den Editionstext aufgenommen (S. 236, Fußnote 1).
Blatt f i 40/258 hat Husserl als „Beilage ad 223b“ gekennzeichnet; sein
Text wurde an der von Husserl bezeichneten Stelle von Blatt 257 als Anmer-
kung eingefügt (S. 266, Fußnote 1). Blatt f i 40/268 hatte Husserl ursprünglich
mit „236“ paginiert, diese Paginierung aber später gestrichen und das Blatt
mit dem Vermerk versehen: „besser als Beilage zu 232“; dieses Blatt ist
unten als Beilage zu Blatt „232“ aufgenommen (S. 277, Fußnote 2). Es gibt
also kein als „236“ paginiertes Blatt mehr. Das als „237“ paginierte Blatt
f i 40/272 bildet wahrscheinlich den Anfang einer neuen Vorlesung (S. 281,
Z. 14).
Die Bruchstücke der Vorlesung von 1916 und 1918 wurden von Husserl
in die Konvolute f i 42 und f i 30 gelegt. Der Text dieser Bruchstücke ist
mit schwarzer Tinte geschrieben und weist Unterstreichungen, Streichun-
gen, Veränderungen, Hinzufügungen und Randbemerkungen mit schwar-
zer Tinte, Bleistift, Blaustift und Rotstift auf.2 Wie der Vorlesungstext im
Konvolut f i 40 ist auch dieser Text von Husserl nicht mit Überschriften
versehen oder nach Vorlesungen eingeteilt worden; die Einteilung und die
Überschriften im Drucktext des vorliegenden Bandes stammen von der
Herausgeberin; bei den Überschriften wurden wiederum Husserls Randtitel
berücksichtigt.
Das erste Bruchstück der Vorlesung befindet sich im Konvolut f i 42, dort
hat Husserl zusammengelegt: „Abfälle aus ‚Einleitung‘ in die Philosophie
Vorlesungen 1916–1919“ (f i 42/2a–21b)3 und „Kantvorlesung. Herausge-
nommene Bruchstücke“ (f i 42/41a) aus der Vorlesung „Kant und die nach-
kantische Philosophie“ vom Wintersemester 1905/064 und Wintersemester

1 Blatt „232“ ist ein Schreiben von Januar 1925; vgl. auch oben S. xii, Fußnote 5.
2 Wie schon oben erwähnt (vgl. S. xii), ist es wahrscheinlich, dass Husserl diese Manuskripte
nach der Vorlesung „Einleitung in die Philosophie“ vom Sommersemester 1916 und 1918 auch
für andere Vorlesungen benützt hat.
3 Diese „Abfälle“ werden im vorliegenden Band nicht abgedruckt. Es handelt sich bei ihnen

um fragmentarische Stücke, die Husserl wahrscheinlich 1916 geschrieben hat und die er, als
er später (nach der Wiederholung in 1918) die Einleitung dieses zweites Teiles der Vorlesung
überarbeitet hat, weggelassen und neu ausgearbeitet hat (vgl. auch S. xii).
4 Husserl hielt diese Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags von 17–18 Uhr

für 38 Hörer. Die erste Vorlesungsstunde fällt auf den 26. Oktober 1905. Vgl. Husserl-Chronik,
S. 93. Auf Seite f i 42/75b findet sich die Datierung „6.xi.05“.
einleitung der herausgeberin xix

1907/08.1 Die „Abfälle“ hat Husserl wohl nach der Vorlesung von 1919/20
in dieses Konvolut gelegt; das wird dadurch nahegelegt, dass Husserl für
den Innenumschlag der Bruchstücke der Kantvorlesung (f i 42/41–111) ein
Schreiben von Franz Josef Brecht vom 3. Juli 1921 verwendet hat und der
Innenumschlag des ersten Bruchstückes der Vorlesung von 1916 und 1918
(f i 42/112–205) eine Todesanzeige vom 29. März 1921 ist. Auf diesen letzten
Umschlag hat Husserl mit Blaustift geschrieben: „Aus den Vorlesungen über
Einleitung in die Philosophie im ersten Freiburger Sommersemester
1916.“ Darunter gibt er folgende kurze Inhaltsangabe: „Bl. 3 = S. 290,
Z. 9–S. 291, Z. 18 Descartes Meditationes. Kritischer Realismus Bl.
16 = S. 304, Z. 35–S. 305, Z. 37. Bl. 37 = S. 328, Z. 5–S. 329, Z. 6
Locke – Hume, sensualistischer Psychologismus. Leibniz (kurz) konstruktiv-
regressive metaphysische Erkenntnistheorie“. Leibniz wird jedoch erst im
zweiten Bruchstück behandelt (f i 30/43a–70a; S. 435, Z. 4–S. 467, Z. 39).
Das zweite Manuskript, das Husserl der Vorlesung von 1916 und 1918 zu-
geordnet hat, liegt im Konvolut f i 30. Auf den Gesamtumschlag von f i 30 hat
Husserl mit Blaustift geschrieben: „Stück der ersten Freiburger Einleitung
in die Philosophie Sommersemester 1916 (und 1918). Leibniz Bl.
400–414b = S. 449, Z. 18–S. 467, Z. 39 = formale Ontologie und materiale
Ontologie. Bl. 414b = S. 468, Z. 1–Bl. 416 = S. 469, Z. 27 Kant (gut),
Bl. 416 ff. = S. 469, Z. 16 ff. Kritik Kants. Bl. 431 ff. Husserliana vii,
S. 395 ff. Schlussblick auf die nachkantische Philosophie“. Den letzten Teil
hat Husserl in das Konvolut b iv 10 hineingelegt; er ist als Beilage xxi in
Husserliana vii veröffentlicht.2
Das erste Bruchstück der Vorlesung von 1916 und 1918 ist mit Bleistift
durchgehend von „1“ bis „43“ paginiert (f i 42/114–155); mit Blatt f i 42/155
(S. 333, Z. 17) beginnt eine zweite Paginierung mit Bleistift, die von „301“
bis „347“ läuft (f i 42/155–204).3 Diese Paginierung setzt sich fort im zweiten
Bruchstück der Vorlesung von 1916 und 1918, das sich im Konvolut f i
30 befindet. f i 30/2–77 ist durchgehend mit Bleistift von „348“ bis „421“
paginiert. Die Paginierung geht aber von „422“ bis „433“ weiter auf den
bereits veröffentlichten Blättern, die sich im Konvolut b iv 10 befinden.
1 Husserl hielt die Vorlesung montags, dienstags, donnerstags und freitags jeweils von 17–

18 Uhr für 60 Hörer. Die erste Vorlesungsstunde wurde am 25. Oktober 1907 gehalten. Der
vorliegende Manuskripttext f i 42/53–110 ist durchgehend von „32“ bis „92“ paginiert (mit
Ausnahme von „44“ und „52“).
2 Husserliana vii, S. 395–408.
3 f i 42/156a ist doppelt paginiert als „44“ und „302“, das anschließende Blatt f i 42/157a als

„45“ und „303“. f i 42/158 ist paginiert als „46“; von f i 42/159 an wird die Paginierung mit
„304“ fortgesetzt.
xx einleitung der herausgeberin

Das erste Blatt des ersten Bruchstückes (f i 42/113) ist ein Blatt, das Hus-
serl aus dem Textzusammenhang genommen hat; der Paginierung folgend
(„47“) wurde dieses Blatt wieder in den Textzusammenhang eingeordnet
(S. 338, Z. 1–S. 339, Z. 6). Wie oben schon erwähnt, tragen die Seiten f i
42/162b (S. 343, Fußnote 2) und 186a (S. 370, Fußnote 2) jeweils eine Datie-
rung (5.6.1916 und 26.6.1916). Blatt f i 42/164 (S. 321, Z. 31–S. 322, Z. 9)
ist als „31“ paginiert, aber von Husserl verlegt worden; in der vorliegenden
Edition findet sich dieses Blatt wieder zwischen „30“ (f i 42/142; S. 320, Z.
28–S. 321, Z. 30) und „32“ (f i 42/144; S. 322, Z. 10–S. 323, Z. 23) eingeordnet.
Auf der Seite f i 42/187b findet sich ein Schreiben, das vom 13. Juni 1916
datiert. Die Blätter f i 42/197 und 198 (S. 351, Z. 13–S. 353, Z. 30), welche als
„214“ und „215“ paginiert sind, sind von Husserl ebenfalls verlegt worden;
sie finden sich im Drucktext dieser Edition wieder an ihrem richtigen Ort
zwischen den Blättern „213“ (f i 42/170) und „216“ (f i 42/171).
Das zweite Bruchstück der Vorlesung 1916 und 1918 umfasst 76 Blätter,
die mit Bleistift von „348“ bis „421“ paginiert sind; als Umschlag (f i
30/1 + 78) hat Husserl einen Brief von Max Küner benutzt, der vom 24.
November 1919 datiert. Wie oben erwähnt, liegen die Blätter, die Husserl
von „422“ bis „433“ paginiert hat, im Konvolut b iv 10. Das zuerst mit
„361“ paginierte Blatt f i 30/13 (S. 400, Fußnote 1) wurde von Husserl
später stark überarbeitet, nach Streichung der ursprünglichen Paginierung
mit dem Vermerk „zu 359, Ergänzung“ versehen und nach dem Blatt f i 30/14
(paginiert mit „359“; S. 401, Z. 3–S. 402, Z. 2) eingeordnet; daher folgt im
Konvolut f i 30 auf das mit „360“ paginierte Blatt f i 30/15 (S. 402, Z. 3–S. 403,
Z. 10) direkt das mit „362“ paginierte Blatt f i 30/16 (S. 403, Z. 10–S. 404,
Z. 8). Blatt f i 30/18 (S. 405, Z. 11–S. 406, Z. 15) ist als „363a “ dem Blatt f i
30/17 (S. 404, Z. 8–S. 405, Z. 11) zugeordnet, das Husserl mit „363“ paginiert
hat. Das Blatt f i 30/47 ist von Husserl nicht paginiert worden; es kommt in
der vorliegenden Edition in den Fußnoten zum Abdruck (S. 439, Fußnote 1).

*
Der im vorliegenden Band abgedruckte Text der Vorlesung von 1919/20
sowie der Text des Bruchstückes der Vorlesung von 1916 (und 1918) werden
letzter Hand ediert; jedoch werden inhaltlich bedeutsame Stellen, die Hus-
serls gestrichen hat, als Fußnoten abgedruckt. Neben Husserls Randbemer-
kungen werden auch die von Husserl am Rand angebrachten kommentieren-
den Zeichen, insbesondere Nullen und Fragezeichen, dem Drucktext zuge-
ordnet und als Fußnoten wiedergegeben. Die zahlreichen Unterstreichungen
Husserls wurden nur in den Fällen berücksichtigt und durch Sperrdruck
einleitung der herausgeberin xxi

wiedergegeben, wo sie zum besseren Verständnis des Textes beitragen. Von


Husserl eingefügte eckige Klammern sind im Drucktext als runde Klammern
wiedergegeben; vermutlich wollte Husserl mit diesen Klammern andeuten,
dass das eingeklammerte Textstück nicht vorgetragen wurde oder nicht
vorgetragen werden sollte. Wenn Husserl aus Werken der Geschichte der
Philosophie zitiert, finden sich die vollständigen bibliographischen Angaben
in den Fußnoten. Einfügungen in den Text Husserls, die von der Heraus-
geberin stammen, sind zwischen spitze Klammern gesetzt. Die sich in den
Fußnoten findenden Angaben darüber, ob es sich bei dem Fußnotentext um
eine Randbemerkung, eine gestrichene Stelle, eine Beilage usw. handelt, sind
kursiv gedruckt und dem Fußnotentext vorangestellt.

*
Zum Schluss einige Worte des Dankes. Zunächst möchte ich dem Direktor
des Husserl-Archivs Leuven, Professor Dr. Ullrich Melle, sowie dem ehema-
ligen Direktor, Professor Dr. Rudolf Bernet, für das Vertrauen danken, das
sie in mich gesetzt haben, als sie mich mit dieser Edition beauftragten. Ferner
möchte ich Professor Melle, Dr. Rochus Sowa und Dr. Thomas Vongehr für
ihre zahlreichen Ratschläge, für das Lösen letzter Transkriptionsrätsel und
für ihre Korrekturarbeit an verschiedenen Versionen des Textes danken. Im
Besonderen möchte ich aber Dr. Rochus Sowa danken, der den gesamten
Editionstext abschließend korrekturgelesen, die Zeichensetzung besorgt so-
wie diese Einleitung grammatikalisch und stilistisch überarbeitet hat.

Chicago, Juni 2011 Hanne Jacobs


EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE
Vorlesung 1919/20

Die eigentümliche Problemsphäre der Philosophie

Eine Einführung in die Philosophie kämpft mit Schwierigkeiten, wie sie


die Einführung in keine andere Wissenschaft kennt. Das Forschungsgebiet
jeder nicht-philosophischen Wissenschaft ist dem Anfänger im Voraus be-
kannt, es ist ihm durch die natürliche Erfahrung oder sonstige allgemeine
Anschauungen des praktischen Lebens wohlvertraut, und so weiß er von
vornherein, worum es sich handelt. Ist es Zoologie oder Botanik, ist es
Psychologie, Sprachwissenschaft, Kunstwissenschaft, so weiß er: Es handelt
sich um Tiere oder Pflanzen, es handelt sich um Seelenleben oder um die
Sprache, die Kunst usw. Der Blick ist sofort auf Bestimmtes und Bekann-
tes, nur eben noch nicht wissenschaftlich Erkanntes dirigiert. Unter den
wissenschaftlichen Disziplinen finden wir freilich auch so manche, deren
Gebiete jenseits der gemeinen Erfahrung und Anschauung liegen – sei es,
dass methodisch-künstlich geleitete Erfahrung auf Zusammenhänge führt,
die dem natürlichen Menschen verborgen waren, sei es, dass sich wissen-
schaftliche Forschung stufenweise aufbaut und sich relativ selbständige Dis-
ziplinen höherer Stufe abzweigen – aber dann macht die Einführung in diese
Disziplinen doch keine prinzipielle Schwierigkeit. Es wird eben wie zum
Beispiel bei der Chemie durch Vorführung von fundamentalen Experimen-
ten Sorge getragen für die Gewinnung jener neuen Erfahrungen, die dem
Anfänger durch den Gang seines früheren Lebens noch nicht dargeboten
sein konnten. Oder wenn es sich um eine Disziplin höherer Stufe handelt
(wie in der Geometrie um die sogenannte analytische Geometrie, in der
Zahlenlehre um die Theorie der komplexen Zahlensystemen u. dgl.), nun
dann steht der Anfänger selbstverständlich schon dicht an der höheren Stufe:
Er hat die niederen Disziplinen seiner allgemeinen Wissenschaft schon aus-
reichend studiert, und die Einführung in die höheren Disziplinen verfügt frei
über die vorangegangenen Einsichten, die hier die Rolle der vorgebenden
Anschauung spielen.
In all diesen Beziehungen verhält es sich nun ganz anders bei der Philo-
sophie. Denn was wir im spezifischen Sinne „Philosophie“ nennen und aus

H. Jacobs (ed.), Einleitung in die Philosophie Vorlesungen 1916–1920, 1


Husserliana: Edmund Husserl – Materialien IX, DOI 10.1007/978-94-007-4659-6_1,
© Springer Science+Business Media Dordrecht 2012
2 einleitung in die philosophie

notwendigen Gründen, nämlich um Erkenntnisinteressen höchster Dignität


genugzutun, als eigene Wissenschaft abgrenzen müssen, das ist keine den
nicht-philosophischen Wissenschaften irgendwie gleichzuordnende Wissen-
schaft. Das Verhältnis ist also nicht etwa dies wie etwa das zwischen Botanik
und Zoologie oder Physik und Chemie, die einen allgemeinen Boden, hier
den der Natur, zu Zwecken wissenschaftlicher Forschung unter sich teilen
und somit gemeinsam haben. Es handelt sich auch nicht um Sonderdiszipli-
nen höherer Stufe, nicht um Problemgruppen, die im Verfolg der Entwick-
lungslinien der natürlichen wissenschaftlichen Theorien liegen. Also etwa so,
wie sich in der Physik oder reinen Mathematik immer höhere Disziplinen
aussondern, die durch die spezifisch physikalische oder mathematische Pro-
blematik gefordert sind. Die eigentümliche Problemsphäre der Philosophie
liegt vielmehr in einer gegenüber allen sonstigen, den nicht-philosophischen,
Wissenschaften völlig neuen Dimension.
Das Bild von der neuen Dimension, das dem geometrischen Gebiet
entstammt, ist bedeutsam. Machen wir uns es klar. „Ebenen-Geometrie“
treiben, die bloßen Ebenen und ihre Gebilde erforschen, das heißt: auf die
körperliche Dimension nicht Rücksicht nehmen. Sie ist aber immer da und
alles Räumliche ist auch der dritten Dimension nach bestimmt. Natürlich
darf man einem Gleichnis nicht zu viel zumuten, aber was uns für den
Zweck der bildlichen Rede dienen soll, ist damit angedeutet: Alles, was
die nicht-philosophischen Wissenschaften erforschen, hat auch seine philo-
sophischen „Dimensionen“, aber eben diese zu erforschen, liegt außerhalb
des thematischen Rahmens dieser Wissenschaften. Die reine Philosophie
bezieht sich also mit auf alle Wissenschaften, aber was sie sucht in ihren
reinen Disziplinen und theoretisch fasst, das kann sie (aus Wesensgründen)
nicht in diesen Wissenschaften, nicht im immanenten Zusammenhang ihrer
theoretischen Arbeit je gewinnen. Dabei ist aber das Gleichnis insofern (wie
von vornherein gesagt werden muss) unpassend, als hier nichts weniger als
eine Gleichartigkeit aller Dimensionen statthat. Die philosophische Dimen-
sion bringt nicht ergänzende, aber gattungsmäßig verwandte, sondern dem
gattungsmäßigen Wesen nach neuartige Probleme.
Dass Philosophie in der Tat etwas ist, das auf alle Wissenschaften Bezie-
hung hat, das zeigt sich äußerlich darin, dass wir allen Wissenschaftsgruppen
Philosophien zuordnen. Der Naturwissenschaft entspricht die Naturphiloso-
phie und spezieller der Physik eine Philosophie des Physischen, der Biologie
eine Philosophie der Biologie usw. Ebenso entspricht den Geisteswissen-
schaften die Philosophie des Geistes, der Geschichte eine Philosophie der
Geschichte usw. Ähnliches gilt auch für die mathematischen Disziplinen.
die eigentümliche problemsphäre der philosophie 3

Der Geometrie reiht sich an die Philosophie der Geometrie (Philosophie


des Raumes), der Arithmetik die Philosophie der Arithmetik (der Zahl).
Dass die Forschung in diesen philosophischen Paralleldisziplinen in einer
neuen Richtung liegt, das fühlt jeder, der von den einen Disziplinen in die
parallelen übergeht. Aber ich will und darf mich hier auf kein Gefühl und auf
keine vorangehenden Kenntnisse der fraglichen Disziplinen stützen. Meine
Aufgabe ist es vielmehr, Sie schrittweise die Höhenwege zu führen, die Sie
von dem natürlichen Standpunkt, dem der natürlichen Wissenschaften, zu
dem philosophischen Standpunkt erheben.
Ich will Sie die Problemmotive empfinden lassen, die Ihren natürlich
eingestellten Blick, der bisher durchaus die Ebene der natürlichen Erkennt-
nissphären, die der vorphilosophischen Wissenschaften, auf- und abläuft, zur
Ablenkung zwingt und Ihnen die neue Dimension als eine überall wirklich
vorhandene sichtbar macht. Es ist damit schon gesagt, dass diese philosophi-
sche Blickrichtung den natürlichen und gewohnheitsmäßig festen Erkennt-
nistendenzen zuwiderläuft, dass es erst der Beistellung gewisser Denkmotive
bedarf, um sie zu ermöglichen, und dass diese philosophische Blickstellung
eben wegen ihrer Ungewohnheit und ihrer Gebundenheit an die Erfassung
vorbereitender Denkmotive nicht leicht festzuhalten ist und getrübt von
Rückfällen in die natürliche Blickstellung. Aber das sind durchaus über-
windbare Schwierigkeiten für jeden Anfänger, der hier das sucht, was ich
ihm gerne bieten möchte: eine Einführung in die Philosophie als echte und
strenge Wissenschaft. „Königswege“ gibt es in die Philosophie nicht, man
muss die Wege gehen, die ihr eigentümliches Wesen vorzeichnet.
Mit den wenigen einleitenden Worten, die ich bisher gesprochen habe,
drückt sich bereits eine Grundauffassung vom Wesen der Philosophie aus,
die keineswegs von allen, die sich „Philosoph“ nennen, unter philosophi-
schen Titeln Schriften veröffentlichen und Universitätsvorlesungen halten,
geteilt wird. Aber dies ist eben das ewige Schicksal der Philosophie, dass
sie gegen den Skeptizismus und Negativismus zu kämpfen hat. Es ist ihr
ewiges Schicksal. Denn wir werden sehen, dass es allzeit die Skepsis in
ihren verschiedenen Formen ist, welcher die ursprünglichen Motive der
spezifisch philosophischen Problematik entspringen. Und eine Form dieser
Skepsis ist jener sogenannte Positivismus, der, für alles Philosophische blind,
die menschliche Erkenntnis durchaus auf jene untere Erkenntnisdimension
einschränken will, der alle natürlichen, die vorphilosophischen, Wissen-
schaften angehören. Insbesondere bei Naturforschern und bei Denkern, die
sich an den Naturwissenschaften gebildet haben, finden wir diese Einsicht
verbreitet: Jedes Hinausgehen über die „positiven“ Wissenschaften, die
4 einleitung in die philosophie

Wissenschaften, die es mit „positiven“ Tatsachen, Tatsachen der Erfahrung,


zu tun haben, halten sie für einen Rückfall in die unklare Mystik oder
in den kindlichen Animismus vergangener und längst überwundener Zei-
ten.1
Diesen Standpunkt vertritt zum Beispiel Paulsen und auch der hochver-
diente Physiker und Physiologe Ernst Mach. Es gibt auch nach ihm keine
eigene Wissenschaft „Philosophie“ neben den verschiedenen Sonderwissen-
schaften. Und doch ist „Philosophie“ für ihn kein leerer Name, sondern ein
Titel für notwendige Forschungsgruppen. Nämlich die ungeheure Ausbrei-
tung der wissenschaftlichen Erkenntnis in der Neuzeit, die unvermeidliche
Verselbständigung in immer neue Spezialwissenschaften, deren Umfang von
den einzelnen Forschern kaum noch zu übersehen und theoretisch zu beherr-
schen ist, hatte in Ansehung der höchsten Erkenntnisintentionen Nachteile
zum Gefolge, die schließlich den Fortschritt echter Wissenschaft gefährden
müssen. Jeder Forscher ist Fachmann in seinem Gebiet, das vom Standpunkt
der vom Menschen anzustrebenden Gesamterkenntnis der Natur doch nur
relativ beschränkt ist. Von den übrigen Wissenschaften hat er unzureichende
Kenntnis, auf sie nimmt er wenig oder keine Rücksicht. Schrankenlos ope-
riert er, den Erkenntnismotiven seines eigenen Gebietes folgend, mit Vorstel-
lungsweisen, mit Begriffen und hypothetischen Substruktionen, die sich eben
in seinem Gebiet als fruchtbar erwiesen haben. Geht man aber von Disziplin
zu Disziplin, so stellt es sich oft heraus, dass hypothetische Annahmen, die
der einen Wissenschaft dienen, in Widerspruch stehen mit denen in anderen
Wissenschaften. Die Natur selbst ist aber eine in sich einstimmige Einheit. Es
können also die in den verschiedenen Disziplinen so nützlich fungierenden
Annahmen nicht das sein, wofür sie von den Spezialforschern gewöhnlich ge-
halten werden: objektive Wahrheiten, angemessene Ausdrücke der wahren
Natur. Und auch abgesehen davon, jede Einzelwissenschaft gibt von der Welt
einen einseitigen und unvollständigen Aspekt. Aus all solchen Aspekten die
Summe zu ziehen, ist die Aufgabe einer eigenen synthetischen Arbeit. Da-
nach bedarf es einer die einzelnen Wissenschaften vereinheitlichenden, ihre
echten Erkenntniswerte herausarbeitenden und verknüpfenden Forschung,
und das ist die philosophische. Philosophie, sagt Mach in seinen populär-
wissenschaftlichen Vorträgen ausdrücklich, besteht nur in einer gegenseiti-
gen kritischen Ergänzung, Durchdringung und Vereinigung der speziellen

1 Randbemerkung Auguste Comte, Cours de philosophie positive, quatrième édition, Li-

brairie J.-B. Ballière et Fils, Paris 1877, tome premier 1830 ff. – S. 42.
die eigentümliche problemsphäre der philosophie 5

Wissenschaften zu einem einheitlichen Ganzen.1 Ähnliche Auffassungen fin-


den wir auch sonst oft geäußert, und zwar auch bei Philosophen vom Fach,
so in Paulsens Einleitung in die Philosophie und desgleichen von Wundt, der
die Philosophie als die allgemeine Wissenschaft charakterisiert, welche die
durch die einzelnen Wissenschaften vermittelte allgemeine Erkenntnis zu
einem widerspruchslosen System zu vereinigen habe.
Selbstverständlich leugne ich den Wert, ja die unbedingte Notwendigkeit
einer solchen ausgleichenden und verknüpfenden Forschung nicht; ja sogar
das leugne ich nicht, dass sie sich einem weiteren Begriff von Philosophie
unterordnet, der in der ganzen historischen Tradition der Philosophie eine
beherrschende Rolle spielte. Aber zu völliger Klarheit ist es zu bringen,
dass es eben mit dieser positivistischen Idee einer Philosophie nicht sein
Bewenden haben kann und dass mit ihr die wesentlichsten Ziele der großen
(und für die gesamte Geisteskultur so folgenreichen) Entwicklung der Phi-
losophie durchaus nicht bezeichnet sind. Vielmehr ist gegenüber den posi-
tiven Wissenschaften eine Reihe ganz anders orientierter, obschon auf sie
in eigentümlicher Weise mitbezogener Wissenschaften erwachsen, die, wie
zum Beispiel alle vernunftkritischen Disziplinen, so sehr eine völlig eigene
Stellung haben, dass sie nur in völliger Absonderung von allen anderen
Wissenschaften und frei von allen sachlichen und methodischen Voraus-
setzungen derselben ihre echte Problematik erreichen können. Dass diese
Sachlage erst in jüngster Zeit klar erkannt worden ist, dass die vernunftkriti-
schen Probleme immerfort mit Problemen positiver Wissenschaft vermengt
und mit ihren wesensfremden Voraussetzungen behaftet worden sind, darin
allein liegt der Grund, warum die vernunftkritischen Disziplinen bisher den
Rang strenger Wissenschaft nicht erringen konnten trotz der ungeheuren,
auf sie gewendeten Geistesarbeit. Diese Wissenschaften haben aber eine so
bedeutsame Funktion im Gesamtrahmen der Erkenntnis, dass man sagen und
streng nachweisen kann, dass alle anderen Wissenschaften, auch die künftig
neu zu konstruierenden, ihre letzte Sinngebung, ihre höchste Erkenntnis-
auswertung durch diese philosophischen Disziplinen erhalten müssen und
dadurch selbst auf die philosophische Stufe erhoben werden. Philosophie ist
in der Tat, wie man es so oft gesagt hat, die Wissenschaft von den letzten und
höchsten Fragen. Aber so eigentümlich geordnet ist das System vernünftiger
Fragen überhaupt, dass das unendliche Reich positiver Fragen, die in den

1 Randbemerkung Ernst Mach, Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, zweite Auflage, Jo-

hann Ambrosius Barth, Leipzig 1897, S. 277 korrekt ist: S. 284.


6 einleitung in die philosophie

positiven Wissenschaften in der Unendlichkeit ihrer Theorien ihre Antwort


finden, in allen Stufen Fragen eines und desselben Typus offen lässt, deren
Beantwortung allererst höchste und letzte Erkenntnis ermöglicht. Es sind
Fragen, die so völlig außerhalb der Blickrichtung aller positiven Natur- und
Geistesforschung liegen, dass sie in ihr völlig außer Betracht bleiben müssen.
Auf der rein und streng wissenschaftlichen Ausbildung dieser neuen
Disziplinen beruhen, wie Sie selbst erkennen werden, die größten Hoff-
nungen, welche die Menschheit auf einen weiteren Fortschritt der wissen-
schaftlichen Kultur zu setzen hat. So etwas wie neue Flugmaschinen, die
uns noch vollkommenere Herrschaft über das Luftreich verleihen könn-
ten, neue elektrische Lampen, die uns ein noch strahlenderes Licht liefern
möchten, und sonstige erstaunliche Leistungen materieller Technik kann ich
Ihnen von dieser Seite her natürlich nicht in Aussicht stellen. Aber wohl,
dass es uns in absehbarer Zeit gelingen wird, durch die Kraft jener neuen
und streng wissenschaftlichen Methoden, die wir als „phänomenologische“
kennenlernen werden, uns der altersehnten, obschon auch vielverschmähten
Probleme der Metaphysik wirklich zu bemächtigen, über den letzten Sinn der
Welt und des Menschenlebens, über die alten Ziele höchsten menschlichen
Erkenntnisstrebens, also auch über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, streng
wissenschaftliche Forschungen anzustellen mit entsprechend gesicherten Er-
gebnissen. Gemäß der Höhe der Fortschritte theoretischer Erkenntnis wird
dann eine entsprechende Höhe praktischer Wirksamkeit nicht fehlen. Ich
bin dessen völlig sicher: Es wird dereinst aufgrund der strengen Philoso-
phie eine so wissenschaftliche und so unendlich fruchtbare philosophische
Technik geben, wie sich seit der Renaissance dank der Gründung exakter Na-
turwissenschaften eine unendlich fruchtbare naturwissenschaftliche Technik
ergeben hat.
Wir wollen nun die Ausführungen in möglichst schlichter Weise mit der
Bestimmung eines allgemeinsten Begriffs der Philosophie beginnen, auf
den vorhin vorgedeutet war. Er ist zugleich der durch die historische Ent-
wicklung ursprünglich dargebotene. Bekanntlich stammt das schöne Wort
„Philosophie“ (wie man gewöhnlich übersetzt: „Weisheitsliebe“) aus dem
Griechischen, wo es als nicht minder schöne Parallele das Wort φιλοκαλα,
also Schönheitsliebe, hat. In einem viel zitierten Wort des Herodots tritt es
uns zuerst entgegen, der den Krösus zu Solon sagen lässt: „Ich habe gehört,
dass Du φιλοσοφ
ων (philosophierend) viele Länder εωρης ενεκεν (um
der Betrachtung willen) durchwandert hast“. Da ist also die Meinung, dass
Solon, nicht um Geschäfte zu machen, nicht als Kaufmann, als praktischer
Politiker oder um sonstiger praktischer Absichten willen, die Welt bereist
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 7

hat, sondern rein um der Freude an der anschaulichen Erkenntnis wil-


len, aus reiner Wissbegierde. In der Tat, bei den Griechen zuerst erwacht
das rein theoretische Interesse, die reine Freude an der Wahrheit um
der Wahrheit willen, dessen Korrelat unter den großen Kulturgebilden die
Wissenschaft ist; so, wie bei ihnen zuerst auch die wohlverstandene φιλο-
καλα erwächst, die reine Freude am Schönen, deren praktisches Korrelat
die schöne Kunst ist.
So sehr bemächtigt sich die reine Wissensliebe der griechischen Mensch-
heit, dass schon Aristoteles seine unsterbliche Metaphysik mit den berühm-
ten Worten anfängt, die er wie Selbstverständlichkeiten hinstellt: „Alle
Menschen streben von Natur aus nach dem Wissen“. Die rein theoreti-
sche Betätigung, das pure Wissensstreben gilt hier schon als ursprüngliche
Ausstattung des Menschen, als zum Spezifischen der menschlichen Natur
gehörig. Richtig ist das im aristotelischen Sinne der Entelechie, aber nicht im
gewöhnlichen, reellen Sinne. Denn in Wahrheit ist der Mensch, wie das Tier,
ursprünglich ganz von praktischen Interessen, Interessen der Nützlichkeit,
der Selbstforderung und Gemeinschaftsforderung erfüllt, und es war ein
Neues, der Beginn einer neuen Menschheitsepoche, da das theoretische
Interesse erwachte und sich zunächst bei einzelnen, ausgezeichneten Per-
sönlichkeiten zum herrschenden verselbständigte.
Doch müssen wir hier zwei Stufen sichtlich unterscheiden: Diejenige
Weisheit oder, wie wir besser sagen, die Bildung, die sich zum Beispiel der mit
offenen Sinnen Reisende und immerfort Schauende, Betrachtende, Verglei-
chende erwirbt, und die höhere Erkenntnisstufe, die das auf Begreifen und
Erklären gerichtete Denken gewinnt. Nicht jener im Sinne der herodotischen
Rede „philosophierende“ Solon, sondern der in einem neuen Sinne philoso-
phierende Thales steht an der Spitze der Geschichte der Philosophie und der
Geschichte der menschlichen Wissenschaft. Beides ist hier nebeneinander
genannt Philosophie und Wissenschaft. Und in der Tat am Anfang gibt es da
keine Sonderungen.

Die anfangende griechische Philosophie oder Wissenschaft

Ich sagte in der ersten Vorlesung, dass mit dem Erwachen eines rein
theoretischen, sich mit eigenen Kulturleistungen verselbständigenden In-
teresses eine neue Epoche in der Menschheitsentwicklung beginnt. Ge-
nauer bezeichnet: Ein reines Wahrheitsstreben erwacht, das kein anderes
Motiv kennt als die reine Freude am Besitz der Wahrheit aus einsichtiger
8 einleitung in die philosophie

Begründung. Dieses Streben, habituell geworden und zusammenhängende


Lebenstätigkeiten regelnd, greift über die vereinzelten Persönlichkeiten hin-
aus, verbindet mehrere von dem gleichen ρως Erfüllte zu gemeinschaftlicher
Erkenntnisforderung; es erwachsen also Gemeinschaftsleistungen, Theorien
und Systeme von Theorien, die dann als sogenannte „Wissenschaft“ ein
eigentümliches, überindividuelles Dasein haben, das von Generation zu
Generation sich fortpflanzt, in eigener Lebendigkeit fortwächst und das,
objektiviert als Literatur, noch nach Jahrtausenden der Versunkenheit und
Vergessenheit wieder aufleben und wirken kann. Ähnliches gilt übrigens für
alle Gebiete des reinen ρως, der Liebe zum Schönen in einem weitesten
Sinne, welche, recht verstanden, die Grundquelle aller reinen und echten
Kultur ist.
Doch bleiben wir beim theoretischen ρως stehen. Wir scheiden zwei
Stufen: einerseits das Erkenntnisstreben, die Erkenntnisberechtigung nie-
derer, an die allgemeine Anschauung gebundener Stufen, andererseits das
theoretische Interesse im prägnanten Sinne, gerichtet auf die höheren, im
Vernunftdenken und denkenden Erkennen zu erzielenden Erkenntniswerte,
also auf die begründende und erklärende theoria, auf die Theorie kurz-
weg, da dieses Wort längst diesen spezifischen Sinn angenommen hat. Dem
prägnanten Begriff von Theorie und theoretischem Interesse entspricht ein
begrenzter Begriff von Philosophie. Demgemäß nennen wir nicht mehr
Solon einen Philosophen; nicht dieser im Sinne der herodotischen Rede
„philosophierende“ Solon, sondern der in dem neuen und höheren Sinne
philosophierende Thales steht an der Spitze der Geschichte der Philosophie
und der Geschichte der menschlichen Wissenschaft.
Da ist nun beides nebeneinander gestellt: Philosophie und Wissenschaft.
Und in der Tat, wie könnten wir am Anfang der Entwicklungen zwischen
beidem scheiden? Was wir uns heute unter dem Titel „Wissenschaft“ vor-
stellen und was unter dem Titel „Philosophie“ – das fertige Gebilde, der
fertige Typus –, das ist am Anfang natürlich nicht da. Aber die Tendenz,
der Keim zu beidem ist, weil im Wesen reinen Erkenntnisstrebens geborgen,
von vornherein da. Seiner Natur nach ist der neu erwachte theoretische
Trieb, Wissenstrieb, schrankenlos. Wir können daher sagen: Menschliche
Wissenschaft fängt (und nicht aus zufälligen Gründen) an als Intention auf
absolut universale Wissenschaft, auf das gesamte Universum und absolut.
Das bestimmt eigentlich schon einen ersten Begriff von Philosophie. Was
sie, was anfangende Wissenschaft überhaupt will, ist absolute Allerkenntnis,
das All des Seins im Begreifen und Erklären zu umspannen, absolut, also
nicht etwa durch irgendwelche Erkenntnisgrenzen beschränkt, das ist das
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 9

Ziel. Am Anfang gibt es natürlich keine Skrupel und Zweifel, welche die
im rein theoretischen Trieb eo ipso liegende Absolutheit hemmen könnten.
Ferner: In seiner universalistischen Allgemeinheit nicht differenziert, ist
das theoretische Streben natürlich noch nicht mit dem Bewusstsein einer
Mannigfaltigkeit, ja vielleicht Unendlichkeit im Universum beschlossener
Erkenntnisgebiete, als Gebiete eigener theoretischer Interessen, verbunden.
Nennen wir „Philosophie“ eine allgemeine, von der Idee absoluter Erkennt-
nis geleitete Wissenschaft, so können wir also sagen: Wissenschaft überhaupt
fängt an als Philosophie.
Wie kommt es nun zur Entwicklung der mannigfaltigen Wissenschaf-
ten und wie zur Entwicklung philosophischer Disziplinen, und insbeson-
dere philosophischer in einem spezifischen Sinne, der sie scharf von nicht-
philosophischen unterscheidet? Die Frage werden Sie als historische, als
Frage der wirklich vergangenen Entwicklungen verstanden haben. Wir wer-
den später hören, dass sie auch in einem idealen sachlichen Sinne und
ganz unhistorisch verstanden werden kann. Aber es ist vielleicht nützlich
zunächst Ihre historische Neugier zu stillen. Selbstverständlich, eine Ge-
schichte der Philosophie und Wissenschaft kann ich hier nicht geben. Was
ich aber versuchen möchte, ist, in einigen schematischen Strichen den Gang
der historischen Entwicklung und rein als ideengeschichtliche Entwicklung
zu zeichnen und diesen Gang dazu zu benützen, Sie selbst von der Stufe
des philosophisch naiven Anfängers, die auch Stufe der anfangenden grie-
chischen Wissenschaft ist, durch Vertiefung in die innerste Ideentendenz zur
Stufe der Philosophie zu erheben und Ihnen damit die innere Notwendig-
keit einer Philosophie nach Problematik und Forschungsart begreiflich zu
machen.
Also beginnen wir von Neuem. Am Anfang der Entwicklung (wir stehen
an der Wende des 7. und 6. Jahrhunderts in der griechischen Geschichte, die
hierbei in der Tat die Weltgeschichte repräsentiert) ist Philosophie und Wis-
senschaft eins; die Wissenschaft fängt an als Kosmologie, als beschreibende
und erklärende Wissenschaft vom gesamten Universum des Seins. Die Ent-
wicklung ging nun nicht in dem Sinne weiter, den Sie vielleicht nun erwarten
werden, nämlich so, als ob in schrittweiser Bereicherung der Erkenntnis das
theoretische Interesse sich nach Teilgebieten der Wirklichkeit spezialisierte,
dass demzufolge Fachwissenschaften sich verselbständigten, aus universalen
Weltweisen Spezialisten, Fachmänner wurden, deren theoretisches Interesse
auf ihr Gebiet ausschließlich fixiert war, dass sich nun die uns von der Dar-
stellung der Mach’schen oder Paulsen’schen Auffassungen wohlbekannten
Schäden des Spezialistentums einstellten, also eine Rückwendung zu den
10 einleitung in die philosophie

Interessen universeller Erkenntnis durchaus notwendig wurde, also wieder


eine Philosophie als vereinheitlichende, ausgleichende Wissenschaft der Spe-
zialitäten.
Wie gesagt, so lief die Entwicklung nicht fort, und es ist daher m. E.
nicht ohne weiteres richtig und leicht irreführend, wenn man allgemein
zu sagen pflegt: Aus dem Mutterboden der Philosophie als Allwissenschaft
hätten sich die Fachwissenschaften allmählich abgezweigt, verselbständigt.
Vielmehr war die erste auf ein universales Begreifen und Erklären gerich-
tete Philosophie theoretisch viel zu kindlich, demgemäß zu sehr auf vage
Allgemeinheiten gerichtet und zu unmethodisch und unkritisch, als dass
es schon zu einem Grundstock objektiv begründeter Theorien gekommen
wäre, die jeder vernünftig Denkende als gültig anerkennen müsste und die
sich dann in wechselseitiger Förderung der Forscher ins Unendliche erwei-
tern und nach Teilgebieten gliedern konnten. Die großen Genien, die die
Entwicklung menschlicher Philosophie und Wissenschaft inauguriert haben,
Männer wie Thales und Anaximander, Empedokles und Anaxagoras, wie
die Pythagoreer, wie Parmenides und die sonstigen Eleaten, wie Heraklit,
wie Leukipp hatten keine logische Kunst des Begreifens und Erklärens, des
Stellens vernünftiger Fragen, des methodischen Forschens und Begründens
hinter sich, sie mussten sie erst schaffen, aus dem Nichts. Aber durch viel-
deutige Unklarheit geht der Weg zur Klarheit und Eindeutigkeit, durch vage
Allgemeinheit zur bestimmten Besonderheit, durch voreilige Trugschlüsse
zur theoretischen Behutsamkeit, zur kritischen Ausscheidung irreführender
Äquivokationen, zu der Absonderung der prinzipiell zulässigen Schlusswei-
sen usw.
Zwar, das Selbstvertrauen der erwachenden logischen Vernunft ist ein
Ungeheures und teilt sich jedem Einzelnen mit. Man fühlt sogleich die
ungeheure Überlegenheit begreifender und erklärender Theorie gegenüber
der bloßen Lebenserfahrung und der ohne Denkarbeit begriffslos erwach-
senden praktischen Weisheit und Bildung. Daher das allgemeine Schelten
dieser ersten Philosophen auf den Alltagsmenschen, auf die Menge, die
dem Sinnenschein unterliegt, und selbst auf die vielgerühmte Weisheit der
großen Dichter. Die neu erwachende theoretische Vernunft erhebt sich, ja
überhebt sich gegenüber der verachteten Sinnlichkeit. Gleich an den kindli-
chen Anfängen der Wissenschaft steht daher die Scheidung zwischen bloßer
Erscheinungswelt – der Welt, wie sie sich den bloßen Sinnen darstellt, wie
sie der Alltagsmensch allein kennt – und der an sich seienden Welt, der Welt,
die der Philosoph herausarbeitet und die allein durch das höhere, die echte
Wahrheit liefernde Erkenntnisvermögen gewonnen wird, durch den logisch
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 11

begreifenden Verstand. Aber freilich, so selbstbewusst und eindrucksvoll,


in tiefsinnigen Aussprüchen und dialektischen Künsten der Verstand sich
in jedem dieser Philosophen ausspricht, er führt in dieser Epoche unreifer
Anfänge doch bei jedem zu anderen Ergebnissen. Nicht e ine Philosophie,
sondern eine Vielheit von miteinander streitenden Philosophien erwachsen
in rascher Folge und dabei von Philosophien, die zwar weltumspannend, aber
inhaltlich sehr arm sind. Von der Unendlichkeit des in einer theoretischen
Welterkenntnis zu Leistenden hat man noch keine Vorstellung.
Zwar, der allgemeine Gedanke einer universellen Weltordnung, der Ge-
danke, dass das gesamte Weltall unter Regeln und Gesetzen steht, erwacht
als eine kühne, die Seelen tief bewegende Ahnung sehr früh – aber eben
nur als Ahnung. Bei den Pythagoreern in zahlenmystischem Gewande: Alles
in der Welt ist in wahrer Wirklichkeit Zahl, und das Wesen der Zahl ist
Ordnung, Harmonie. Bei Heraklit als allwaltende Ananke, Dike, als über-
all waltende Ordnung des Logos, als harmonisierende Ausgleichung der
Kämpfe, Gegensätze, Spannungen und Gegenspannungen, die das Wesen
der Welt als eine Werdenswelt ausmachen. Das sind wahrhaft tiefsinnige Ah-
nungen! Aber weit entfernt ist man darum doch von der Vorstellung, dass das
ganze Weltall von bestimmten, besonderen Gesetzlichkeiten durchherrscht
ist, dass jeder bestimmte Vorgang, jeder bestimmte Werdenszusammenhang
unter bestimmten, exakt zu formulierenden Sondergesetzen steht, die durch
methodische Erfahrung und methodisches Denken wissenschaftlich zu erfor-
schen sind; des Weiteren, dass diese Sondergesetze sich theoretisch ordnen,
in ihrer stufenmäßigen Folge deduktiv aus obersten Gesetzen ableiten lassen
und in allen Stufen exakt zu formulieren und in ihrer Gliederung zu begrün-
den sind. Von all dem (und von einem System von Wissenschaften, die das
konkret zu leisten haben) hat man noch keine Vorstellung. In dieser Rich-
tung liegen also noch keine theoretischen Antriebe. Über Allgemeinheiten
kommt man nicht hinaus, wie in der Gegenüberstellung von Alltagsmeinung
und wahrer Erkenntnis bzw. von Scheinwelt und wahrer Welt, so in den
besonderen Welttheorien, die jeder Philosoph nur für sich befriedigend
aufbaut.
Ehe es aber in dieser Hinsicht besser werden kann, ehe noch die echte,
intersubjektiv bindende und zwingende Wissenschaft zu wirklicher Eta-
blierung kommt, ehe also der Prozess der endlosen Ausbreitung und Spe-
zialisierung objektiver Wissenschaft sich anspinnt, tritt eine Peripetie ein.
Diese ganze überkühne kosmische Wissenschaft, diese „Philosophie“, die da
meinte, das gesamte Universum mit einem Schlag, mit den sehr tiefsinnigen
allgemeinen Erörterungen theoretisch bezwingen zu können, wird zu Fall
12 einleitung in die philosophie

gebracht, es wird ihr der Boden unter den Füssen weggezogen. Uns interes-
sieren hier nicht die historischen Motive, durch welche in der allgemeinen po-
litischen und kulturellen Entwicklung Griechenlands nach den Perserkriegen
eine solche Umwendung in Athen begünstigt wurde. Genug, es treten gegen
die Philosophen die „Sophisten“ auf, an der Spitze Männer wie Protagoras
und Gorgias, die gleichsam mit diabolischer Freude die Widersprüche in
und zwischen den neuen Philosophien gegen diese ausspielten, aber nicht
dabei stehen blieben, ihre objektive Untriftigkeit zu erweisen, und nichts
weniger als darauf ausgingen, neue bessere Philosophien herauszubilden.
Vielmehr gingen sie sogleich dazu über, die Möglichkeit jedweder Philoso-
phie und Wissenschaft zu bestreiten und mit angeblicher wissenschaftlicher
Stringenz die Unmöglichkeit zu erweisen. Es handelt sich also um eine
Antiphilosophie, die selbst in Form einer Philosophie auftritt, deren ganzes
Thema es ist, dass es keine Philosophie geben könne, um Ausbildung einer
Antilogik, die logisch begründen will, dass keine Logik gelten könne, die
beweist, dass kein Beweis von Wert sein kann, dass nur das eine behauptet
werden könne, dass keine Behauptung objektiv bedeutsam sein kann usw.
In eine hohle Eristik lief das Ganze schließlich aus.
Die ungeheure historische Bedeutung dieses Skeptizismus liegt darin,
dass zuerst in ihm Blickwendungen in jene von uns gesuchte neue Di-
mension, sagen wir die vernunftkritische, eine wesentliche Rolle spielen,
dass er es zuerst war, der, wenn auch in sehr unvollkommener Form, die
auf alle Erkenntnis und Wissenschaft wesentlich bezogenen Schwierigkeiten
des Verhältnisses von Sein und Bewusstsein fühlbar machte. Eben aus der
universalen Beziehung dieser Schwierigkeiten auf alle Erkenntnis schöpft er
seine wirksamsten Gründe, um die Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt
in Frage zu stellen, ja zu bestreiten. Und in wissenschaftlichen Formen will er
begründen, dass so etwas wie objektiv geltende Erkenntnis ein schlechthin
unerreichbares Ziel, eine Chimäre sei.
Mochte die Sophistik auch des großen und reinen Ethos entbehren, das
die vorsophistische Philosophie durchherrscht, mochte sie von jener idealen
Weisheitsliebe noch so fern sein, die das Wort „Philosophie“ selbst ausprägen
sollte, mochten die Sophisten sich also zu dem Dienst gesellschaftlicher und
politischer Barbarei herabwürdigen und es praktisch bloß darauf abgesehen
haben, eine Rhetorik und Eristik herauszubilden, durch die der Streber in
der Volksversammlung am leichtesten blenden, überreden und durch seine
dialektischen Kunststücke die Gegner verstören und niederzwingen konnte,
und weiter, mochten die Sophisten sogar ihre eigenen Theorien vielleicht
selbst nicht ganz ernst nehmen, – Epoche machend waren diese Theorien
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 13

darum doch, und zwar dadurch, dass sie die Philosophen in der wirksams-
ten Form skeptischer Argumentation zwangen, auf die im Wesen aller Er-
kenntnis liegenden radikalen Schwierigkeiten den Blick zu fixieren. Höchst
schwierige und sich immer weiter verzweigende Probleme traten dadurch zu
Tage, von deren wissenschaftlicher Formulierung und Lösung das Schicksal
echter Wissenschaft und der durch sie zu erzielenden höchsten Erhöhung
des Menschentums abhängig war: die Frage der Erkenntnismöglichkeit,
des Sinnes der Erkenntnisintentionen und der Methode. Diese Probleme
mussten freilich erst von der Form frivolen Spiels befreit und in ernster
Besinnung auf ernste Form gebracht werden, und sie mussten vor allem
nach verschiedenen Richtungen differenziert und ausgestaltet werden, was
zum Teil erst nach jahrtausendelangen Bemühungen vollkommen gelang.
Aber einmal erwachsen, konnten sie doch nicht mehr verloren gehen, zumal
ihr Übergreifen in die ethisch-praktische und religiöse Sphäre für alle edler
Gesinnten seelische Erschütterungen zur Folge hatte und die Gefahr eines
Zusammenbruchs der ganzen griechischen Kultur inmitten ihres größten
Aufschwungs vor ihre Augen stellte. Zu diesem Übergreifen möchte ich hier
einige Worte anfügen.
Zunächst bezogen sich die Probleme nur auf die Sphäre der theoreti-
schen Erkenntnis. Es lag aber in der Natur der Sachen, dass, nachdem ein
Protagoras und Gorgias, die Führer der älteren sophistischen Generation,
die Geltung der theoretischen Erkenntnis skeptisch in Frage gestellt hatten,
sich diese Skepsis alsbald übertrug auf die Geltung der ästhetisch wertenden,
aber auch der praktischen und religiösen Stellungnahmen des menschlichen
Bewusstseins. Allgemein können wir ja sagen: Die geistigen Betätigungen, in
denen sich alles geistige Leben des Menschen, des Ich-Subjekts, vollzieht und
die wir als Bewusstseinsbetätigungen zusammenzufassen pflegen, haben das
Eigene, dass sie insgesamt unter dem Gegensatz von Vernunft und Unver-
nunft stehen oder ihre Bedeutungsgebilde unter dem Gegensatz des wirklich
und vermeintlich Geltenden. Wir als Subjekte eines geistigen Lebens sind
nicht ein bloßer Strom eines bloß sachlichen Seins, sondern ein Ich lebt,
indem es erfährt, indem es wahrnimmt, sich erinnert, erwartet, indem es
denkend begreift, urteilt, schließt, indem es für schön oder hässlich hält, für
angenehm oder unangenehm, für nützlich, gut, gerecht, sittlich usw.
Versetzen wir uns in die Gedanken der letzten Vorlesung: Die anfangende
griechische Wissenschaft oder Philosophie (beides ist noch ungeschieden)
richtet sich in schrankenloser Betätigung des Erkenntnistriebes auf das
Weltall, sie war Kosmologie. Aber die Stufe strenger, endgültig begründender
Wissenschaft konnte sie noch nicht erreichen. Anfängerhaft bewegte sie sich
14 einleitung in die philosophie

in voreiligen, unentwickelten und vagen Allgemeinheiten. Es erwachsen


in rascher Folge zwar eindrucksvolle, aber nicht logisch zwingende und
einander widersprechende Philosophien. Die Entwicklung ging nun, wie
ich ausführte, nicht kontinuierlich weiter im Sinne einer stetigen kritischen
Besserung und höheren Entwicklung. Vielmehr trat ein Bruch ein. In Form
der Sophistik breitet sich ein Geist der Verneinung aus, der die Möglich-
keit einer Wissenschaft oder Philosophie überhaupt leugnet. In paradoxen
Argumentationen wird diese neue Philosophie, mit ihrer hochfliegenden
Prätention einer den Sinnenschein transzendierenden Vernunfterkenntnis,
methodisch persifliert, und es wird nun gleich zu einem extremen Negati-
vismus übergegangen.
Das Ziel aller Erkenntnis, eine an sich geltende und jedermann verpflich-
tende Wahrheit, wird entwertet. Die Skepsis war aber nicht eine bloß theore-
tische Skepsis; begreiflicherweise breitet sie sich alsbald auf alle unter Ideen
der Vernunft, der objektiv verpflichtenden Geltung stehenden Lebenssphä-
ren aus. Nicht nur in Akten des erkennenden Lebens betätigt sich der Mensch
als Vernunftwesen, sondern auch in Akten des Gemüts- und Willenslebens.
Im Erkennen gilt ihm dies oder jenes für wahr oder falsch, im Gemüt und
Willen irgendetwas als schön oder hässlich, als praktisch gut oder schlecht.
In all diesen Verhaltungsweisen liegt ein Rechtsanspruch beschlossen, der
angelegt ist auf sogenannte Vernunftbegründung, auf Rechtserweisung oder
Rechtsabweisung, daher man hier überall in gleicher Weise streitet und sich
wechselseitig durch Begründungen zu überzeugen sucht, also ebensowohl in
Fragen der Wahrheit als in Fragen der Schönheit, der Zweckmäßigkeit, der
moralischen Güte. Die Verwandtschaft dieser parallelen Vernunftsphären
als Sphären auszuwertender Vernunftprätentionen ist eine so offenbare,
dass selbstverständlich skeptische Einwände, die den Rechtsanspruch der
Erkenntnis auf objektive Wahrheit zu entwerten suchen, alsbald die Neigung
haben werden, parallele skeptische Einwände hervorzutreiben, die ebenso zu
leugnen suchen, dass man in Fragen der Schönheit, des moralischen Wertes,
des natürlichen Rechtes usw. eine objektive, jedermann vernünftigerweise
verpflichtende Richtigkeit ausweisen könne. So nahm denn auch der erste
Skeptizismus der Sophistik alsbald die Wendung zu einem universellen Skep-
tizismus. Wir wollen für unsere Betrachtungen aber den Skeptizismus der
Sphäre der objektiven Erkenntnis bevorzugen, der jedenfalls am wirksams-
ten und in besonders folgenreicher Weise durchgebildet war. Er kommt auch
für den Anfänger zunächst in Betracht.
Als die Repräsentanten der älteren Sophistik und derjenigen, die ihr
überhaupt ihren Charakter aufgeprägt haben, nannte ich schon Protagoras
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 15

von Abdera (480 vor Chr.) und seinen Zeitgenossen Gorgias. Beginnen
wir mit dem ersteren und machen wir uns in freier Weise seine berühmten
Argumentationen zu eigen, die in den Sätzen gipfelten: „Alles ist ein ρπς
τι, alles ist relativ.“ „Für jedermann ist ein jedes so, wie es ihm gerade
erscheint.“ „Aller Dinge Maß ist der Mensch.“
Der Sophist hat vor sich den von der vorangegangenen Philosophie scharf
herausgebildeten Gegensatz von bloßer Erscheinungswelt und wirklicher
Welt; die Erscheinungswelt ist die in der gemeinen Erfahrung gegebene und
in ihr schlechthin als wahre Wirklichkeit hingenommene Welt, während die
Philosophie erst es sein soll, die in ihren philosophischen Erkenntnissen die
an sich wahre Welt erkennt. Demgegenüber nun fragt der Sophist: Wie soll
die Philosophie so etwas leisten können? Woher wissen wir denn überhaupt
etwas von einer Wirklichkeit? Doch nur mittels der Sinneswahrnehmung.
Ohne sie wären ja Dinge für unser Bewusstsein überhaupt nicht da, also
von solchen überhaupt keine Rede. Mag also das viel gepriesene Denken
des Philosophen hinterher leisten, was es immer mag, es setzt schon die
Wahrnehmung und ihre Geltung voraus. Aber wie steht es dann mit der
objektiven Geltung der Wahrnehmung? Die Dinge geben sich uns in ihr
als so und so gestaltet, so und so gefärbt, als roh oder glatt, als warm oder
kalt usw. Aber diese und überhaupt alle Beschaffenheiten, die wir da wahr-
nehmungsmäßig gegeben haben und die durchaus das dingliche Sein nach
Aussage der Wahrnehmung ausmachen, sind undenkbar als für die Dinge
an sich gültig, sie sind vom Wahrgenommen-Werden unabtrennbar, sie sind
subjektiv. Die Farbe gehört zum Sehen, sie ist nichts ohne das sehende Auge.
Der Ton gehört zum Hören, er ist nichts ohne das hörende Ohr usw. Würde
das Auge anders empfinden, so hätte ich eine andere Farbe oder vielleicht
etwas total anderes als Farbe; würde das Ohr anders empfinden, so wäre ein
anderer Ton da usw. Es hängt ganz von der zufälligen Subjektivität ab und der
Weise, wie sie sich empfindend oder wahrnehmend verhält. Und werden wir
sagen, dass sie sich dabei immerfort identisch verhalten muss oder wirklich
verhält? Also, wie kann es einen Grund haben, dass verschiedene Subjekte
von demselben Ding sprechen, das an sich rot ist, an sich warm oder sonst-
wie beschaffen ist? Das eine Subjekt ist in dem Zustand, das andere in
einem anderen; das eine empfindet so, das andere anders. Jedes hat seine
Sinnesorgane, und jedes Sinnesorgan fungiert im jeweiligen Moment gerade
in der Weise. Es könnte anders fungieren.
Dabei nimmt, was wir übergehen können, Protagoras aus der vorange-
gangenen Philosophie konkrete Motive für seine Wahrnehmungstheorie mit
auf, spricht von einer vom Objekt an sich ausgehenden Bewegung zu dem
16 einleitung in die philosophie

Subjekt hin und einer entgegenkommenden Bewegung des Subjekts gegen


das Objekt hin und fasst so das Wahrnehmen als ein Ineinander dieser beiden
Bewegungen auf, in dem als Ergebnis das Wahrnehmungsbild erwachsen soll.
Aber diese Theorie ist für uns irrelevant. Wir scheiden sie schon darum aus,
weil in der Berufung auf sie eine Inkonsequenz liegt. Sind doch die theo-
retisch substruierten und selbst unwahrnehmbaren Atombewegungen nur
erweisbar aufgrund der Gegebenheiten der Wahrnehmung. Die Hauptsache
ist, dass hier argumentiert wird aus der Subjektivität der Wahrnehmungsphä-
nomene, die jeder Wahrnehmende im Wahrnehmen selbst hat, und mit dem
Gedanken, dass jedes Subjekt se ine Sinnlichkeit hat, die schon innerhalb
desselben Subjekts eine wechselnde ist und erst recht im Übergang von
Subjekt zu Subjekt. Also jedes Subjekt spricht wahr, wenn es nur getreu
ausdrückt, was es, und zwar in dem zufälligen Moment, wahrnimmt: Dem
gesunden Sokrates schmeckt der Wein süß, dem kranken bitter; beides ist
also richtig, der Wein ist süß etc. Wahr ist also, was ihm als wahr erscheint.
Wie das Denken daran etwas ändern soll, ist nicht abzusehen. Protagoras
leugnet jede Macht eines Denkens, das nicht auf Sinneserfahrung fußt und
nur auseinanderlegt, was sie gibt.
Radikaler noch ist Gorgias in einer berüchtigten Argumentation, die
m. E. trotz ihres üblen Rufes von einer gewaltigen problemgeschichtlichen
Bedeutung ist. Um seine Thesen „Es gibt nichts“ und „Wenn es etwas
gäbe, so wäre es nicht erkennbar“ zu erweisen, führt er aus: Erkenntnis
ist unsere Vorstellung oder, wie wir auch sagen können, Erkenntnis ist
unser subjektives Erleben, ein subjektiver Bewusstseinsvorgang. Dass dieses
Erleben sich in dem Moment, wo ich aktuell erkenne, in meinem dahinströ-
menden Bewusstsein abspielt und somit selbst etwas ist, das werden wir
freilich nicht zu bezweifeln haben. Wie steht es aber mit dem wirklichen
Sein des in der jeweiligen Vorstellung Vorgestellten, im jeweiligen Erkennen
als erkannt Gesetzten? Gorgias sagt kurz und eindrucksvoll: „Vorstellung
ist doch nicht Vorgestelltes“. Aus dem unzweifelhaften Sein des ersteren
als meinem Erleben kann ich nicht ein unzweifelhaftes Sein des darin Vor-
gestellten entnehmen. Sonst müsste ich ja, wenn ich mir in der Phantasie
oder im Traum einen Wagenkampf auf dem Meer vorstellte, sagen, er sei
wirklich.
Nun wird man natürlich versuchen zu antworten, nicht jede Vorstellung
verbürgt das Sein des Vorgestellten, so nicht eine bloße Phantasievorstellung,
Traumvorstellung u. dgl. Nur gewisse normale Vorstellungen wie normale
Wahrnehmungen oder gewisse, als richtig, vernünftig, das objektive Sein
selbst erfassende oder begründende Vorstellungen kommen in Frage. Hier
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 17

würde Gorgias vermutlich geantwortet haben: Es mag sein, dass eine Wahr-
nehmung als Erlebnis des Bewusstseins anders charakterisiert ist als eine
Phantasie; die Wahrnehmung ist doch klarer, standhaltender, inhaltsreicher,
die Phantasie matter, zerfließender, flüchtiger usw., und es mag überhaupt
sein, dass die subjektiven Erlebnisse, die wir unter dem Titel „Vorstellung“
oder unter dem Titel „Erkenntnis eines Objektiven“ erfassen, sich durch
verschiedene Charaktere voneinander unterscheiden, es steht uns auch frei,
bei den einen zu sagen, sie hätten den Charakter der Vernünftigkeit, bei den
anderen den Charakter der Blindheit; aber was sie scheidet, sind eben doch
nur subjektive Erlebnischaraktere, nur von diesen können wir wirklich etwas
wissen. Meine eigenen Erlebnisse, die dahinströmenden Wahrnehmungsbil-
der, Phantasiebilder, Denkerlebnisse usw., sind mir allein direkt gegeben.
Sie erlebend, kann ich sie betrachten, unterscheiden, vergleichen; aber sie
sind doch in sich selbst etwas ganz Subjektives. Wie könnte ich je dazu kom-
men, über sie hinauszugehen und mich rechtmäßig davon zu überzeugen,
dass sie als getreue Vorstellungsbilder einer außer ihnen angeblich seienden
Wirklichkeit gelten dürften?
Tue ich es, setze ich in der Vorstellung ein ihr jenseitiges An-sich, eine
außerbewusste Objektivität, Dinge, Welten, die vorgestellt, aber nicht selbst
Vorstellung sind, wie könnte ich mich je von der Übereinstimmung zwischen
Vorstellung und Vorgestelltem überzeugen? Das wäre doch nur verständ-
lich, wenn ich das vorgestellte Ding in die Ebene des subjektiven Erlebens
brächte und es selbst zu einem Erleben im Bewusstsein würde. Es ist aber
doch an sich draußen, außerhalb. Sagt man nun aber, ein „vernünftiges
Denken“ könne das Verlangte leisten, anknüpfend an das wahrnehmende
Erfahren könne es über objektive Wirklichkeit des vermeinten Dinglich-
Äußeren entscheiden, so wiederholt sich nur das alte Bedenken. Wie sol-
len die sogenannten Denkerlebnisse durch ihr Hinzutreten das Wunder
zustande bringen, den subjektiven Wahrnehmungsbildern rechtmäßig ob-
jektive Angemessenheit zuzusprechen oder abzusprechen? Gewiss hat mein
Denken manchmal einen eigenen Charakter der Einsichtigkeit, der licht-
vollen Evidenz, der Vernünftigkeit. Aber warum muss, so oft mein Den-
ken diesen gepriesenen, aber immer noch subjektiven Erlebnischarakter
hat, das als objektiv Gedachte wirklich existieren? Was bräuchte sich ein
Sein oder Nicht-Sein außerhalb meines Bewusstseins um die mir impo-
nierenden Evidenzcharaktere an meinen subjektiven Erlebnissen zu küm-
mern?
So ergibt sich der skeptische Schluss: Ich komme über meine Subjektivi-
tät, über den Bereich meines dahinströmenden Bewusstseinserlebens nicht
18 einleitung in die philosophie

hinaus; ich kann nicht den leisesten Vernunftgrund haben, ein Bewusst-
seinstranszendentes, eine an sich existierende Dingwelt zu setzen. Besteht
aber kein erdenklicher Vernunftgrund dafür, so kann und muss ich sagen: Es
gibt nichts, nämlich nichts Objektives. Vernünftigerweise kann ich nur sagen:
Ich bin und meine Erlebnisse sind, eben die ich im Moment des Erlebens
vorfinde, und nichts sonst, ich – ich allein, solus ipse.
Sie sehen aus dieser Darstellung, aus dieser Herauswicklung der kurzen,
auf Gorgias zurückgeführten Argumentationen, wie radikal diese Skepsis ist
und wie sie ihren Motiven nach an ein tiefstes Problem rührt, an die radi-
kalen Probleme des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein. So nahe sich,
äußerlich betrachtet, Protagoras und Gorgias stehen, so ist doch innerlich ein
wesentlicher Unterschied. Protagoras richtet sein Augenmerk auf den Wech-
sel und Fluss der Wahrnehmungserscheinungen von äußeren Dingen und auf
die Abhängigkeit dieser wechselnden Erscheinungen vom wahrnehmenden
Menschen und seinen wechselnden Zuständen und Lagen. Es gibt kein Ent-
rinnen aus der Relativität aller Aussagen über die objektive Welt, nichts kann
ihr als an sich oder objektiv zugehörig ausgesprochen werden. Gorgias aber
geht auf das Radikalste zurück, auf das Bewusstsein, darauf, dass alles und
jedes Erkennen subjektives Erleben ist. Mag Bewusstsein in sich auch ein
Außerbewusstes vorstellen, meinen, evident oder nicht evident erkennen,
so ist dieses Sich-auf-Äußeres-Beziehen eben nur ein im Ich-Bewusstsein
selbst aufweisbarer Charakter, der nie zulangen kann, uns ein transzenden-
tes An-sich wirklich zuzueignen. Alle Unterschiede des Erkenntniswertes,
die der Erkennende hinsichtlich seiner Erkenntniserlebnisse macht unter
den Titeln „normale Wahrnehmung“, „Illusion“, „Traum“, „verworrenes
Denken“, „einsichtig begründendes Denken“ usw., sind geschöpft aus sub-
jektiven Charakteren der Erlebnisse. Aber was bräuchte ein an sich seiendes
Objektives sich nach unseren subjektiven Unterschieden und Bewertungen
innerhalb unserer Bewusstseinssphäre zu kümmern?
Die Auseinanderwicklung des Sinnesgehaltes der paradoxen und wie im-
mer spielerisch gemeinten Argumentation des Gorgias hatte uns zu Tage ge-
fördert eine höchst merkwürdige Scheidung, nämlich die Scheidung zwischen
dem rein immanenten Fluss der Ich-Erlebnisse, der subjektiven Wahrneh-
mungen, Erinnerungen, Phantasien, Denkerlebnisse usw., und der in diesen
Erlebnissen vorgestellten, gedachten, angeblich erkannten Welt. Würden
wir uns noch tiefer denkend hineinbohren, so könnte hier schon der Grund-
gedanke des historisch so viel späteren Bewusstseinsidealismus aufkeimen,
der, statt eine objektive Welt zu leugnen, zu zeigen sucht, dass der Sinn der
Objektivität rechtmäßig gedeutet werden muss als eine in der erkennenden
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 19

Subjektivität nach Richtmaßen der Vernunft sich ordnende Regel immanen-


ter Phänomene. Aber solche Gedanken verständlich anzuknüpfen, sind wir
noch nicht vorbereitet genug.
Selbstverständlich ist keine Rede davon, dass ein Sophist schon so weit
geblickt und dass er überhaupt sich selbst und sein Argument so ernst genom-
men hätte, so ernst, wie wir es hier in sorgfältigen Überlegungen getan haben.
Mit gutem Grund. Denn uns kann es gleich sein, ob der Sophist sein Argu-
ment ernst nahm oder damit nur ein frivoles Spiel trieb. Höchst bedeutsam
ist und bleibt es, dass hiermit ein Problemmotiv von beispielsloser Tragweite
in den Gesichtskreis des philosophischen Denkens tritt; und zugleich tut
es uns hier den höchst erwünschten Dienst, dass es unser Anfängerdenken
in Bewegung setzt und in unseren Seelen jenes αυμζειν, jenes Staunen,
jene nachdenkliche Verwunderung weckt, die nach Platon die Quelle der
Philosophie ist. Die selbstverständlichste Tatsache der Welt, das Vorstellen,
das Erkennen, wird auf einmal zur erstaunlichsten, das Wie ihrer Leistung
wird zum Rätsel.
Dabei sei noch eine weitere Konsequenz der Beachtung empfohlen: Wir
begannen mit Gorgias die Reflexion, indem wir uns als Menschen nahmen.
Also jeder sagte „Ich“ und nahm sich als dieses leiblich-geistige Wesen und
sagte dann wohl schließlich: Wir Menschen können nichts von einer äußeren
Welt wissen. Aber näher besehen war das unzulässig, und Sie überzeugen
sich leicht von der Verkehrtheit sowohl der Protagoras’schen Argumentation
nach der entsprechenden Seite hin und der Gorgias’schen, wenn sie eben
so gemeint war. Von meinem Leib und ebenso von meinen, die aktuellen
Bewusstseinserlebnisse übergreifenden, personalen Eigenschaften, wie es
meine Charakteranlagen etc. sind, gilt doch nicht minder wie von irgend-
welchen sonstigen Dingen, dass sie transzendent sind dem Erkennen. Also
die ganze Menschenwelt und selbst Ich als Mensch verfallen der Skepsis.
Der erste Schritt lautet: solus ipse sum. Der nächste lautet nicht: „Ich,
der Mensch, bin“, sondern „Ich, das reine Subjekt der Erlebnisse, bin“.
Wieder muss ich sagen, es eröffnet sich hier eine problematische Perspektive
und eine Scheidung zwischen reinem Erkenntnissubjekt und dem Menschen-
subjekt, die weit über die wirkliche Meinung des Gorgias hinausgeht und
wiederum eine Anregung für das philosophische αυμζειν ist.
Und zum Abschluss dieser so wunderlichen Betrachtungen über die
wunderliche Argumentation des Skeptikers, noch eine Bemerkung. Die
Historiker der Philosophie liebten es, die neue, durch die Sophistik ein-
geleitete Epoche der Philosophie gegenüber der vorangegangenen so zu
charakterisieren: In der ersten Epoche war das philosophische Interesse
20 einleitung in die philosophie

vorwiegend auf das äußere Universum, also kosmologisch gerichtet; unter


dem Einfluss der Sophistik wendete sich das Interesse auf den Menschen
und seine Innerlichkeit, es begann nun eine anthropologische Periode. Nun,
zweifellos subjektivistisch waren die sophistischen Argumente, sie zielten
auf eine subjektivistische und hinsichtlich der Transzendenz negativistische
Erkenntnistheorie. Die Erkenntnis kann nie und nimmer über die Bewusst-
seinssphäre des Erkennenden hinaus, ein Transzendentes kann sie höchstens
in sich meinen, aber nie treffen. Aber wie wenig die Sophisten daran dachten,
die Transzendenz konsequent so zu verstehen, dass der Mensch selbst dabei
mit zur Ausschaltung käme, so ist es doch verkehrt zu sagen, dass durch
ihre Argumentation das forschende Interesse von der physischen Welt auf
die Menschenwelt, auf das Anthropologische gelenkt wurde. Ihr Impuls war
doch ein unter allen Umständen erkenntnistheoretischer und weiterhin ein
vernunfttheoretischer. Und darin liegt: Er ging in eine Richtung, die derjeni-
gen entgegengesetzt ist, die jede objektive Wissenschaft einschlägt. Er ging
nicht dahin, den Menschen als zoologisches, soziologisches oder politisches
Thema in den Rahmen objektiv wissenschaftlicher Betrachtungen zu rücken,
sondern ihre Negationen aller objektiven Geltung in der Erkenntnissphäre,
aller Geltung in Form der Erfahrung, aber auch der Wissenschaft, ihre weite-
ren Negationen aller objektiven Geltung in der ethischen und politischen und
so in jeder Geltungssphäre zwangen das Interesse, eine völlig neue Richtung
einzuschlagen: die Richtung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und
in der Richtung der Vernunfttheorie überhaupt also die Richtung auf Be-
gründung einer logischen, ethischen, politischen und schließlich auch einer
ästhetischen Normenlehre. Diese künftig neu erwachsenden Disziplinen, die
wir als spezifisch philosophische kennenlernen werden, liegen aber nichts we-
niger als in der Linie der im prägnanten Sinne „objektiven Wissenschaften“
wie die Wissenschaften von der materiellen Natur, von den Menschen und
Tieren usw. Nur insoweit waren die objektiven Wissenschaften natürlich be-
troffen, als ihre Geltung negiert war und der Kampf gegen den Skeptizismus
der Kampf um eine neue, tiefer begründete, methodisch besser gesicherte
Wissenschaft war und dann weiter um besser gesicherte, um einsichtiger
gestaltete ethische und politische Lebensordnungen.1

1 Beilage Übrigens zeigt sich hier eine schöne und wohlverständliche Teleologie in der

historischen Entwicklung. Die erste, natürlich naive Entwicklung objektiv gerichteter Wis-
senschaften musste gelähmt, unterbunden werden durch eine skeptische Gegenwirkung; es
musste das theoretische Interesse von seiner naiven Hingegebenheit an die objektive Wirklich-
keit abgelenkt werden in die korrelative Gegenrichtung, in die Richtung auf die erkennende
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 21

Freilich um die Wirksamkeit der Sophistik in diesen Beziehungen zu


verstehen, ist es notwendig, im Auge zu behalten, dass wir mit den Ar-
gumentationen des Protagoras und Gorgias nur ein Paar Gedankenreihen
bevorzugt haben, die freilich einen, wie unsere Analysen zeigten, gewaltigen
Motivationsgehalt einschließen; keimhaft treten hier höchst entwicklungs-
fähige Probleme auf von einer ungeheuren, tiefen Perspektive. Aber mit
diesen Paar Argumentationen von ausgearbeiteter theoretischer Gestalt hat
es bei den Sophisten nicht sein Bewenden. Die Breite ihrer skeptischen
Wirksamkeit war eine ganz andere und von anderem Charakter. Nämlich:
Die Sophisten untergraben das Vertrauen auf die objektive Geltung der
Erkenntnis und die Möglichkeit einer Wissenschaft nicht nur durch solche
prinzipiellen Argumentationen; praktisch noch wirksamer war die eristi-
sche Dialektik, in der sie die Widersprüche der verschiedenen Philosophien
gegeneinander ausspielten oder in der sie die berühmten philosophischen
Argumentationen spielerisch abwandelten, wobei sie die Vieldeutigkeit und
Vagheit der Begriffe ausnützten, um Trugschlüsse zu konstruieren und sie
als völlig gleichberechtigt mit den ernst gemeinten Schlussweisen der Philo-
sophen hinstellten.1
Hatte sich gegenüber der gemeinen Erfahrung und Weisheit unter dem
Titel der Philosophie ein logisches Verfahren ausgebildet, in dem kunstvoll
Begriffe gebildet, in Form schließender und beweisender Zusammenhänge
Theorien gebaut wurden, und traten dabei immer neue Typen logischer
Formen hervor, die Urteilsformen und die aus ihnen gebauten Typen di-
rekter und indirekter Schlüsse und Beweise, so erschien nun diese ganze
methodische Art verdächtig, die doch das Eigentümlichste der theoretischen

Vernunft und die Erkenntnismethode. Denn strenge Wissenschaft, eine Wissenschaft, die in
einer allen Einwänden, Unklarheiten, skeptischen Zweifeln gewachsenen Weise theoretische
Wahrheiten endgültig herausstellt, ist nicht ein naives Gewächs der theoretischen Wissbegier. Es
bedarf der Reflexion über die Erkenntnisleistung und ihre Möglichkeit, der Reflexion über den
Sinn der Erkenntnisarbeit, über die Gründe und Formen triftiger Methode, um zu methodisch
sicherer Leistung in aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis durchdringen zu können. Im Bild
könnte man sagen: Die schlimmsten Feinde sind die, die vom Rücken her angreifen können,
der forschende Blick darf also nicht bloß geradehin auf die Sachen, sondern muss auch
rückblickend auf das Bewusstsein, auf Erkenntnisform und -methode gerichtet sein. Und in
der Tat sind die skeptischen Angriffe der Sophistik und ist alle spätere Skepsis der Wissenschaft
gar sehr zum Heil gediehen. Nur dadurch, dass die Angriffe die abwehrende philosophische
Energie so sehr anspannten, ist objektive Wissenschaft möglich und mächtig geworden. Man
kann danach also auch sagen: Alle Wissenschaft verdankt ihre methodische Kraft und somit ihr
wahrhaftes Sein als echte und strenge Wissenschaft der Philosophie: der negativen als Skepsis,
der positiven als Überwindung der Skepsis.
1 Randbemerkung Cf. die neue Vorlesung = S. 22–32.
22 einleitung in die philosophie

Wissenschaft war. Das Vertrauen auf die Kraft der Vernunft gegenüber der
bloßen Erfahrung beschloss nach der ersten Entwicklung der Philosophie,
wenn auch unausgesprochen, die Überzeugung, dass der Fortschritt der Er-
kenntnis im beschreibenden und urteilenden Denken ein an diese Form der
Theorie, an bestimmte Bildungsformen der Urteilsinhalte gebundener sei.
Und eben diese Überzeugung schien mit entwertet. Das theoretische Denken
erschien wie ein Spiel, als wie ein nach beliebigen praktischen Zwecken
willkürlich zu gestaltendes. Feste Normen für die Zusammenfügung der
Aussage-Inhalte in Absicht auf Erzielung einer jedermann und unbedingt
bindenden Wahrheit schienen zu fehlen; jedenfalls sie waren bestritten.
Der skeptischen Erlahmung, die der griechischen Philosophie und der
ganzen griechischen Kultur drohte, ward eine Grenze gesetzt durch die
ewig denkwürdige Reaktion, die von Sokrates (470–399) ausging. Sie war
zunächst und in erster Linie Reaktion gegen den praktischen und ethisch-
religiösen Skeptizismus der Sophistik, die ja auch aller sittlichen, morali-
schen, religiösen Autorität den Krieg erklärt hatte und die nicht bloß der
Autorität der historisch-faktischen Sitte und Religion zu Leibe ging, sondern,
im Radikalismus der prinzipiellen Negationen, auch jeder idealen Autorität
prinzipieller Normen, die in der Idee objektiver Geltung irgendwelcher
Werturteile (ethischer, ästhetischer, religiöser) beschlossen sein konnten.
Schon dem Protagoras wird nicht nur der Satz zugeschrieben „Wahr ist
für einen jeden, was ihm als wahr erscheint“, sondern auch „Gut ist für
einen jeden, was ihm als gut erscheint“. Aber wie sehr Sokrates ethischer
Reformator sein wollte und wie sehr er dabei in rein praktischer Wirksamkeit
aufging, ohne je eine philosophische Zeile geschrieben zu haben, so hat er
doch eine neue Epoche der Philosophie, und das sagt der Wissenschaft,
inauguriert. Am stärksten nachgewirkt hat er durch die Art, wie er das
Vertrauen auf die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkenntnis wieder-
herstellte.
Wir waren am Schluss der letzten Vorlesung im Übergang begriffen gewe-
sen zu einer neuen Richtung unserer ideengeschichtlichen Betrachtungen.
Ehe ich fortsetze, möchte ich an die methodische Art meiner Einleitung
in die Philosophie erinnern. Die Naivität, mit der in der Geschichte das
anfangende philosophische Denken der Welt gegenübersteht und mit der
es, von rein theoretischer Wissbegier getrieben, Fragen an sie stellt, hat
Verwandtschaft mit der philosophischen Naivität eines jeden Anfängers.
Die kritische Anknüpfung an die Geschichte der Philosophie und an pas-
send ausgewählte Entwicklungslinien ihrer Probleme und Theorien ist also
geeignet, den Anfänger zum philosophischen Denken zu erziehen und ihm
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 23

schrittweise die keineswegs an der Oberfläche liegenden, intellektuellen


Motive verständlich zu machen, die eine der natürlichen Weltbetrachtung
voranliegende, ihr gleichsam entgegengerichtete Forschung fordern. Freilich
ist der heutige Anfänger schon ein wissenschaftlich gebildeter, während die
mit der Philosophie anfangende griechische wissenschaftliche Kultur noch
keine Wissenschaft in unserem echten Sinne kannte; vielmehr sind, wie wir
sahen, Philosophie und Wissenschaft in ihren Anfängen noch ungeschie-
den. Aber da ist es gerade von besonderem Wert für eine philosophische
Einführung, den Anfänger an die gemeinsamen Urquellen der Philosophie
und Wissenschaft zurückzuleiten und ihm, an der Hand des Historischen,
die innere Notwendigkeit der Scheidung klarzumachen, also klarzumachen,
dass ein geradehin auf die Natur und Menschenwelt gerichtetes theoretisches
Interesse keineswegs schon fähig ist, sich in Gestalt exakter Wissenschaften
auszuwirken, dass vielmehr dergleichen strenge Wissenschaft erst möglich
wird durch entgegengerichtete Reflexionen und Forschungen, nämlich ge-
richtet auf das erkennende Bewusstsein, auf Erkenntnisform und -methode.
Die beständige Aufeinanderbezogenheit von Erkenntnis und der in ihr sich
gestaltenden Gedankenformen und Methoden einerseits und andererseits
Erkenntnisgebiet (als der zu erkennenden Welt) ist aber von vornherein
und in immer neuen Stufen der Quellboden aller spezifisch philosophischen
Probleme, bis hinauf zu den sogenannten höchsten und letzten Fragen,
darunter das Gottesproblem. Alle Fragen nach einem vernünftigen Sinn
und Zweck von Welt und Menschendasein, führen auf diesen Boden zu-
rück.
In dieser methodischen Absicht knüpfte ich also an an die ersten unbe-
holfenen Versuche einer theoretischen Weltbetrachtung der Griechen und
an das wunderbare Phänomen der Sophistik, die den üppig aufknospen-
den, aber ungereiften Versuchen kosmologisch-wissenschaftlicher Theorien
ihre subjektivistischen und skeptischen Argumentationen gegenüberstellt
und das Vertrauen auf die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkenntnis
und Wissenschaft erschüttert. Hier boten zunächst die Argumentationen
des Protagoras und Gorgias stärkste Reize, um in unerwarteter Weise das
philosophische Staunen zu erwecken und zum ersten Mal Ahnungen von
Problemen und von höchst sonderlichen, aber doch nicht leicht zu erledigen-
den Zielen zu erregen, die zwar zunächst unbefriedigt und ungeschlichtet
bleiben mussten, aber in vorbereitender Weise die naive Seelenruhe stören
sollten.
Kant liebte es zu sagen: Philosophie kann man nicht lernen, man kann
nur philosophieren lernen. Das lernt man aber nur dadurch, dass man durch
24 einleitung in die philosophie

derartige skeptische Alarme1 aus dem bequemen Bett der natürlich-naiven


Weltbetrachtungen herauszutreten und das Triviale zum Problem zu machen
genötigt wird. Denn in gewisser Weise ist die Philosophie die Wissenschaft
von den Trivialitäten; und das Wunderbare ist, dass eben an das Trivialste
sich die größten Rätsel des Daseins knüpfen. Neue und anders gerichtete
Anregungen, geeignet, den unbekannten philosophischen Kontinent sicht-
bar zu machen, gewinnen wir durch Betrachtung der Art, wie die Sophis-
tik in der damaligen historischen Lage gewirkt hat, und durch Anknüp-
fung an die unvergleichlich großsinnige und für die wissenschaftliche Kultur
unvergleichlich folgenreiche Reaktion, deren Träger Sokrates und Platon
sind.
In dieser Absicht wies ich am Schluss der letzten Vorlesung schon darauf
hin, dass praktisch wirksamer als jene allgemeinen, wissenschaftsfeindlichen
Argumentationen der Sophisten ihre eristische Dialektik war. Die Entwick-
lung des griechischen Denkens bis zur Sophistik hatte zu gar paradoxen
Theorien und Thesen geführt, paradox durch ihren Widerstreit mit dem
gesunden Menschenverstand und besonders paradox wirkend in ihrem Kon-
trast gegeneinander. Da hatte Heraklit eine verharrende Dingwelt mit festen
Eigenschaften schlechthin geleugnet; das verharrende Sein sei ein bloßer
Schein, es gebe nur Ströme des Werdens in harmonischer Regelung von
Zufluss und Abfluss, von Spannung und Widerspannung usw. Demgegenüber
leugnete der Eleate Parmenides gerade alles Werden, alle Veränderung,
Bewegung, ja sogar alle Vielheit und lehrte, es gebe nur ein einziges starres
Sein. Die Unmöglichkeit aller Bewegung, alles Seins in kontinuierlichem
Fluss suchte Parmenides – und noch eindrucksvoller sein Schüler Zenon –
in höchst subtilen und dabei paradox zugespitzten Argumenten zu erweisen,
wie zum Beispiel der berühmte „Achill“ oder „der fliegende Pfeil ruht“.
Wie waren so paradoxe, obschon sehr ernst gemeinte Theorien möglich?
In dem philosophischen Denken vollzog sich eben eine erste und noch
sehr unvollkommene Analyse und begriffliche Gestaltung der die natürliche
Weltbetrachtung durchsetzenden Grundvorstellungen wie Sein und Werden,
Ruhe und Bewegung, Ding und Eigenschaft, Raum, Zeit, Größe, Zahl usw.
Und darauf ruhten dann die weiteren gedanklichen Gestaltungen in Sätzen,
Schlüssen, Beweisen. Die Unvollkommenheit dieser ersten begrifflichen Ar-
beit, die Unklarheit und Vieldeutigkeit der erstgebildeten Begriffe selbst
bekundete sich in den über ihre Ziele weit hinausschießenden Paradoxien.

1 Lesart unsicher – Anm. der Hrsg.


die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 25

Hier nun hefteten sich die Sophisten an. Leicht gelang es ihnen, die Unvoll-
kommenheit der Begriffe, ihre Vieldeutigkeit und Verschiebbarkeit, frivol
auszunutzen und nach Beliebem Trugschlüsse zu konstruieren und damit
scheinbar zu zeigen, dass man alles beweisen und alles widerlegen könne. In
dieser Praxis entwerteten sie die ganze kunstmäßige methodische Leistung
des wissenschaftlichen Denkens. Fast schien es dadurch zu Tage zu treten,
dass das Ziel der Vernunft, durch die Kraft logischer Formung objektiv
geltende wissenschaftliche Wahrheit zu erzeugen, ein Chimärisches sei. Ganz
besonders leicht musste dieses frivole Spiel den Sophisten im Bereich der
Grundvorstellungen der ethischen, praktischen und politischen Sphäre ge-
lingen, die bisher am wenigsten in eine logische Zucht genommen waren;
und so drohten die das natürliche praktische Leben regelnden normativen
Ideen ihre Autorität einzubüßen, alle Unterschiede zwischen Recht oder
Gerechtigkeit im ideal-ethischen Sinne und positivem, aus zufälligen Macht-
verhältnissen entspringendem Recht verloren zu gehen.
Dieser Entartung, die nicht nur der griechischen Philosophie, sondern
auch der gesamten griechischen Kultur drohte, ward eine Grenze gesetzt
durch Sokrates. In erster Linie wendet sich die sokratische Reaktion ge-
gen den praktischen und ethischen Skeptizismus der Sophistik, sie wendet
sich gegen ihre Zersetzung aller normgebenden Ideen in Sittlichkeit, Recht,
Politik, gegen ihre Bekämpfung nicht nur aller empirischen, sondern auch
aller idealen Autoritäten, die in Form prinzipieller, idealer Normen den
Ansprüchen der Vernunft ihren Halt geben. Gut ist für einen jeden, was ihm
als gut erscheint, so hatte schon Protagoras kühn behauptet, und spätere
Sophisten hatten den Begriff des Rechtes einfach auf den der Macht und des
selbstsüchtigen Interesses zurückgeführt.
Wie sehr aber Sokrates im Grunde nur ethischer Reformator sein wollte
und wie sehr er dabei aufging in einer rein praktischen Wirksamkeit, ohne
je eine Zeile Literatur geschrieben zu haben, so hat er doch auch für die
Philosophie als Wissenschaft die Rolle des Bahnbrechers. Am stärksten
nachgewirkt hat er durch die Art, wie er das Vertrauen auf die Möglichkeit
einer objektiv gültigen Erkenntnis wiederherstellte. Durch ihn wird jenes
reine Wahrheitsstreben erneuert, das vom Ethos der Hingabe an absolute
Werte getragen ist. Freilich war die Überzeugung vom Sein solcher Wertung
und ihrer überindividuellen Geltung für Sokrates eine im Voraus feste, ihn im
Voraus leitende. Aber er hob sie über den Stand der Naivität hinaus; er zuerst
hat sie in vollkommenste Einsicht verwandelt. Und nicht nur für sich selbst.
Er hat Wege aufgezeigt, solche Einsicht jedermann zugänglich zu machen.
Eine geistige Hebammenkunst hat er ausgebildet (so nennt er selbst seine
26 einleitung in die philosophie

Methode in scherzhafter Anspielung auf das Gewerbe seiner Mutter), mit


der er in seiner beständig fragenden und disputierenden Art seine Mitunter-
redner zwingt das wertlose Denken und Reden und Handeln aufgrund vager
Vorstellungen zu lassen und sich davon zu überzeugen, dass ein vernünftiges
Denken und Handeln einsichtig erzeugter Begriffe bedürfen, Begriffe die in
selbständiger Denkarbeit aus konkreten Anschauungen geschöpft und durch
Bestimmung des eigentlichen und wesentlichen Sinnes geklärt sind. Er zeigte,
dass es hierbei redlicher und unablässiger Bemühungen bedürfe, um aus der
vagen Unbestimmtheit und Verborgenheit zur Bestimmtheit und Klarheit
des festen Begriffs zu kommen, und machte es zweifellos, dass so gebildete
Begriffe die übersubjektive Geltung mit sich führen und zur entscheidenden
Beurteilung des Richtigen und Unrichtigen berufen sind.
Die Begriffe, die Sokrates zu Themen dialektischer Erwägungen wählte,
waren überall Wertbegriffe, Begriffe, die von vornherein den Gedanken
einer richtunggebenden Norm mehr oder minder deutlich mit sich führen:
wie die Begriffe des Guten, Schönen, Nützlichen, Gerechten, Tugendhaften
oder Begriffe wie Staat und Staatskunst, Feldherrnkunst, Tapferkeit usw. In
klar gestellten Fragen leitet er, ausgehend von den vagen Wortbedeutungen,
den Gang der Überlegungen durch Heranziehung immer neuer veranschau-
lichender Beispiele. Er entnimmt diese der momentanen Umgebung oder
der Geschichte, der Kunst und Mythologie; er wandelt sie in freier Weise
ab, immerfort hinblickend auf die dem Wort anhängende Sinnesintention
und fragt immerfort und sucht schließlich endgültig herauszustellen, was im
wahren Sinne so heißen dürfe: in wahrem Sinne gut oder schön, in wahrem
Sinne tapfer, in wahrem Sinne ein Staatsmann, ein Gerechter usw.
In der Tat, wie sollten wir vernünftigerweise anders verfahren, wo bei-
spielsweise von Tapferkeit die Rede ist und es gilt, nicht geradehin aufgrund
vager, sachferner Vorstellungen etwas Vernünftiges über Tapferkeit aussa-
gen zu können? Wie sollten wir anders verfahren, als dass wir uns Beispiele
voll anschaulich vor Augen stellen, aus dem Leben, aus großen Dichtern, aus
Sage oder Geschichte? Bloße Beispiele tun es aber noch nicht, es bedarf einer
auswählenden, analysierenden, verknüpfenden und Wesentliches heraushe-
benden Geistesarbeit. Und geleitet sind wir dabei von der freilich zunächst
ganz dunklen, vagen und doch in gewisser Weise auf ein Ziel gerichteten
Intention des Wortes „Tapferkeit“. Diente uns zunächst etwa das Beispiel
des kriegerischen, im Feld gegen den Feind „tapfer“ vorstürmenden Hel-
den, etwa des homerischen Achilles, so fragen wir: Was an dem konkreten
Beispiel ist „wesentlich“ und wie muss es verstanden werden? Etwa das,
was der stürmende Krieger mit dem in blinder Wut und im Hass beliebig
die anfangende griechische philosophie oder wissenschaft 27

sonst Vorstürmenden, etwa gar einem Tier gemein hat? In der Intention des
„tapfer“ liegt eine Wertintention beschlossen. Also fragen wir: Könnte dann
das Vorstürmen noch tapferes heißen? Oder wir achten auf die Besonderheit
des Krieges und des Kriegers. Ist das wesentlich? Gibt es nur soldatische
Tapferkeit? Also holen wir andere Beispiele heran, modifizieren wir usw.
In dieser Weise wird in nachprüfender Analyse oder auch Verallgemeine-
rung unter Zuzug von Beispielen, in willkürlicher und doch geregelter Modi-
fikation der Beispiele schrittweise Begriffsbestimmung, Heraushebung von
Wesensmomenten, feste Umgrenzung der zusammengehörigen Merkmale,
Unterscheidung allgemeiner Gattungsbegriffe und untergeordneter Arten
vollzogen; und an Stelle der vagen Wortintention, die im uneigentlichen
Verstand „Begriff der Tapferkeit“ heißt, tritt der eigentliche Begriff, er wird
neu begriffen, er wird aus den Anschauungen und durch eine geregelte
zeugende Tätigkeit neu produziert und steht schließlich da als evidente,
normgebende Regel der Beurteilung und als eben dasselbe, was dunkel,
vieldeutig, unbestimmt verschiebbar mit dem Wort gemeint war, als das
worauf wir im Grunde hinauswollten. Und wer muss nicht zugestehen, dass
nur so ursprünglich gezeugte Begriffe jenes Licht der Klarheit, Bestimmt-
heit, Einsichtigkeit ausstrahlen, das einsichtig-vernünftige Urteile ermög-
licht?
In dieser schlichten, aber in der konkreten Ausführung höchst wirkungs-
vollen Methode der Begriffsbestimmung lag ein wichtiger Anfang. Echte
wissenschaftliche Erkenntnis darf sich nie in der bloßen Sphäre vager Vor-
stellungen bewegen und bei den schattenhaften aus früherer Erfahrung, aus
Konvention, aus vager Analogisierung, psychologisch blind und passiv er-
wachsenen Meinungen verbleiben. Vielmehr bedarf es überall, und zunächst
hinsichtlich der die wissenschaftliche Urteilstätigkeit leitenden Begriffe, des
Rückganges auf die letzte Quelle aller Geltung: auf die Einsicht. Und diese
selbst erwächst aus einer produktiven Denktätigkeit, die von den vagen
Vorstellungen sozusagen aus zweiter Hand uns den Weg sucht zu den aus den
Urquellen der Anschauung durch Wesensbestimmung zu schöpfenden Ur-
gestalten des Sinnes, zum wahren und echten Begriff. Durch die sokratische
Dialektik, so können wir auch sagen, tritt der grundwesentliche Unterschied
zwischen vager Meinung und Einsicht, zwischen passiver Vorstellungsbil-
dung und Wahrheit erzeugender Vernunfttätigkeit zuerst in seiner ganzen
Bedeutung zu Tage, und zwar als ein nicht bloß im Reich des Denkens,
sondern auch des ästhetischen und praktischen Verhaltens wirksamer, für
alle Fragen der Geltung bestimmender. Denn einsichtig handeln können wir
nur, wo wir einsehend vorstellen und denken.
28 einleitung in die philosophie

Platon und die Entdeckung des Apriori

Die wissenschaftliche Auswirkung der sokratischen Impulse vollzieht sich


durch den größten Schüler des Sokrates, durch Platon (427–347). Von ihrem
Urheber war die Methode der Definition, nämlich der klärenden Sinnes-
und Wesensanalyse von begrifflichen Vorstellungen, die das Verhalten der
Menschen bedeutungsvoll bestimmen, nur so weit geübt worden, als es
sein Interesse für eine Erneuerung des Lebens im Geiste eines wahrhaft
praktisch-vernünftigen Lebens es forderte. Ein Theoretiker war Sokrates
nicht. Darin sah er nicht seine Aufgabe, eine systematische Aufsuchung
der Vorstellungen zu vollziehen, die als Grundvorstellungen sozusagen das
tragende Gerüst aller Welterkenntnis und aller Vernunft in der menschli-
chen Praxis ausmachen, der Vorstellungen, die den Menschen in seinem
Urteilen sowohl über die Natur als auch über sein und anderer ethi-
sches und ästhetisches Verhalten leiten. Das lag ihm fern, also auch die
Absicht auf eine theoretische Wissenschaft, die all diese Fundamente mög-
licher Vernunfterkenntnis und Vernunftpraxis in letztabschließender Weise
in wesenseinsichtige Begriffe verwandle und mit ihnen oberste normative
Disziplinen aufbaue. Ganz anders Platon, der verehrungswürdige Urvater
strenger Wissenschaft und wissenschaftlicher Philosophie. Nur was Platon
in dieser Hinsicht angebahnt und zu endlos fruchtbarer Fortwirkung ge-
bracht hat, habe ich hier zu besprechen. Auf den konkreten Gehalt seiner
Philosophie darf ich nicht eingehen, so sehr übrigens all seine Gedanken als
triebkräftige Impulse für das wissenschaftliche Denken der Folgezeit gewirkt
haben.
Auffallen mag es, dass ein nicht unerheblicher Teil der platonischen Dar-
stellungen ein mythisch-poetisches Gewand hat. Das sagt aber nur, dass
Platon, wie sehr er auch vom Ideal strengster Wissenschaft beseelt war, sich
selbst noch von der Erzielung dieses Ideales fern wusste und sich außer Stand
sah, einen erheblichen Teil seiner aus tiefsten Seelengründen geschöpften
Intuitionen auf die Höhe objektiv erledigender Theorie zu erheben und
ihm die feste begriffliche Gestalt zu erschaffen. So wählt er bei seiner bei-
spiellosen intellektuellen Redlichkeit die einzige Ausdrucksform, die ihm
noch zu Gebote stand, die des Mythos. Von dieser Redlichkeit gibt übrigens
jede Zeile, die Platon gesprochen hat, Zeugnis. Sein Leben ist das reinste
Leben im Geiste und in der Wahrheit, das die Welt theoretischer Kultur
je gesehen. Als echtes Leben im Geiste ist es ein unaufhörliches Ringen
um Klarheit und Wahrheit. Und weit entfernt davon, auf eine bloße Befrie-
digung subjektiver Wahrheitssuche gerichtet zu sein, ist es ein Ringen um
platon und die entdeckung des apriori 29

die Veredlung der Menschheit, durch Hinordnung der Seele auf die reinen
Ideen, in denen der wahre, objektive Sinn der Welt und des Menschenlebens
beschlossen ist. Seine nie erlahmende Denkarbeit gilt also vor allem der
vollkommenen Klärung, reinen Erfassung, begrifflich festen Gestaltung der
Ideen und der in ihnen gründenden Normensysteme, die eine im höchsten
Sinne humane Kultur allein möglich machen. Damit sollten der Menschheit
die ewig gültigen Ziele und Wege für ihre ins Unendliche fortgehenden
Lebenstätigkeiten dargeboten werden, denen gemäß einzig und allein ein
wahrhaft befriedigendes und beglückendes Leben, ein Leben nach Ideen
reiner Vernunft bestehen kann. Ein solches Leben aber entfaltet sich in
wahrhaft wertvollen Persönlichkeiten und Gemeinschaften, und es wirkt
sich aus in wahrhaft wertvollen Taten und Werken. In immer höheren Stufen
gestaltet sich so eine Welt des Geistes.
Man kann übrigens auch mit einem einzigen Ausdruck, der nur entspre-
chend weitherzig verstanden werden muss, die gesamten Intentionen Platons
umspannen und sagen: Die platonische Lebensarbeit geht auf eine universale
methodologische Reform, nämlich auf wahre und echte Methode, die er
begrifflich zu gestalten sucht, nicht nur die wahre Methode der Wissenschaft,
die nach Umfang und Strenge vollkommene Wissenschaft, sondern die wahre
Methode des gesamten Lebens nach allen, unter Ideen der Vernunft stehen-
den Formen von Ich-Tätigkeiten. Ja, ihm, dem Schüler des Sokrates, stehen
sogar die Werte der Gemüts- und Willenssphäre denen der intellektuel-
len Sphäre voran. Das oberste intellektuelle Ideal, das einer universalen
wissenschaftlichen Philosophie, ist ihm nur darum so unsagbar wichtig und
teuer, weil es das schlechthin unentbehrliche Fundament ist für die Ermög-
lichung des obersten praktischen Ideals (das als konkret vollständiges nach
seiner Überzeugung jenes theoretische mit umschließt). Der Mensch kann
nicht ein bloßer Denker sein und ein bloßes Denkerleben führen wollen.
Wie sein Leben beständig ein vorstellendes und denkendes, ein fühlendes,
begehrendes und wollendes Leben ist, so ist auch das oberste normative
Ideal des vollkommenen Lebens wesentlich bezogen auf a ll diese Gestalten
bewussten Lebens und untrennbar eins. Das ideale Subjekt eines absolut
vollkommenen personalen Lebens projiziert sich ins Metaphysische als Idee
der Gottheit, die, wie sie für jede strebende Menschenseele als Leitstern
fungiert und teleologisch ihre edlen Tätigkeiten regelt, so gedacht wird als der
teleologische Pol, der das Weltall, seinen gesamten Werdens- und Entwick-
lungsgang regiert und so die ganze Welt als idealer göttlicher Sinn beseelt. In
dieser Richtung bewegen sich in der Tat die platonischen Überzeugungen;
die Weltanschauung, die Platon mit all seinem leidenschaftlichen Streben
30 einleitung in die philosophie

nach streng wissenschaftlicher Philosophie zu begründen sucht, ist eine te-


leologische Weltanschauung, nach der die im Wahren und Letzten wirkenden
Weltkräfte Ideen sind und als zentrale Idee die Idee der Gottheit. Der einmal
geprägte Typus teleologischer Welterklärung wird von nun ab vorbildlich für
alle großen Philosophien der Zukunft. Die von ihm erschauten, nur mythisch
in großen Konzeptionen gestalteten Notwendigkeiten konnten, wie viel es
ihnen auch noch an wissenschaftliche Reife fehlte, nicht mehr preisgegeben
werden.1
Doch für uns gilt es jetzt näher die Richtungen zu bezeichnen, die Platon
in seinen Bemühungen um eine Begründung wissenschaftlicher Methode
eingeschlagen hat. Da ist es nun für uns merkwürdig, aber bei der gan-
zen geistigen Lage wohl begreiflich, dass Platon sich auf das mit Gorgias
(mindestens wenn die historische Tradition nicht trügt) auf den Plan getre-
tene Problem der Möglichkeit einer Erkenntnis von einem der Erkenntnis
transzendenten Sein gar nicht eingelassen hat, dass er dem Problem, wie
Bewusstsein überhaupt, da es doch (oder da das Bewusstseins-Ich) in allem
Erkennen immerfort bei sich bleibt und nur von Bewusstsein zu Bewusst-
sein fortschreitet, eine Bewusstseinstranszendenz erkennen könne, gar nicht
nähergetreten ist, und es daher bei ihm noch nicht zum Quellpunkt von
Wissenschaften werden kann. Zwar ist die Frage nach dem Wesen echter
Erkenntnis (πιστμη gegenüber der bloßen δξα) von ihm – ich erinnere
insbesondere an den Theaitetos – viel erörtert worden, sie ist für ihn in der
Tat eine Grundfrage; aber über formale Bestimmungen, wie sie in logisch-
methodischer Absicht notwendig und wertvoll sind, kommt er nicht hinaus.
Dieses Verhalten Platons ist in der Entwicklungslage, die ihm die Lebensar-
beit vorzeichnete, wohl begreiflich. Es entspricht genau dem Verhalten des
reformatorischen Praktikers Sokrates.2
Zunächst gilt es doch, in praktisch wirkungsvoller Weise das Vertrauen
auf die menschliche Erkenntnis wiederherzustellen und dann Erkenntnis,
als echte und rechte Erkenntnis, wirklich auf die Bahn zu bringen. Dass
es echte Erkenntnis gibt, dass Erkenntnis, recht geleitet, der objektiven
Geltung ihrer Ergebnisse in zweifelloser Evidenz innewerden kann (dass
es Erfahrungsweisen gebe in denen, freilich in dem mühsam selbsttätigen
Auswerten aller dunklen Vorbegriffe und Vorurteile, deren echter Sinn

1 Randbemerkung Den Übergang zur nächsten Vorlesung neu ausarbeiten.


2 Randbemerkung Vgl. nächste Vorlesung eingeklammert über Gorgias’ und Protagoras’
Wirkung auf Platon. Dieses Blatt gelesen, aber wertlos. Vgl. Nächste Vorlesung = S. 33–40.
platon und die entdeckung des apriori 31

und Wahrheitswert herausgestellt werden kann), das hatte die sokratische


Methode in ihrem Gebiet in einer Weise gelehrt, dass demgegenüber die
sophistische Skepsis praktisch ihre Macht einbüßte. Möchten die radikalen
Motive der skeptischen Argumentationen auch ungeklärt und diese selbst
eigentlich theoretisch unerledigt bleiben und somit auch der letzte Sinn
möglicher Erkenntnis unverstanden, so war doch die Leistung der sokra-
tischen Methode der Zurückführung auf letzte Quellen der Wesensintuition
eine so offenbar wertvolle, dass man für jene letzten Sinnesfragen zunächst
wenig Interesse aufbringen konnte, zumal sie so spielerisch, frivol und ohne
Auseinanderlegung des tieferen Problemgehaltes aufgetreten waren. Also
fehlten zunächst die unmittelbar wirksamen Motive sich eben in diesen tiefe-
ren Gehalt des Erkenntnisrätsels hineinzubohren, sich seine Tragweite völ-
lig auseinanderzulegen. Der Möglichkeit einsichtiger Erkenntnis praktisch
völlig sicher, zunächst an den sokratischen Themen, wurde man natürlich
auch dessen sicher, dass Ähnliches überhaupt in weitester Sphäre zu leisten
sein muss; und nun kam alles darauf an, die Methode allseitig auszubauen
und dann in den verschiedenen Erkenntnisgebieten geklärte, bestimmte,
von Evidenz vollkommen durchleuchtete Grundbegriffe zu schaffen und
demgemäß strenges Denken wirklich zu inszenieren. Mit anderen Worten: Es
gilt dann, eine neue Wissenschaft oder Philosophie, eine absolut exakte, von
aller verworrenen Sinnlichkeit, von allen Vorurteilen, von allen heteronomen
Motiven befreite Wissenschaft zu begründen.1
Das Erste war dabei also die Methode, die Entdeckung der Grundmittel
aller e cht e n Erkenntnis. Es galt, die reinen und echten Begriffe zu gewinnen
und natürlich sie zu gewinnen im urschöpferischen Erzeugen der Evidenz,
durch die allein objektiv gültige oder, was dasselbe, streng wissenschaftliche
Aussagen möglich werden. Es galt desgleichen, die in ihnen wurzelnden
logischen Normen als die formalen Bedingungen der Möglichkeit gültiger
Aussagen und die parallelen Normen des Wertens und Handelns heraus-
zuarbeiten. Es galt, methodische Einsicht darüber zu gewinnen, wie in der
empirischen Sphäre, der der äußeren Natur, die doch in der natürlichen
Erfahrung sich als eine Sphäre des beständigen Flusses und der Relativität
auf das Subjekt darstellt – eine, worin die Sophisten die Hauptstütze ihres
Subjektivismus gefunden hatten – eine an sich geltende, nicht bloß rela-
tive Wahrheit möglich ist. Welche Funktion kann überhaupt die Erfahrung
für eine Wissenschaft haben? Wie kann die Urteilstätigkeit aufgrund der

1 Randbemerkung Wertlos. Vgl. nächste Vorlesung = S. 33–40.


32 einleitung in die philosophie

Erfahrung zu einer wissenschaftlichen werden? Sind die Wahrnehmungen


und sonstige Erfahrungen in beständigem Wechsel und Fluss, so sind ja auch
die unmittelbar an die Erfahrung sich anschließenden Begriffe und Aussagen,
die unmittelbar beschreibenden, nur von fließender, nur von relativer Gültig-
keit. Prätendiert aber das Erfahrungsobjekt zu se in, so prätendiert es, ein an
sich gültiges Subjekt an sich gültiger Prädikate, also Substrat irrelativer, an
sich gültiger Wahrheiten zu sein. Hat diese Prätention überhaupt ein Recht,
und wenn sie es hat, wie sehen solche Wahrheiten aus und wie kann das
erkennende Subjekt sie aus den bloß relativen Erfahrungsurteilen oder wie
sonst herausarbeiten?
Also1 zusammengefasst: Die erste der künftigen Entwicklung vorgezeich-
nete Aufgabe ging auf eine Methodologie, auf eine wissenschaftliche, also
selbst von vollkommenster Einsicht erfüllte Erkenntnis der Bedingungen
der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt, und daran konnte
sich erst die Aufgabe schließen, die wissenschaftliche Erkenntnis in ihren
prinzipiell zu unterscheidenden Hauptgebieten wirklich zu begründen. Wir
könnten diese erstgeforderte Disziplin auch eine Wissenschaftslehre, eine
Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit echter (durch und durch
strenger, an sich gültiger) Wissenschaft nennen. Was einen Begriff von
Logik abgibt. Diese Wissenschaft müsste gehen auf die durch das Wesen
einsichtiger Erkenntnis prinzipiell vorgezeichneten Erfahrungsweisen; sie
müsste in prinzipieller Allgemeinheit die allgemeinen Normen aller Me-
thode erforschen, deren Verletzung also die Möglichkeit einsichtiger Geltung
verletzt und nicht Wahrheit, sondern notwendig Falschheit ergibt. Diese
Wissenschaftslehre müsste dabei insbesondere auch betreffen die Formen
der den prädikativen Erkenntnisakten als Bedeutungen innewohnenden
Gehalte, nämlich die in solchen Akten offenbar in Wesensnotwendigkeit
einwohnenden Gebilde, die wir „Begriffe“, „Sätze“, „Schlüsse“, „Beweise“
nennen. Alle wissenschaftliche Erkenntnis vollzieht sich in systematischen
Zusammenhängen „theoretischer“ Aussage. Alle Theorie löst sich auf in
Beweise, die Beweise in Schlüsse, die Schlüsse in Sätze und in Sätzen finden
wir Begriffe als Elemente. Dass diese Gebilde, Sinnesgehalte des theore-
tischen Denkens, des im Denken gedachten Was, unter einer festen Typik
von Formen stehen und dass diese Formen, nur wenn sie gewissen Regeln
genügen, Wahrheit im Denken ermöglichen, das trat früh hervor.

1 Am Rande dieses Absatzes eine Null.


platon und die entdeckung des apriori 33

Das Thema, das wir am Schluss der letzten Vorlesung angeschnitten


haben und das uns weiter beschäftigen soll, können wir so bezeichnen: Es
sollte gezeigt werden, wie sich die sokratische Maieutik oder, was dasselbe,
die von dem ethischen Reformator Sokrates geübte praktische Dialektik
verwandelte in die platonische Dialektik als eine Wissenschaft, als eine
Wissenschaft von der Methode, eine Wissenschaft von den Ideen als den ewig
gültigen Normen aller Vernunfterkenntnis und alles durch sie vermittelten
vernünftigen Lebens, andererseits aber auch eine Wissenschaft von dem im
letzten Sinne wahrhaften Sein gegenüber dem bloßen Sein als Erscheinung.
(Der Entwicklungsgang, in dem Platon stand, machte es, sagte ich, ver-
ständlich, dass auf ihn die im Gorgias’schen Argument berührten Rätselfra-
gen der prinzipiellen Möglichkeit einer über das erkennende Bewusstsein
hinausreichenden Erkenntnis, einer Erkenntnis von Bewusstseinsjenseiti-
gem, nicht wirkten. Die völlige Negation einer an sich seienden objektiven
Welt und die Beschränkung aller Erkenntnis auf den momentanen Fluss des
subjektiven Erlebens erschien zu sehr als paradox und frivol und konnte
lange nicht so empfindlich werden als der Protagoras’sche Relativismus,
der sich an die heraklitische Lehre vom Fluss alles Seins anlehnte. Der
Satz „alles ist relativ“ hatte doch im Rahmen der Welt, wie sie sich in
sinnlichen Wahrnehmungen darstellt, eine gewisse Kraft. Folgen wir in un-
seren Aussagen über die Dinge der Wahrnehmung, lassen wir die sinnlich
erfahrenen Eigenschaften, die Farben, die im Sehen gegebenen Gestalten,
die Geschmackseigenschaften, die akustischen Eigenschaften usw. als wahre
gelten, so widerlegt uns die beständige Abhängigkeit dieser Eigenschaften
von unserer Sinnlichkeit. Offenbar ist ja die Sinnlichkeit wandelbar, und
je nach ihrer Wandlung, etwa in Formen der Gesundheit und Krankheit
und desgleichen im Wechsel unserer Stellung zu den Dingen usw., lässt
sie uns dasselbe Ding verschieden erscheinen, bald warm, bald kalt usw.
Dieser Relativismus ward von der Erkenntnis der physischen Dingwelt
auf alle Erkenntnis übertragen: Jeder urteilt nach seiner Stimmung, Lage,
Erziehung usw., wäre sie anders, würde er natürlich anders urteilen. Jeder
hat Recht, wenn er aussagt, wie er die Sachen auffasst und ansieht. Ein
absolutes Recht, gültig für jedermann in jeder Relation, in jeder Stimmung,
Gefühlslage, physischen und geistigen Umgebung usw., gibt es nicht. Die
angeblich höhere Erkenntnisweise der Vernunft gegenüber der niederen
sinnlichen Erkenntnisweise ist eine haltlose Erfindung der Philosophen.
Solche Argumentationen mussten Eindruck machen, weil jedermann in
außerordentlich weitem Kreis seines Denkens und Erkennens, ja fast in
dem gesamten, in dem sich sein tägliches Leben abspielte, diese subjektive
34 einleitung in die philosophie

Bedingtheit seiner Urteile und der ihnen zu Grunde liegenden Erfahrungen


von wechselnden subjektiven Faktoren ohne weiteres anerkennen musste.
Die Verallgemeinerung dieses Relativismus bis zur Leugnung aller absolu-
ten Erkenntnis war eine große Versuchung, und praktisch bedeutet sie für
Wissenschaft und Leben eine große Gefahr.)
Die sokratische Maieutik, rein praktisch geübt, überwand die frivole
eristische Dialektik der Sophisten durch eine neue, von einem reinen Ethos
getragene Dialektik, welche in den davon betroffenen Kreisen Athens, so-
weit in ihnen eine edlere Gesinnung noch lebendig war, das Vertrauen auf die
Vernunft und ihre Fähigkeit, eine objektive Wahrheit einsichtig zu erreichen,
wiederherstellte. Aber noch mehr als das. Die Vernunft war nun nicht mehr
ein prätentiöses, höheres Erkenntnisvermögen des Philosophen mit einer
fragwürdigen Autorität, fragwürdig durch den Streit der Philosophen und
die Angriffe der Sophisten. Denn in der kunstvollen, wenn auch rein prak-
tischen Dialektik des Sokrates lag eine Methode der Zurückführung auf
die letzten Quellen der Wesensintuition, eine Methode der Herausarbeitung
eines Wahrhaften, etwa eines wahren und echten Guten, Schönen, einer
echten Tapferkeit, eines rechten Staats usw., in der sich dieses Wahrhafte in
Wesensdefinition bestimmte, in der es in zwingender Einsicht zu Tage tritt.
Also, damit erst hob sich von der Erkenntnisweise der sinnlichen Erfahrung
und der verworrenen auf Konvention, Tradition u. dgl. beruhenden Meinung,
für die der Protagoras’sche Subjektivismus den Satz aussprechen durfte
„alles ist subjektiv und relativ“, in bestimmter Weise eine neue und höhere
Erkenntnisquelle ab, die Erkenntnis einer in redlichem Wahrheitsstreben
und in selbsttätiger Denkarbeit sich durchringenden Einsicht, einer durch
und durch klaren Vernunfteinsicht, deren Korrelat das wahrhafte bzw. das
normgebende begriffliche Wesen war. Das alles war nur begrenzt durch die
Wahl der sokratischen Themen in der ethisch-praktischen Sphäre; es musste
aber für einen wissenschaftlichen Kopf wie Platon von vornherein klar sein,
dass die Macht dieser Methode über diese enge Sphäre hinausreiche, wie es
für ihn auch notwendig werden musste, diese Methode aus der bloßen Praxis
emporzuheben auf die Stufe der Wissenschaft.
Platon wurde also nicht nur selbst praktisch von der sokratischen Methode
zur Überzeugung geführt, dass es in concreto möglich sei, die Verworren-
heit der in psychologischer Passivität sich zusammenbildenden sinnlichen
Meinung durch selbsttätige Geistesarbeit in objektiv gültige Einsicht zu
verwandeln, und damit möglich sei, das individuelle und soziale Leben von
Fall zu Fall nach den einsichtig gewonnenen normativen Ideen in objektiv
gültiger Weise zu ordnen, sondern er erfasste von Neuem das die bisherige
platon und die entdeckung des apriori 35

Philosophie durchherrschende Ziel der Wissenschaft und erkannte, dass


dieses Ziel nicht in planloser Naivität zu erreichen sei, sondern dass es
einer wissenschaftlichen Forschung bedürfe, welche, über den Sinn sokra-
tischer Methode nachdenkend, die für die Möglichkeit einer wahren und
echten (also gegenüber allem Relativismus objektiv gültigen) Wissenschaft
geltenden Normen einsichtig herauszuarbeiten hat. Echte Wissenschaft
kann nicht auf die Bahn gebracht werden ohne wissenschaftliche Refle-
xionen über Methode, ohne eine Wissenschaft von der Möglichkeit echter
Wissenschaft.
Begreiflicherweise vollzog sich in eins mit der Arbeit an der wissenschaft-
lichen Klärung der allgemeinen Methode echter Wissenschaft überhaupt
zugleich eine Arbeit an der Begründung oder Herausstellung von Stücken
echter Wissenschaft in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten, wobei
die immer mitgehenden allgemeinen Reflexionen über Sinn und Recht und
Grenzen der vollzogenen Leistung die Versuche zu einer allgemeinen Metho-
dologie und der Wesensbestimmung echter Wissenschaft überhaupt fördern
mussten. In diesem Wechselspiel der vom Allgemeinsten in das Beson-
dere herabsteigenden und vom Besonderen ins Allgemeine zurückgehenden
Forschungen erwuchs die platonische Dialektik als der erste Versuch einer
universellen Wissenschaftslehre, einer universellen Wissenschaft vom Wesen
und den Bedingungen echter Wissenschaft überhaupt, und es erwuchs in
ihrem Zusammenhang notwendig die berühmte Ideenlehre, die so sehr das
Haupt- und Grundstück der platonischen Dialektik ist, dass beide in der
Regel zu gleichstehenden Titeln werden.
(Echte Wissenschaft ist ein System objektiv gültiger, in einsichtigen Ver-
nunftbegründungen von jedem Erkennenden zu erfassender und nachzuprü-
fender Wahrheiten. Was in solchen Wahrheiten ihren Gegenständen nach
Sein und Beschaffensein zugemessen wird, das kommt diesen Gegenstän-
den schlechthin, an sich, auch zu. Und umgekehrt: Was in gegenständlicher
Hinsicht ist, das muss in Vernunfteinsichten, in Gestalt von Wahrheiten der
Wissenschaft, in einer für jedermann verpflichtenden Weise aussagbar sein.
Diese Korrelation von Wissenschaft und wahrhaft seiender Gegenständ-
lichkeit macht es verständlich, dass man nicht wissenschaftstheoretische Er-
kenntnis haben kann, ohne damit auch Wahrheiten über das gegenständliche
Seiende darin beschlossen zu haben, und macht es somit auch verständlich,
dass Platon in seiner Dialektik, in Form der Ideenlehre, Grundstücke von ei-
ner universalen Welterkenntnis als einer Erkenntnis des im letzten, absoluten
Sinne wahrhaft Seienden darbietet und sogar hier schon jenen teleologischen
Idealismus entwickelt, von dem wir früher gesprochen haben.)
36 einleitung in die philosophie

Treten wir nun an die Behandlung der viel beredeten, viel verkannten
und bestrittenen Ideenlehre heran. Man wird sie trotz mancher, bei bahn-
brechenden Anfängen unvermeidlichen Mängel zu den größten Entdeckun-
gen aller Zeiten rechnen müssen. Also was sind das: Ideen im platonischen
Sinne, wie entspringen sie als methodologische Funktionen und welche Rolle
spielen sie für die Ermöglichung echter Wissenschaft? In dieser Hinsicht ist
Platon zunächst nur der geniale Theoretiker, der, sich vertiefend in den
Sinn der praktisch-konkreten Leistungen der sokratischen Maieutik, eben
dem theoretisch Gestalt und Kraft gab, was bei seinem großen Lehrer bloß
praktische Übung gewesen war. Die erste und ursprüngliche Konzeption
der platonischen Ideenlehre und Methodologie vollzog sich also in Hinblick
auf die sokratischen Themen und ihre begrenzte ethisch praktische Sphäre.
Welche Motivationen im Geist Platons sich dabei abspielten, müssen wir
also vor allem zu zeichnen versuchen, und welchen begrenzten Sinn „Idee“
da hatte. Nachher werden wir zu zeigen haben, wie Platon dazu kam, in
Gebieten, für die Sokrates seine Methode nicht angewendet hatte, die er
sogar für außerhalb des Rahmens der Tragweite seiner Methode liegend
ansah, verwandte Gebilde als Ideen zu erschauen und damit in höchst
genialer Weise die ursprüngliche Konzeption zu erweitern. Wie erwuchs,
fragen wir also, die ursprünglich platonische Konzeption der Idee? Wie
wird ihr Sinn verständlich an der Auswirkung der im sokratischen Verfahren
nächstbeschlossenen Motive?
(Sie werden auch verstehen lernen, warum sie, die Ideen, zugleich
wahre Grundpfeiler sein müssen für eine Philosophie in jenem ältesten und
unentbehrlichen Sinne einer absoluten Wissenschaft vom Universum des
Seienden. Es ist also nicht ein zufälliger, sondern notwendiger Zusammen-
hang, der sich in der historischen Tatsache ausspricht, dass Platon nicht
nur der Entdecker der Idee ist, sondern in eins damit der Entdecker
jenes neuen Typus universeller Weltanschauung, Weltphilosophie, den wir
als teleologischen Idealismus bezeichnet haben. Aber was besagt zunächst
das Erstere, was sind das: „Ideen“ im platonischen Sinne, was sind sie me-
thodologisch und worin besteht ihre Funktion für die Ermöglichung echter
Wissenschaft?
Ich will versuchen, Ihnen den Kern der Sachen in einfacher Weise so
klarzulegen. Alles Ich-Leben oder, ins Natürlichmenschliche gestellt, alles
menschliche Leben ist, wie früher schon ausgeführt, als Bewusstseinsleben
ein beständiges Stellungnehmen und ein für seiend, wahr, schön, gut, nütz-
lich, zweckvoll usw. Halten. Das, was im Jeweiligen, in diesen Lebensfor-
men des Stellung nehmenden Ich bewusstseinsmäßig vor Augen steht, ist
platon und die entdeckung des apriori 37

darum nicht eigentlich und wirklich schon ein Seiendes oder ein Wahres,
nicht wirklich ein Schönes, ein Gutes (Begehrenswertes), ein Nützliches,
ein Zweckvolles. Es ist zunächst nur ein Vermeintes und alles Vermeinen
steht unter dem Gegensatz der Vernunft und Unvernunft. Mit Rücksicht
darauf sprechen wir in gewissen Fällen auszeichnend von einem im echten
und wirklichen Sinne Seienden, Schönen, Guten usw., und zwar da, wo die
Vernunft, und das sagt nichts anderes als die nachprüfende und begründende
Einsicht, das Vermeinte bestätigt und in seiner „Echtheit“ erschaubar macht.
Anderenfalls tritt im Rückgang auf die Einsicht das Nichtsein, das Unwahre,
das Unschöne, das Wertlose, Zwecklose als Negativum zu Tage. Verstehen
wir unter Begriffen die Bedeutungen von Worten, so drücken die Begriffe
„wahr“, „schön“, „gut“ usw. also eigentümliche Prädikate aus, die total ver-
schieden sind von sonstigen Prädikaten, etwa „rot“, „rund“ etc. Nämlich sie
drücken aus, wie das Stellung nehmende Subjekt in seinen Stellungnahmen,
und zwar im vollkommenen Vollzug derselben (den das Wort „vernünftige
Einsicht“ andeutet), bewertet und Werte selbst als absolut gültige sich zu-
eignet. Was dabei aber als Wert, als an sich gültig vermeint und erfasst
ist, das sind jeweilige Themen der Wertung. Zum Beispiel im vollkommenen
Urteilen, das wir das einsichtige nennen, steht ein Urteilsinhalt, etwa 2 × 2 = 4,
da im ursprünglichen Charakter vollkommener Wahrheit; im vollkommenen
ästhetischen Bewusstsein steht ein erschauter Kunstinhalt da im Charakter
der vollkommenen Schönheit etc.)
Nach den früheren Darlegungen spürte Sokrates dem ursprünglichen
Sinn der Wertbegriffe nach, die in den das praktische Verhalten regelnden
Prädikationen eine beständige Rolle spielen, zum Beispiel in Fragen der
Echtheit einer Freundschaft, einer rechten Haushaltung, einer Tapferkeit
und Gerechtigkeit. Er brachte den Sinn dieser Echtheit zu Tage (also die Ur-
quelle aller Normierungen) durch Übergang von Verworrenheit zur Klarheit,
von passiv übernommenen Wertsuggestionen zu ursprünglich anschaulich
und spontan vollzogenen wertenden Stellungnahmen. Und dadurch gewann
er und vermittelte er allen die ihm nachfolgten zunächst ein lebendiges,
aus der selbsttätigen Leistung vollkommener Vernunft entspringendes Ver-
ständnis dessen, was eben im eigentlichen Sinne des Wortes „Vernunft“
eigentlich besagt:1 eine Art denkende, schätzende, abzweckende Tätigkei-
ten in freier und echter Aktivität Vollziehen und so Vollziehen, dass die
schon im verworrenen Denken, Werten, Wollen verborgene, aber noch vage

1 Randbemerkung Vernunftakt.
38 einleitung in die philosophie

Intention auf das Echte, Wahre, Gute, Schöne sich in vorgezeichneter Weise
bekräftigt, erfüllt, zu reiner Befriedigung auslebt, sich (wie es auch heißt)
ihres wahr machenden Grundes bemächtigt und das Gründende in das vollste
Licht erhebt. Oder aber im Gegenteil: Es tritt in der Einsicht Abweisung
ein. Was ins Licht tritt als Echtes und Rechtes, das ist in Widerstreit mit
der Intention der Vormeinung, des Vorurteils, der blinden Vorwertung, der
blinden Zwecksetzung.1
Aus Sokrates’ Verfahren lernt man Art und Leistung der Begründung
im weitesten Sinne und der Licht gebenden und im vollsten Licht aus-
weisenden Evidenz verstehen und kennen. Das war ein Ungeheures und
es war eine Erkenntnis, dass das Licht der Vernunft nicht ein zufällig aus
solchen Gründen in die Meinung hineinleuchtendes Licht ist, sosehr der
Vergleich mit einer Erleuchtung sich aufdringen mag, vielmehr dass der
Gegensatz der ist zwischen psychologisch irgendwie erwachsenem (und in
natürlicher Denkfaulheit als bequeme Gewohnheit hingenommen) Zwang
und andererseits Autonomie, deren Wesen überall Freiheit ist. Und Frei-
heit wieder liegt überall in Selbsttätigkeit: in Verwandlung verworrener
Intentionen in freie, sie auswertende, nachprüfende tätige Handlungen, in
zielstrebige Akte des Beziehens, des Verknüpfens, des Zergliederns und des
Veranschaulichens und des immerfort Zusehens, was für Stellungnahmen
in den Gliederungen und Beziehungen des Anschaulichen die geforderten
sind.
(Nur2 in der freien und sinnvoll geleiteten Selbsttätigkeit der Entfaltung
dunkler Intentionen hört das Ich die Stimme der Sachen, es vernimmt ge-
wissermaßen ihre Aufforderungen, so und so Stellung zu nehmen, so und so
sich zu entscheiden in Anerkennung und Verwerfung, in Zwecksetzung und
Zweckabweisung. Vollkommene Vernunfttätigkeit ist ein oft sehr komplexes
System von Aktivitäten, in dem das Subjekt durchaus als Subjekt von ge-
richteten Intentionen waltet und zielstrebig das in diesen vorgedeutete Telos
in reiner Befriedigung und nach allen Komponenten der Intention erreicht.
Vernünftig sein ist in reiner Aktivität bis ans „Ende“ gehen: Die rein theo-
retische, wertende, praktische Befriedigung zeigt das Ende als immanentes
Telos an. Das war das durch Sokrates praktisch Verständliche. Sie verstehen,
was diese Rede von praktischer Verständlichkeit besagt. Dem Handwerker
ist im wohlgeübten Vollbringen der Leistung, im geordneten Vollzug der

1 Randbemerkung Vernunft – Unvernunft.


2 Randbemerkung Folgende Seite = S. 39.
platon und die entdeckung des apriori 39

machenden und gestaltenden Tätigkeiten ihr Sinn und Wert ohne weiteres
klar, auch ohne dass er das mindeste theoretische Verständnis von den dabei
fraglichen mechanischen und psychologischen Gesetzen hätte. So ist es auch
hier. Das sokratische Verfahren ist die Entdeckung einer Praxis der Evidenz,
der theoretischen und ethischen Evidenz, aber ohne jede Theorie dieser Sorte
von Aktionen.)1
Das war also das Eine, höchst Wichtige. Aber ein Zweites kommt noch
in Betracht und muss hier geschieden werden. Der Denkende in solcher
evidenzzeugenden Spontaneität vollzieht in seiner „Seele“ eine Reihe von
subjektiven Tätigkeiten; aber nicht ein bloß psychisches Erlebnis ist das
Ende, das im zweiten und dritten Wiedervollzug der Evidenz ein eben neues,
ein zweites und drittes Erlebnis wäre. Der Erfahrende erfährt etwas, ein
vermeintlich Objektives, der Wertende wertet und wird dabei bewusst eines
Etwas, eines vermeinten Wertes, der Urteilende urteilt etwas und wird dabei
bewusst eines Etwas, eines Sachverhaltes usw. Auf dieses Etwas bezieht sich
die Rede von vermeintlich und wirklich sein. Im Vollzug der Evidenzak-
tionen ist das, was im Modus des nicht bloß Vermeinten, sondern wahrhaft
Seienden hervortritt, ein „Objektives“, das ist etwas das in beliebig wieder-
holtem Vollzug solcher Akte als absolut identisch dasselbe dasteht, als etwas,
was nicht das Psychische, das Bewusstseinsleben, das Vorstellen, Urteilen,
Werten, Wollen ist, sondern etwas Über-Psychisches, Über-Subjektives: et-
was, das im passiven, verworrenen, unvollkommenen Meinen eben das bloß
Vermeinte und im evidenten das wahrhaft und zweifellos Seiende ist: der
wahrhaft bestehende und in der Evidenz selbst gegebene Sachverhalt, der
wahrhaft bestehende und in der Evidenz selbst gegebene Wert usw.2 Im

1 Am Rande eine Null.


2 Der Rest des Absatzes Veränderung für Nun war es Sokrates’ Bemühen gewesen, gegenüber
der Sophistik die Vernunft überhaupt zu rechtfertigen und klarzumachen, was Wahrheit über-
haupt, das Gute überhaupt, eine echte Staaterfassung überhaupt usw. ausmachen muss. Dabei
war also die Betrachtung eine generelle, und was sie herauszustellen sich mühte, war das
generelle Wesen des Guten, Wahren usw. In Form der Klärung von allgemeinen Normbegriffen
springen dabei im Licht der Evidenz hervor Wesenallgemeinheiten als Träger allgemeiner
Normen und diese Allgemeinheit, Wesen, war eine reine, eine prinzipielle Allgemeinheit. Dies
dachte ein Platon nun zu Ende. Er erkannte, dass damit eine Art von Gegenständlichkeiten
absolut herausgestellt wären: eben die, die wir mit Worten bezeichnen: Wesen oder Idee
einer Freundschaft überhaupt, Idee oder Wesen der Tapferkeit oder Feigheit, der Frömmigkeit,
Gerechtigkeit überhaupt, Wesen der Wahrheit überhaupt, Wesen einer Güte überhaupt usw.
Es handelte sich dabei nicht um irgendwelche Fakta. Die Exempel des sokratischen Verfah-
rens der Begriffsklärung und der Herstellung der allgemeinen „Wesen“ möchten Exempel
der Erfahrung sein. Obschon auch das sich alsbald als irrelevant bekundet, da er doch auch
40 einleitung in die philosophie

reinen und freien Vernunftverfahren der sokratischen Dialektik tritt ein in


Wiederholung des Verfahrens offenbar Identisches hervor, nämlich als das
Wesen der Schönheit, der Güte, Wesen der Tapferkeit usw. Einmal evident
herausgestellt, war es ein für allemal herausgestellt und in der Definition
definiert. Ein sozusagen ewiges und selbiges Wesen.

Exempel des Mythos und der Dichtung benützte. Ob wir uns Freundschaften in fingierender
Anschauung willkürlich gestaltet vor Augen halten und an ihnen im sokratischen Verfahren
die Wesensmomente einer echten Freundschaft überhaupt herausarbeiten und die allgemeine
Idee einer echten Freundschaft konstruieren oder ob wir Freundschaften wirklicher Erfahrung
heranziehen, ist gleichgültig. Zudem liegt es in diesem Verfahren, dass wir auch das wirklich
Erfahrene in freier Phantasie-Aktion ummodellieren, ähnlich wie der Geometer in geome-
trischer Phantasie seine Linien und Flächen sich biegen lässt, sich ins Unendliche recken
lässt usw., ohne zu fragen, ob in wirklicher Erfahrung so etwas vorgekommen sei. Gleichwohl
wird dabei etwas gewonnen, was nicht ein Nichts ist, ein bloßes Fiktum, sondern eine „Idee“.
Sie ist eo ipso sogleich eine allgemeine Norm des echten, für Beurteilung jedes möglichen
vorzulegenden Einzelfalls. Was dabei gewonnen wird ist: das Wesen, die Idee von Wahrheit
überhaupt, von Freundschaft überhaupt, von Gerade überhaupt usw. Und diese Ideen sind
Gegenstände, insofern als man über sie selbst, über ihren konstitutiven Gehalt, über die ihnen
zugehörigen Gesetze – Wesensgesetze – wieder urteilen und höchst wichtige Wahrheiten für sie
bzw. zur Normierung möglicher Einzelfälle feststellen kann.
Randbemerkung Gut. Text geht ungestrichen weiter Platon macht durch Entfaltung des in
der sokratischen Dialektik Geleisteten die Entdeckung, dass es nicht nur überhaupt allgemeine
und reine (von allen Zufälligkeiten tatsächlichen Vorkommens in individueller Wirklichkeit
freie) „Ideen“, sondern dass seine reinen Ideen, und weit über die sokratischen Gruppen
von Fällen hinaus, in allem und jedem vernünftigen Urteilen, Werten, Wollen, praktischen
Leisten die entscheidende Rolle spielen als der Erfahrung vorangehende Normen. Er machte
die Entdeckung (und entdeckte damit ein allgemeines Ziel einer Unendlichkeit menschlicher
Forschung), dass, wenn wir uns über das zufällige Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Werten, Handeln
erheben und Kultur im höchsten humanen Sinne erringen wollen und speziell Wissenschaft im
höchsten Sinne, wir in vollbewusster Forscherarbeit allen Ideen und Idealgesetzen nachgehen
und ihre reine Systematik erforschen müssen. Denn mit dem System der Ideen, der Ideen,
die jeder Domäne von möglichen Objektivitäten bzw. jeder Domäne von Stellungnahmen
zugeordnet sind, gewinnen wir das System der Normen, denen sie genügen müssen, um nicht
bloß vermeinte, sondern echte Objektivität zu haben. Das Verfahren der sokratischen Dia-
lektik war zwar bahnbrechend, aber die sokratische Dialektik selbst war unwissenschaftlich.
Sie verlief in einzelnen zusammenhanglosen Unterscheidungen und Untersuchungen, sie ging
vereinzelten Ideen nach und entbehrte systematischer Ziele. Platons Dialektik will unendlich
viel mehr sein und ganz anders sein als die sokratische; nicht uns, diese konkreten praktischen
Menschensubjekte, zur Redlichkeit in Leben und Denken erziehen, zu freier Selbsttätigkeit im
Herausarbeiten des im gegebenen praktischen Fall Vernünftigen und Richtigen, ist ihr Ziel.
Vielmehr, sie will eine universale Wissenschaft schaffen und zunächst die Vorbedingung einer
universellen, echten Wissenschaft schaffen, einer Erkenntnis dessen, was die Welt ist, was der
Mensch soll, was menschliche Gemeinschaft soll, was überhaupt in ein Universum objektiven
Seins hineingehören mag. Gibt es so etwas wie eine Wahrheit, die an sich, übersubjektiv gültig
ist, wie durch Sokrates klar geworden ist, wie unendlich würde sich die Menschheit Text bricht
ab.
platon und die entdeckung des apriori 41

Am Schluss der letzten Vorlesung versetzten wir uns in den Entwicklungs-


gang der platonischen Ideenlehre; nämlich, wir versuchten nachzuzeichnen
die wissenschaftliche Rechenschaft, die sich Platon über die rein praktisch
geübte sokratische Dialektik und ihre Leistungen gab. Auf der einen Seite
musste ihm der wahre und einzig berechtigte Sinn einer Gegenübersetzung
von Vernunft und Sinnlichkeit zum Bewusstsein kommen; das reine, zweifel-
lose, von Verworrenheit zur Klarheit und Evidenz emporleitende dialekti-
sche Denken und Vernunft als eine eigene Erkenntnisquelle höherer Dignität
ward erst im sokratischen Verfahren sichtlich. Und andererseits machte er
sich klar, dass in diesem Verfahren nicht ein bloß subjektives Erlebnis des
Nachdenkenden und Definierenden das Ergebnis war, sondern ein identi-
sches, übersubjektives Wesen, etwas, das in Wiederholung des einsichtigen
Verfahrens absolut dasselbe und ein in seiner Selbstheit Gegebenes war. Das
jeweils in der sokratischen Methode Herausgearbeitete war das Wesen des
Schönen, das Wesen des Guten, das Wesen wahrer Tapferkeit usw. Das waren
keine subjektiven Erlebnisse, sondern jeweils ein Objektives, ein Bleibendes
und Identisches. In wiederholter Ausführung des Verfahrens wiederholte es
sich nicht, sondern es ergab sich als eines und selbes. Einmal zur klaren
Selbstgegebenheit herausgestellt, war es als ein ewig Gültiges herausgestellt,
das in einer neuen Herausstellung als dasselbe, nur noch einmal Erschautes
zu Tage tritt.
Also in der Problemsphäre und der auf sie bezogenen Erkenntnisme-
thode des Sokrates verhält es sich – der Kontrast müsste sehr empfindlich
werden – ganz anders als in der Erkenntnissphäre der sinnlichen Erfahrung
und in der Erkenntnisweise der verworrenen Erfahrungsreflexion, welche
die Sophistik allein hatte maßgebend werden lassen. Mochten die Sophisten
für das verworrene empirische Alltagsdenken mit ihrem Relativismus Recht
haben, mochte in diesem Kreis alles bloß subjektiv, relativ sein, so zeigte
sich demgegenüber in der sokratischen Dialektik mit ihrer ausschließlichen
Blickrichtung auf Probleme der Echtheit und Rechtheit, dass was sich in ihr
vernünftig herausstellte, nichts weniger als ein bloß Subjektives und Rela-
tives war, vielmehr ein ewig gültiges, übersubjektives Wesen, das nachdem
es einmal zur Erkenntnis gebracht und in reiner Evidenz definiert war, als
absolute Norm das Denken und das praktische Verhalten bestimmen musste,
eben weil es als ein absolut Identisches und schlechthin zweifellos Gegebenes
war, das man, als was es an sich sich gab, schlechthin anerkennen musste. Wir
können auch sagen: In eins und korrelativ hob sich ab eine neue Erkennt-
nisweise als Erkenntnisweise reiner, in freier und reiner Selbsttätigkeit sich
auswirkender Vernunft und eine korrelativ reine Erkenntnissphäre, nämlich
42 einleitung in die philosophie

jene reinen Wesenheiten, das reine Wesen der Schönheit als solcher, das reine
Wesen der Tapferkeit usw., nach denen sich als ewige Gültigkeiten Denken
und Handeln zu richten haben, wo immer es in concreto über Schönheit,
Tapferkeit urteilt.
Wir beobachten dabei, dass die von Sokrates gesuchten und erarbeite-
ten jeweiligen Wesenheiten den Charakter von Allgemeinheiten hatten und
nicht von individuellen konkreten Besonderheiten, wie denn korrelativ sein
Verfahren den Charakter eines generellen Denkens und Begründens hatte.
Was in Frage war, war nicht ein individuell Gutes oder Schönes, eine indivi-
duelle Tapferkeit usw., sondern Güte überhaupt, als solche, Schönheit über-
haupt und als solche. Die in der Methode dienenden individuellen Beispiele
waren eben bloße Beispiele, die, im Bewusstsein der Gleichgültigkeit des in-
dividuellen Faktums, benützt wurden. Auf Allgemeines, auf generelle Wesen
ging das beständige Absehen, und es war dieses Allgemeine eben das Thema,
das Untersuchungsobjekt als Ganzes und nach seinen Wesensstücken, die
schließlich, in der Definition zusammengefasst, die endgültige Bestimmung
des ganzen Wesens aus seinen elementaren Bestimmungsstücken ergeben
sollten.
Das sind also die Richtungen der ersten platonischen Reflexionen über die
sokratische Dialektik, und sie waren es, die seine im ersten Moment paradox
anmutende Lehre von einer reinen Ideenwelt gegenüber der Sinnenwelt
als der Welt bloß subjektiv-relativer Erfahrungsgegenstände bestimmten.
Für uns, nach den gegebenen Überlegungen, kann sie nicht mehr so sehr
paradox sein, und ihr höchst bedeutsamer – recht begrenzt – zweifellos
wahrer Kern muss uns einleuchten. Also gar nicht mehr so verwunderlich
und paradox muss uns der große Schritt erscheinen, den Platon aufgrund
der umschriebenen Reflexionen fasst, indem er die von Sokrates jeweils
herausgearbeiteten Echtheiten oder Wesenheiten als Gegenstände, als eine
eigene Sphäre des Seins, ja des Seins in einem reinsten und strengsten Sinne
fasste und sie nun als „Ideen“ bezeichnete (δ
α, εδος sind seine Namen).
In der Tat, wer sich im sokratischen Verfahren zu voll erfüllter Klarheit
bringt, worin echte Freundschaft, echte Tapferkeit als solche bestehe oder
was generell, in reiner Allgemeinheit, eine echte Schönheit, Güte ausmache
oder, was dasselbe, wer in diesem Verfahren das Wesen der Freundschaft,
der Schönheit, des Guten herausarbeitet und sich zu einsichtig-schauender
Selbstgegebenheit bringt, der erschaut damit ein eigenes Sein, etwas was an
sich ist, an sich gilt, unabhängig von aller Empirie, unabhängig von allem
Fluss des zufälligen Seins der Sinnenwelt, in die alles individuell faktische
Dasein verflochten ist.
platon und die entdeckung des apriori 43

Recht verstanden, ist es zweifellos und ist es eine Entdeckung, deren


überschwängliche Bedeutung Platon zu preisen alles Recht hatte, dass solche
Wesenheiten eigenartige Objektivitäten sind, dass sie ein Reich eigenen,
absolut festen, in absoluter Zweifellosigkeit zu erfassenden Seins ausmachen,
eines Seins, das in starrer Identität über allem Fluss des zeitlichen Daseins,
über allen relativierenden Abhängigkeiten von den zufälligen Subjekten
erhoben ist. Identifiziert man freilich von vornherein Objektivität und reale
Objektivität, Sein oder seiender Gegenstand und reales Sein, real seien-
der Gegenstand, seiend im räumlich-zeitlichen Zusammenhang wie etwa
Steine und Bäume, dann mag die Rede von Ideen, Wesen als Gegenständen
paradox und lächerlich erscheinen. Anders aber, wenn wir die Rede von
„Gegenstand“ in der ganz unentbehrlichen und alle Logik beherrschenden
Allgemeinheit verwenden, wonach „seiender Gegenstand“ alles und jedes
heißt, was durch Prädikate in Wahrheit bestimmt werden kann, was danach
auch wissenschaftliches Objekt werden kann, in der Absicht eben, die ihm
wahrhaft zukommenden Prädikate herauszubestimmen. Dann sind selbst-
verständlich nicht nur Erfahrungsdinge, sondern auch ideale Wesenheiten
Gegenstände; sie sind ja in der sokratischen Dialektik die Themen, Untersu-
chungsobjekte; die für sie gültigen Prädikate will die sokratische Definition
gerade fixieren.
Auf den ungeschlichteten Streit ob Platon, wenn er das Reich der rei-
nen Ideen als eine eigene Ideenwelt hinstellte, nicht selbst der Vermen-
gung verfällt und die Ideen als Realitäten fasste, in einem verfänglichen
und falschen Sinne, brauchen wir hier nicht einzugehen. Genug, dass er
Recht hatte, Ideen und Dinge der Erfahrungswelt gegenüberzustellen und
Ideen als ein eigenes Reich von seienden Gegenständen zu bezeichnen
und zu erforschen. In der Tat, völlig unabhängig von der Welt der Fakta,
der Welt raum-zeitlicher Erfahrung, kommt das Ideale im tätigen Denken
der sokratischen Methode und schließlich in reiner Ideenschau (modern
gesprochen: in eidetischer Evidenz) zur Selbstgegebenheit.1 Andererseits
erweist es sich auf jede mögliche empirische Wirklichkeit und somit auch
auf die wirklich gegebene als gesetzgebende Allgemeinheit bezogen und in
einer Weise, dass, wie schon Platon geahnt hat, eine strenge Wissenschaft
von empirischer Wirklichkeit nie und nimmer sich etablieren kann, solange
nicht vorher dieses Reich des Idealen oder, wie wir auch sagen können, das
reine Apriori zum Thema strenger Wissenschaft geworden ist. Das Ideale,

1 Randbemerkung Die Ideen, das Apriori gegenüber jedem möglichen Empirischen.


44 einleitung in die philosophie

das Apriori, ist das an sich Exakte, und später wird sich herausstellen und
stellte sich sehr viel später auch in der Entwicklung heraus, dass, nur so-
weit alles im realen empirischen Sinne Seiende sich dem Exakten annähert
und Ideen der Exaktheit in sich realisiert, es objektiv und logisch exakt
bestimmbar ist. Die Ideenwissenschaft ist die methodische Voraussetzung
für alle empirisch-exakten Wissenschaften, das Empirische unter Ideen der
Exaktheit erforschenden und bestimmenden Wissenschaften. Diese Sätze
werden im Weiteren erst ganz verständlich werden. Vorläufig deuten sie,
auch zeitlich, vor. Und vorläufig stehen wir nur bei der Tatsache, dass Platon
der Entdecker des „Apriori“ war und es kommt alles darauf an, uns den
Sinn der Apriorität, der Seinsart des Idealen bis ins Letzte und im Einzelnen
zur Klarheit zu bringen.
Die Idee der Schönheit, die Idee der Freundschaft, Tapferkeit, was besagt
das? Wir antworteten wie im Anschluss an das sokratische Verfahren nichts
anderes als das in diesem zu vollendeter Klarheit oder Einsicht kommende
Wesen. Die echte Schönheit als solche. Die Idee, das Wesen ist, wie Platon
zum Beispiel im Gastmahl ausführt, natürlich nicht irgendeiner der empiri-
schen Einzelfälle von schön genannten Objekten, etwa einer von jenen, von
denen sich das sokratische Verfahren leiten ließ. Die konkreten individuellen
Objekte, die wir schön, die konkrete Verbindung zweier Persönlichkeiten, die
ihre individuelle Freundschaft, etwa die des Achill und Patroklos, ausmacht,
sind nicht die Idee der Schönheit, die Idee der Freundschaft. Die Idee ist nicht
das einzelne Faktum, ist auch nicht an einzelnen Fakten durch empirische
Vergleichung zu gewinnen. Dadurch würden wir nur gemeinsame empirische
Eigenschaften finden wie die, dass alle Menschen zweibeinig sind, aber nie
Ideen. Das einzelne schöne Objekt entsteht und vergeht, sagt Platon weiter,
und es wechselt die Eigenschaften. Aber die Idee der Schönheit entsteht
nicht und vergeht nicht. Sie ist nicht wie das empirische Objekt im Raum
oder in der Zeit, nicht bald hier, bald dort, sie verändert sich nicht, sie ist, was
sie ist, als ein An-sich, sie ist etwas, das zeitlich zur Erkenntnis kommt oder
nicht zur Erkenntnis kommt, vom Subjekt erschaut oder nicht erschaut wird,
aber darum nicht erst wird mit dem Erschauen und nicht vergeht, wenn das
Erschauen aufhört. Die Schönheit an sich, die Idee, ist was sie ist, mag es in
der Welt ein im wahren Sinne Schönes geben oder nicht geben, und wieder,
mag es Menschen geben, die sie erschauen oder nicht.
Wir fügen, und wie wir meinen ganz in platonischem Sinne, bei: Im sokra-
tischen Verfahren der allgemeinen Herausstellung einer Idee, die als Norm
einer Sorte von Echtheit gesucht ist, dienen konkrete Exempel, und diese
können Exempel aus wirklicher Erfahrung sein. Aber ebenso gut können
platon und die entdeckung des apriori 45

ihr dienen Exempel der Mythologie, der Kunst, der freien Phantasie. Wol-
len wir uns das Wesen einer Freundschaft überhaupt, also die Idee echter
Freundschaft herausarbeiten, so ist es offenbar ganz gleichgültig, ob wir in
der Erfahrung einen Fall schon kennengelernt haben, den wir als „echte
Freundschaft“ ansprechen können; vielleicht gibt es in der wirklichen Welt
einen solchen Fall, eine ganz reine und echte Freundschaft, überhaupt nicht.
Und selbst wenn wir meinten, einen solchen Fall in der Erfahrung gegeben zu
haben, ist es gleich, ob wir uns in der Beurteilung dieses Falles getäuscht und,
wie wir sagen, diese Freunde „idealisiert“ hätten, und ebenso gut könnte
uns ein völlig fingierter Fall dienen. Zudem liegt es, genau besehen, im
Sinne des Verfahrens, dass das im Exempel wirklich Vorgegebene oder schon
Vorfingierte, in freier Phantasie-Aktion ummodelliert wird. Wir erwägen in
concreto, wie die Freunde sich gegeneinander benehmen; wir denken uns
den Fall verändert, wir fingieren ihn um und fragen: Würde das noch echte
Freundschaft sein, wenn zum Beispiel der Freund den Freund um Ehr oder
Geld verlassen würde, etc. Der Vollzug solcher freien Wandlungen in Fällen
lebendiger exemplarischer Anschauung soll ja dazu dienen, die notwendigen
Abwandlungen der Wertprädikate sichtlich zu machen. Und im Allgemein-
heitsbewusstsein springt dann am Exempel hervor: Ein solches Verhalten
ist überhaupt und allein das zu billigende, so charakterisiert sich überhaupt
und notwendig ein gutes und schönes Verhalten, so bestimmt sich überhaupt
das Wesen der echten Freundschaft, und ein anderes, abweichendes ist ein
unschönes Verhalten und gehört zur falschen, unechten Freundschaft.1
Überempirische2 Wesenheiten sind die Ideen, sie sind „a priori“. Dieser
Ausdruck, der erst viel später gebräuchlich geworden ist, besagt nichts an-
deres als ein gegenüber der Erfahrung „Früheres“. Der Gegenausdruck
lautet „a posteriori“, der Erfahrung nachgehend, das der Erfahrung ge-
genüber Spätere. Der Anfänger muss gleich zu Beginn den eigentlichen
Sinn dieses Gegensatzes, des aus der Erfahrung und des nicht aus der Er-
fahrung Geschöpften, „Entsprungenen“ bzw. Entspringenden, sich zuzueig-
nen; zumal diese Begriffe verfälschende Verschiebungen leicht erfahren und

1 Gestrichen Es verhält sich also hier ähnlich wie in der Geometrie, wo wir generelle und reine

Einsichten gewinnen, während doch das geometrische Verfahren ein freies Phantasie-Verfahren
als Unterlage hat. Zwar mag der Geometer ausgehen von Zeichnungen auf dem Papier, aber
die gezeichneten Figuren lässt er in der Phantasie sich frei wandlen, die Linien sich ev. ins
Unendliche recken, ohne zu fragen, ob wirkliche Erfahrung so abgewandelte Gestaltungen je
gezeigt hat. Doch wir werden hören, dass das mehr als ein Gleichnis ist.
2 Randbemerkung Der Unterschied zwischen Apriori und Aposteriori.
46 einleitung in die philosophie

wirklich erfahren haben. „A posteriori“ oder, was dasselbe sagt, „empirisch“,


heißen vielerlei Begriffe, und wir wollen dabei unter „Begriffen“ verste-
hen die Bedeutungen allgemeiner, auch zusammengesetzter nominaler Aus-
drücke oder allgemeiner Prädikate. So sind zum Beispiel „Löwe“, „Tanne“,
„Sauerstoff“, „Staat“ Begriffe, und zwar empirische Begriffe. Ebenso die
Prädikat-Begriffe „rosenrot“, „schwer“, „elektrisch“ usw. Solche Begriffe
oder Wortbedeutungen drücken aus, was sich faktisch in der Erfahrung
findet, allgemeine Vorkommnisse, die durch Vergleichung aufgrund der Er-
fahrung gewonnen werden. In der Phantasie können wir eine Tanne, einen
Löwen uns in vieler Hinsicht frei umbilden, aber da s wäre keine Tanne
mehr und kein Löwe, was nicht die Summe allgemeiner Merkmale um-
spannte, die festgelegt sind durch Vergleichung von Gegenständen der Er-
fahrung. Wahrhaft urteilen können wir mit solchen Begriffen nur dann,
wenn wir durch Erfahrung feststellen, dass ihnen Gemäßes in der Natur-
Wirklichkeit als Faktum vorkommt. Also die Geltung der empirischen Be-
griffe und Urteile beruht auf der Erfahrung, die wir niemals durch freie
Phantasie ersetzen können. Phantasie berechtet zu nichts. Wirkliches Dasein
erfahren wir, und das Sein weist sich aus im Zusammenhang sich bestäti-
gender Erfahrungen und nur in solchen. Damit ist uns also klar, was das
besagt, aposteriorische oder empirische Begriffe oder auch Urteile aussa-
gen.
Demgegenüber lehrt uns zuerst Platon, dass es Begriffe und Urteile gibt,
die eine Geltung, ja eine schlechthin vollkommene Geltung haben und
nicht in diesem Sinne auf Erfahrung beruhen, aus Erfahrung entspringen:
also dass ihre Geltung nicht davon abhängt, ob Erfahrung und zusammen-
stimmende Erfahrung uns von irgendeinem individuellen Dasein überzeugt
und rechtmäßig versichert, gleichgültig, ob durch gemeine Erfahrung oder
durch noch so kunstvoll geleitete Beobachtungen und Experimente. Dahin
gehörten die Begriffe, auf die sich die sokratische Maieutik bezog, also vor
allem die ethischen Normbegriffe, an deren Klärung dem Sokrates so viel
lag, die Begriffe des Guten und Schönen, der Tugend, im Besonderen der
Gerechtigkeit, Tapferkeit etc. Die zoologischen, physischen und psychophy-
sischen Eigenschaften des Menschen kann man, wie die jedes Tieres, durch
Empirie, durch vergleichende Erfahrung feststellen, aber niemals wird man
so feststellen können, was die Idee des sittlich Guten, der Pflicht, der Tugend
ausmacht. Diese Begriffe weisen uns zwar zurück auf die Sphäre des Wertens,
des Zwecksetzens, des Wollens und Handelns, also auf Bereiche möglicher
psychischer Akte, und sicher kann man auch in diesen Sphären Erfahrungs-
begriffe schaffen und psychische Erfahrungseigenschaften des Menschen
platon und die entdeckung des apriori 47

oder besonderer Menschengemeinschaften, von Nationen, Ständen usw. ken-


nenlernen. Aber in jenen sokratischen Begriffen prägt sich gegenüber dem
Faktum etwas völlig anderes aus, etwas, was uns keine Beobachtung in der
Erfahrung gibt und je geben kann und das darum „Apriori“ heißt. Es prägt
sich in ihnen irgendeine ideale Norm aus, die, unangesehen des jeweiligen
wirklichen Wertens, Wollens, Handelns des Menschen, das Maß und Ziel
bezeichnet, dem solche Tätigkeiten überhaupt entsprechen sollen und nach
dem sie rechtmäßig zu beurteilen sind.1
Durch empirische Vergleichung können wir feststellen, wie Menschen
faktisch werten, wie sie sich in Nächstenliebe oder Nächstenhass, in Selbstför-
derung oder Gemeinschaftsförderung faktisch verhalten, wie sie sich durch
Sitte, Tradition, durch Erziehung usw. faktisch bestimmen lassen. Auf all
das geht aber nicht die Gewissensfrage: Was soll ich tun? Sie betrifft ein
absolutes Sollen und hat nur einen Sinn, wenn ich eine Idee aufweisen
kann als inhaltsreiche und schlechthin überempirische Norm dieses Sollens.

1 Beilage Es ist dabei völlig gleichgültig, ob es sich um Menschen dieser Welt handelt oder

Menschen und sonstige Wesen in einer anderen wirklichen oder auch nur möglichen Welt.
Denken wir uns überhaupt ein Wesen, das liebt und hasst, begehrt und flieht, will und handelt,
so steht es, wie immer es sonst beschaffen und in einer wie gearteten Welt es immer leben möge,
unter Ideen als reinen und absolut gültigen Normen, nach denen sein jeweiliges Verhalten
als richtig oder unrichtig, als praktisch vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen ist. Diese
Ideen und ihre absolut verpflichtende Geltung sind im sokratischen Verfahren vollkommen
einsichtig zu erfassen und ebenso die mannigfachen, aus ihnen entspringenden normativen
Gesetze als Gesetze einer „apriorischen“, überempirischen Wahrheit. Solche Gesetze sind zum
Beispiel: dass Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun; dass jede Einmengung von Motiven
der Selbstsucht den reinen Wert der einem Nächsten erwiesenen Liebesdienste erniedrigt; oder
dass ein genusssüchtiges Leben bei einem Vernunftwesen verwerflich ist; dass Sinnlichkeit nur
die mittelbare Wertfunktion einer sinnlichen Notdurft hat, deren begrenzte Befriedigung nur so
weit und nur mit Rücksicht darauf wert sein kann, als sie zur Sicherheit der psychophysischen
Kraftfülle dient, deren ein Vernunftwesen bedarf zur Ermöglichung eines Lebens im Geiste,
eines Lebens, das sich nach reinen Ideen und Idealen orientiert. Solche und viele ähnliche Sätze
leuchten in ihrer überempirischen Geltung und nach ihrem praktischen, absolut verpflichtenden
Charakter ein, sowie ihr Sinn und insbesondere der Inhalt der in ihnen spielenden Grundbegriffe
nach sokratischer Methode zu letzter Klarheit und Reinheit gebracht worden ist. Man sieht dann,
dass sie nicht zufällige Eigenheiten der zufälligen naturhistorischen Spezies homo ausdrücken,
sondern in der Tat für jedes wirkliche oder zu imaginierende Wesen, das auf Unterlage einer
Sinnlichkeit freie Vernunftakte zu üben vermag, das fähig ist, sich Ziele zu stellen und ihre
Werte aneinander zu wägen. Solche Sätze sind, was die Quelle ihrer Geltung anlangt, also total
verschieden von allen empirisch allgemeinen Sätzen, von Sätzen, die durch Beobachtung und
Experiment und nach Methoden der „Induktion“ in den sogenannten induktiven Wissenschaf-
ten gewonnen werden. Es gilt das für die Sätze, wie es für die sie bestimmenden Begriffe gilt.
Ideale Sätze, Sätze von normativer Idealität sind völlig frei von empirischen Begriffen.
48 einleitung in die philosophie

Sollensfragen, Rechtsfragen im tiefen, hier fraglichen Sinne sind niemals


Tatsachenfragen. Eine noch so große Allgemeinheit der Erfahrung besagt
für das Sollen nicht das mindeste. Der eine Einzige, der einsichtig eine Idee
des Richtigen erschaut und sich von ihr bestimmen lässt, hat Recht gegenüber
einer ganzen Welt, die andere Wege wählt.
Wir sprachen bisher von der ersten, wir könnten sagen spezifisch sokrati-
schen Gruppe von Ideen, die Platon in die Region der Wissenschaft erhoben
hat. Und wir schließen diese Betrachtung ab mit einem ersten Ausblick auf
die philosophischen Disziplinen der Vernunft, auf die reine Logik, reine
Ethik und Ästhetik, die aus der Denkarbeit des Platon aufkamen.
Es handelte sich bisher um die Ideen und ideal-normativen Sätze, die
in den aktuellen Themen der sokratischen Dialektik ihre Rolle gespielt
hatten. Sokrates, in seinem reformatorischen Bemühen um die Sicherung
oder Neubegründung eines echten Vernunftlebens, war, wie Sie sich erin-
nern, ethisch praktisch gerichtet und in seinem großartigen Radikalismus
gerichtet auf die verschiedenen Ideen der Richtigkeit und Unrichtigkeit, in
denen sich Vernunft als solche kennzeichnet und die alle von einem weitesten
Begriff von Wahrheit bzw. Falschheit umspannt werden. Zu jeder Grundart
von Stellungnahmen, urteilenden, wertenden, praktischen, gehört eine be-
sondere Grundgestalt der Echtheit, der Richtigkeit, der Wahrheit. Freilich
versagte Sokrates, doch etwas angesteckt von dem sophistischen Skeptizis-
mus, in der theoretischen Sphäre. Er hielt die theoretische Fähigkeit des
Menschen für sehr beschränkt, aber meinte, was der Mensch im praktischen
Leben als einzelner und als Glied der Gemeinschaft brauche, darüber könne
er ausreichend urteilen. So betrachtet er die Idee der Urteilswahrheit nur
immer in Hinblick auf das Ästhetische oder vor allem das Ethisch-Praktische
und seine Ideen.
Diese Beschränkung gab Plato auf, wie er auch die Beschränkung aufgab,
die bei Sokrates darin lag, dass er nur persönlich bei den ihn umgebenden
Menschen den Sinn für das Wahre und Echte wecken wollte. Platon, der
wissenschaftliche Philosoph, macht alle zur Vernunft als solcher gehörigen
normativen Ideen zum Thema seiner wissenschaftlichen Forschungen. In
diesen keimte auch schon die Aufgabe auf, für eine jede der verschiedenen
Vernunftarten eigene normative Disziplinen zu begründen. Denn mit den
vereinzelten Klärungen, den vereinzelten Versuchen der Herausarbeitung
eines Echten war es doch nicht getan. Gehen wir der Idee der Wahrheit in
ihrer Zuordnung zur Urteilssphäre nach als Sphäre der richtig sein sollenden
Urteile, sprachlich der Aussagen, so ist es doch die Aufgabe, in systematischer
Weise die Gesamtheit der normativen Gesetze, die a priori die Urteilsrich-
platon und die entdeckung des apriori 49

tigkeit ermöglichen, aufzustellen. Die Erfüllung dieser Aufgabe macht eine


eigene Disziplin aus: die Logik. Ihre Keime liegen bei Platon. Aber ihre sys-
tematische Ausführung begann erst mit Platons großem Schüler Aristoteles.
Wir verschieben ein wenig die nähere Besprechung dieser philosophischen
Disziplin bis wir besser vorbereitet sind.
Charakterisieren wir ferner mit einigen Worten eine ihrem Sinn nach un-
mittelbar verständliche Disziplin, die Ethik, der sich dann verwandt anreiht
eine Ästhetik und eine reine Wertelehre überhaupt. Bei ihnen handelt es sich
natürlich um parallele Vernunftarten: Vernunft im Schön- und praktischen
Gut-Werten und praktischen Realisieren. Haben wir einmal erkannt, dass
alles Streben, Wollen, Handeln unter reinen Ideen steht, und haben wir
uns einmal, wie vorhin, an Beispielen klargemacht, dass allgemeine Sol-
lensgesetze, Normen einsichtig ausgesprochen werden können, denen jedes
vernünftige als recht und gut anzuerkennende Handeln unbedingt genügen
muss, so ist es offenbar eine Aufgabe höchsten Interesses, systematisch die
Gesamtheit dieser Sollensgesetze aufzustellen, die primitiven Grundsätze
und alle aus ihnen in reiner Konsequenz abzuleitenden abhängigen Sätze.
So resultiert also die Idee einer eigenen apriorischen Wissenschaft, der
Ethik.
Ebenso wird es sich verhalten in der Sphäre der Idee des Schönen und spe-
ziell etwa des Schönen im Sinne der Kunst; auch da muss es möglich sein das
Apriori reinlich auszusondern und gegenüber der empirischen Betrachtung
der menschlichen Kunst die ästhetischen Ideen und Normen zu erforschen.
Es gälte also nicht, wie etwa in der Kunstgeschichte, bloß festzustellen, wie
die Menschen und wie die verschiedenen Völker in ihren verschiedenen
Geschmacksrichtungen ästhetisch gewertet haben und danach welche Arten
Kunstgebilde sie geschaffen haben; vielmehr ginge das Absehen darauf, eine
reine Idealbetrachtung durchzuführen und zu erforschen, welche Normen
der Echtheit, Reinheit, Richtigkeit in dieser Sphäre walten und sich in allen
konkreten Geschmacksrichtungen und allen der Auswahl nach zeitbeding-
ten künstlerischen Problemen notwendig bewähren, soweit die jeweiligen
Kunstgebilde eben wahre und echte sind.
Hätten wir heute schon diese apriorischen Wissenschaften in genugtu-
ender Weise ausgebildet und wären sie Gemeingut, so wären Sie in der
Lage, und besser als es jetzt möglich ist, die Größe der sokratischen Impulse
in dieser Hinsicht und die Größe der von Platon angefangenen philoso-
phischen Begründungen abzuschätzen. Sie würden dann nicht, wie ich es
befürchten muss, mit dem Eindruck einer gewissen weitfaltigen Leere zu
kämpfen haben, der eben unvermeidlich ist wo die keimhaften Anfänge nicht
50 einleitung in die philosophie

beleuchtet werden können durch eine umfassende Kenntnis der höheren


Entwicklungen. Und doch wird sich schon die Reihe der bisher geführten
Erörterungen im Weiteren zweifellos fruchtbar erweisen.
Wir1 machen nun einen neuen Schritt, indem wir den Gang neuer pla-
tonischer Entdeckungen verfolgen, und wir betreten nun eine Sphäre, in
der Sie bei ihrer Vorbereitung durch die Schulwissenschaften sehr wohl in
der Lage sein werden, die Tragweite der platonischen Ideenlehre und das
Eigentümliche ihrer Leistung zu würdigen. Platon hatte in seiner Dialektik
nicht bloß eine Wissenschaft im Auge, welche die Normen aller Stellung-
nahmen, aller Vernunft aufsuchte und die somit alle späteren als Logik,
Ethik, Ästhetik bezeichneten Disziplinen in sich birgt. Er hat auch in der
mathematischen Sphäre ein weites Reich apriorischer Begriffe erschaut, die
zwar von ganz anderem Ursprung und anderer Funktion wie jene Begriffe
des Guten, Schönen, Wahren (und die mit ihnen zusammenhängenden kon-
kreteren Normbegriffe) sind, aber doch die merkwürdige Eigenschaft der
Apriorität mit ihnen gemein haben.
Vor Platon lagen bloß die ersten Anfänge oder vielmehr nur die Vorstu-
fen der wissenschaftlichen Geometrie und Arithmetik. Die Geometrie, als
Feldmesskunst entstanden, hatte sich in gewisser Weise über bloß messende
Empirie schon erhoben, schon die Pythagoreer waren dazu übergegangen,
geometrische Sätze nicht bloß aus der Erfahrung zu ziehen oder an der Figur
sich zuzueignen, sondern im deduktiv schließenden Verfahren aus gegebenen
Sätzen neu zu beweisen. Auch die Arithmetik hatten sie schon gepflegt und
sie sogar zu einer mythischen Würde erhoben. „Das Wesen aller Dinge
ist Zahl.“ Zahl und Zahlenverhältnisse sollten geheimnisvoll das innerste
wahre Wesen der Dinge ausmachen. Aber diese Weise der Erhebung des
Mathematischen über das Empirische war eben ein unklarer Mystizismus.
Hier machte Platon eine gewaltige Entdeckung. Er erschaute, dass der
Sinn der arithmetischen und geometrischen Sätze dazu aufforderte, ihre
Begriffe in nüchterner Evidenz als reine, überempirische Begriffe zu nehmen,
und dass das, was die Begriffe dann ausdrückten, Ideen seien in einem ganz
ähnlichen Sinne, wie sie sich als normative Ideen der ethisch-praktischen
oder der logischen Sphäre darbieten. Der wissenschaftliche Geometer mag
seine Figuren in den Sand oder auf die Tafel zeichnen, aber wenn er von
Geraden, Ebenen, Kreisen etc. spricht, so meint er von vornherein, wenn er
sich selbst versteht, ein „Exaktes“, ein „Reines“, das in keiner Erfahrung

1 Randbemerkung ii. Mathematische Ideen: arithmetische, geometrische.


platon und die entdeckung des apriori 51

aufzuweisen und daher auch nicht aus ihr zu entnehmen ist. Ja, selbst in
der sinnlichen Phantasie kommt dergleichen eigentlich nicht vor. Und doch
schöpft der Geometer aus einsichtigen Quellen. Sinnlich zu sehen ist eine
Gerade, eine Linie im Sinne der Geometrie nicht, und doch in gewisser Weise
schauend zu erfassen. Man denkt sich die dicken Striche feiner und immer
feiner gezogen und konzipiert einsichtig das Ideale, die reine Idee einer
Grenze, die reine Linie. Sobald die empirisch-räumlichen Begriffe durch
die idealisierende Intuition in reine Begriffe, die empirischen Raumgestal-
ten in ideale verwandelt sind, wird ein rein apriorisches und deduktives
Denken möglich. Unmittelbar einsichtig sind unbedingt gültige apriorische
Wahrheiten zu erfassen, Axiome der Geraden etc., und dann kann man
rein deduktiv fortschreiten in immer neuen Schlüssen und Beweisen zu
neuen. Alles ist von absoluter Exaktheit und von einer beispiellos durch-
sichtigen Klarheit und alle Wahrheit ist hier apriorische, ideale Wahrheit,
unbedingt allgemeingültige, jede eine Norm für mögliche Erfahrungswahr-
heit. Ebenso in der Arithmetik. Mag hier auch die Begriffsbildung eine
andere sein. Die Zahlen der Zahlenreihe kann man in überempirischer
Reinheit fassen, als gelöst und rein von allem Empirischen, und eine rein
apriorische, absolut exakte und unendlich fruchtbare Arithmetik begrün-
den.
Hiermit sind also zwei neue große Sphären reiner Apriorität eröffnet
und es ist Platons unsterbliches Verdienst, dass er zuerst diese erkannt
und die Mathematik aus der Empirie oder aus der Verworrenheit, die das
Apriorische für Empirisches hält, auf die Stufe der vollbewussten Gestalt
apriorischer Wissenschaft erhoben hat. Ihm ward klar, dass hier unendliche
Felder einer reinen und echten πιστμη vorliegen, die sich mit keiner
Voraussetzung der empirischen Doxa behaftet. Die mathematischen Begriffe
sind in der Tat a priori und haben alle Grundeigenschaften der Ideen der
ersten Gruppe der Vernunftideen, wiederum überräumlich und überzeitlich,
auch wenn sie Ideen „von“ Räumlichem und Zeitlichem sind. Die Idee
einer Gerade ist keine empirische Allgemeinheit. Da sich so etwas wie ein
rein Gerades in der Erfahrung nicht ausweisen lässt, so kann keine empi-
rische Vergleichung von Gestalten faktischer Dinge je so etwas wie reine
Gerade oder geometrische Gestalt sonst ergeben. All die geometrischen
Wahrheiten haben demgemäß, wie alle arithmetischen nicht minder, eine
nicht an das hic et nunc der Erfahrung gebundene, eine überzeitliche,
eine ewige Geltung. Von allem Subjektiven, speziell von aller fließenden
menschlichen Sinnlichkeit und der mit ihr gegebenen Relativität sind sie
frei. Das Dreieck hat zur Winkelsumme 2 R, das gehört zum Wesen der Idee
52 einleitung in die philosophie

Dreieck. Gäbe es keine faktische Welt und hätte es nie in ihr ein Dreieck
gegeben, der Satz hat doch absolute Geltung, wofern wir nur das fingierte
Dreieck als Dreieck desselben idealen Sinnes verstehen, den wir im Auge
haben. Ein rein mathematischer Satz hat eine ideale absolute Geltung, ganz
so wie der normative Satz absolute Geltung hat, „dass Unrecht leiden besser
ist als Unrecht tun“ oder sonstige ethische Wesenswahrheiten mit ewiger
Gültigkeit.
Ja, in gewissem Sinne sind auch die geometrischen Begriffe „Normbe-
griffe“, obschon sie nicht in sich selbst Begriffe sind, die Ideen der Geltung
ausdrücken und zu den Grundarten der Stellungnahmen die nahe korrelative
Beziehung haben wie Wahrheit zum Urteilen, wie Wert zum Werten, wie
Zweck und Mittel zum Wollen. Die reine Gerade, die reine Ebene, die
reine Linie oder Fläche überhaupt in allen besonderen Gestaltungen, das
sind Ideale, in Bezug auf welche alle wirklichen und möglichen empirischen
Gestaltungen als bloß mehr oder minder vollkommene Annäherungen auf-
gefasst werden können. Ideale sind aber keine nichtigen Fiktionen sondern,
und das ist eben die platonische Entdeckung, in sich feste objektive Normge-
bilde der Vernunft, die man sich in Denkarbeit erarbeiten muss. Ferner, dem
Empirischen in seinem kontinuierlichen Fluss derartige Ideale unterlegen
und sie in Bezug auf diese als Annäherungen auffassen, das ist ein selbst a
priori als notwendig einzusehendes Mittel, um im Fluss Posto zu fassen und
ein objektiv gültiges Urteil in ihm zu ermöglichen. Das Vage birgt in sich nur
in der Form Regel und Gesetze, dass es unter Ideen zu fassen ist, die den Fluss
begrenzen. Exakte Wissenschaft auf dem Boden der fließenden Erfahrung in
der sinnlich gegebenen Natur ist nur dadurch möglich, dass wir methodisch
lernen, dem Vagen als idealen Grenzfall ein Gesetzlichkeit bestimmendes
Exaktes zu unterlegen. Ohne Mathematik gäbe es keine Möglichkeit die
sinnliche Natur in ihren räumlichen Beschaffenheiten und dann weiter auch
in ihren Raum füllenden, spezifisch physikalischen Beschaffenheiten exakt
wissenschaftlich zu bestimmen.
Man muss sagen: Die Konzeption der geometrischen Begriffe, so wie
andererseits der arithmetischen, als apriorische ideale Begriffe, als der Gel-
tung nach aller Empirie vorangehende Begriffe ist ein Fortschritt mensch-
licher Erkenntnis von einer geradezu beispielslosen Tragweite; das haben
leider weder die Historiker der Philosophie noch der Mathematik und der
Naturwissenschaften hinreichend betont oder sich zur Klarheit gebracht.
Die Mathematik, die wir heutzutage alle wie eine selbstverständliche Sache
vor Augen haben, und die auf sie gebaute exakte Naturwissenschaft sind
erst durch die platonische Entdeckung des Apriori und seine entsprechende
platon und die entdeckung des apriori 53

Reinigung der mathematischen Grundbegriffe möglich geworden. Also diese


eigentümliche „Reinheit“, die uns als reine Gerade, reine Linie überhaupt,
reine geometrische Gestalt in der Schule entgegengebracht wird, dieser
Unterschied zwischen mathematischer Größe und empirischer Größe, ist
ein platonisches Gebilde, und ohne das gäbe es keine Mathematik. Auch
die ganz eigentümliche Freiheit des mathematischen Denkens, die ganze
mathematische Methodik stammt, damit wesentlich zusammenhängend, aus
dem Platonismus, wie denn nicht nur Platon selbst, sondern auch seine
Schule, die Akademie, sich alsbald an die systematische Ausbildung einer
rein apriorischen Geometrie gemacht haben. Euklid, mit dem diese Ent-
wicklung ihren Höhepunkt erreicht, der Schöpfer des wunderbaren Systems
der euklidischen Geometrie, ist ein Platoniker.
Die1,2 reine Geometrie schwingt sich über alle Erfahrung empor, sie macht
keine Beobachtungen und Experimente, sie bildet die erfahrenen Raumge-
stalten in freier Fiktion um, sie lässt sich von der Erfahrung nur anregen,
aber nie sich durch sie binden. Was hat sich also, könnte man denken,
die wirkliche Welt, wie wir sie doch nur durch Erfahrung gegeben haben,
um diese weltferne Geometrie zu kümmern? Platon würde hier antworten:
Diese Wahrnehmungswelt einfach für die wahre Welt hinnehmen, das heißt
sich dem Protagoras’schen Subjektivismus ausliefern. Echte, übersubjektive
Wahrheit ist nur im Rahmen der Idee möglich und korrelativ sind nur Ideen
und Ideale „seiend“ im strengen, von allem Fluss und aller wechselnden
Subjektivität freien Sinne. Die empirische Welt ist wahrhaft seiend nur so
weit, als sie in sich Ideales enthält. Wirklich enthalten kann sie es nicht, aber
sie kann an der Idee „Anteil“ haben, sie kann es in größerer oder geringerer
Annäherung realisieren, und genau so weit hat sie wahre Wirklichkeit. Die
Ideen sind also (und hier in Bezug auf die Raumbestimmungen des Realen)
die notwendigen Normen, die wir an das Empirische anlegen müssen und
denen gemäß sie sein müssen, um wahrhaft seiend sein zu können. In der
Tat fungiert späterhin die Geometrie als reine Geometrie beständig im Sinne
einer die Erfahrungsgegebenheiten normierenden Wissenschaft, und sie wird
zum großen Instrument jener exakten Naturwissenschaft, die Platon noch
nicht kennt und die er nur ahnt, jener neuen Physik (gegenüber der Natur-
lehre der Vorsokratiker), die der sinnlichen Natur eine mathematisch exakte
Natur als ideale Norm unterlegt und, von dieser Norm geleitet, den Gang der

1 Am Rande zwei Nullen.


2 Randbemerkung Ganz gut.
54 einleitung in die philosophie

Natur mit beliebiger Annäherung berechnen kann. Aber freilich über dunkle
Ahnungen ist Platon da nicht hinausgekommen, nur die reine Geometrie als
ein Grundstück möglicher echter Naturwissenschaft tritt zu Tage.1
Die erste exakte Wissenschaft tritt als rein apriorische Wissenschaft auf
den Plan. Nun sieht man und zum ersten Mal, wie eine echte Wissenschaft
aussieht, ein geordnetes System von absolut strengen Wahrheiten an sich,
aus reinster Evidenz geschnitten, frei von aller Subjektivität und Relativität,
systematisch aufgebaut auf unmittelbar einsichtigen Wesenswahrheiten, den
Axiomen, aufgebaut in strengsten Schlussfolgerungen, in geordneten Be-
weisen, die sich ihrerseits zusammenschließen zu übersichtlichen Theorien
und Partial-Disziplinen. Keine Tatsache in der Geschichte der Wissenschaf-
ten kann größer, kann folgenreicher eingeschätzt werden, als diese erste
Schöpfung einer strengen Wissenschaft, und dies ermöglichte der platonische
Idealismus.
Platon selbst erkannte oder mindestens erschaute aber auch schon, was
wir vorhin bereits angedeutet haben, dass in der empirischen Welt, der Welt
unserer Sinnlichkeit, nur durch Mittel mathematischer Exaktheit, also durch
Anwendung der Mathematik, durch Methoden einer Mathematisierung der
Erscheinungen (einer Substruktion reiner Ideen, in Bezug auf welche das
Sinnliche als bloß fließende Annäherung und Bekundung anzusehen sei) eine
echte, strenge Wissenschaft der Natur möglich sein könnte. Aber über die
allgemeine Vorerschauung kam er nicht hinaus zu einem wirklichen Anfang
einer exakten physikalischen Theorie. Hier waren viel größere Schwierig-
keiten zu überwinden, methodischer und sachlicher Art; und so hat es denn
überhaupt das Altertum in dieser Hinsicht nur zu kleinen Anfängen gebracht,
deren bedeutendste sich, wenn wir von der Astronomie absehen, an den
Namen Archimedes anschließen. Gehen wir wieder einen Schritt weiter.
Nahe2 verwandt mit dem mathematischen und speziell dem arithmeti-
schen Apriori ist das Apriori einiger Begriffe, die Platon öfters heranzieht
und sich an ihnen die Bedeutung der Idealität klar macht, Begriffe, die eine
universellste Bedeutung haben und auf eine formale Ontologie weisen3.4

1 Am Rande eine Null.


2 Randbemerkung iii. Ideengruppe.
3 Randbemerkung Begriffe, die er im Theaitatos einer gründlichen Erörterung unterwirft.
4 Gestrichen Ontologie ist die Lehre vom „ ν“, vom Seienden als solchen und formale On-

tologie ist eine Wissenschaft, die von den allerallgemeinsten Bestimmungen handelt, ohne die
Seiendes überhaupt, irgendetwas überhaupt, von dem in Wahrheit und in allerallgemeinstem
Sinn gesagt werden kann „es ist“, nicht gedacht werden kann.
platon und die entdeckung des apriori 55

Gehen wir aus vom Begriff des Gegenstandes überhaupt. Ein Haus ist ein Ge-
genstand, aber auch die Idee der Schönheit ist ein Gegenstand, und die Zahl
Zwei ist ein Gegenstand usw. Von all dem kann man in Wahrheit etwas aus-
sagen. Ein rundes Viereck ist kein Gegenstand, ein fingierter Zentaur ist kein
Gegenstand usw.1 Gegenstand ist mit sich Identisches, und zwar identisches
Substrat von ihm in Wahrheit zukommenden Prädikaten. Unstimmigkeit,
Widerspruch hebt die Identität auf. „Identität“ ist solch ein Begriff, den Pla-
ton in Erwägung zieht, ebenso der Gegenbegriff der Verschiedenheit, ebenso
die Begriffe „Gleichheit“ und „Ungleichheit“. Offenbar sind das formale, in
jedes mögliche Gebiet von Gegenständen hineingehörige Begriffe. Alles und
jedes ist mit allem und jedem zu vergleichen und die Relationsprädikate
„gleich“ oder „ungleich“ müssen überall Anwendung finden können. Es
sind aber diese allgemeinsten Gegenstandsbegriffe offenbar a priori, sie
sind nicht aus der Erfahrung zu schöpfen. Identität kann man nicht sehen,
nicht mit Auge, Ohr, usw. Die Sinnlichkeit kann uns nie dahin führen, im
strengen Sinne zu sagen, je von diesem und jenem Baum, mögen sie auch
zum Verwechseln ähnlich sein, sie seien wirklich und im strengen Sinne
gleich. In der Erfahrung gibt es nur größere oder geringere Ähnlichkeit, sie
ist eine Sphäre des Fließenden, Vagen, Ungefähren; absolute Gleichheit ist
eine Idee, ebenso wie das absolut Gerade der Geometrie, eine Idee, in Bezug
auf welche eben von Annäherung zu sprechen ist, die aber aus der Erfahrung
nie geschöpft, in ihr nie wirklich im Einzelfall konstatiert werden kann.
Es gibt, was uns hier besonders interessieren soll, eine ganze Reihe von
Begriffen, die mit den eben genannten Begriffen zusammengehören und
sich um den Begriff des Gegenstandes überhaupt gruppieren, nämlich die
unaufhebbar zu seinem Wesen gehören und daher in den für alle Gegen-
stände möglichen Prädikationen eine Rolle spielen. Sie bilden ein eigenes
Begriffsgebiet, und zwar ein rein apriorisches. Dahin gehören, genau bese-
hen, offenbar auch die sämtlichen arithmetischen Begriffe und daher die
ganze Arithmetik, also was wir für so inhaltsleere Begriffe zunächst nicht
erwartet haben werden, eine große Wissenschaft. So geht es aber auch mit
anderen Begriffen dieser Sphäre, und alle hierhergehörigen Wissenschaften
sind innerlich zur Einheit einer Wissenschaft verbunden, so wie die betreffen-
den Begriffe selbst verbunden sind durch ihre allgemeinste Wesensbeziehung
zur weitesten Idee des Gegenstandes überhaupt.

1 Randbemerkung Identisch im Glauben Setzbares und im Wechsel seiner Bestimmungen

identisch Setzbares.
56 einleitung in die philosophie

Knüpfen wir an die Arithmetik bzw. an den Begriff der Zahl an. Wir
sind alle gemäß uralter Tradition geneigt, die Arithmetik mit der Geometrie
zusammenzutun und als gleichgeordnete Disziplinen der Mathematik anzu-
sehen. Näher besehen, hat aber die Arithmetik eine grundwesentlich andere
Stellung im Reich der Wissenschaften als die Geometrie, die Wissenschaft
von Raum und räumlichen Gebilden, und gehört mit dieser nicht zusammen.
Das aber zeigt sich schon an der ganz anderen und ungleich umfassen-
deren Universalität möglicher Anwendung für den Zahlbegriff gegenüber
dem Raumbegriff und gegenüber allen anderen Begriffen, die eben nicht
dem Zahlbegriff darin gleichstehen, dass sie eine notwendige Beziehung
zur formalsten und allgemeinsten aller Ideen haben, nämlich zur Idee des
Gegenstandes überhaupt. Durch Zählen erfassen wir eine Zahl, und zählen
können wir Häuser, Bäume und sonstige sinnliche Dinge. Zählen können
wir aber auch Ideen wie die Ideen „Gerade“, „Dreieck“ und sonstige
geometrische reine Gestalten oder ethische Ideen, wie wenn wir von der
Anzahl der kardinalen Tugenden sprechen. Zählen können wir alles und
jedes. Zur reinen Idee der Zahl überhaupt kommen wir, wenn wir nicht nur
überhaupt alles Empirische, Sinnliche ausscheiden, was die gezählten Einhei-
ten empirisch binden würde, sondern wenn wir, darüber hinausgehend, auch
die höchsten und selbst schon ideal reinen Gattungsbegriffe ausscheiden,
welche die Einheiten noch irgend sachhaltig bestimmen könnten. Die Idee
eines Raumobjektes, eines materiellen Dinges, eines organischen Wesens,
einer Seele, eines vernünftigen Subjekts – das alles sind sachhaltig bestimmte
Ideen, sie haben eine ideale, aber umgrenzende und umgrenzte Univer-
salität. Denn nicht alles und jedes ist ein Raumgegenstand. Ein Urteilen,
ein Wollen ist es nicht, es hat keinen Sinn, ihm Raumgröße, Raumgestalt,
räumliches Dasein nach Art eines physischen Dinges zuzuschreiben. Und
ebenso ist nicht alles und jedes ein Lebewesen, eine vernünftige Persönlich-
keit.
Wenn wir aber die Idee einer reinen Zahl im Sinne der Arithmetik bilden,
so ist die zu zählende Einheit, die Idee des als Anzahleinheit Gezählten
als solchen, in der universalsten und leersten Allgemeinheit genommen,
und diese Allgemeinheit bestimmt alle Begriffe wie 2, 3, 4, wie alle Zah-
len der Zahlenreihe. Da ist zu merken, dass die arithmetisch erforderli-
che Verallgemeinerung und Reinigung, die uns Ideen wie Zahlen ergibt,
eine wesentlich andere ist als diejenige welche uns andere, wie wir sagen
„sachhaltig bestimmte“, Ideen wie Dreieck, Raumfigur überhaupt, Ding,
organisches Wesen u. dgl. ergibt. Freilich, zu allen Ideen gehören aprio-
rische Wahrheiten, und so gehören, um den Kontrast im viel verkannten
platon und die entdeckung des apriori 57

Verhältnis von Arithmetik und Geometrie durchzuführen, zu den beider-


lei Ideen überempirisch gültige ideale Wahrheiten und ganze Disziplinen.
So gewinnen wir für Zahlen die spezifischen Zahlenaxiome, etwa 1 + a =
a + 1, a + b > a u. dgl. Und aus solchen selbstverständlichen Grundwahrhei-
ten fließen unendlich viele Folgewahrheiten, eben die der arithmetischen
Wissenschaft. Also die Arithmetik hat mit der Geometrie dies gemein,
dass auch sie ein Feld des reinen Apriori bearbeitet; aber während die
geometrischen Begriffe Idealisationen von sinnlichen Eigenschaften oder
sinnlich anschaulichen Formen von sinnlichen Dingen sind, ist das nicht für
die arithmetischen Begriffe der Fall. So gut ein Ding rot ist oder glatt, ist
es rund oder gerade. Dem empirischen Typus des Kreises, des Runden
entspricht die reine Idee des geometrischen Kreises, dem empirischen Ty-
pus des Geraden der nur Fließendes enthält, die reine Gerade. Dagegen
entspricht der Zahl keine sinnliche Eigenschaft der Dinge, und damit har-
moniert es, dass alle Gegenstände überhaupt, mögen sie körperliche Dinge
sein oder psychische Erlebnisse oder Ideen, unter Zahlbegriffen stehen,
eben zählbar sind, während sie nicht alle unter geometrischen Begriffen
stehen. So hat die Arithmetik eine ganz andere Universalität der Anwendung
als die Geometrie; ist diese nur sinnvoll anwendbar eben auf räumliche
Gegenstände, so die Arithmetik auf alle erdenklichen Gegenstände über-
haupt.
Was für den Zahlbegriff gilt, gilt auch noch für eine Reihe anderer Be-
griffe. So schon für den Begriff der Menge, auf den der Zahlbegriff wesentlich
gebaut ist und der erst in unserer Zeit zum eigenen Feld einer „Mengenlehre“
geworden ist, ferner für den Größenbegriff, den Begriff der Relation, der
Verbindung, des Ganzen und des Teiles. Offenbar gehören alle solchen Be-
griffe zusammen mit den von Platon behandelten Begriffen, den Begriffen
der Identität und Verschiedenheit, der Gleichheit und Ungleichheit, des
Seins und des Nicht-Seins, der Beziehung und so noch manche andere. Man
kann sich überzeugen, dass hier eine reinlich abgeschlossene Sphäre des
Apriori und damit, dass sich hier eine für sich abgeschlossene apriorische
Wissenschaft eröffnet, die sich dann in eine ganze Reihe von Disziplinen
spaltet, in Disziplinen, die in späteren Zeiten gewaltige Ausdehnung erlangt
haben.
Gehen wir von der Idee des Gegenstandes überhaupt aus, nicht des realen
Dinges, sondern in allgemeinster Allgemeinheit des identischen Substrates
wahrhafter Prädikate, so steht sozusagen alles und jedes unter dieser Idee,
und eine Reihe von Begriffen sind ihr a priori zugeordnet: Von jedem
erdenklichen Gegenstand überhaupt ist auszusagen, dass er Beschaffen-
58 einleitung in die philosophie

heiten hat; da tritt also der Begriff der Beschaffenheit auf. Jeder ist zu
jedem in Beziehung zu setzen, jeder mit jedem anderen kollektiv zu ver-
knüpfen, die kollektive Verknüpfung wieder zu verknüpfen mit irgendwel-
chen anderen möglichen Gegenständen, die so gebildeten Vielheiten oder
Mengen sind zählbar, sind in Reihen zu ordnen, in den Reihen sind Ord-
nungszahlen zu etablieren usw. So gehören untrennbar zur universalsten
Lehre Ideen: die des Gegenstandes, Ideen wie Eigenschaft, Beschaffen-
heit, Beziehung, Verbindung, Ordnung, Menge, Anzahl, Ordinalzahl, Größe,
Ganzes und Teil und noch manche andere Begriffe.1 Man kann nun die
Aufgabe stellen, die Gesamtheit der in reinem Denken sich ergebenden
Grundwahrheiten festzustellen, die mit Beziehung auf diese reinen Be-
griffe zu allen erdenklichen Gegenständen überhaupt gehören, und aus die-
sen Grundwahrheiten in rein deduktivem Denken die darin beschlossenen
Folgewahrheiten abzuleiten. Dann erwachsen apriorische Disziplinen wie
reine Anzahlenlehre, reine Ordinalzahlenlehre, reine Größenlehre, reine
Kombinations- und Relationslehre usw., Disziplinen, die in der heutigen
hochentwickelten analytischen Mathematik (unter dem Titel „reine Ana-
lysis“) beschlossen sind. In der Tat hat sich die neue Mathematik immer
mehr zu einer rein apriorischen Wissenschaft umgebildet, die alle zur
Idee des Gegenstandes überhaupt gehörigen Wahrheiten zu behandeln ten-
diert oder auf dem Weg dazu ist, sie nach und nach alle in sich aufzuneh-
men.
Scheinbar ist der Begriff des Gegenstandes überhaupt in seiner formalen
Leere unfruchtbar als Thema für Fragestellungen. Sagen wir von irgendetwas
es sei ein Gegenstand, so haben wir ja eigentlich gar nichts Wertvolles ausge-
sagt. Gegenstand zu sein, das ist etwa dasselbe wie etwas sein. Und wir wollen
doch wissen, was jeweils einem vorgelegten Gegenstand zukommt. Aber es
ist nun das Merkwürdige, dass mit der leeren Form der Gegenständlichkeit
ein unendliches Formensystem zusammenhängt, als ein formales Gerüst
von Begriffen und Wahrheiten, ohne das kein Gegenstand widerspruchslos
gedacht werden kann oder in das jeder Gegenstand als Gegenstand des be-
ziehenden und verknüpfenden Denkens a priori und notwendig einbezogen
gedacht werden kann.
Die Erkenntnis dieser formalen Denkmöglichkeiten und Denknotwen-
digkeiten, die für jeden Gegenstand bestehen, erweist sich (und nicht zu-

1 Randbemerkung „Formale gegenständliche Kategorien“ oder Kategorien der Gegenständ-

lichkeit überhaupt.
platon und die entdeckung des apriori 59

fällig) als unendlich fruchtbar für alle sachhaltige Erkenntnis von Gegen-
ständen. Für die Disziplinen der modernen Analysis weiß das heute jeder
Naturforscher und Techniker sehr wohl. Das rein apriorische Denken ist
nicht nur in der raum-körperlichen Sphäre, sondern in der allgemeinsten
formalen Sphäre (trotz seiner Weltabgewandtheit) unendlich reich an frucht-
baren Erkenntnissen zur Anwendung auf die gegebene Welt. In welcher
sachhaltig bestimmten Gegenstandssphäre sich je eine Wissenschaft eta-
blieren mag, wo immer da Anlass ist, zu zählen, Größenvergleichungen zu
vollziehen, Beziehungen herzustellen, aufgrund der Beziehungen zu ordnen
nach einfachen und mehrfältigen Reihenordnungen, oder Ganze zu teilen,
Gegenstände zu Ganzen zu verbinden, da werden die mathematischen Ge-
setze der Menge, der Anzahl, der Ordnung und Ordinalzahl, der Größe,
usw. ihre freie Anwendung finden. Die formale Mathematik, die, universell
gefasst, eine formale Wissenschaft von Gegenständlichkeit überhaupt ist,
ist ein unendlicher Fond von apriorischen Wahrheiten, die allen möglichen
Wissenschaften frei zu Gebote stehen und allen a priori vorangehen. Ich
nenne diese in einer Anzahl von Disziplinen der modernen Mathematik,
aber noch unvollständig, realisierte Wissenschaft „formale Ontologie“. Sie
ist „Ontologie“, das heißt Wissenschaft vom Seienden überhaupt, aber for-
male Ontologie. Das heißt: Alles Sachhaltige, alles, was uns an ein be-
sonderes, inhaltlich so und so bestimmtes Seinsgebiet bindet, lässt diese
Wissenschaft außer Betracht. Die reine Arithmetik fragt nicht nach dem
Was des zu Zählenden. Ob es im Anwendungsfall Physisches oder Psychi-
sches, Reales oder Ideales sein wird, das bleibt in ihr völlig unbestimmt-
allgemein. Die reine Kombinationslehre fragt nicht, was kombiniert, was
kombinatorisch geordnet wird; sie handelt von den Formen möglicher kom-
binatorischer Ordnungen überhaupt. Die reine Größenlehre fragt nicht, ob
die Größen Raumgrößen oder Größen in idealen Sphären sind. Und so
überall.
Die formale Ontologie handelt aber nicht bloß, wie die ältere Mathema-
tik, von Größe und Zahl. Denn wenn sie sich von der Idee einer Relation
überhaupt, einer Verbindung überhaupt, von Verhältnissen zwischen Gegen-
ständen und Beschaffenheiten überhaupt u. dgl. leiten lässt, gibt es vielerlei
apriorische Gesetze, die nicht im gewohnten Sinne mathematische und doch
von gleicher formaler Allgemeinheit sind und vom gleichen wissenschaftli-
chen Typus. Zu all dem hat Platon sozusagen das Tor eröffnet. Freilich, in
aller Klarheit hat das erst Leibniz erkannt und demgemäß den Begriff der
mathesis verallgemeinert. Von dem Anfang bis zur vollen Entwicklung liegen
die Jahrtausende rein mathematischer Forschung, die Platons wunderbarer
60 einleitung in die philosophie

Tiefsinn durch seine Konzeption des mathematisch „Reinen“ ermöglicht


hat, zu deren Ins-Werk-Setzung er die ersten ausführenden Schritte in vor-
bildlicher Weise getan hat. An den Gedanken einer formalen Ontologie in
unserem Sinne hat er selbst schon gerührt, er hat ihn nur nicht festzuhalten
gewusst. Im vii. Buch des Staates, wo er den Aufstieg zum erhabenen Reich
der Idee durch völlige „Umwendung der Seele“, durch völlige Abkehr von
der verworrenen und niedrigen Sinnlichkeit beschreibt, beginnt er mit der
merkwürdigen Frage: Wenn wir alle im gemeinen Sinne sogenannten Wissen-
schaften, die aus der sinnlichen Erfahrung schöpfen, ausschließen, können
wir nicht eine Erkenntnis, eine Wissenschaft im Voraus nennen, von der
wir im Voraus sagen können, dass jede erdenkliche Wissenschaft und Kunst
sich auf sie stützen muss? Muss sich nicht jeder auf Zählen und Rechnen
verstehen?
Also Platon erfasst hier in voller Präzision den Gedanken, dass es wis-
senschaftliche Erkenntnis gebe, die in jeder erdenklichen Wissenschaft und
Kunst eine Sphäre möglicher Anwendung finde, und erkennt, dass die Arith-
metik eine solche Wissenschaft sei. Aber er führt diesen Gedanken einer
universell ontologischen Wissenschaft nicht in weiteste Weite durch. Er
stellt die nachher an derselben Stelle erörterte reine Geometrie im Rah-
men des Apriori nicht der Arithmetik als Kontrast gegenüber, er weist
nicht darauf hin, dass nicht allem erdenklichen Seienden Prädikate rei-
ner Raumgestalt zukommen können, dass also Geometrie nicht so uni-
verselle Bedeutung beanspruchen könnte wie die Arithmetik.1 Platon hat
die fundamentale Unterscheidung zwischen formal-ontologischem Apriori
und sachhaltigem Apriori noch nicht in das Zentrum seiner Forschungen
gestellt. Erfüllt von der Größe seiner Entdeckung der Ideen und eines ihnen
zugeordneten apriorischen Erkennens mit unbedingt gültigen und exakten
Wahrheiten, ist er unermüdlich darauf aus, neue und wieder neue Domä-
nen apriorischer Erkenntnis zu entdecken und immer neue Ideensphären
herauszuschauen. Natürlich entgeht ihm nicht die schon in ihren Anfän-
gen mit Ideen mathematischer Exaktheit in Bezug getretene Astronomie,
und ahnend rührt er dabei an die Idee einer rationalen Mechanik. Und

1 Gestrichen Die Geometrie bindet uns an das Reich möglicher Raumobjekte und ebenso eine

apriorische Bewegungslehre und Mechanik an mögliche materielle Dinge. Eine apriorische


Psychologie, in der die Leitidee die der Seele ist, bindet uns eben an seelisches Wesen. Das
Wesen des Psychischen schließt Räumlichkeit, Gestalt, physische Kräfte aus, das Wesen des
Materiellen seelische Eigenschaften, Motive und freies Tun.
platon und die entdeckung des apriori 61

ebenso hinsichtlich der Musik, in Bezug auf welche er die kühne Forderung
einer überempirischen Musik stellt.1,2
In3 den bisher durchgeführten Betrachtungen haben wir uns einen reinen
und völlig zweifellosen Wertgehalt der platonischen Ideenlehre zugeeignet.
Zum Verständnis ist uns gekommen die in ihr beschlossene Entdeckung
apriorischer Erkenntnis, mit a priori geschöpften Begriffen und Urteilen, sich
auswirkend in apriorischen Disziplinen. Platonische Ideen, wenn wir sie frei
halten von jederlei nur allzu leicht sich eindrängenden mythischen Beimen-
gungen, sind allgemeine Wesenheiten, nicht aus der Erfahrung, sondern in
einem reinen Schauen, in einer generalisierenden Intuition zu schöpfen und
in ihr dann auch gegenständlich gegeben. Ihre methodologische Funktion in
der Erkenntnis war klar: Als reine und generelle Wesenheiten sind sie zur
Normierung berufen.
In welcher Hinsicht wir Gegenstände auch betrachten, welche Begriffe
wir auch benützen, um über sie rechtmäßige Aussagen zu machen, diese
Begriffe, aussagbare Prädikate jeder Art, weisen auf Ideen zurück.4 Immer
muss es möglich sein, diese Begriffe zu reinigen und von aller Bindung an

1 Gestrichen In der Begeisterung für die Entdeckung des reinen Apriori sucht er nach immer

neuen Domänen apriorischer Erkenntnis und nach immer neuen in ihnen normgebend fun-
gierenden Ideen. Er kommt noch nicht dazu, die schon erschaute fundamentale Sonderung im
Reich des Apriorischen, die Scheidung des formal-ontologischen und des sachhaltigen Apriori
in den Brennpunkt zu stellen und nach der ersteren Seite eine abgeschlossene Wissenschaft für
sich auszubauen, eine Wissenschaft, welche darauf abzielt, in systematisch geordneter Weise alle
Ideen und idealen Gesetze herauszustellen, die allen möglichen Wissenschaften vorangehen und
in allen anwendbar sind, weil sie eben das betreffen, ohne was eine Gegenständlichkeit über-
haupt gar nicht gedacht werden kann. Er ahnte noch nicht, was für eine gewaltige Wissenschaft
und mit wie vielen, unendlich fruchtbaren Disziplinen die von ihm berührte Idee einer forma-
len Gegenstandslehre umspannen würde, Disziplinen, die heute den Stolz der analytischen
Mathematik ausmachen, wie Algebra, Zahlentheorie, Funktionstheorie, Mannigfaltigkeitslehre
usw. Auf der anderen Seite stehen Wissenschaften, die immer noch a priori, aber an inhaltlich
bestimmte Ideen möglicher Gegenständlichkeiten gebunden sind, so die Idee eines Raumdinges
und die zugehörige Idee der räumlichen Gestalt oder die Idee der Bewegung und wieder die
Idee der Seele u. dgl.
2 Eingelegtes Blatt Die dreifache Wissenschaftstheorie. Ist natürlich stark vergröbert. Ich

habe sie nach dem logischen Denken orientiert und nach den fundierenden Akten. Dann käme
aber doch die Stufenbildung auf noematischer Seite in reinster differenzierter Betrachtung,
also auf gegenständlicher Seite die konstitutiven Unterstufen der Gegenständlichkeit, auf
apophantischer Seite die Unterstufen der Sinnesgebilde, also für Gegenstände die eventuellen
Phantome, Aspekte und dergleichen „Erscheinungsmodi“. Und für die Sätze? Da käme wohl
das Allgemeinste über die Lehre von der Explikation, Kollektion, etc.? (Note: während der
Vorlesungen über dieses Kapitel Vereinfachungen zugunsten der Anfänger).
3 Randbemerkung Rekapitulation und Ergänzungen.
4 Randbemerkung Alle Begriffe weisen auf Ideen zurück.
62 einleitung in die philosophie

zufällige Empirie zu befreien, somit ihnen entsprechende reine Begriffe,


Ideen-Begriffe zu bilden. In dieser Art gewinnen wir zum Beispiel die aprio-
rischen Begriffe, die zu den verschiedenen Gattungen von Stellungnahmen
der Vernunft gehören wie die Begriffe „Wahrheit“, „Schönheit“, „Güte“,
ebenso Ideen, die zur universellen Form der Gegenständlichkeit als solcher
gehören wie die Begriffe „Beschaffenheit“, „Ganzes“, „Menge“, „Anzahl“;
wiederum die apriorischen Begriffe bzw. Ideen, die das Wesen der Räum-
lichkeit und Zeitlichkeit ausdrücken, und so offenbar in allen Sphären: Idee
der Seele, Idee des Intellekts, des Willens, Idee des Staates, des Rechtes und
was dergleichen mehr. Alle Ideen sind starre Identitäten, überzeitlich, un-
veränderlich, Substrat an sich gültiger Wahrheiten. Demgegenüber verweist
jede empirische Aussage, das heißt, jede Aussage, die Wahrgenommenes
beschreibt, auf die Sinnlichkeit des Aussagenden und ist in bekannter Weise
bloß relativ.
Jede Idee, wie die Idee der Schönheit, die Idee der Gerade, hat einen
ideellen Umfang von Einzelheiten: Ideell können wir den Gedanken einer
Allheit möglicher einzelner Objekte bilden, die schön sind, die gerade sind.1
Dieser ideale Umfang enthält bloß reine Möglichkeiten,2 aber keine wirkli-
chen Dinge. Und wenn wir auch von wirklichen Dingen sprechen, die schön
sind und somit auch den Gedanken der Gesamtheit wirklicher schöner Dinge
bilden können, so kann diese Rede nur in einem uneigentlichen Sinne gelten.
In der empirischen Wirklichkeit gibt es nur Fließendes, in ihr ist kein Platz
für ideale Reinheit. Ein im strengen Sinne Gerades und eine Vielheit von
Geraden können wir denken, aber das Empirische der Anschauung ist nie
im strengen Sinne gerade, sondern nur ein angenähert Gerades, das heißt,
es ist unter idealem Gesichtspunkt zu betrachten, aber prinzipiell nur durch
das Mittel der Approximation.
Wie steht es dann aber mit der Erkenntnis und Wahrheit in Bezug auf die
sinnenanschaulich gegebene Wirklichkeit? Ist eine befriedigende Erkennt-
nis, eine echte, dann über diese zu gewinnen? Erscheint die Beziehung des
Empirischen auf die idealen Gesichtspunkte der Beurteilung nicht als etwas
Vages, Ungefähres, das keinen erheblichen Wert beanspruchen kann? Leicht
muss es so erscheinen, wenn rein apriorische Erkenntnis in ganzen Wissen-
schaften einmal begründet ist und nun die absolute Strenge und Evidenz des
mathematischen Denkens dem Wahrheitssuchenden vollkommenste Befrie-

1 Randbemerkung Apriorischer Umfang.


2 Randbemerkung Apriorische Möglichkeiten.
platon und die entdeckung des apriori 63

digung verschafft. Begreiflich ist also in den Anfängen und so bei Platon
in eins mit einer überschwänglichen Schätzung der Ideenerkenntnis eine
Herabschätzung, ja Verachtung der empirischen Erkenntnis. Kann sie im
Reich des Vagen und Fließenden je die Gestalt exakter Naturwissenschaft
annehmen?
Um Ihnen die gewaltige Bedeutung der platonische Ideenlehre recht
eindringlich zu machen, habe ich, weit vorgreifend, Ihnen, den schon in der
neuzeitlichen exakten Naturwissenschaften Erzogenen, gesagt, dass nur die
Ideenlehre und die aus ihr entsprossenen apriorischen Wissenschaften wie
Geometrie, Analysis, Mechanik, solche mathematisch exakten Naturwissen-
schaften ermöglicht haben und dass dabei der Gedanke der Approximation,
der bei Platon als „Verähnlichung“, als ungefähre „Anteilnahme“ auftritt,
wesentlich mitspielt. Aber damit sollte nicht gesagt sein, dass Platon schon so
weit war, in dieser Hinsicht eine bestimmte Idee solcher Naturwissenschaft
konzipieren zu können; wie es ihm ja auch schon gewaltige Mühe machte,
den rein methodologischen Sinn der Idee und die Eigenart ihres Seins als
begrifflichen Wesens von allen mythischen Beimengungen frei zu bekom-
men. So weit er auch kam, letzte Unreinigkeiten verblieben noch, die die
historische Wirkung seiner Entdeckungen genug geschädigt haben.
Jedenfalls muss man sagen: Eine für die Entwicklung strenger Natur-
wissenschaft unentbehrliche Vorarbeit hat er nicht nur in der Begründung
apriorischer Disziplinen überhaupt gegeben, sondern durch seine beständige,
mit der Ideenforschung verflochtene methodologische Forschung. Die Mög-
lichkeit einer streng wissenschaftlichen physischen Naturerkenntnis musste
ja für ihn ein beständiges Problem sein, da die Sophisten sie geleugnet
hatten, da insbesondere ein Protagoras in wirksamster Weise alle Prädi-
kation in der sinnlich-anschaulich gegebenen Welt als bloß subjektiv-relativ
hingestellt hatte. Mit der sokratischen Position, dass diese Unvollkommen-
heit der Naturerkenntnis nichts schade für unsere ethische Vernunftpraxis –
denn um uns als redliche, gerechte, wahrhafte Menschen zu bewähren,
als gute Bürger, als im wahren Sinne tapfere Soldaten, dazu brauchte es
keine naturwissenschaftlichen Spekulationen –, möchte sich ein Platon nicht
begnügen. Die hierhergehörigen platonischen Untersuchungen haben den
Charakter wissenschaftstheoretischer Untersuchungen. Sie betreffen We-
sen oder Möglichkeit objektiver Wissenschaft von der Natur, sie suchen nach
einer Theorie dieser Möglichkeit. Diese auf Natur bezogenen Untersuchun-
gen nahmen aber bei ihm stets zugleich die Gestalt universell wissenschafts-
theoretischer Untersuchungen an. Denn in seinem Radikalismus machte
Platon das methodologische Problem in seiner größten Allgemeinheit zum
64 einleitung in die philosophie

Thema. Was sind die Wesensbedingungen echter Wahrheit überhaupt und,


korrelativ, was die Wesensbedingungen eines im echten Sinne seienden
Gegenstandes überhaupt? Wie ist überhaupt echte, auf Wahrheit und wahr-
haftes Sein gerichtete Erkenntnis zu erreichen?
Dass apriorische Wahrheit, ideale Wahrheit, absolut gültige, gegen alle
Angriffe der Relativisten gefreite Wahrheit ist, das war von vornherein klar.
Das ideale Sein ist eben irrelativ und in seiner absoluten Identität mit sich
selbst, in seinem starren An-sich-Sein, zweifellos. Gehört aber nicht zu jedem
Gegenstand, der sein, also Substrat schlechthin gültiger Wahrheiten sein soll,
jene strenge Identität, die nur die Idee zeigt? Ist nicht eine Wahrheit, die bloß
subjektiv-relativ gilt, eine Aufhebung des Begriffes der Wahrheit, der doch
die einen jeden Urteilenden verpflichtende Anerkennung in sich schließt?
Wie kann also was sich uns in der Erfahrung als Gegenstand präsentiert, wie
kann das jeweils sinnlich wahrgenommene Sein, wie kann unser Urteilen,
das ausspricht, wie die Dinge in der Wahrnehmung erscheinen, und das im
gemeinen Leben als ein wahres Urteilen genommen wird, auf Wahrheit
Anspruch erheben? Das Sein des erfahrenen Naturobjektes, die Wahrheit
des Erfahrungsurteils, beides scheint auf einen leeren, in sich ganz unberech-
tigten Anspruch hinauszulaufen. Die Natur ist also gar nicht wahrhaft seiend,
ein bloßer Schein! Oder gibt es etwa Wege, aus den der Sinnlichkeit zunächst
folgenden Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, die durch ihre sinnlich
geschöpften Begriffe bloß subjektiv-relativ sind, in einer strengen, durch
reine Vernunft vorgezeichneten Methode an sich gültige Urteile, Wahrheiten
im echten irrelativen Sinne, abzuleiten? Ist die Prätention, die die Wahrneh-
mungswelt erhebt, indem sie sich eben als eine seiende Welt darbietet, im
Grunde doch berechtigt, nur eben nicht eine in Form der gemeinen Erfah-
rungsurteile zu erfüllende? Dann wäre die Natur, die zunächst gegenüber
dem wahren Sein der Idee als „nicht seiend“ sich zu charakterisieren scheint
(als nicht seiend, sofern eben die sinnlich erscheinende Natur als die Natur
schlechthin genommen ist), eben doch nicht ein leerer Sinnenschein, sondern
eine Erscheinungswelt, die für die von idealen Normen geleitete Vernunft
Erscheinung ist von einer vorerst herauszuarbeitenden, in strengen Begriffen
methodisch zu bestimmenden wahren Natur.
So sieht die Sachlage in der Tat die neuzeitliche Naturwissenschaft an und
das nicht aufgrund vager Hypothese oder aufgrund eines bloßen Glaubens,
sondern weil inzwischen die Wege zur Erfüllung des durch den skeptischen
Subjektivismus empfindlich gewordenen Desiderats gefunden sind; die un-
endlich fruchtbaren Methoden sind entdeckt und gestaltet worden, um eine
objektive Wissenschaft von der zunächst sinnlich-relativ gegebenen Natur
formale wissenschaftslehre 65

zu begründen und aus den gemeinen Erfahrungsurteilen, mit ihrer bloß


subjektiv-relativen Geltung, an sich gültige Wahrheiten herauszuarbeiten.
Platon selbst war von solcher Leistung weit entfernt, und kaum ist es zu sagen,
dass er das Desiderat, das ihn so leidenschaftlich bedrängte, je überhaupt
für theoretisch erfüllbar hielt. Jedenfalls aber hat er unaufhörlich und in
immer neuen Untersuchungen sich über die Möglichkeit objektiv gültiger
Erkenntnis und erkennbaren Seins Rechenschaft zu geben gesucht, wobei
die methodologische Funktion der Ideen und Ideenerkenntnis für die Er-
kenntnis aller Gegenständlichkeit und die Beziehung von Idee und Sein, der
Sinn von Wahrheit und Sein, die Eigenart strenger Wissenschaft und ihrer
Methodik die immer neu abgewandelten Themata bilden. In diesen plato-
nischen Untersuchungen liegt bei ihrer Universalität, die sich auf kein be-
sonderes Gebiet von Erkenntnis, Wahrheit, Gegenständlichkeit beschränkt,
der Ursprung der allgemeinen Logik und Wissenschaftstheorie; ebenso wie
in seinen parallelen Bemühungen um die Aufklärung der Vernunft im in-
dividuellen und sozialen Leben und die Herausarbeitung der Ideen einer
ethisch geformten Persönlichkeit und sozialen Gemeinschaft der Ursprung
einer Ethik liegt.
Wir wollen versuchen, uns, anknüpfend an das platonische Motiv einer
Kunstlehre der Erkenntnis, aber selbständig fortschreitend, die verschiede-
nen Aufgaben einer allgemeinen Logik und Wissenschaftstheorie klarzu-
machen, womit zugleich eine Vorzeichnung gegeben ist, wonach wir uns
späterhin die völlig analogen Aufgaben werden verständlich machen können,
die sich auf die der erkennenden Vernunft parallel laufende ästhetische und
ethische Vernunft beziehen, die also in den Paralleldisziplinen zur Logik,
in der Ethik und Ästhetik (und überhaupt in der allgemeinen Werte-
lehre), behandelt werden. Es werden uns bei unseren Betrachtungen die
in den letzten Stunden gewonnenen Klärungen über formale Mathematik
oder universelle formale Ontologie sehr zugutekommen, denn es wird sich
zeigen, dass sich unter einem notwendigen Gesichtspunkt die Disziplinen
der formalen Ontologie der Idee einer universellen Wissenschaftstheorie
einordnen.

Formale Wissenschaftslehre

Naturgemäß gerät Platon in seinen universellen methodologischen Be-


mühungen zunächst auf die Idee der Logik als einer τ
χνη, einer Denkkunst,
Erkenntniskunst (Phaidon). Sie ist die Kunst, die uns über die bloße doxa
66 einleitung in die philosophie

hinaus zur epistēmē, zur echten Erkenntnis, in der wir die echte Wahrheit
haben, hinführt. Kunstmäßig geregelt werden dabei die Urteilstätigkeiten
mit all den Tätigkeiten, die diesen wesentlich zugehören, sie notwendig even-
tuell fundieren, worüber wir Näheres natürlich vor der Untersuchung nichts
wissen. Soll diese „Kunst“ selbst einsichtig begründet sein, so muss sie es in
Form einer wissenschaftlichen Kunstlehre sein. Haben wir uns schon mit dem
platonischen Geiste vollgesogen, so werden wir hier, kühn vorwärts gehend,
doch sagen müssen, dass auch diese, wie jede Wissenschaft, ihr Apriori haben
muss.
Aber fangen wir lieber zunächst umgekehrt an. a) Soweit diese Kunst
uns faktischen Menschen mit unseren faktischen seelischen Vermögen im
Erkennen helfen will, wird die wissenschaftliche Kunstlehre die Wissen-
schaft von den menschlichen Seelenkräften (ja vielleicht auch von seinen
leiblichen) voraussetzen. Es bedürfte also vorher einer wissenschaftlichen
Anthropologie und insbesondere Psychologie und noch enger einer Psy-
chologie der Erkenntnistätigkeiten und aller seelischen Eigenheiten, die im
urteilenden Erkennen in Frage sind. So weit wäre eine logische Kunstlehre
also tatsachenwissenschaftlich fundiert, auf die faktische Wirklichkeit, in der
faktisch die Spezies homo mit bestimmten Eigentümlichkeiten vorkommt,
bezogen. b) Andererseits, in jeder anschaulichen Sphäre gibt es Ideen zu
schöpfen;1 wie aufgrund von Exempeln äußerer Sinnlichkeit können wir auch
aufgrund innerer Anschauungen eine reine Ideenschau üben und apriorische
Erkenntnis gewinnen.2

1 Gestrichen durch die in der fließenden Empirie die Strenge des Wesens, durch die eben

zwingende Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit in sie hineingebracht wird, die eben nur
Wesenswahrheiten in Reinheit eigentümlich ist und die sich von diesen angenähert auf die
Tatsachensphäre überträgt.
2 Gestrichen [72b] c) Innerhalb der apriorischen Disziplinen ergibt sich dann aber gemäß

unseren früheren Ausführungen weiter die Scheidung zwischen den Disziplinen der formalen
Ontologie, in denen das Apriori auf die bloß notwendige Form der Gegenständlichkeit über-
haupt und als solcher sich bezieht, und den sachhaltigen Ontologien. Wobei sich zum Beispiel
Geometrie und Arithmetik voneinander trennen. Wie wichtig diese Scheidungen sind und
wie notwendig zur zweckbewussten Leitung jenes unter dem Titel „Philosophie“ erwachsenen
Strebens nach absoluter Erkenntnis, das die ganze Entwicklung menschlicher Wissenschaft
beherrscht, wird sich in unserem ganzen weiteren Gang bewähren. Hier möchte ich zunächst
diese Bewährung durchführen (und Sie damit ein Stück weiter führen) an der näheren Be-
trachtung der Idee der formalen Ontologie in ihren bedeutsamen Verflechtungen. Ihr zentraler
Begriff ist „Gegenstand überhaupt“ in der weitesten, also auch leersten Allgemeinheit. Um ihn
gruppieren sich „die formalen gegenständlichen Kategorien“ als die in gleicher Allgemeinheit
verstandenen Bestimmungsformen, ohne die Gegenstände überhaupt nicht gedacht werden
können, wie „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Sachverhalt“, „Beziehung“, „Verbindung“
usw. Wie verhält sich, fragen wir, nun diese formale Ontologie zu den Ideen „Logik“ und
formale wissenschaftslehre 67

Also fühlen wir hier ein Desiderat: Es bedarf der Herausarbeitung der
Idee des urteilenden Meinens und Vorstellens überhaupt und dann spezieller
der Idee der Erkenntnis im prägnanten Sinne und in weiterer Folge der
apriorischen Wahrheiten, welche aussagen, was im Wesen der Erkenntnis
notwendig liegt, ohne was sie also schlechthin nicht gedacht werden kann,
wenn sie echte Erkenntnis soll sein können.1 Das führt also auf die reinen
Normen, die an jede Aussage anzumessen sind: Jede Aussage will wahr sein,
sie prätendiert, Erkenntnis zu sein, jede muss den apriorischen Bedingungen
der Möglichkeit echter Erkenntnis genügen. In der Tat zielen in diese Rich-
tung manche der tief bohrenden dialektischen Erörterungen Platons, wie
zum Beispiel solche im Theaitetos, wie sehr sie auch noch in Allgemeinheiten
stecken bleiben.
Gehen wir nun weiter, so stellt sich gleich eine merkwürdige Beziehung
dieser apriorischen Erkenntnislehre zur formalen Ontologie her. Denn Er-
kenntnis bzw. Urteil und Gegenstand stehen doch – in formaler, also univer-
sellster Allgemeinheit – in einem Verhältnis notwendiger Wechselbeziehung.
Wir urteilen über Steine, Tiere, Dreiecke, Kräfte. Immer und notwendig ist
ein Urteil, Urteil über etwas, über irgendeinen Gegenstand. Und anderer-
seits, jeder erdenkliche Gegenstand ist prinzipiell Gegenstand möglicher
Beurteilung, und jeder ist Substrat möglicher echter Erkenntnis. Sprachlich:
Jeder mögliche Gegenstand ist Subjekt möglicher wahrer Aussagensätze.
Alles, was ein Gegenstand ist, spricht sich innerhalb eines ideellen Systems
wahrer Aussagen aus. Es ist nun klar, eben vermöge dieser Korrelation
zwischen Urteil bzw. Erkenntnis und Gegenstand, dass eine apriorische
Erkenntnislehre, die in Absicht auf eine Erkenntniskunst aufgebaut wird,
nicht nur auf das Erkennen, die Urteilstätigkeit selbst wird hinblicken und
nach ihrem Apriori forschen wird. Jede formal-ontologische Wahrheit über
Menge und Zahl, über Relation usw. ist ja offenbar von vornherein mit
eine Norm für das Erkennen; sie darf unter keinen Umständen verletzt
werden und in keinem Erkenntnisgebiet. Also gehört eigentlich, und der
Idee nach, die ganze Reihe formal-ontologischer Disziplinen, darunter zum
Beispiel die reine Mathematik, in den Kreis einer logischen Kunstlehre,
wenn diese letztere eben in vollster Allgemeinheit alles Apriorische be-
fassen soll, was für Erkenntnisregelung überhaupt dienlich ist, noch vor der
Spezialisierung der Erkenntnis nach sachhaltig gesonderten Gebieten. Für

„Wissenschaftstheorie“ die wir früher schon berührt haben? Auf sie hatten, wie ich von Anfang
an gesagt habe, Platons methodologische Bemühungen vorgewiesen, obschon Platon auch da
nicht Vollender, sondern Bahnbrecher war.
1 Randbemerkung α) Erkenntnis überhaupt im weitesten Sinne β) „echte“ Erkenntnis.
68 einleitung in die philosophie

besondere Wissenschaften mag man besondere Methodologien haben, die


dann aber zu diesen selbst gehören werden. Vor allen besonderen Wissen-
schaften steht aber Wissenschaft überhaupt und wissenschaftliche Methodo-
logie überhaupt und damit der Kreis des universell zu allen Wissenschaften
gehörigen Apriori und das umspannt also das gesamte ontologische Apriori.1
Wir haben nun ein doppeltes Apriori umgrenzt, aus dem die allgemeine
Kunstlehre der Erkenntnis schöpfen muss für ihre Normierungen und prak-
tischen Regelungen der Erkenntnis. Das eine Apriori betrifft die Erkenntnis
als eine gewisse Art von Erlebnissen bzw. von Tätigkeiten, die uns zwar
empirisch gegeben sind als menschliche Tätigkeiten, die aber ihrem rei-
nen Wesen nach, unabhängig vom faktischen Menschen und den faktischen
psychischen Verflechtungen, in die Stufe der idealen Betrachtung erhoben
werden können. Das andere betrifft mögliche Erkenntnisgegenstände. Was
a priori für Gegenstände überhaupt gilt, ist zur Normierung der Erkenntnis
in allen Gebieten berufen.
Aber nun müssen wir uns überzeugen, dass das Apriori nach Begriffen
und apriorischen Gesetzen, das zur Regelung der Erkenntnis dienen kann,
sich viel reicher gliedert, als es im Bisherigen hervorgetreten ist. Zunächst
drängt sich uns schon, nach dem Bisherigen, eine allgemeine Scheidung auf,
welche die offenbar doppelte Weise betrifft, wie Erkenntnis zum Thema der
Betrachtung werden kann. Wir waren von der Idee der Kunst und Kunstlehre
ausgegangen. Da war die Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der Norm und
der normgemäßen praktischen Gestaltung betrachtet, und die theoretische
Erwägung der Erkenntnis war nur als ein Mittel für diese praktische Gestal-
tung gedacht. Selbstverständlich muss, wer irgendetwas praktisch vernünftig
gestalten will, die Eigenart des Zu-Gestaltenden kennenlernen, zuhöchst
ist also die Wissenschaft der betreffenden Gegenstände eine Instanz, von
der man Belehrungen wird einholen müssen. Jede Kunst weist also auf
Wissenschaften zurück, also auch die Erkenntniskunst; sie weist zurück auf
die theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis.

1 Gestrichen Es ist nur eine kleine Wendung, wenn wir sagen, zur Idee einer reinen Wis-

senschaftstheorie oder Wissenschaftslehre gehört mit die gesamte formale Ontologie. Statt
von dem praktischen Gesichtspunkt auszugehen und zunächst die Idee einer universellen
Erkenntniskunst zu bilden, gehen wir dann von der Idee einer Wissenschaft überhaupt aus
und konzipieren weiter die Idee einer Wissenschaft, welche das gesamte zum Wesen einer
Wissenschaft gehörige Apriori nach Begriffen und Gesetzen auseinanderlegt, und das ist die
Wissenschaftslehre, die sich offenbar nach dem wesentlichsten Stück mit der Kunstlehre der
Erkenntnis decken muss, nämlich nach dem zum Wesen der Erkenntnis als solcher und zu
ihrem Bezug auf Gegenständlichkeit gehörigen Apriori.
formale wissenschaftslehre 69

Stellen wir uns nun auf den rein theoretischen Boden, lassen wir den
Gedanken einer Erkenntniskunst zurücktreten, so können wir die Frage
aufwerfen: Welche theoretischen Problemgruppen gehören notwendig zur
Idee der Erkenntnis? Da alle Erkenntnis auf Wissenschaft abzielt und alle
echte und strenge Erkenntnis sich in irgendwelche Wissenschaften einordnet,
so ist mit der gestellten Frage nahe verwandt die Frage: Welche theoretischen
Problemgruppen sind vorgezeichnet durch die Idee der Wissenschaft? Die
Kunstlehre von der Erkenntnis und näher der wissenschaftlichen Erkenntnis
weist uns also zurück auf eine theoretische Wissenschaft von der Erkenntnis
und auf eine theoretische Wissenschaft von Wissenschaft überhaupt, auf eine
Wissenschaftslehre.
Natürlich wird sich damit der Begriff der Logik selbst ins Theoretische
wenden. Von vornherein sei gesagt, dass wir diese Wissenschaftslehre als
apriorische Wissenschaft verstehen wollen. Es handelt sich darum, Erkennt-
nis und Wissenschaft als reine Ideen und in größter Allgemeinheit zu konzi-
pieren und die auf sie bezügliche apriorische Erkenntnis zu gruppieren. Dies
vorausgesetzt, fragen wir nun: Reichen wir mit den beiden bisher aufgezeig-
ten Richtungen möglicher Ideenbildung aus, der Richtung auf das Erkennen
und der Richtung auf die Gegenstände? Genügt es, zu scheiden Wahrheiten,
die für alles Erkennen gelten, ohne die Erkennen überhaupt nicht gedacht
werden kann, und Wahrheiten, die für alle Gegenstände gelten, ohne die
Gegenstände nicht gedacht werden können? Sicherlich, beiderlei Wahrhei-
ten gehören zu einer universalen Wissenschaftslehre. Weil jede Wissenschaft
sich erkennend betätigt und Erkennen seinem Wesen nach einerseits als
Erlebnis, als Bewusstseins- und Tätigkeitsweise, betrachtet werden kann,
andererseits hinsichtlich des in ihr vorgestellten, gedachten, erkannten Ge-
genständlichen. Aber mit dieser schlichten Korrelation von Erkenntnisakt
als Erkenntnisbewusstsein und Erkenntnisgegenstand reichen wir nicht aus.
Zunächst, wir werden scheiden müssen zwischen dem Gegenständlichen
schlechthin, das jeweils als das Gedachte und Erkannte bezeichnet wird, und
dem im Denken gleichsam mit mannigfachen logischen Formen Umspon-
nenen, dem gedachten Gegenständlichen als solchen, dem gedanklichen
Gegenstand, der immer nur ist in einer gewissen gedanklichen, logischen
Gestalt.1 Die Erkenntnistätigkeit, wie mannigfache seelische Tätigkeiten
und Zustände sie auch in sich befassen oder in denen sie sich abspielen
möge, vollendet sich immer wieder in Urteilsakten, die inhaltlich ihren

1 Randbemerkung Dem Vorgestellten als solchen in seinen Gegebenheitsweisen und dem

Gedachten etc.
70 einleitung in die philosophie

Ausdruck finden in Aussagensätzen. Wir urteilen, dass ein Gegenstand so


und so beschaffen ist, in den und den Relationen zu anderen Gegenständen
stehe oder dass, wenn er so beschaffen ist, er in Folge davon auch die und
die neuen Beschaffenheiten haben muss usw. Urteilend stehen uns nicht so
wie in der schlichten Erfahrung, etwa wie im bloßen Wahrnehmen, Gegen-
stände anschaulich als Wirklichkeiten vor dem geistigen Auge.1 Vielmehr ist
der vorgestellte Gegenstand denkmäßig im Urteilen so und so geformt; als
Subjekt- oder Objekt-Gegenstand fungiert er und ist mit dieser funktionalen
Form des Subjekts oder Objektes ausgestattet.
Zum Beispiel, wenn wir denken und aussagen „Caesar überschritt den
Rubikon“ und bei anderer Denkrichtung aussagen „der Rubikon wurde
von Caesar überschritten“, so sind zwar dieselben Gegenstände, derselbe
Sachverhalt beide Male bewusst, aber im Denkbewusstsein doch beide Male
verschieden geformt. Oder ein anderes Beispiel: Urteilen wir, ein Gegen-
stand sei rund oder rot, so ist nicht nur der Gegenstand für uns da und an ihm
das Moment der Rundung oder Röte hervorgehoben, sondern dieses Mo-
ment ist im urteilenden Denken in der prädikativen Form der Eigenschaft
bewusst, bewusst als Eigenschaft des Gegenstandes, über den da prädiziert
wird, und die Eigenschaft ist in dieser Form allgemein begrifflich gefasst
usw. So finden wir im Denken, und zwar als sein Wesenskorrelat nicht bloß
einen vorgestellten Gegenstand, sondern wir finden einen Gegenstand in der
gedanklichen Form als „nominalen“ Gegenstand und weiter in der Subjekts-
oder Objekts-Funktion. Und das nicht allein; wir finden einen mehrgliedrigen
und urteilsmäßig oft sehr reich gestalteten Urteilsgehalt oder, wie wir auch
sagen können, einen logischen Gehalt, und der ist es, der in der Aussage
seinen entsprechenden vielgliedrigen Ausdruck findet.
In der logischen Rede heißt oft „Urteil“ das, was im Urteilen als dem
tätig sich abspielenden urteilenden Bewusstsein, bewusst ist, das urteils-
mäßig vermeinte Was. Aber leider ist da das Wort zweideutig, sofern wir
bald das Urteilserleben selbst, bald sein Was, seinen logischen Gehalt, als
Urteil bezeichnen.2 Das Urteilen ist nur vorübergehendes Erleben bzw. Tun.
„Wiederholen“ wir mehrfach „ein und dasselbe Urteil“, so ist die Wieder-
holung eine Kette von Urteilserlebnissen, deren jedes ein individuell neues
ist; hingegen das, was das Urteil urteilt, sein Urteilsgehalt, kann in ideell
unendlich vielen Urteilsakten identisch dasselbe sein. Wir bezeichnen dieses
1 Randbemerkung Das Weitere schlecht, aber die von hier gehende Vorlesung war mündlich

reicher und besser.


2 Randbemerkung Urteilen = Urteil im noetischen Sinne. Urteil als Satz = Urteil im noema-

tischen Sinne.
formale wissenschaftslehre 71

Was auch als Satz. Der Satz von der Winkelsumme ist ein einziger Satz, wie oft
ich auch urteile und jemand sonst auch urteilt „die Winkelsumme ist gleich
2 R.“ Dabei meinen wir aber natürlich nicht den deutschen grammatischen
Satz, der ein anderer wäre in der Übersetzung ins Französische etc. Sie
verstehen es, wenn ich sage, der Satz von der Winkelsumme ist derselbe,
möge er deutsch oder französisch oder etc. ausgedrückt werden. Ein Satz in
diesem Sinne ist das, worauf es ankommt. Es ist Korrelat des Urteilens.
Jedes Urteil hat als seinen identischen ideellen Inhalt einen Satz, der-
art, dass eine ideelle Unendlichkeit möglicher Urteilsakte ihr identisches
Korrelat hat in dem identischen und numerisch einen Satz; der Satz ist
die identische noematische Bedeutung der grammatischen Aussagen ver-
schiedener Sprachen, der noematische Gehalt aller möglichen Urteilsakte.
Der Satz hat offenbar kein reales, individuelles Dasein wie das jeweilige
Urteilen. Das Urteilen ist gegebenenfalls ein empirisches Faktum, es weist
zurück auf das jeweilige Ich-Subjekt, das faktisch urteilt und ist wie jedes
Ich-Erlebnis ein zeitliches Vorkommnis. Keineswegs aber gilt dasselbe von
dem geurteilten Satz. Dieser hat nur insofern Anteil an der Realität und
Zeitlichkeit, als er je von dem, bald von jenem urteilenden Subjekt und bald
in den oder in jenen Urteilsakten geurteilt sein kann, obschon nicht geurteilt
sein muss. Er ist danach kein Stück des Urteilens, er müsste ja sonst mit
dem Urteilen entstehen und vergehen, anfangen und enden. (Es verhält sich
also hier hinsichtlich der Beziehung von Urteilen und geurteiltem Satz ganz
ebenso, wie hinsichtlich der Beziehung zwischen subjektivem Vorstellen,
etwa Wahrnehmen, Erinnern usw., und dem vorgestellten Gegenstand als
solchen, der auch kein Stück des Vorstellens ist,1 gleichgültig ob er objektiv
existiert oder irriger Schein ist.)
Im2 Urteilen aber haben wir nicht nur einen Gegenstand als vorgestellten
Gegenstand, sondern wir sehen, dass es das Wesen des Urteilens ist, einen
denkmäßig geformten Gegenstand, schließlich einen ganzen Satz bewusst

1 Gestrichen wieder ebenso, wie im Verhältnis des Zählens als des tätigen Bewusstseins, in

dem eine Zahl bewusst wird, und der Zahl selbst, die „zu Bewusstsein kommt“, aber nicht
selbst Stück des Bewusstseins ist, mit ihm anfängt und endet. Allgemein beobachten wir
ferner als zum unaufhebbaren Wesen des Urteilens gehörig, dass ihm in verschiedenem Sinn
ein Gegenständliches als sein identisches Was zugesprochen werden muss, dass Bewusstsein
und bewusste Gegenständlichkeit so aufeinander bezogen sind, dass diese Gegenständlichkeit,
obschon bewusst, doch nicht ein reelles Stück des Bewusstseins ist, vielmehr ein Identisches
in einer ideellen Mannigfaltigkeit wirklicher oder möglicher Bewusstseinsakte sein kann. Jedes
Bewusstsein hat seinen noematischen Gehalt, gewissermaßen seinen vermeinten „Sinn“.
2 Am Rande dieses Absatzes eine Null.
72 einleitung in die philosophie

zu haben, der eine eigenartige Gegenständlichkeit höherer Stufe ist und


dabei eine irreale, die im eigentlichen Sinne keinen Ort und keine Zeit, kein
individuell zeitliches Dasein hat.1
Wir überzeugen uns an konkreten Beispielen, dass vielerlei Satzgestalten,
einfache und zusammengesetzte, möglich sind und dass dabei zu scheiden ist,
was dem Satz bestimmte Beziehung auf eine sachhaltige Gegenstandssphäre
gibt, wie in unseren Fällen „Caesar“, „schreiten“, „Rubikon“, und das, was
zur rein logischen Form gehört, die von jeder Bindung an ein Sachhaltiges
frei ist, wie die Subjektform, Relationsform, Prädikatsform, das „ist“ oder
„ist nicht“. Sagen wir hypothetisch „wenn Caesar nicht den Rubikon über-
schritten hätte, wäre die Weltgeschichte anders gelaufen“, so haben wir darin
ein Beispiel einer aus Sätzen zusammengesetzten Satzgestalt, der hypothe-
tischen, die wieder dem Allgemeinen nach in allen Sachgebieten auftreten
könnte. Und auch hier und eben in jedem Satz finden wir evidenterweise
einen Sachgehalt, eine Materie, die wir ideell variieren können bei Erhaltung
der Satzgestalt. Die reine Satzgestalt ist ein Allgemeines, das nichts mehr

1 Gestrichen Jeder Gegenstand kann dabei als Gegenstand-worüber fungieren für diese auf

ihn im Urteilen eigentümlich bezogenen höheren Gegenständlichkeiten, die da „Sätze“ heißen,


Sätze, die sich als Urteile über ihn auf ihn beziehen. Vertiefen wir uns weiter in das Wesen
dieser Sachlagen, so drängen sich uns noch neue Unterschiede auf. Das Geurteilte, der Satz,
kann in vielen Urteilen geurteilt, urteilsmäßig gemeint sein, und doch braucht er nicht wahrer
Satz zu sein; genau so wie ein erinnerter Vorgang als derselbe von mir und anderen in vielen
Erinnerungen erinnert, also als wahrgenommen gewesen gemeint sein kann, während doch be-
kanntlich Erinnerungstäuschungen möglich sind, das Erinnerte in Wahrheit nicht war oder nicht
so war, wie es erschien. Also stoßen wir da auf den merkwürdigen Unterschied von Urteil oder
Satz überhaupt und wahrem Satz oder Wahrheit. Das Prädikat „wahr“ kommt im eigentlichen
Sinne Sätzen zu. Es ist ein apriorisches Gesetz, dass jeder Satz entweder wahr ist oder unwahr,
falsch. An sich ist eines oder das andere gültig, mögen wir zunächst auch in Zweifel sein, wie es
damit steht. Noch auf Folgendes mache ich aufmerksam: Im Urteilen heißt der Satz, der seinen
logischen Inhalt ausmacht, „geurteilt“. Aber wir unterscheiden das im Urteil Geurteilte, den
Satz, und das, worüber das Urteilen urteilt, oder, was auf dasselbe hinauskommt, das, worüber
wir jeweils urteilen. Also auch sprachlich: Das, was die Aussage aussagt, und das, worüber
die Aussage aussagt, worüber der logische Satz das oder jenes bestimmt, in welchen logischen
Formen auch immer. Zum Beispiel, wenn wir die Worte aussprechen „Caesar überschritt den
Rubikon“, so ist der gesamte Sinn dieser Worte ein Einziges, der logische Satz. Aber wir
haben dabei zwei Gegenstände „über“ die da die Rede ist, über die da geurteilt ist, und nicht
nur das. In einem vorzüglichen Sinne ist Caesar der beurteilte Gegenstand; er ist das logische
Substrat der Prädikation, der Subjektgegenstand, während der Rubikon die Sonderfunktion
des Objektes hat, wobei, wie wir vorhin schon betonten, die beiden Gegenstände als in diesen
unterschiedenen logischen Formen gedachte Bestandstücke der Einheit des Satzes sind. Diese
Funktionsformen bleiben erhalten, wenn wir das Urteil in ein negatives umgewandelt denken:
„Caesar überschritt nicht den Rubikon“. Dabei hat sich der Satz geändert, hat seine Gestalt in
die negative verwandelt, sprachlich ist das Wörtchen „nicht“ eingetreten.
formale wissenschaftslehre 73

von solcher Materie enthält, also dieselbe formale Allgemeinheit hat, von
der wir früher sprachen, diejenige Allgemeinheit, die über alle Bindung an
besondere Urteilsgebiete erhoben ist. Sehr einfach bringt man die reine
Satzgestalt als eine Idee, die eine Unendlichkeit möglicher bestimmter Sätze
in sich fasst, zu klarer Bezeichnung.
Nehmen wir das primitive Beispiel „Sokrates ist weise“, so können wir
die sachhaltigen Worte durch unbestimmt bezeichnende Buchstaben setzen
und erhalten die Form „E ist α“, ebenso können wir aus Beispielen ableiten
die Formen „ein A ist α“, „dieses A ist α“, „ein A ist ein B“, „alle A sind
B“, „einige A sind B“, „wenn A B ist, so ist C D“, „wenn irgendetwas a ist,
so ist es b“ und so ins Unendliche. Das sind lauter Bezeichnungen für reine
Artungen von Sätzen, die nur formal bestimmt gedacht sind, Ideen mögli-
cher Sätze. Und Sätze solcher ungezählter, ja offenbar ins Unendliche zu
erweiternder Gestalten, treten als logische Inhalte des urteilenden Denkens
auf. (Sie sind logische Inhalte, darin liegt überall, dass sie ideale und nicht
reale Inhalte sind, sie haben in der räumlich-zeitlichen Welt keine Stelle,
ungleich dem urteilenden Denken selbst, das jeweils ein zeitlicher Vorgang
ist in der Seele des Urteilenden.)
Zum urteilenden Denken gehört natürlich auch das schließende Den-
ken. Schließen wir daraus, dass eine Zahl mit 5 endet, dass sie durch 5
teilbar sein muss, also in der Form: „Alle mit 5 endenden Zahlen sind durch
5 teilbar, diese gegebene Zahl hier endet mit 5, also ist sie durch 5 teilbar“,
so haben wir offenbar in der Einheit eines Urteils mehrere Urteile verknüpft
in der Verbindungsform des „weil und so“. Die gesamte Satzverknüpfung
ist dann ein zusammengesetzter Satz. Und auch er untersteht einer idealen
Satzform, als einer Gattungsidee zusammengesetzter Sätze.
So eröffnet sich uns ein unendliches Reich von Ideen, von denen wir früher
noch nicht gesprochen hatten, das Reich der idealen Urteilsbedeutungen,
der Sätze, und näher das Reich der Ideen, die wir „ideale“ und „reine“
Satzformen nennen, als eigentümlich gebildete, durch formalisierende Ge-
neralisation erwachsene Gattungsideen zweiter Stufe.
Fügen wir gleich folgende evidente Unterscheidung bei: Im Reich der
Sätze gibt es wahre und falsche. Jeder Urteilende als solcher „meint“, was
er urteilt, und das sagt, er hält es für wahrhaft seiend. Sagt er „so ist es“, so
meint er eben, es sei so, ganz so, wie der bloß Vorstellende und noch nicht
in den Formen des urteilenden Logos Denkende, als Wahrnehmender oder
Erinnernder, nicht nur etwas, einen Gegenstand vorschweben hat, sondern
ihn im Wirklichkeitsbewusstsein bewusst hat. Aber das vermeinte Wirkliche
braucht nicht wahrhaft wirklich zu sein, und der vermeinte Satz braucht nicht
74 einleitung in die philosophie

ein wahrer Satz zu sein. Es ist also eine Auszeichnung eines Satzes, dass er
ein wahrer ist, und eine Auszeichnung gegenüber der Gegenmöglichkeit,
dass er ein unwahrer, ein falscher ist. Im eigentlichen Sinne kommen die
Prädikate „Wahrheit“ und „Falschheit“ Sätzen zu. Ich sage „im eigentli-
chen Sinne“ hier mit besonderer Rücksicht darauf, dass auch das urteilende
Denken, der Urteilsakt, in dem der jeweilige wahre oder falsche Satz der
Urteilsinhalt, das geurteilte bzw. ausgesagte Was ist, selbst als wahr oder
falsch bezeichnet wird. Wir sagen ja alle beispielsweise, dass etwa der Satz
von der Winkelsumme wahr sei, nicht minder aber sagen wir etwa zu dem
Schüler, der ihn urteilend zur Aussage bringt, „Du urteilst wahr“. Es ist
aber der Deutlichkeit wegen gut, den uns sichtlich gewordenen Unterschied
terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Wir sprechen danach besser von
richtigen oder unrichtigen Urteilen gegenüber wahren und falschen Sät-
zen.
Wir haben in dieser Art einige wichtige Unterscheidungen gewonnen, von
denen wir Gebrauch machen können für unsere Absicht, die Hauptgruppe
apriorischer Gesetze zu kennzeichnen, auf die uns der Leitgedanke einer
normativen und praktischen Kunstlehre der Erkenntnis oder auch der in
ihm beschlossene Gedanke einer universellen Wissenschaftstheorie hinweist.
Als Hauptunterschied hatten wir den zwischen Erkennen und Erkanntem.
Und des Näheren hat das denkende Erkennen (das sich ausspricht in einem
einfachen Aussagesatz oder einem denkmäßig verbundenen Ganzen von
Aussagesätzen, wie in einem Schluss, einem Beweis, einer Theorie) Bezie-
hung auf einen Denkinhalt, das Urteilen auf einen Urteilsinhalt, den Satz. In
anderer Weise wieder finden wir beide notwendig bezogen auf irgendwelche
Gegenständlichkeiten.1 Diese Beziehung ist eine apriorische. In sich selbst
ist das Denken ein Bewusstsein und Bewusstsein von einem Satzgedanken,
einem im Denken gesetzten Satz, und durch ihn bezieht sich das Denken
auf Gegenständlichkeiten, die im Satz denkmäßig gesetzte oder Urteilsge-
genstände sind.
1) Wir können nun fürs Erste die Erkenntnistätigkeiten, die theoretischen
Akte mit all den sie fundierenden Erkenntnisfunktionen, zum Thema aprio-
rischer Forschung machen. Wir betrachten dann also in der platonischen
Methode der Ideenschau nicht das Erkennen und Denken als zufälliges
menschlich-empirisches Faktum, sondern eben die Idee, das generelle und
reine Wesen des Erkennens. Wir fragen nach den Wesensgesetzen, die dazu

1 Randbemerkung Beziehung auf Gegenständlichkeit.


formale wissenschaftslehre 75

gehören, also nach all dem, ohne was Denken überhaupt kein Denken und
näher das im spezifischen Sinne erkennende Denken, das richtige Urteilen,
nicht richtig sein könnte. Die Frage ist dann also die nach den notwendi-
gen Strukturen des Denkens, auch nach den möglichen Arten und Formen
desselben, speziell nach den notwendigen Gestalten, die das Denken haben
muss, das Denken als Erleben irgendeines denkenden Subjekts überhaupt,
damit dieses Subjekt das Gedachte als Wahrheit erkennen, der Richtigkeit
seines Denkens zweifellos gewiss sein kann. Zum Wesen des Denkens gehört
zum Beispiel die Spaltung in zwei aufeinander bezogene Gestaltungen: Bei
gleichem logischen Gehalt kann das Denken einsichtig oder blind sein, und
die Einsicht kann Einsicht in einstimmiger Wahrheit oder sich selbst zerstö-
rende Falschheit sein. Wie sieht wesensmäßig das Erleben in dem einen und
anderen Falle aus? Welches sind die Wesensbedingungen der Möglichkeit
der selbstgebenden positiven Evidenz?
2) Sofern zum Wesen des Denkens als ein Apriori gehört, dass es in sich
auf einen Denkinhalt, auf verschieden gebaute Sätze, bezogen sein muss,
weist uns das Apriori des Erkennens und Denkens auf das Apriori der Sätze
hin. Aber dieses lässt sich für sich betrachten, und dem wenden wir uns
jetzt zu. Wir fragen also jetzt nicht, welche Wesensgestaltungen nach reiner
Notwendigkeit oder reiner Möglichkeit dem denkenden und erkennenden
Erleben eigentümlich sind, in welchen Weisen das denkende Subjekt seine
Denkakte vollzieht, wie sie wesensmäßig aussehen, wovon bei ihnen der
Besitz der Wahrheit und der Gründe der Wahrheit abhängt, sondern wir
betrachten ausschließlich Sätze und ihre Wesensgestaltungen.
Hier ergeben sich aber doppelte Gruppen von Ideen und Idealgesetzen.
Wir scheiden zwischen Sätzen überhaupt und wahren bzw. falschen Sätzen.
a) Betrachten wir also Sätze überhaupt, das heißt, ohne nach Wahrheit oder
Falschheit zu fragen. Haben wir es abgesehen auf eine völlig allgemeingültige
Erkenntniskunst und Wissenschaftslehre, deren Normen bzw. Wesensgesetze
in allen Erkenntnissphären, in allen theoretischen Gebieten Geltung haben,
so müssen wir von der sachhaltigen Materie der Sätze, die uns ja an besondere
Erkenntnisgebiete binden würde, abstrahieren, wir müssen also ausschließ-
lich die Ideen herausheben, welche wir „reine Satzformen“ nannten: die
rein gefassten Satzgestalten, in deren Vorstellung die Satzmaterien durch
unbestimmte Variablen ersetzt sind. Zum Beispiel der Satz „Sokrates ist
ein Philosoph“ ergibt uns durch Formalisierung die reine Satzidee „E ist
ein p“. E symbolisiert irgendein individuelles, durch einen Eigennamen zu
nennendes Subjekt, p irgendein Prädikat. In ähnlicher Weise betrachten wir
Formen, wie „Alle S sind p“, „Irgendein S ist p“ oder „Irgendein S ist ein p“,
76 einleitung in die philosophie

„Ein S, das p ist, ist q“, „Wenn etwas S ist, so ist es p“ usw. Wenn wir so, von
beliebigen Beispielen der gewöhnlichen Rede oder der Wissenschaft ausge-
hend, reine Satzformen als Ideen herausheben, so eröffnet sich zunächst eine
fast regellos erscheinende Unendlichkeit von Satzformen.
Näher besehen, heben sich aber Elementar- und Grundtypen heraus,
Grundgestalten, aus denen sich immer neue und neue Gestalten geregelt
ableiten lassen. Eine solche Grundgestalt ist zum Beispiel die des soge-
nannten kategorischen Urteils, z.B „Der Tisch ist ein Hausgerät“, „Der
Tisch ist nicht blau“, symbolisch bezeichnet durch „S ist p“ und „S ist
nicht p“. Es ist eine schlichte Prädikation eines Prädikats p von einem
Subjekt S. Dabei kontrastiert sich sogleich die Form des bejahenden und
des verneinenden kategorischen Urteils. Dabei scheint es, dass man wei-
ter unterscheiden kann. In kategorischer Form kann von einem einzelnen
Gegenstand oder von mehreren Gegenständen oder von allen Gegenstän-
den eines Subjektbegriffes S prädiziert werden. „Sokrates ist ein Mensch“,
„Einige Lebewesen sind Menschen“, „Alle Deutschen sind Menschen“.
Und so unterscheidet die Logik seit Jahrtausenden nicht nur bejahende und
verneinende, sondern auch allgemeine, besondere und einzelne kategorische
Urteile.
Aus primitiven Urteilsformen kann man dann zusammengesetzte bilden,
wie zum Beispiel „Weil S p ist, ist Q r“, und so sich überhaupt die Aufgabe
stellen, systematisch alle primitiven Urteilsformen aufzufinden, alle Weisen
festzustellen, wie primitive Urteile sich innerlich, durch Komplikation und
Modifikation ihres inneren Baus umgestalten, wie einfache Urteile zu Glie-
dern von zusammengesetzten Satzgestalten werden usf. Offenbar spiegeln
sich die Urteilsgestalten und die Gestalten ihrer begrifflichen und sonstigen
Elemente wider im sprachlichen Ausdruck, und so hat dieses Apriori der
Sätze grammatische Bedeutung. Sätze sind Bedeutungen von Aussagen. Es
ist eine höchst wichtige Erkenntnis, dass Aussagebedeutungen unter festen
apriorischen Formen stehen, dass es sozusagen feste Kristallsysteme gibt, an
die der Aufbau von Bedeutungen aus Elementen für alle Ewigkeit gebunden
ist – das aber unter Absehen von Wahrheit und Falschheit, wie ja überall die
Grammatik Fragen der Wahrheit der Aussagen außer Spiel zu lassen hat.
Das Verletzen der apriorischen Gesetze, welche die Bildung der Satzformen
regeln, ergibt keine Irrtümer, sondern ergibt schlechthin Unsinn. In ihnen
liegt nur, dass man aus beliebigen gedanklichen Elementen nicht in beliebiger
Weise einen Gedanken und von dieser Seite her also auch nicht aus beliebig
zusammengegriffenen Worten und Wortgebilden eine einheitliche, durch
Einheit der Bedeutung verbundene Rede herstellen kann. Zum Beispiel aus
formale wissenschaftslehre 77

den gedanklichen Momenten „Haus“, „4“, „und“, „aber“ können wir, ohne
Zuzug weiterer Elemente und ohne uns an feste, vorgezeichnete Formen zu
binden, keinen Sinn zusammenbringen.1, 2
b) Von dieser apriorischen Gesetzmäßigkeit, die wir „Formenlehre der
Sätze“ nennen, scheidet sich nun aber die formale Normenlehre der Sätze.
Sätze sind bald wahr und bald falsch, und auf Wahrheit und Falschheit ist es
jetzt speziell abgesehen.3 Im Allgemeinen kommt für die Entscheidung über
Wahrheit und Falschheit die Materie des jeweiligen Satzes in besonderer
Erwägung. Um die Frage zu beantworten, ob die hellen Polflecke des Mars
Schnee- und Eismassen sind, müssen wir auf die Sachen selbst, die der
Begriff „Mars“, der Begriff „Schnee“ usw. befassen, eingehen, also hier
die entsprechenden Erfahrungsfeststellungen vollziehen.
Es ist nun aber eine höchst merkwürdige und frühe Entdeckung, dass
in gesetzlich umschriebenem Umfang schon die bloß logische Form für
Wahrheit oder Falschheit präjudizieren kann. Dahin gehören die mannig-
fachen Formen des Widerspruchs. Eine der reinen Satzformen ist „S ist p
und zugleich nicht p“. A priori können wir sogleich das Gesetz aussprechen,
das absolut einsichtig ist, dass jeder bestimmte unter diese Form fallende
Satz unbedingt falsch ist. Zum Beispiel „Sokrates ist weise und (natürlich
in derselben Hinsicht) nicht weise“, „Zwei ist gerade und nicht gerade“.4
Ebenso ist die verwandte Satzform „Wenn S p ist, so ist dasselbe S nicht
p“, unbedingt falsch. Andererseits: „Entweder S ist p oder S ist nicht p,
eins von beiden!“ Das ist eine unbedingt generelle Wahrheit und ein Gesetz
der hierhergehörigen Sphäre. Ebenso allgemein: „Wenn U ist, so ist nicht
U nicht“, wo U einen ganz beliebigen, noch so komplexen Satzgedanken
vertritt. Wieder: „Wenn nicht U nicht ist, so ist U“. Doppelte Negation
ist in Sachen der Wahrheit einer Position gleich. Oder auch: „Wenn ein
A in Allgemeinheit b ist, so kann es kein A geben, das nicht b wäre, und
umgekehrt“.
Da haben wir schon ein Beispiel eines Schlusses aufgrund bloßer Form.
Und so gibt es überhaupt vielerlei Schlüsse, die rein durch die Form bestimmt
sind und deren Geltung generell gesichert ist durch rein formale Schlussge-
setze; zum Beispiel jeder hypothetische Zusammenhang der Form „Wenn

1 Randbemerkung Unsinn und Widersinn.


2 Randbemerkung Die logisch-grammatische Formenlehre der Sätze.
3 Randbemerkung Die formale apriorische Disziplin von der Wahrheit und Falschheit der

Sätze.
4 Randbemerkung Analytische Falschheiten, analytische Wahrheiten.
78 einleitung in die philosophie

alle A B sind und alle B C, so sind alle A C“ ist wahr oder jeder Schluss dieser
Schlussform ist, was die schließende Folge anlangt, ein wahrer. Nicht alle
Schlussgesetze sind wie die eben beispielsweise herangezogenen unmittelbar
einsichtig, so wie nicht alle Schlüsse unmittelbar sind. Zum Beispiel: Es ist
im rein formalen Denken einzusehen, dass aus 3 Sätzen der Form „Alle A
sind B“, „Alle B sind C“, „Alle C sind D“, folgt, „Alle A sind D“. Aber
unmittelbar ist das Gesetz nicht, wie wir denn Halt machen und überlegen
müssen. Tun wir es, so werden wir folgende Schritte machen: Aus je zwei
Sätzen „Alle A sind B“, „Alle B sind C“, folgt „Alle A sind C“; gilt
aber zugleich „Alle C sind D“, so gilt „Alle A sind D“. Also: Nehmen
wir alle hypothetischen Vordersätze zusammen, so können wir einsehen:
„Wenn alle A B, alle B C, alle C D, so alle A D“. Der Schlusssatz ist also
erweisbar durch doppelte Anwendung des einen Schlussgesetzes auf neue
beliebige Besonderheiten, ganz ähnlich wie wir in der Algebra aus dem Satz
„a + b > a“ schließen „(a + b + c) > a“. In dieser Weise sind viele, ja genau
besehen, endlos viele formale Schlussgesetze erweisbar aus primitiven.
An solchen Beispielen erfasst man eine generelle Aufgabe: systema-
tisch die Gesamtheit der formalen Gesetze der Wahrheit und Falschheit
zu erforschen, die Gesetze, denen man also ablesen kann, ob irgendein
vorgelegter Satz wahr oder falsch ist oder sein kann rein aufgrund seiner
Satzform und ebenso, ob irgendein vorgelegter Schluss oder Beweis wahr
oder falsch ist rein aufgrund seiner Schlussform oder Beweisform. Hat man
eben einmal beobachtet, dass es Fälle gibt und sehr häufig, wo die bloße
Form als der formale Satztypus die Möglichkeit einer Wahrheit a limine
ausschließt, wie das für alle Klassen von Widersprüchen der Fall ist, oder
auch im Gegenteil von vornherein die Wahrheit verbürgt, so ist es eine
Sache von höchstem Interesse die gesamten hierher gehörigen Gesetze, in
denen alle in der bloß logischen Form beschlossenen Bedingungen möglicher
Wahrheit und Falschheit ausgesprochen sind, zu finden und systematisch
darzustellen.
Zur weiteren Erläuterung mache ich auf Folgendes aufmerksam. Wir
sprachen von formalen Gesetzen, darunter formalen Schlussgesetzen. Nun
ist aber zu beachten: Jeder gültige Schluss, das kann man allgemein zeigen,
birgt in sich ein Schlussgesetz und kann ohne das kein gültiger sein. Jeder
gültige Schluss weist uns also über seine besondere Terminologie hinaus und
hat eine Probe darin, ob er ein durch ein Schlussgesetz geforderter ist. Zum
Beispiel können wir schließen „Ist a lauter als b und b lauter als c, so muss a
lauter als c sein“. Natürlich ist da Rede von gegebenen bestimmten Tönen.
Aber wir sehen zugleich, dass wir die bestimmten Töne durch beliebige
formale wissenschaftslehre 79

Töne ersetzt denken können, und so haben wir das Gesetz „für je 3 Töne
überhaupt gilt, dass …“. Aber dieses Schlussgesetz ist kein formales, eben
darum weil es nicht alle Materie ausschließen kann, sondern die Bindung
an Töne im Ausdruck mit sich führt. Indessen, da das Denken in allen
Erkenntnisgebieten zu logischen Gehalten führt, zu einzelnen Grundsätzen,
Lehrsätzen, Schlüssen, Beweisen, Theorien, die ja nichts anderes als logische
Satzgewebe sind, so ist es eine höchst erleuchtende Sache und wundersame
Erkenntnis, dass all diese Sätze und Satzgebilde, wenn sie sollen Wahrheiten
sein können, unter absolut festen, nie zu verletzenden Formgesetzen stehen.
Mögen die Beweise, die Theorien welchen Gehalt auch immer haben, die
Art, wie sie den Gehalt logisch formen, die Art, wie die Sätze, in welcher
Form, innerlich gebildet und miteinander verflochten sind, steht unter festen
Gesetzen, und diese Gesetze kann man in der beschriebenen Methode der
Formalisierung für alle Ewigkeit herausstellen.
Soll die Lehre von den formalen und durchaus apriorischen Gesetzen
der Wahrheit und Falschheit in wissenschaftlich wertvoller Weise behandelt
werden, so muss offenbar das Vorgehen in der Aufsuchung und Begründung
der Gesetze ein streng systematisches sein. Das aber ist nur möglich, wenn
im Voraus eine strenge systematische Formenlehre der Sätze entworfen ist.
Erst muss man also das apriorische Kristallsystem (wie ich es vorhin im
Gleichnis nannte) der logischen Formen entwerfen; es muss erst erkannt
sein, welches die Elementar- und Grundformen aller Sätze sind, aus welchen
gedanklichen Elementen und aus welchen formbildenden Elementen sich
logische Gedanken zu Einheiten eines Gedankens, eines logischen Sinnes,
verbinden und nach welchen Formen alle Komplexionen und Modifikationen
zu höherstufigen Einheiten erfolgen – all das vor der Frage der Wahrheit und
Falschheit.
Und dann ist die Aufgabe, zunächst für die primitiven Formen die pri-
mitivsten, die ganz unmittelbaren und als das direkt in ihrer absoluten
Gültigkeit einzusehenden Geltungsgesetze aufzustellen. Ein Beispiel ist das
Prinzip vom Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten. Das Prinzip der
doppelten Negation. Ebenso die prinzipiellen Schlussgesetze, wie die der
unmittelbaren Folgerung. Für jede Satzform ist zunächst etwa zu fragen, was
aus einem einzelnen Satz solcher Form als unmittelbares Axiom einzusehen
ist. Haben wir etwa die Form „Es gibt kein A“, so ist es evidentes Gesetz,
dass daraus gesetzlich formal folgt: „Es gibt kein A, b“, daraus also wieder
„Es gibt kein (Ab)c“ usw. Weiter kann man dann zwei Sätze von primitiver
Form nehmen und fragen, ob für ihre Verbindung sich ein Schluss ergibt.
Zum Beispiel nehmen wir zwei Sätze der Form „A ist notwendig B“, „B ist
80 einleitung in die philosophie

notwendig C“, also „A notwendig C“. Oder zwei Sätze der Form „kein A
ist B“, „kein B ist C“, dann ist es falsch, daraus zu schließen, „kein A ist
C“. Man wird dann trachten, ein vollständiges System solcher unmittelbaren
Axiome zu gewinnen, in dem keines eine bloße Folge der übrigen ist, und nun
in systematischer Weise die in dem System beschlossenen Folgesätze abzulei-
ten. Jeder abgeleitete Satz ist dann ein mittelbares und meist kompliziertes
Gesetz für formale Wahrheit und Falschheit.
Diese Systematik des Verfahrens ist heutzutage leicht vorzuzeichnen,
nachdem wir in den längst ausgebildeten mathematischen Disziplinen rein
apriorische Wissenschaften haben und es nun leicht einsehen können, dass
jede apriorische Wissenschaft in dieser Methode systematisch vorzugehen
hat. Sie erinnern sich ja noch an die Schulgeometrie und Schulmathema-
tik: Im Ausgang eine kleine Anzahl von Axiomen und alle weiteren Sätze
werden beständig durch Schlüsse und Beweise erwiesen, unter immer er-
neuter Berufung auf die Axiome oder auf die Lehrsätze, die schon erwiesen
waren.
Auf eine sehr merkwürdige Eigenart der logischen formalen Gesetzes-
lehre sei hingewiesen. Sie stellt prinzipielle Wahrheiten auf, die als formale
Wahrheiten über Wahrheiten Normen abgeben, denen jede erdenkliche
Wahrheit genügen muss. So zum Beispiel das Prinzip vom Widerspruch.
Also statuiert die Logik Wahrheiten, unter denen sie selbst mit ihren eigenen
Wahrheiten steht. Ebenso schließt sie, sie leitet schließend und beweisend
Wahrheiten ab und darunter die formalen Prinzipien von Schlüssen. Sie
statuiert also Schlussgesetze, unter denen sie selbst steht.1
Wir haben in den bisherigen Betrachtungen der Einfachheit halber den
prägnanten Begriff von Urteil und Wahrheit bevorzugt. Urteilen ist Für-
wahr-Halten, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt. Bei jedem können wir
entsprechend fragen, ob, was es urteilt, der Satz, wahr oder falsch ist, und
eines von beiden muss es sein. Im weiteren Sinne gehören unter die Idee
„Urteil“ bzw. „Satz“ auch weiter Denkakte bzw. Satzgedanken. Urteilen ist
für seiend, für gewiss halten; eine nah verwandte Aktart, eine Abwandlung
sozusagen, ist das Für-möglich und Für-wahrscheinlich-Halten.2 Der Wahr-
heit, die auf das gewisse Urteil und den Urteilssatz bezogen ist, reihen sich
an die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit als Prädikate,
logische Gehalte entsprechender Denkakte, logische Gehalte, die da heißen

1 Randbemerkung Rückbeziehung der Logik auf sich selbst.


2 Randbemerkung Urteilsmodalitäten.
formale wissenschaftslehre 81

„Möglichkeitssatz“, „Wahrscheinlichkeitssatz“ usf. Auch alle solche Moda-


lisierungen, auf die ich hier nicht näher eingehe, sind Thema formal-logischer
Erwägungen und systematischer Gesetzesfeststellungen.
Wir haben, der Korrelation von Denkakt und logischem Gehalt folgend,
zwei aufeinander bezogene apriorische Erkenntnisgebiete kennengelernt,
die apriorische Wesenslehre der Denk- und Erkenntnisakte und die aprio-
rische Wesenslehre der Formen logischer Gehalte und der Gesetzesbedin-
gungen ihrer formellen Gültigkeit. Wir hatten aber doch dreierlei in We-
senskorrelation gefunden: Denkakt, logischen Gehalt und als drittes Gegen-
ständlichkeit. Urteile und Sätze beziehen sich auf Gegenstände; in jedem
Satz, sprachlich in jeder Aussage, ist etwas über irgendwelche Gegenstände
ausgesagt, Gegenstände werden als seiend oder soseiend in Gewissheit oder
Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit, Möglichkeit bestimmt.
3) Von Gegenständen überhaupt handelt die Wissenschaft, die wir
„formale Ontologie“ nannten. Und so ist es klar, dass diese große und
an einzelnen Disziplinen reiche Wissenschaft hierhergehört. Sie ordnet sich
einer in apriorisch voll umfassender Weite gefassten Idee der Logik ein. Von
Erkenntnisakten handelt die noetische Logik als Wesenslehre des Erkennens
und speziell des richtigen Erkennens; von den logischen Gehalten mögli-
chen Erkennens die Logik der Sätze, die Logik in einem besonderen Sinne;
von den Gegenständen möglichen Erkennens die Ontologie, die sozusagen
die Logik der Gegenstände überhaupt ist. Dabei brauchten wir nicht zu
sagen „Sätze, die Inhalte möglichen Erkennens sind“, da dergleichen wie
ein Satz a priori nur als Inhalt eines ideal möglichen Erkennens denkbar
ist. Ebenso brauchen wir nicht zu sagen „Gegenstände möglichen Erken-
nens“, da es ein Wesensgesetz ist, dass wie kein Erkennen denkbar ist ohne
Beziehung auf Gegenstände, die da die erkannten sind, so Gegenstände
überhaupt nicht denkbar sind, ohne dass sie in möglichen Erkenntnissen
erkannt wären. Daher gehören also all diese Disziplinen wesensmäßig zu-
sammen. Noetisch sprechen wir von einem richtigen oder unrichtigen Den-
ken, Erkennen, in der Logik der Sätze von wahren oder falschen Sätzen, in
der Logik der Gegenstände von seienden oder nicht-seienden Gegenstän-
den.
Überall halten wir die formale Allgemeinheit inne, worin wir im spe-
zifischen Sinne der „Logik“ das sehen wollen, was den Wesensgesetzen
die wiederholt besprochene formale Universalität der Geltung für jedes
erdenkliche Sachgebiet verleiht. Wir erkennen dabei auch, dass vermöge
der Notwendigkeit der Korrelation eine gewisse Beziehung der drei lo-
gischen Disziplinen hergestellt ist, die übergreifende apriorische Gesetze
82 einleitung in die philosophie

ermöglichen, welche die Sätze der verschiedenen Gebiete miteinander ver-


binden, und speziell sehen wir, dass sich dadurch in weitem Umfang ein
Parallelismus der Wahrheiten derselben herausstellt oder eine evidente Mög-
lichkeit, Gesetze einer Sphäre in die andere, in selbstverständlicher Weise,
umzuwenden. Sagen wir: „Jeder Denkende, der Widersprechendes für wahr
hält, urteilt unrichtig“, so haben wir noetisch gesprochen, eben von unserem
Urteilen, Denken, wobei aber zugleich unter dem Titel „widersprechend“
hingewiesen ist auf eine gewisse formale Struktur von Sätzen. Sagen wir
aber: „Ein an sich widersprechender Satz ist falsch“, so haben wir nicht von
Denkakten, vom Denken irgendjemandes gesprochen, sondern eben von ei-
ner gewissen Form von Sätzen, die, formal sich widersprechend, „kontradik-
torisch“ heißen, und davon, dass solche Sätze nicht wahr sein können.
(Das Verhältnis ist also analog dem zwischen Vorschriften des Rechnens
und arithmetischen Sätzen. Die letzteren sprechen von Eigenschaften, Ver-
bindungen, Verhältnissen von Zahlen. Zum Beispiel (a + b)(a – b) = a2 – b2.
Wir können aber den Satz auch normativ auf das Zählen beziehen und
sagen: Um zuerst die Summe zweier Zahlen zu bilden und dann ihre Dif-
ferenz und statt die so gebildeten Zahlen zu multiplizieren, bilde man die
Differenzquadrate von a und b.)
Ebenso verhält es sich im Vergleich der Logik der Sätze und der formalen
Ontologie. Zum Beispiel jeder Satz der Form „S ist zugleich p und nicht p“
ist falsch. Jetzt ist die Rede von Sätzen. Stattdessen kann ich sagen, in einer
selbstverständlichen Umwendung auf Gegenstände: Kein Gegenstand hat
irgendeine Eigenschaft p und zugleich diese Eigenschaft nicht. Andererseits1
kann man aber nicht ohne weiteres sagen, dass die drei korrelativen logischen
Disziplinen in dieser Weise ohne weiteres Übersetzungen voneinander sind.
Die Analysis mit ihren verschiedenen ontologischen Gebieten (Zahlentheo-
rie, Theorie der Funktionen usw.) ist nicht eine Ausspinnung einer bloßen
Theorie der Sätze nach Wahrheit und Falschheit; und ebenso bietet die We-
senslehre der Erkenntnisakte und die in ihr beschlossene Normenlehre rich-
tigen Erkennens sehr viel mehr als die selbstverständlichen Übertragungen
der Wahrheitssätze und der Sätze über mögliche Gegenstände ins Erkennen.
Die logischen Gehalte des Denkens und die gedachten Gegenstände sind
Themen von Wahrheiten, welche Bedingungen der Möglichkeit richtigen
Denkens enthalten, aber nicht alles enthalten, was sich über Denken und
Erkennen a priori erforschen lässt.

1 Am Rande ein Fragezeichen.


formale wissenschaftslehre 83

Die eben durchgeführten Betrachtungen geben uns ein vollständiges


Schema für die Idee einer formalen Wissenschaftslehre, die mit der Logik
durchaus zusammenfällt. In der Ausführung deckt sich die Idee einer aprio-
rischen Wissenschaft von der Erkenntnis und ihren Korrelaten „Wahrheit“
und „Gegenständlichkeit“ mit der Idee einer Wissenschaft vom Wesen einer
Wissenschaft überhaupt. Wir haben alle eine durch bekannte Wissenschaften
explizierte Vorstellung von Wissenschaft überhaupt. Überlegen wir, was zur
reinen Idee einer Wissenschaft notwendig gehört, ohne was sie nicht gedacht
werden könnte.
1) Wissenschaft weist uns a priori hin auf mögliche Subjekte, als die for-
schenden, begründenden, eventuell nachverstehenden und nachprüfenden
Subjekte.
2) In der Reihe der Erlebnisse, in denen sich die wissenschaftliche Pro-
duktivität bewährt, konstituiert sich notwendig als ideale Leistung der for-
schenden und erzielenden Subjekte ein gewisser logischer Gehalt, ein Wahr-
heitsgehalt. (Dieser hat eine ideale, für jeden Erkennenden in seinem freien
Denken identisch zugängliche Objektivität, die sich sprachlich ausprägt in
Zusammenhängen von Aussagesätzen.) Denken wir an ein Lehrbuch einer
Wissenschaft, so ist allenfalls auch von dem Erfahren, von dem Anstellen
von Beobachtungen und Experimenten, von dem Schließen u. dgl. die Rede,
aber das ist nur ein Mittel, uns geistig zu führen und unseren Blick auf die
theoretischen Ergebnisse zu richten, auf die begründeten Sätze, Sätze über
Einzeltatsachen, Sätze über allgemeine Tatsachenwahrheiten oder ideale
Gesetze, und zwar auf Grundsätze, Schlüsse, Folgesätze, Beweise, Theo-
rien.
3) In all diesen Sätzen und Satzgeweben bestimmt sich das wahrhaft
Seiende des betreffenden wissenschaftlichen Gebietes, also die zu erfor-
schende Gegenstandssphäre. Diese ist das eigentliche Thema, aber als wis-
senschaftliches Thema ist sie das, worüber die theoretischen Sätze etwas
bestimmen. Was Natur ist, was Himmelskörper sind, welche Eigenschaften
ihnen einzeln und nach Gesetzen zukommen, was Zahlen, geometrische
Figuren für Eigenschaften, für gesetzmäßige Verhältnisse zeigen und derglei-
chen, soll bestimmt werden; und so sind Gegenstände als Gegenstände der
Wissenschaft nichts denn als Substrate von logischen Gebilden, von Sätzen
verschiedener Formen, die sie bestimmend begreifen. Im Zusammenhang
des wissenschaftlichen Denkens sind die Gegenstände beständig gar nichts
anderes als die in Denksetzungen immer wieder identifizierten Substrate von
verschieden gebauten Sätzen, welche Identitätssetzungen sich selbst wieder,
ihren logischen Gehalten nach, in Identitätssätzen aussprechen.
84 einleitung in die philosophie

Wir sehen da, dass theoretischer Gegenstand und Theorema, nämlich Satz
und Satzgebilde, in gewisser Weise viel näher stehen als beide zum Denken
stehen, dessen Gehalt sie bilden. Wir müssen doch zwei Grundrichtungen
des Blickes unterscheiden, zwei grundverschiedene Einstellungen.
Die eine ist diejenige, in der wir uns befinden, wenn wir ein Gebiet
theoretisch erforschen, also immerfort, wenn wir eine Wissenschaft treiben.
Was steht uns da beständig vor dem geistigen Auge? Die Sachen selbst und
wie sie sich bestimmen, also die Gegenstände als Gegenstände, nicht die
Erkenntnis, denn auf die Erkenntnis, das erkennende Tun sehen wir gerade
nicht hin, sondern auf Gegenstände der und jener Theoremata, der und jener
Sätze, der und jener Schlüsse und Beweise. Beständig sind also Gegenstände
und Sätze über Gegenstände in unserem Blickfeld, und diese Einstellung
verbindet die ontische und logische Einstellung.
Die1 radikal entgegengesetzte Einstellung ist die reflektive. Sie geht auf
das Erleben, auf das geistige Tun im Denken und seine Unterlage, das
Wahrnehmen, Abstrahieren usw. Während wir hier die vorübergehenden,
in beständigem Fluss befindlichen geistigen Akte und Zustände fixieren,
fixieren wir in der Einstellung der sachwissenschaftlichen Forschung das, was
objektiv als Identisches vor Augen steht, als identischer Gegenstand, iden-
tischer Satz, die ideale, in unzähligen Akten identisch vorfindliche Einheit.
Und so versteht es sich, dass selbst große wissenschaftliche Forscher, sie, die
selbst in ihrem Erkennen die Theorien in genereller Weise zu Werke bringen,
zwar den besten Bescheid geben über die Sachen und über den Begründungs-
bau ihrer Theorien, aber meist die allerverkehrtesten Vorstellungen haben
über ihr geistiges Tun und über das, was von noetischer Seite zum Wesen
der Wissenschaft gehört. Es ist eben zweierlei: wissenschaftliches Denken
und über wissenschaftliches Denken wissenschaftlich denken. Zum Wesen
wissenschaftlichen Denkens gehört, dass man nicht gerade auf das Denken
selbst reflektiert, sondern, rein in ihm lebend, den Blick auf die Gegenstände
und Sätze gerichtet hat. Ein Anderes ist es eben zu reflektieren und in einem
neuen wissenschaftlichen Denken höherer Stufe das frühere naive Denken
zum wissenschaftlichen Thema zu machen.
Nach diesen Klärungen werden wir es als selbstverständlich erwarten müs-
sen, dass die historischen Ausbildungen einer universellen Wissenschafts-
theorie vorwiegend der ontologischen Richtung folgen, dass sie zunächst
in der Einstellung sich halten wird, die in den Wissenschaften die aus-

1 Randbemerkung Vgl. Bl. 81 = S. 100 f. für eine tiefere Ausführung.


formale wissenschaftslehre 85

schließlich oder so gut wie ausschließlich geübte ist. Und das umso mehr,
als auch das praktische methodologische Interesse nicht zu einer allseiti-
gen systematischen Wesenserforschung des Erkennens drängt und sich mit
wenigen allgemeinen Unterscheidungen genugtun kann. Welch ungeheure
Bedeutung, ja alles andere überragende Bedeutung in Richtung auf eine
Philosophie im spezifischen Sinne das Studium des Erkenntnisbewusstseins
und alles Bewusstseins überhaupt besitzt, das zu verstehen sind wir noch
nicht hinreichend vorbereitet.
Endlich sei noch darauf hingewiesen, dass wir die Idee einer formalen und
durchaus apriorischen Wissenschaftslehre oder Logik erwogen haben. Sie
lässt offen wissenschaftstheoretische Studien nicht-formaler Art; wie denn
jede Wissenschaft und vor allem jede in sich geschlossene Wissenschafts-
gruppe ihre methodologische Eigenart hat, die für sich Forschungsthema
werden kann und muss. Wir werden diese Gedanken bald wiederaufnehmen.
Gehen wir nun wieder zurück zu den historischen Anknüpfungen un-
serer ganzen Entwicklung. In einigen, wie ich hoffen darf, völlig scharfen
Linien habe ich Ihnen die Problemhorizonte einer voll umfassenden for-
malen Logik (als formaler Wissenschaftslehre) gezeichnet, derart, dass wir
aus apriorischen Gründen der zweifellosen Allseitigkeit und Vollständigkeit
dieser allgemeinen Problematik gewiss sein können. Es ist oft das Charak-
teristische höchster Reife der Problementwicklung, dass ihr Ergebnis schon
dem Anfänger zugeeignet werden kann; und so ist, was Sie hier gelernt
haben, nicht ein Ideengehalt des Platon oder des Altertums sonst, sondern
ein solcher, der erst in unseren Tagen zur vollendeten Klärung gekommen
und selbst in unserer philosophisch verworrenen Zeit nichts weniger als
Gemeingut ist. Trotzdem haben unsere Rückbeziehung auf das Altertum
und der Ausgang der Erörterung von Platon ihren guten Sinn. Denn es
lag ja von vornherein in der Intention der platonischen methodologischen
Bemühungen und schon in ihrer ersten Anknüpfung an die Praxis der so-
kratischen Maieutik und in ihrer Bekämpfung des sophistischen Subjekti-
vismus, das Wesen und die Möglichkeit einer echten Erkenntnis, einer ech-
ten Wahrheit und eines wahrhaften Seins herauszuarbeiten und in weiterer
Folge die Idee einer echten, objektiv triftigen Wissenschaft herauszuarbei-
ten.
Als Ergebnis dieser Bemühungen gewann Platon, wie Sie sich erinnern,
fürs Erste die fundamentale Entdeckung apriorischer Erkenntnis, und durch
ihn und in seinem Kreis vollzog sich die erste Begründung apriorischer
Wissenschaft in der Geometrie und Arithmetik. Fürs Zweite erreicht er
schon, wie wir sahen, oder berührt er die Idee einer formalen Ontologie.
86 einleitung in die philosophie

Und endlich erfasste er die allgemeine und in ihrer Allgemeinheit eo ipso


formale Idee einer Kunstlehre der Erkenntnis. Und überhaupt muss man
sagen, dass Platon, in seiner Dialektik in alle Korrelationen des Wesens
der Erkenntnis hineinforschend, schon ein deutliches Absehen zeigt auf
eine universelle Wissenschaftstheorie. Darin lagen große Anstöße für die
Zukunft. Und Anstöße lagen in manchen Einzelheiten. Wie zum Beispiel
in der Aussprache des Prinzips vom Widerspruch oder in der immer neu
versuchten und höchst scharfsinnigen Erwägung der Korrelation zwischen
seiender Gegenständlichkeit und Wahrheit. In seinen Schriften kann man es
überhaupt lernen, welch mühselige Geistesarbeit geleistet werden musste,
ehe wirkliche Wissenschaft in den verschiedenen Sphären entworfen werden
konnte, wie erst die allgemeinen Vorbedingungen für ihre Ermöglichung
geschaffen und die allgemeine Idee des Zieles theoretischer Leistung geklärt
und gesichert werden mussten.
Noch keine klare Vorstellung hatte Platon von der gewaltigen Bedeutung
reinlicher Scheidung zwischen Formalem und Materialem und einer rein-
lich gesonderten Entwicklung der Wissenschaften formalen Charakters, wie
unserer formalen Logik und Ontologie, gegenüber den Wissenschaften der
Realität. Denn1 sowie wir zum Beispiel von der physischen Natur sprechen
oder auch vom Menschen und den menschlichen Gemeinschaften, von dem
Seelenleben und dergleichen, haben wir ja die Bindung an die Erfahrungs-
welt; und selbst wenn wir von Seiendem, Realem im allgemeinsten Sinne,
Erkenntnis suchen, haben wir noch keine formale Allgemeinheit, die ja
beispielsweise auch Zahlen und Sätze umspannt, die keine Realitäten sind.
Es ist nicht zu leugnen, dass in diesen Richtungen bei Platon Unsicher-
heiten und Unklarheiten vorlagen. Das hing auch wesentlich mit Schwie-
rigkeiten zusammen, wie sie der historisch ersten Scheidung zwischen Rea-
lem und Idealem begreiflicherweise anhafteten und die Platons Lehre vom
Apriori, wie sehr ihr Kerngehalt zu klarster Evidenz gebracht war, hin-
terher mit trübenden Interpretationen vermengten. Doch verweilen wir
jetzt nicht dabei, um vielmehr auf die großartige Entwicklung der logi-
schen Ansätze des Platon bei seinem großen Schüler Aristoteles2 hinzu-
weisen.
Platon lebt in den geistigen Unendlichkeiten; was die Tiefe und Weite
seiner Ahnungen anlangt, was die Tragweite der geistigen Motive, die seine

1 Randbemerkung Besser darstellen, die Vorlesung war schlecht.


2 Randbemerkung (384/3–322).
formale wissenschaftslehre 87

Seele bedrängen, ist er in der Geschichte ganz unvergleichlich. Aristoteles


lebt im Endlichen; er verfolgt die platonischen Intentionen so weit, dass sein
Blick einen endlichen geistigen Kosmos umschließen und als Beherrscher
durchwandern kann. Aber in seiner Begrenztheit ist Aristoteles ein gewalti-
ger systematischer Philosoph, einer der größten Wissenschaftler, die je gelebt
haben. Durch ihn ist, was uns hier interessiert, mit einem Schlag eine in
gewissem Sinne schon formale Logik der Sätze als Disziplin da, ausgebreitet
in einer Kette wohlgeführter und die weiteren Jahrtausende beherrschender
logischer Theorien. Er ist der Schöpfer der „Syllogistik“. Nicht als ob er
die logischen Probleme in ihrer prinzipiellsten Allgemeinheit erschaut und
nach ihren Quellen gesondert hätte, aber er gibt einen ersten Entwurf einer
Wissenschaft von der Aussage, eine erste formale Gruppierung einfacher
Urteilsarten, insbesondere eine Gruppierung der kategorischen Sätze unter
Rücksicht auf ihre Modalisierungen, und eine erste systematische Theorie
der formalen Gesetze für kategorische Schlüsse, also eine Logik der logischen
Gehalte. Sie heißt bei Aristoteles „Analytik“, wenigstens tragen die sie
behandelnden Schriften die Titel „Erste“ und „Zweite Analytiken“. Dazu
Gutes, obschon von dem jetzigen Aspekt Oberflächliches, hinsichtlich der
noetischen logischen Seite. Möglich wird seine große Leistung durch die
Entdeckung der Methode der Formalisierung, die ganz unscheinbar vorliegt
in seiner Methode der Bezeichnung der Satzmaterien durch Buchstaben. Es
ist die erste Entdeckung einer „algebraischen“ Verallgemeinerung.
Gleichwohl ist er auf halbem Wege stehen geblieben und hat die Idee einer
formalen Logik nicht zu reiner Abhebung und Bestimmung gebracht. Denn
in all seinen logischen Forschungen denkt er immer an Regeln für Erkenntnis
der Realität; was ihn interessiert, ist immerfort „Metaphysik“, allgemeinste
Erkenntnis für Seiendes, für Reales in allgemeinster Allgemeinheit, und
darauf sind auch seine logischen Schriften immer wieder zurückbezogen.
Damit hängt die wenig klare Stellung der Logik im Zusammenhang der
aristotelischen Philosophie zusammen.
Ein großer Fortschritt vollzieht sich in dieser Beziehung durch die Logik
der Stoa, wobei zu bedenken ist, dass erst die stoische Schule (308) das Wort
Logik eingeführt hat. Sie zuerst schied zwischen der Erkenntnistätigkeit mit
ihren Erkenntnisphänomenen und dem logischen Gehalt des Erkennens,
wie auch zwischen der grammatischen Aussage und ihrem logischen Gehalt,
welchen sie als λεκτν bezeichnete. Bei ihr kam eine formale Logik der Sätze
zu einer Reinheit der Ausbildung wie niemals wieder bis zur neuesten Zeit,
wobei freilich die gewonnene Scheidung doch wieder verloren ging und erst
durch den lang unbeachteten Bolzano wieder entdeckt wurde. Etc. Doch
88 einleitung in die philosophie

kehren wir zu Aristoteles zurück, der uns Gelegenheit zu einer wichtigen


ideengeschichtlichen Anknüpfung gibt für einen wichtigen systematischen
Fortschritt unserer eigenen Ideenbewegung.

Aristoteles und die Idee einer realen Ontologie

Wie in Sachen der formalen Logik, so überhaupt empfinden wir bei


Aristoteles einen für den Philosophen sehr schädlichen Mangel an Radi-
kalismus. Wo er prinzipielle Scheidungen, was bei seinem Scharfsinn nicht
selten ist, sieht, so bedingen sie ihn doch nicht weiter; er führt sie nicht
radikal durch, lässt sie nicht überall bestimmend werden. So1,2 sieht er wohl
die Scheidung allgemeinster Begriffe und Wahrheiten in solche, welche allen
Wissenschaften überhaupt gemeinsam sind, und solche, die bloß in begrenz-
ten Wissenschaftsgruppen leitend sind, eine Scheidung an die wir nachher
sogleich anknüpfen werden; aber nicht scheidet er die Idee einer formalen
Ontologie und die einer damit zu kontrastierenden apriorischen Ontologie
der Realität. Und zu all dem zeigt sich seine Beschränkung hier darin, dass
er die tiefste Bedeutung des Apriori, wie sie schon bei Platon vorlag und
nur noch weiterer Reinigung bedurfte, nicht erfasste. Doch seien wir selbst
radikaler als Aristoteles und machen wir uns die im Zusammenhang seiner
logischen Schriften sich immerhin empordrängende, aber nicht klar durch-
geführte Idee einer realen Ontologie zu eigen; bringen wir auch hier den
ideengeschichtlichen Keim in freiem Denken zur Entfaltung. Wir werden
dadurch eine neue Wissenschaft von höchster philosophischer Bedeutung
gewinnen.
Was3 sind das für Begriffe und Wahrheiten, die allen Wissenschaften
gemein sind? Im aristotelischen Organon steht eine Schrift, die da heißt
Kategorien. Sie betrifft solche allgemeinsten Begriffe. Handelte es sich um
formale Begriffe und wäre die Frage nach dem allen Wissenschaften Gemein-
samen in dem Sinne formaler Allgemeinheit verstanden, so hätten wir davon
nicht mehr zu sprechen. Dann ständen wir vor der formalen Leitidee des Ge-
genstandes überhaupt, der formal-ontologisch fundamentalen „Kategorie“

1 Randbemerkung Schlecht.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung Da die Vorlesung nicht als klar gefunden wurde, habe ich die nächsten zwei

Blätter in der neuen Vorlesung ausführlich wiederholt oder vielmehr neu ausgearbeitet. Vgl.
S. 91 ff.
aristoteles und die idee einer realen ontologie 89

(oder, wie ich sage, dem regionalen Begriff), und ihr zugeordnet sind
als Abwandlungen Begriffe wie „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Bezie-
hung“, „Verknüpfung“, „Identität“, „Verschiedenheit“, „Ganzes“, „Teil“,
„Menge“ usw. Das sind die formal-ontologischen Kategorien, das begriffli-
che Material der formalen Mathesis.
Nehmen1 wir aber jetzt als obersten Leitbegriff, als regionalen, die Idee
des realen Gegenstandes, eines Naturgegenstandes im weitesten Sinne. Jetzt
sind Zahlen, Sätze, ideale Gegenstände jeder Art ausgeschlossen; uns leitet
jetzt die Idee eines individuellen räumlich-zeitlichen Seins, und zwar die Idee,
das Apriori. Jedes einzelne reale Sein ist entweder für sich seiendes Ding,
Substanz, und bestimmt sich dann näher durch irgendwelche Gattungs- und
Artbegriffe von Substanzen, zum Beispiel als Stein, als Mensch usw. Das
Ding hat irgendwelche realen Eigenschaften und bestimmt sich durch solche
Eigenschaftsbegriffe (seine Schwere, Durchsichtigkeit). Jedes Reale ist
räumlich und zeitlich bestimmt; es treten also Räumlichkeit und Zeitlichkeit
bestimmende Begriffe auf. Jedes Reale als solches steht im Zusammen-
hang des Wirkens oder Bewirktseins; es treten also notwendig auch kausale
Begriffe ein. Ferner, jedes Ding ist ruhend oder bewegt, es ist qualitativ
verändert oder unverändert.
Doch2 genug dieser Andeutung, sie genügte, um uns ein Merkwürdiges
klarzumachen: Wenn wir überhaupt über Realitäten Aussagen machen sol-
len, müssen sich diese Aussagen in gewissen begrifflichen Typen bewegen; in
allen Aussagen treten notwendig Substanzbegriffe, Akzidenzienbegriffe, Be-
griffe von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen, Kausalbegriffe, Begriffe
des Zustandes oder der Zustandsänderung auf usf. Damit ist also eine ge-
nerelle und apriorische Struktur aller Realitätserkenntnis und Wissenschaft
vorgezeichnet. Diese Begriffstypen sind es, die reale Kategorien heißen; und
die 10 Kategorien des Aristoteles sind ein erster Versuch, sie herauszustellen,
freilich ohne dass er sich auf den Boden des rein platonischen Apriori dabei
gestellt hätte.
Tun wir das, fassen wir also Natur als Idee derart, dass die gegebene
Natur uns als bloßes Exempel dient für eine reine Ideation, für eine Ver-
allgemeinerung, die alles empirisch Zufällige aussondert, dann gewinnen
wir die Idee als einen rein begrifflichen Bestand, ohne den eine Natur, bei
willkürlichster Abwandlung der Beispiele, nicht gedacht werden kann. In

1 Am Rande eine Null.


2 Am Rande eine Null.
90 einleitung in die philosophie

dieser Einstellung ist es klar (dass sich alle erdenkliche wissenschaftliche


Bestimmung der Natur nach jenen rein gefassten Begriffstypen vollzieht, die
„Kategorien der Realität oder Natur“ heißen, und weitergehend ist dann
klar), dass, wie zu allen Ideen, auch zu diesen ideale Gesetze gehören, die
aussagen, was a priori gelten muss, damit eine Natur überhaupt sein, damit
irgendeine Aussage über Natur soll wahr sein können. Neben die formalen
logischen Gesetze, die für Naturgegenstände wie für Gegenstände überhaupt
begrenzend gelten, treten also jetzt sachhaltig bestimmte Gesetze, so wie zu
den formal-logischen Kategorien als ihre sachhaltigen Besonderungen die
realen Kategorien treten; die formal-logischen Kategorien selbst haben einen
gewissen allerallgemeinsten und doch sachhaltigen Gehalt angenommen,
den das Wort „Natur“, „Realität“ ausdrückt.
Was1 sind das nun für apriorische Gesetze, die zu den realen Katego-
rien gehören? Wir sind jetzt in der Lage, mathematischen Disziplinen ihre
natürliche Stelle zu geben, die von der formalen Ontologie ausgeschlossen
geblieben waren. In der Tat, da Naturrealität nicht denkbar ist ohne Modi
der Zeit und des Raumes, ohne Dauer, ohne zeitliche Lage, ohne räumliche
Gestalt und Lage, ohne Möglichkeit der Bewegung, so gehören in die Onto-
logie der Naturrealitäten hinein: die rein mathematische Zeitlehre, die reine
Geometrie, die Lehre von den möglichen Bewegungen, die mathematische
Phoronomie, die gewöhnlich mit im Rahmen der Mechanik behandelt wird.
Ferner zur Idee der Natur gehört die Kategorie der Kausalität und das führt
auf die Idee der Kraft; wir merken schon, dass eine rein mathematische
Mechanik hierhergehören muss.
Hätten wir eine voll umgrenzte und nach allen kategorialen Richtun-
gen in Disziplinen auseinandergelegte apriorische Ontologie der Natur, so
umspannte sie nur die sämtlichen Normen möglicher Natur überhaupt,
also die Normen, gegen die keine naturwissenschaftliche Aussage verstoßen
darf, ohne den sachhaltigen und ideal festen Sinn der Natur überhaupt zu
verletzen, ohne also real Widersinniges zu behaupten. Eine zureichende
Erkenntnis der faktischen Natur wäre damit natürlich nicht gegeben; von der
faktischen Natur erführen wir dadurch nur, was sie mit jeder erdenklichen
Natur gemein hat. Die gegebene Natur mit den gegebenen Dingen, den
faktischen Bewegungen und Veränderungen, den faktischen Naturkräften
und Naturgesetzen verwirklicht einen möglichen Fall von unendlich vielen
anderen möglichen Fällen. In den Naturwissenschaften wollen wir erfahren,

1 Am Rande eine Null.


aristoteles und die idee einer realen ontologie 91

was gerade für die wirkliche Natur, mit gerade diesen Dingen Wahrheit ist.
Vorauszusehen ist aber, dass die Disziplinen einer Ontologie der Natur von
größter methodologischer Bedeutung für die Begründung und Ausführung
von faktischen Naturwissenschaften sein müssen, ja in gewisser Weise für sie
die Rolle einer „Logik“, einer Logik der Natur, spielen. Doch das bedarf
der genaueren Bestimmung und Ergänzung.
Zu meinem Bedauern ist mir aus dem Hörerkreis die Mitteilung zuge-
gangen, dass meine letzte Vorlesung an leichter Verständlichkeit zu wün-
schen übrig ließ. Ich knüpfte an die aristotelische Schrift Kategorien an,
die sich unter den Schriften des sogenannten Organon in der uns über-
lieferten Sammlung der aristotelischen Werke findet. So bezeichnet man
nämlich traditionell den Komplex der logischen Schriften des Aristoteles.
Zugleich knüpfte ich an eine Scheidung an, die Aristoteles gelegentlich
macht zwischen Begriffen und Wahrheiten von prinzipieller Allgemeinheit,
die allen Wissenschaften überhaupt gemeinsam sind, und solchen, die bloß
für einzelne Wissenschaften oder Wissenschaftsgruppen als die prinzipiellen
Begriffe und Wahrheiten fungieren.
Wir erwägen nun den Sinn dieser Rede von allgemeinsten Begriffen und
Wahrheiten. Nehmen wir diese größte Allgemeinheit beim Wort, handelt
es sich in der Tat um Begriffe und Sätze, die in allen möglichen Erkennt-
nisgebieten ihre notwendige Anwendbarkeit haben, dann bestimmen sie
sich als die formal-ontologischen Grundbegriffe und Grundwahrheiten. An
der Spitze steht dann der Begriff „Gegenstand überhaupt“ unter den na-
türlich alle erdenklichen Gegenstände aller erdenklichen Sachgebiete fal-
len. Ihm reihen sich gewissermaßen als seine prädikativen Abwandlun-
gen andere Begriffe von gleicher formaler und prinzipieller Allgemein-
heit an: „Eigenschaft“, „Beschaffenheit“, „Beziehung“, „Verknüpfung“,
„Identität“, „Verschiedenheit“, „Ganzes“, „Teil“, „Menge“, „Anzahl“,
„Ordnung“, „Ordinalzahl“, „Kombination“, „Permutation“ usf.
Es kann eben a priori von jedem Gegenstand irgendetwas prädiziert
werden, und kein Gegenstand ist denkbar, in dessen wahren Prädikationen
nicht solche Begriffe auftreten könnten. Der vorzüglichen Stellung, die dem
Begriff des Gegenstandes, als dem Substrat möglicher Prädikationen, somit
als dem Beziehungspunkt für all diese angereihten Begriffe eignet, tragen
wir Rechnung durch das Kunstwort „formale Region“, und diese Begriffe
selbst, also „Eigenschaft“, „Beziehung“, „Verbindung“ usf. nennen wir „die
formalen Kategorien der Region“. Beide zusammen bezeichnen wir als
„die formal-ontologischen Grundbegriffe“. In den Disziplinen der formalen
Ontologie treten diese Begriffe überall und zuoberst in den unmittelbaren
92 einleitung in die philosophie

Axiomen auf; aus solchen Begriffen sind die Grundsätze ausschließlich ge-
bildet. So ist in den mengentheoretischen Sätzen der bestimmende Grund-
begriff „Menge“, in den Anzahlensätzen „Anzahl“, und so überall.
Die Universalität der formalen Begriffe umschließt ebenso wohl Reales
wie Ideales; ob wir Dinge ins Auge fassen oder Ideen, Sätze, Zahlen, ideale
geometrische Gebilde – sie haben Eigenschaften, stehen in Relationen, man
kann Mengen aus ihnen bilden, Ordnungen, Kombinationen, man kann
von Ganzen und Teilen sprechen. Statt nun die höchste Allgemeinheit im
Sinne der formalen im Auge zu haben, anstatt somit jede sachhaltige Be-
stimmung aus dem Inhalt unserer Begriffe ganz auszuschließen, können
wir eine höchste Allgemeinheit anderen Sinnes bevorzugen, nämlich eine
höchste sachhaltige Allgemeinheit. Also statt verallgemeinernd von einem
konkreten Gegenstand aufzusteigen zur formal umfassendsten Allgemein-
heit des leeren Etwas überhaupt oder Gegenstand, steigen wir auf zu der
dem konkreten Beispiel entsprechenden höchsten Gattung, die immer noch
einen Sachgehalt übrigbehält.1
Also zum Beispiel ausgehend von einem beliebigen Naturding, versuchen
wir uns verallgemeinernd zu erheben zur höchsten Allgemeinheit des Na-
turgegenstandes, des Realen überhaupt. Wir gehen dabei den Weg, der zur
reinen Idee führt, wir befolgen die Methode der Ideenschau, der Ideation,
nicht der empirischen Verallgemeinerung. Wir fragen nicht, was allen Dingen
im Reich der irdischen oder auch astronomischen Erfahrung gemeinsam ist,
wir suchen nicht nach Feststellung etwa physikalischer Eigenschaften, die
vermutlich für alle physischen Körper universal gelten, und dann etwa in
gleichem Sinne reale Eigenschaften, die für alle psychophysischen Dinge
und für alle Dinge dieser Welt schlechthin gültige sind. Vielmehr: Wir suchen
in freier Abwandlung exemplarisch vorliegender Dinge durch eine umden-
kende Phantasie dasjenige, ohne was ein Ding schlechthin nicht Ding sein
könnte, das heißt einen konkreten allgemeinsten Wesensbestand erhalten
könnte, einen Wesensbestand, der durch alle noch so willkürlichen ideellen
Umwandlungen hindurch notwendig verbleiben muss, solange überhaupt
noch ein sachhaltig Gemeinsames in unseren Händen verbleibt.2
Wir sehen zum Beispiel das Ding rot; wir können es umdenken, völlig
anschaulich, so dass es blau oder grün würde, und jede Farbe ist dabei

1 Randbemerkung Formalisierende und generalisierende Verallgemeinerung.


2 Randbemerkung Vgl. Bl. 91 = S. 111, wo die Idee einer bloßen Natur zuerst eingeführt
wird. Korrekt müsste der freien Variation ein Weltobjekt überhaupt, konkret, zugrunde gelegt
werden. Dann entfiele die Psychologie und Psycho-Physik und hier mit Recht.
aristoteles und die idee einer realen ontologie 93

variabel. Ebenso die faktische räumliche Form ist wandelbar, wir könnten
die räumliche Form anders denken. Wir finden, dass alle Körper schwer sind;
sie könnten ebenso gut und nach unzähligen gewandelten Gesetzen statt zu
fallen in die Höhe steigen. Ist nun bei solchen ideellen Wandlungen nichts
Gemeinsames übrig, was notwendig durch sie und durch alle erdenklichen
Wandlungen als Gemeinsames hindurchgeht? Die Antwort lautet: Alle fak-
tischen Bestimmungen des Exempels sind zufällig, sofern sie anders gedacht
werden könnten, und die anders gedachten sind wieder zufällig. Aber ein
notwendiger Wesensbestand verbindet all diese zufälligen, und er macht den
reinen Wesensgehalt der Idee eines Naturobjektes aus. Diese Idee ist die
reine und oberste Gattungsidee, welche eine Regel der Notwendigkeit für
alles mögliche, unter sie fallende empirisch dingliche Dasein in sich schließt.1
Während wir in unserer ersten Betrachtung, also in der formalen höchsten
Allgemeinheit, auf den formalen Begriff des Gegenstandes überhaupt als
des leeren Etwas, das als Subjekt von Prädikaten zu denken ist, stießen,
auf die formale Region, wie wir sagten, stoßen wir hier auf den Begriff
des realen Dinges als des Subjekts möglicher realer Prädikate. Und nun
überzeugten wir uns, dass dieser Begriff in der Tat sehr sachhaltig ist und
auseinandergeht in eine Reihe von sachhaltigen Begriffen, die sämtlich als
notwendige Zugehörigkeiten zur Idee „Naturobjekt“ oder „Ding“ (oder ari-
stotelisch gesprochen „Substanz“) sämtlich apriorische Begriffe sind. In der
Tat, schon der Begriff der realen Eigenschaft hat trotz seiner höchsten All-
gemeinheit eine Gebundenheit, die uns ja an Individuelles bindet, also ideal-
allgemeine Gegenstände ausschließt. Noch sichtlicher wird das, wenn wir
erwägen, dass a priori zu jedem Realen – und nur zu Realem – räumliche und

1 Eingelegtes Blatt Ist die Behandlung der Idee einer realen Ontologie an dieser Stelle nicht

dupliziert? Oder ergibt die Idee freier Variation eines realen Konkreten der Welt eo ipso das
Allgemeine „bloße Natur“ als den invariablen Kern der Welt? Variiere ich einen „Menschen“,
so ergibt die Variation der Leiblichkeit, dass die Leiblichkeit eben aufhört, organische Kör-
perlichkeit und damit Leiblichkeit zu sein, die ein Seelisches zu indizieren vermag. In der
Welt wäre kein Mensch mehr. Ebenso verschwände alle inkorporierte Geistigkeit: das „Buch“,
die Symphonie etc. Aber da könnte man vielleicht sagen: Die Wertprädikate wechseln, aber
irgendwelche sind da. Aber sind sie objektiv da? Für „jedermann“? Wir können jedenfalls durch
freie Variation des Einzeldinges der Welt ein invariantes Wesen finden für ein Reales überhaupt.
Und hätten wir dann nicht ein Invariantes einer Welt überhaupt, den einzigen Bestand, der in
Wesensallgemeinheit einer Welt überhaupt zukommen muss? Hier ist freilich glattes Eis. Ob
wirklich eine Welt ohne reale Subjektivität denkbar ist, eine Welt unendlich genommen nach
Raum und Zeit? Aber vielleicht könnte man eine vorsichtige Begrenzung beifügen. Es wäre
aber allgemein zu überlegen, wie die beste systematische Ordnung der Behandlung ist.
94 einleitung in die philosophie

zeitliche Bestimmtheit gehört, weiter die Bestimmungen der Kausalität, also


Begriffe wie Ursache und Wirkung, mit zugehörigen Begriffen wie Kraft,
Zustand, ferner Bewegung und Ruhe, Veränderung und Unveränderung.
Das genügte uns also zur Erkenntnis der Parallele, die zwischen der
formal-höchsten Idee „Gegenstand“ und der höchsten sachhaltigen Gattung
für alles natürliche Dasein, also der Idee des Dinges besteht. Und wie wir
dort von der formalen Region sprachen, müssen wir hier von der realen Re-
gion sprechen. Denn wie dort der Begriff „Gegenstand“ sich in einer Reihe
von formalen Kategorien „Eigenschaft“, „Beziehung“, „Verknüpfung“ usf.
abwandelte, so legt sich hier der oberste Begriff „Ding“ auseinander in
einer Reihe ihn a priori bestimmender Begriffe: „reale Eigenschaft“, „reale
Relation“ usf., wobei uns eigentümliche und besonders bedeutsame Begriffe
wie der Raum- und Zeitbegriff, der Kraftbegriff, der Begriff von Ursache und
Wirkung, realer Veränderung und andere in die Augen springen.
Sowie über Reales, also über Natur Aussagen gemacht werden, spielen
solche Begriffe eine notwendige Rolle, eine notwendige, da sie ja das heraus-
stellen, was zum unaufhebbaren Wesensbestand eines Naturobjektes als sol-
chen, also jeder möglichen Natur überhaupt gehört. Genau besehen, stellen
sie Begriffstypen dar für alle bestimmten Realitätsbegriffe, die Wissenschaft
und Leben benützen. So sind „schwer“, „elastisch“, „doppelt brechend“,
„kristallinisch“ zum Beispiel in sich als reale Eigenschaften gekennzeichnet,
sie weisen in sich auf kausale Zusammenhänge, auf Raum, Zeit, Bewegung
hin, weshalb alle solchen Begriffe, die das sachhaltig Typische ausdrücken,
jederzeit herangezogen und ausgesprochen werden können.
Eine große Erkenntnis ist damit also gewonnen. Eine apriorische, un-
bedingt notwendige Sinnesstruktur aller Realität und damit für alle Natur-
wissenschaft ist damit aufgewiesen, aufgewiesen in den realen Kategorien.
Wir verstehen damit zugleich, welch großer Anhieb in der aristotelischen
Kategorienlehre geleistet war. Denn was er, Aristoteles, wenn auch ohne
Bewusstsein der Tragweite und des eigentlichen apriorischen Sinnes, heraus-
stellt, sind Kategorien der Realität. Da er nicht die tiefste Bedeutung des
platonischen Apriori verstanden hat, befreit er sich nicht von der Bindung
der gegebenen Dingwelt, er erhebt sich nicht zum reinen Eidos einer Natur
überhaupt als einer ideal-möglichen und zur Erkenntnis, dass jede idealiter
erdenkliche Natur einen typischen begrifflichen Bestand als vorzeichnende
Wesensform hat und dass die realen Kategorien diesen bestimmen.
Es wird freilich auch Ihnen zunächst schwer sein, diesen Gedanken fest-
zuhalten, auf den es hier ankommt: dass jedes wirkliche Ding und damit
auch die gesamte faktische Natur in der Freiheit umbildender Phantasie,
aristoteles und die idee einer realen ontologie 95

in der Freiheit des Umdenkens, nach unendlich vielen Möglichkeiten um-


gedacht werden kann und dass im Durchlaufen dieser freien Möglichkei-
ten ein apriorischer Wesensbestand, eine Idee „Natur“ und „Naturobjekt“
herausgeschaut werden kann, dessen typische Struktur sich in kategorialen
Begriffen universeller Anwendbarkeit ausprägt.
Und nun bedarf es noch eines weiteren Schrittes. So wie in den formal-
ontologischen Begriffen apriorische Gesetzmäßigkeiten gründen, ja eine
Reihe apriorischer Disziplinen, wie die der formalen Analysis, so gründen in
den realen Kategorien (zugerechnet der Region „Ding“ selbst) apriorische
Wahrheiten und Disziplinen. Es sind wieder mathematische Disziplinen. In
der Tat, jetzt haben wir den natürlichen Standort derjenigen mathemati-
schen Disziplinen gewonnen, die wir früher ausdrücklich aus der formalen
Ontologie ausgeschlossen hatten. Zu den Kategorien der Realität, ohne die
Realität also nicht denkbar ist, gehören ja Raum, Zeit, Bewegung, Kraft. Also
die reine Geometrie, die reine Zeit- und Bewegungslehre („Phoronomie“
oder Kinematik) und die reine mathematische Mechanik sind kategoriale
Disziplinen.
Führen wir nun den Terminus „reale Ontologie“ ein. Die gesamte Wis-
senschaft von dem Apriori der Realität überhaupt, also den Gesamtinbegriff
der apriorischen Wahrheiten umspannend, die in dem regionalen Leitbe-
griff „Realität“ und den realen Kategorien gründen, nennen wir „reale
Ontologie“. Sie ist die apriorische Wissenschaft von der Natur. (Wir sehen
voraus, dass sie sich noch spalten muss, als apriorische Wissenschaft von der
physischen Natur und von der psychophysischen und speziell psychischen
Natur.)1
Das Wort „Naturwissenschaft“ ist ausschließlich für die Erfahrungswis-
senschaften von der Natur gebräuchlich, und wer von apriorischer Naturwis-
senschaft spricht, käme leicht in den Verdacht, er maße sich an, auf aprio-
rischem Wege statt auf dem Wege der Erfahrung und nach Methoden der
Erfahrung physikalische, astronomische, biologische Erkenntnis gewinnen
zu wollen, Erkenntnis für das irdische Tier- und Menschenleben.2 Wir aber
sind uns darüber sogleich klar, dass dergleichen verkehrt wäre und dass
die apriorische Ontologie der Natur nur die allerdings unentbehrliche und
höchst wichtige Funktion haben kann, jede empirische Naturwissenschaft

1 Randbemerkung Wie kommt diese Scheidung hin? Sie ergibt sich nicht.
2 Randbemerkung Reale Ontologie als apriorische Wissenschaft gegenüber empirischer Na-
turwissenschaft.
96 einleitung in die philosophie

durch all die Gesetzeserkenntnisse zu regeln, die, als zum unaufhebbaren


Wesen einer möglichen Natur überhaupt gehörig, nicht verletzt werden
dürfen ohne Widersinn. Wir scheiden hierbei formalen Widersinn und realen
Widersinn. Wie die Form der Gegenständlichkeit überhaupt eine notwendige
Sinnesstruktur ist, deren Verletzung formaler Widersinn heißt, so ist die
Idee der Natur gewissermaßen die notwendige Form einer Natur als Natur,
eine notwendige Sinnesstruktur für alles, was im Denken prätendiert, als
Natur und Bestimmung der Natur zu gelten. Ihre Verletzung heißt realer
Widersinn.
Eine Erkenntnis der faktischen Natur mit den faktischen Dingen und fak-
tischen Naturgesetzen ist durch eine apriorische Ontologie selbstverständlich
nicht gegeben. Nicht nur jedes vor uns stehende Ding, jede faktisch auf Erden
vorfindliche Spezies von Tieren könnte anders gedacht werden und könnte
anders sein. Es wären doch wirkliche Löwen mit zwei Schwänzen ebenso gut
denkbar als mit einem Schwanz. Aber auch die Naturgesetze der Physik sind
bloße Fakta, die anders sein könnten. Die allbekannten Fallgesetze sind keine
apriorischen Notwendigkeiten; statt der Zunahme der Beschleunigung nach
der zweiten Potenz der Entfernung hätte die dritte Potenz stehen können,
denkbar wäre das. Dass das Gravitationsgesetz lautet p = ρmm’/r2, ist eine
tatsächliche Wahrheit. Die Astronomie hat schon vor den neuen Relativitäts-
theorien daran gedacht, andere Kraftformen und Gesetzesformen hier für
möglich zu halten und hat die tatsächlichen Beobachtungen als mit anderen
Gesetzen verträglich durch Berechnung erkannt.
So ist die Natur mit all ihren Dingen und Gesetzen einfach eine Tatsache,
und darin liegt: eine tatsächlich verwirklichte Möglichkeit gegen eine Unend-
lichkeit von anderen Möglichkeiten. Diese Unendlichkeit von Möglichkeiten
aber steht selbst unter Gesetzen, eben Gesetzen der a priori denkbaren
Möglichkeiten, Gesetzen, die die allgemeine Idee „Natur“ mit ihren Ka-
tegorien jeder erdenklichen, jeder sinnvoll möglichen Natur vorschreibt.
In der Naturwissenschaft wollen wir nun feststellen, was gerade für diese
wirkliche Natur, in der wir leben und wirken, wirklich als Faktum besteht.
Da aber zeigt es sich und wird es bei tieferem Eindringen begreiflich, dass
es nicht gut getan wäre, den Hinblick auf die andersartigen Möglichkeiten
und das Eintreten in ihre Unendlichkeiten abzuwehren mit der Bemerkung,
das seien doch bloße Einbildungen. Gewiss, eine einzelne dieser Möglich-
keiten ernst zu nehmen, wäre verkehrt. Aber eine ungeheuere methodische
Bedeutung hat die Erkenntnis des diese Unendlichkeiten beherrschenden
und überschaubaren Systems, die Erkenntnis der Sinnesstruktur einer Natur
überhaupt, expliziert in den zugehörigen Disziplinen der reinen Geometrie,
aristoteles und die idee einer realen ontologie 97

reinen Mathematik und so allen Disziplinen der realen Ontologie. Das in


diesen Wissenschaften sich vollziehende Studium der a priori möglichen
Naturen überhaupt hat, wiederhole ich, eine ungeheuere methodische Be-
deutung für die Erkenntnis des einen Falles, der uns interessiert, des der
wirklichen Natur. Es gilt hier eben genau das Parallele wie für die formale
Ontologie mit den formal mathematischen Disziplinen, die ihr zugehören.
So wie diese die Rolle einer Logik möglicher Gegenständlichkeit überhaupt
spielen, so die realen ontologischen Disziplinen, die einer Logik der Natur.
Doch da weist uns gerade diese Parallele auf eine evident notwendige Er-
weiterung, eben auf eine Erweiterung der Idee einer Logik der Natur oder
einer Wissenschaftslehre vom Wesen einer Naturwissenschaft als solcher.
Der notwendige Grund der Erweiterung muss für jeden philosophisch
tiefer Denkenden unter Ihnen von vornherein auf der Hand liegen, er
liegt nämlich in der a priori notwendigen Wechselbeziehung zwischen Er-
kenntnisakt, logischem Gehalt und logisch bestimmter Gegenständlichkeit.
Wir sprechen dabei von einer doppelten Einstellung, der noetischen und
noematischen. Die noetische, die auf das Subjekt und seine Erlebnisse, ist
reflektiv, die noematische ist die natürliche, die gerade Blickrichtung, in de-
ren Blickfeld die Gegenstände des Erkennens und die logischen Fixierungen
derselben, die logischen Gehalte, fallen.
Als wir uns in früheren Vorlesungen in der Höhe, der allerhöchsten
Höhe formaler Allgemeinheit bewegten und die Idee einer Logik oder
Wissenschaftslehre als formaler erwogen, als einer Wissenschaft also, die das
ideale Wesen einer Wissenschaft überhaupt zu bestimmen sucht – unan-
gesehen der sachhaltigen Besonderheit, die Wissenschaften nach sachhaltig
bestimmten Gebieten unterscheidet –, da spaltete sich uns, jener Korrelation
entsprechend, die Idee einer formalen Wissenschaftslehre oder formalen
Logik in drei Richtungen:
1) Wissenschaft wird gewonnen im Erkennen, in einem gewissen Denken,
und genau besehen, spielen im wissenschaftlichen Erkennen alle Gestaltun-
gen des Denkens, auch die des unrichtigen, und alle fundierenden Akte des
Wahrnehmens, des Erinnerns, auch des Phantasierens, Vorstellungsakte je-
der Grundart ihre Rolle. Eine universelle Wissenschaft vom Wesen der Wis-
senschaft überhaupt muss zurückführen auf eine universelle Wissenschaft
vom Wesen des Erkennens überhaupt nach allen a priori in dieser Idee be-
schlossenen idealen Sondergestaltungen. Worüber immer gedacht, welches
Gegenstandsgebiet immer erkannt wird, es wird bejaht oder verneint, es wird
für gewiss gehalten, vermutet, für möglich gehalten, bezweifelt, gefragt usf.,
es wird von unklarem Vorstellen übergegangen zum klaren, vom unklaren
98 einleitung in die philosophie

Ansatz zum Einsicht verleihenden Beweisen; und all das bezeichnet allge-
meine Typen des Erkennens, die sich wesensmäßig in idealer Allgemeinheit
behandeln lassen. Darüber werden wir noch hören. Wenden wir uns der
noematischen Richtung zu.
2) Alles Erkennen hat seine logischen Gehalte; also die formale Logik im
prägnanten Sinne der apriorischen Disziplinen von den Sätzen, Beweisen,
Schlüssen, Theorien bildet einen selbstverständlichen Zweig der universellen
formalen Wissenschaftslehre.
3) Und als drittes hatten wir die in derselben formalen Allgemeinheit
sich bewegende Wissenschaft von den Gegenständen überhaupt, die formale
Ontologie.
Also zusammengenommen eine formale noetische Logik und eine for-
male noematische Logik und diese gegliedert in eine formale Satzlogik und
eine formale Logik der Gegenstände.
Ersetzen wir nun aber die formale Region durch die reale Region, die
Region „Natur“ im allgemeinsten Sinne, dann beschränken sich die Er-
kenntnisakte auf solche, die ausschließlich Natur erkennen; die Sätze werden
zu Sätzen über Natur, die Gegenstände werden zu Dingen. Stellen wir die
Aufgabe der Wissenschaftstheorie also beschränkter, beschränkt nämlich
darauf, die Idee einer Wissenschaft von einer möglichen Natur überhaupt zu
erforschen, also die Wesensallgemeinheiten theoretisch zu erforschen, die
zu jeder möglichen Naturwissenschaft gehören muss, so gewinnen wir einen
Bestand apriorischer Erkenntnis, ja ganze Disziplinen. Natürlich gehen auch
alle formal-ontologischen Disziplinen jeder bestimmten Naturwissenschaft,
wie jeder Wissenschaft sonst vorher. Aber sehen wir von diesen Disziplinen
ab, so gewinnen wir ein dreifaches sachhaltiges Apriori von solcher höchsten
realen Allgemeinheit.
Der noetischen formalen Logik entspricht dann eine noetische reale Lo-
gik, eine spezifische Logik oder allgemeinste Wesenslehre des Naturerken-
nens als solchen. In der Gegenrichtung entspricht der formalen noematischen
Logik eine reale, und zwar wieder doppelt gegliedert. Eine apriorische Diszi-
plin vom Spezifischen der Sätze und Wahrheiten über die Natur, der Schlüsse,
Beweise, Theorien über die Natur. Die theoretische Struktur einer Natur-
wissenschaft ist ja notwendig eine andere als die theoretische Struktur etwa
einer reinen Mathematik, wie dann weiter im Besonderen die theoretische
Struktur einer Körperwissenschaft eine wesentlich andere ist als die einer
Geisteswissenschaft, womit zugleich hingedeutet ist darauf, dass sich eine
apriorische reale Wissenschaftslehre besondert in eine Wissenschaftslehre
der Naturwissenschaften im engeren Sinne und eine Wissenschaftslehre der
aristoteles und die idee einer realen ontologie 99

Geisteswissenschaften. Doch haben wir noch als drittes Parallelglied, näm-


lich als Parallele zur formalen Logik der Gegenstände, das ist der formalen
Ontologie, die Logik der realen Gegenstände, das ist die reale Ontologie, von
der wir schon gesprochen haben. Aber jetzt haben wir das hinzugelernt,
dass sie eben eine Logik der realen Natur ist, und zwar als ein bloßes Glied
dasteht in einer Dreifaltigkeit korrelativer logischer Disziplinen.
Von diesen prinzipiellen Betrachtungen aus erkennen wir also aus tiefsten
Gründen den Parallelismus realer und formaler mathesis; deren letztere
fungiert als Logik der Gegenstände überhaupt, die erstere als Logik der
Naturgegenstände überhaupt, und beiderseits reihen sich Logiken der Sätze
an. Beiderseits fungiert das Apriori normativ, beiderseits bezeichnet es Wahr-
heiten, die den allgemeinsten Sinn umgrenzen; im einen Falle bedeutet die
Verletzung der Gesetze der formalen Ontologie, ebenso auch der formalen
satz-logischen Gesetze, formalen Widersinn, im anderen Falle die Verletzung
der parallelen Gesetze realen (naturwissenschaftlichen) Widersinn.
In aller prinzipiellen Schärfe sind hier notwendige Disziplinen bezeich-
net, eine Idee, eine absolute Notwendigkeit des Wesens ist vorgezeichnet.
Es muss eine reale Wissenschaftslehre, eine apriorische Wissenschaft von
dem Apriori jeder möglichen Naturwissenschaft geben und eine dreifaltig
gegliederte. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie wirklich zur Ausbildung ge-
kommen, dass sie mindestens in allen ihr wesentlich zugehörigen Disziplinen
angebaut und ausgebaut ist.
Ein kleiner und doch so motivationskräftiger Keim bei Aristoteles genügt,
unser freies, reines Denken in Bewegung zu setzen und diese Notwendig-
keiten uns im Voraus zu konstruieren, als notwendige, exakt umgrenzte
Zukunftsaufgaben für Wissenschaften. Wie pflegte nun aber die Geschichte
diesen Keim, was brachte sie von ihm zur Entfaltung? Die Antwort lautet
natürlich: nicht geradlinig und isoliert, sondern in Absätzen und verflochten
mit der Entwicklung der Realitätswissenschaften, zu deren Ermöglichung
und Wegbereitung sie ja ins Werk gesetzt waren. Die strengen Einsichten,
wie wir sie durch konsequentes Zu-Ende-Denken der ideengeschichtlichen
Motive der anfangenden Philosophie und Wissenschaft gewannen, beleuch-
ten uns auch den Gang der Geschichte. Sie enthüllen uns ein über die bloße
Faktizität der stattgehabten Entwicklungen hinausgehendes Band innerer
Rationalität, einer die Entwicklung selbst innerlich mitbestimmenden Ver-
nunft. Wir sehen es nicht nur als Faktum, wir verstehen es auch, dass strenge
und echte Wissenschaft gar nicht zustande kommen konnte in der Nai-
vität, mit der sie beginnen musste, mit einer Naivität, die uns historisch
expliziert ist durch die vorsokratische Philosophie (wofern wir nicht lieber
100 einleitung in die philosophie

sagen der vorparmenidischen). Es bedurfte methodologischer Besinnung:


der Besinnung – das Wort ist vortrefflich –, der Reflexion, bedurfte es auf den
„Sinn“ des Erkenntnisstrebens überhaupt, d. i. auf den Sinn der Leistung,
auf die das Erkenntnisstreben hinaus will, auf den Sinn der Wahrheit, die
da erarbeitet, und des wahrhaften Seins, das durch sie bestimmt werden
soll.
(Worauf man von vornherein ausging und was man in naiver Auswirkung
des Erkenntnistriebes und in der Hauptsache erreicht zu haben glaubte, war
in den vorsokratischen Naturphilosophien eine Erkenntnis der Welt, des
Alls der Realitäten. Aber dieser ersten Erkenntnis konnte man eben auf
die Dauer nicht froh werden. Sie war auf die Dauer nicht befriedigend, sie
forderte die Skepsis heraus. Die Welt ist zwar durch Erfahrung gegeben,
aber die sinnliche Welt ist nur ein Medium, durch das das Denken in das
wahre Sein der Natur eindringt; und dieses wahre Sein ist irgend im Sinn der
Erfahrungsgegebenheiten beschlossen. Das Denken ist darauf verwiesen,
aber wie es darin liegt, welchen Sinn dieses Ziel wahren Seins hat, das
musste erst reflektiv erwogen werden, in eins mit der Erwägung des Sinnes
objektiver Wahrheit gegenüber der bloß subjektiv relativen Wahrheit. So
musste also die Forschung, nachdem sie eine Strecke als naive, aber unbe-
friedigende Naturforschung vollzogen war, eine Umwendung erfahren, eine
Wendung in eine methodologische oder, wie wir auch sagen können, in
eine wissenschaftstheoretische Sinnesforschung.)
Begreiflicherweise betraf diese Forschung vorzugsweise die noematischen
Gehalte des wissenschaftlichen Erkennens und nicht so sehr die noetischen.
Die Vorarbeit, die dadurch also für die Begründung von wissenschaftstheore-
tischen Disziplinen geleistet wurde, kam demzufolge weniger den noetischen
logischen Disziplinen als vielmehr den formalen und realen Ontologien
und der Logik der Sätze zugute. Das ist, sage ich, ganz begreiflich, denn
wer überhaupt die Möglichkeit einer Leistung bedenkt und etwa in allge-
meiner Weise die Möglichkeit einer gewissen Art von Leistungen, der hat
seinen Blick nicht auf seine psychische Innerlichkeit des Leistens, auf seine
Vorstellungen, Wertungen, Wollungen gerichtet, sondern auf die typischen
Formen des Zieles und des Weges, auf die Möglichkeiten der zu stellenden
besonderen Formen von Zielen und der dazu geeigneten Mittel. Also der
Blick ist noematisch gerichtet, auf das Was des Leistens.
So auch bei der wissenschaftlichen Leistung. Man reflektierte wesent-
lich über die Gestalt des im Erkennen erstrebten Was, der zu gestaltenden
Wahrheit und Theorie, man reflektierte über das Wesen wahrer Sätze, wah-
rer Schlüsse und Beweise oder auch über den Sinn des wahrhaften Seins,
aristoteles und die idee einer realen ontologie 101

über das im Wesen seiender Gegenständlichkeit notwendig Beschlossene,


und ebenso speziell für reale Gegenständlichkeit über das Wesen der zur
Natur notwendig gehörigen Bestimmungen, wie zum Beispiel und zuerst
der Räumlichkeit; und so kam man zunächst auf die Anfänge noemati-
scher Disziplinen wie der formalen so der realen Wissenschaftslehre. In
noetischer Hinsicht störte die Einordnung der Erkenntnisvorgänge in die
Psychologie des Menschen, während eine rein noetische Wissenschaftslehre
sich erst auf einer höheren Entwicklungsstufe der Philosophie durchzuringen
vermag.1
Die großen Hemmnisse, welche der Entwicklung einer rein noetischen
Erkenntnislehre als Hauptstück einer universellen Wissenschaftslehre ent-
gegenstanden, waren nicht bloß zufällige, historische Hemmnisse, sondern
sie lagen in einer tief begründeten Verborgenheit der hierher gehörigen
radikalen Probleme. Damit hängt es zusammen, dass auch wir nur zu einer
äußerlichen Umrandung der Idee einer noetischen Wissenschaftslehre, einer
formalen und realen, durchdringen konnten und dass also unser Verständnis
der noetischen Problematik weit zurücksteht hinter dem der in noematischer
Blickrichtung liegenden Problematik. In der letzteren Hinsicht hatten wir
ja auch den Vorteil von mancherlei dem Verständnis hilfreichen Schul-
kenntnissen; etwas Arithmetik, Algebra, reine Geometrie und Mechanik
haben wir alle aufgenommen, und da konnte leicht an diesem Bekannten
der noematisch-wissenschaftstheoretische Charakter und des Näheren der
Sinn formal-ontologischer und real-ontologischer Disziplinen aufgewiesen
werden. Ebenso war es auch leicht, anknüpfend an die Aussagesätze und an
ihre logischen Gehalte, die reinen Satzformen aufzuweisen, reine Schlussge-
setze sichtlich zu machen als Prinzipien gültiger bestimmter Schlussweisen

1 Gestrichen Was aber hier noch nicht besprochen werden kann. Jedenfalls geht nun die

Entwicklung der Keime objektiver Wissenschaften und die Entwicklung der Keime der Wissen-
schaftslehren in wechselseitiger Bestimmung und Verflechtung vonstatten. Und das notwendig.
Unvollkommene Anfänge und Stücke wissenschaftstheoretischer Besinnung ermöglichen durch
die allem Wissenschaftstheoretischen einwohnenden Kräfte der prinzipiellen Normierung einen
Fortschritt der naiv-natürlich gerichteten Anfänge objektiver Wissenschaft. Neue Unklarheiten
erfordern neue Besinnungen, die wieder der Ausbildung wissenschaftstheoretischer Disziplinen
die Wege bereiten oder ihnen zugute kommen. Und die größere Höhe der Entwicklung auf
dieser Seite kommt wieder der Entwicklung objektiver Wissenschaften zugute. Anders konnte
die Entwicklung ja nicht laufen. An sich sind die von uns im weitesten Sinne „logisch“ genannten
Disziplinen ein Apriori gegenüber allen objektiven Wissenschaften. Aber sie konnten doch nicht
vor diesen zunächst und für sich ausgebildet werden, dazu hätten alle Motive gefehlt, und dazu
sind es unendliche Wissenschaften, deren Vollendung nicht abgewartet werden konnte. Ihr
Interesse hing wesentlich an ihrer Funktion für die Ermöglichung objektiver Erkenntnis.
102 einleitung in die philosophie

oder Widerspruchsgesetze als Gesetze apriorischer Falschheit sichtlich zu


machen und so klare Vorstellungen von den Problemen und der normativen
Gesetzessphäre der Syllogistik, der Logik der Sätze überhaupt zu gewin-
nen.
Keineswegs so gut stand es hinsichtlich der noetischen logischen Diszipli-
nen. Und es ist mir nun eine Freude, dass dies im Hörerkreis als ein Manko
empfunden wurde, wie mir aus einer darauf ausdrücklich bezogenen Anfrage
sichtlich geworden ist. In der Tat, nur so viel ist uns klar geworden, dass
Erkenntnis und Wissenschaft eben eine Erlebnis- und Aktseite haben, dass
ferner mannigfaltige Typen von Erkenntnisakten im Denken und Erkennen
eine universale Rolle spielen, also im wissenschaftlichen Sich-Betätigen in
allen Gebieten auftreten müssen. Es muss sich hier also, wie überall, eine
reine Ideenbildung ermöglichen, und eine reine Wesenslehre des Erken-
nens überhaupt nach allen ihm a priori zugehörigen Gestaltungen muss sich
begründen lassen.
Im Übrigen bliebe aber diese Idee einer noetischen Wissenschaftslehre,
obschon ein notwendiger, so doch ein ganz undifferenzierter Titel. Denn was
für eigenartige apriorische Gesetzlichkeiten in dieser Sphäre walten und was
für eigenartige normative Funktionen diese Gesetze für alle Wissenschaft
zu üben berufen sind, davon haben wir keine Vorstellung gewonnen. Dass,
wo immer in concreto Schlüsse gezogen und ausgesprochen werden, eine
Kenntnis der formalen Schlussgesetze, deren Verletzung einen Widersinn
herausstellen würde, nützlich ist, ist klar. Ebenso, dass, wo immer in besonde-
ren Gebieten gezählt wird oder Größenverhältnisse bestimmt werden, eine
theoretische Kenntnis der rein arithmetischen, rein analytischen, rein geo-
metrischen Gesetze von großem Wert ist. Wir können es also verstehen, dass
die Vollkommenheit aller Wissenschaften von der Ausführung noematischer
Wissenschaftslehren abhängt. Dazu bedarf es aber eines reflektiv gerichteten
Studiums der Erkenntnisakte. Und welche Unvollkommenheiten müssen
den Wissenschaften anhaften, wenn dieses Studium nicht den Charakter
eines Wesensstudiums hat? Genügen da nicht die selbstverständlichen Um-
wendungen der noematischen logischen Gesetze ins Noetische, von denen
wir früher gesprochen haben?
Hier bleiben offene Fragen, und sie müssen offen bleiben, da wir noch
der notwendigen Vorbereitung ermangeln und uns noch die Möglichkeit
einer Anknüpfung an ideengeschichtliche Motive fehlt. Denn das Altertum
bot uns in dieser Hinsicht keinen Anhalt. Vielleicht werden sich weiterhin
noch weitere Desiderate herausstellen, ja große Lücken und damit Notwen-
digkeiten, die bisher gewonnenen wissenschaftstheoretischen Ideen weiter
aristoteles und die idee einer realen ontologie 103

auszugestalten und zu ergänzen. Jedenfalls haben wir in den bisherigen doch


gleichsam aufgesteckte Lichter, die uns den konkreten Gang der Geschichte
beleuchten können.
Natürlich wenden wir uns aber jetzt der Geschichte wieder nur zu, um
in eins mit ihrem ideengeschichtlichen Verständnis neue Anregungen für
unsere philosophische Einleitung und für unser Selbstdenken zu schöpfen.
Die Idee unserer formalen und realen Wissenschaftslehren gewinnen wir
durch Entfaltung gewisser Motive, die aus der sophistischen Revolution
gegen die naiv-dogmatisch anfangende griechische Philosophie oder viel-
mehr aus der sokratisch-platonischen Reaktion gegen diese Sophistik ent-
quollen waren. Wir stellten diese Reaktion vorzüglich als eine logische dar,
so können wir sie ja jetzt nennen. Es handelte sich ursprünglich um eine
Rechenschaftsabgabe über den Sinn objektiv gültiger Erkenntnis, über den
Sinn echter Wahrheit, des wahrhaften Seins. Daraus entsprang die Methode
der Ideenschau; und die Ideen selbst traten zu Tage als reine Normen des
Seins und gaben sich dabei selbst als seiende Ideale, an denen alles sonst
sogenannte Seiende zu messen sei. Ideale Wissenschaften erwachsen dann
als normative Wissenschaften, und wir könnten – immer in dieser Einstellung
der methodologischen Rechenschaftsabgabe verbleibend – die Ideen einer
formalen und die einer realen Wissenschaftslehre oder Logik entwickeln
und die Anfänge bei Platon und den Philosophen seiner Einflusssphäre
aufweisen.
Freilich, nachdem hierhergehörige Ideen und Disziplinen rein abgeschie-
den und begründet waren, boten sie Reiche selbstgenügsamer Wahrheit,
und sie bewegten sich in gewissen abgeschlossenen idealen Seinssphären.
Aber dem allen haftet doch die normative Funktion an, es war doch in sich
schließlich dazu bestimmt, Wissenschaft von der Welt als strenge und echte
Wissenschaft möglich zu machen. Wie ist es nun zu verstehen, dass diese
Wissenschaften bei Platon doch nicht die Funktion gewannen, die wir er-
warten müssen, als die methodologischen Hilfsmittel für strenge objektive
Wissenschaft? Wie ist zu verstehen, dass Platon zu einer objektiven Na-
turwissenschaft im Sinne unserer exakten Physik nicht durchgedrungen ist,
trotzdem doch schon sowohl einige logische Disziplinen, formal-ontologische
Disziplinen wie die Arithmetik und reale Ontologien wie die Geometrie, in
seinem Gesichtskreis lagen? Und wie kommt es, dass das ganze Altertum
dieser Wissenschaften entbehrte oder dass es zwar einige kleine Anfänge
hatte, aber durchaus nicht von dem Ziel einer exakten mathematischen
Naturwissenschaft beherrscht war, also diese Anfänge auch gar nicht als
Anfänge zu diesem Ziel hin empfand?
104 einleitung in die philosophie

Hier liegt sicherlich eine Beschränktheit in der Reichweite der platoni-


schen Kraft und der des ganzen Altertums vor. Es liegt insofern eine gewisse
Tragik darin, als Platon es ja gerade war, der durch seine Ideenlehre das
Exakte entdeckt hatte, oder, was auf das Gleiche hinauskommt, dass er
mit der Entdeckung apriorischer Wissenschaften und seiner Wegbereitung
logischer Disziplinen die Entdeckung und Schöpfung exakter empirischer
Wissenschaften überhaupt erst ermöglicht hatte. Worin die Gründe dieser
Schranken bei Platon liegen, die folgenreich das ganze Altertum bestimmten,
werden wir verstehen lernen müssen. Gleich gesagt aber sei es, und das wird
eine erste Erörterung einleiten, dass es doch auch wieder gut so war, dass
Platon die Notwendigkeit und das Recht des Zieles einer exakten empi-
rischen Naturwissenschaft nicht erfassen konnte, da er sonst schwerlich der
Begründer einer teleologischen metaphysischen Welterklärung hätte werden
können, die, wie sehr sie auch im Mythischen steckenbleiben musste, doch
eine Ewigkeitsbedeutung hat und eine unablässige Aufgabe der Menschheit
fühlbar gemacht hat, eine Aufgabe, die jeder großen Philosophie die Zukunft
vorgeleuchtet hat und vorleuchten wird. In dieser Hinsicht war Aristoteles
sein echter Schüler; und wenn Aristoteles zum Philosophen der Jahrtausende
geworden ist, so liegt dies vor allem an der höchst wertvollen und wirkungs-
vollen Fortbildung, die er der platonischen Teleologie hat angedeihen lassen.
Bisher haben wir, wenn von Wissenschaften die Rede war, die durch
methodische Beihilfe apriorischer Wissenschaften die Welt erkennen soll-
ten, an die Naturwissenschaften gedacht. Wie steht naturwissenschaftliche
Welterklärung zur teleologischen?

Naturwissenschaftliche und teleologische Welterklärung

Also1 damit ist ein neues großes Thema ins Spiel gesetzt, das der teleologi-
schen Welterklärung. Soll eine solche Welterklärung endgültige Wahrheit,
echte, objektiv gültige, uns bieten, so muss auch sie eine wissenschaftliche
sein. Also es soll eine teleologische Weltwissenschaft geben. Wie steht sie
zu dem, was wir „Naturwissenschaft“ nennen? Inwiefern bedeutet sie, wie
wir nach dem eben Gesagten erwarten müssen, eine ganz andere Richtung
wissenschaftlicher Weltbetrachtung und Welterklärung?

1 Randbemerkung Dieser Abschnitt reicht bis Bl. 152 = S. 181 f.. Teleologische Welter-

klärung wird hier nur berührt als Eingang in den Abschnitt über das System der formalen
Disziplinen.
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 105

Für Sie, als Kinder unserer Zeit und Kultur, ist durch ihre allgemeine
Vorbildung Naturwissenschaft eine feste Sache; und damit ist auch eine
bestimmte Vorstellung von dem gegeben, was diese Wissenschaft unter dem
Titel „Natur“ theoretisch erforscht. Andererseits: Sie alle haben teils von un-
seren großen Dichtern her, ich nenne hier nur Goethe, teils von der Religion
her, eine gewisse Vorstellung von dem Typus teleologischer Weltauffassung.
Ihr gemäß ist die Welt als gottgeschaffene eine durch und durch wertvolle,
unter der Zielgebung absoluter Werte in allem Sein und Geschehen zweck-
voll geordnete. Alles, was ist, alles und jedes, was geschieht, ist, wie es ist, weil
es durch wertvollste Zwecke gefordert ist. Alle Zweckmäßigkeit läuft zusam-
men in einer einzigen absoluten, das Weltall umspannenden Zweckordnung,
aus der heraus allein schließlich das Erzielen teleologisch zu verstehen wäre,
das relativ Zweckwidrige als das unter höheren Zweckgesichtspunkten
teleologisch gerade Geforderte. Die Welt hat, wie man auch sagt, nicht bloß
Dasein, sondern einen „Sinn“; und diese Rede von Sinn, der das Thema die-
ser teleologischen Weltforschung ist, meint ausschließlich die Beziehung auf
Seinswertung und Seinserklärung aus Prinzipien, die das Seiende vermöge
ihrer Wertfunktion realisieren. Und diese Prinzipien werden dann natur-
gemäß als geistige, personale, willensbegabte gedacht; und normalerweise
wird, der Einheit der Welt entsprechend, ein einziges solches Prinzip, Gott,
als letzte teleologische Seinsquelle angenommen.
Das, wie gesagt, bringen Sie mit, und die flüchtigste Vergleichung dieses
Typus von erklärender Natur- und Weltbetrachtung gegenüber der naturwis-
senschaftlichen macht Ihnen klar, dass die letztere ateleologisch ist. Ursache
im Sinne der Naturwissenschaft führt keine Gedanken an so etwas wie eine
Zwecktätigkeit und ein von Werterkenntnis und Wertbestimmung geleitetes
Erwirken mit sich. Also haben wir es in der Tat – und das sehen wir voraus –
noch vor jedem tieferen Verständnis mit zwei wesentlich anders gerichteten
Weltbetrachtungen und eventuell Weltwissenschaften zu tun, gleichgültig,
ob sie allgemein als gleichberechtigt anerkannt werden oder nicht. Denn
dass in dieser Hinsicht Streit besteht, das kann keinem Kind unserer Zeit
verborgen geblieben sein. Von diesem haben wir jetzt noch nicht zu sprechen.
Von größter Wichtigkeit ist es aber für uns, echte Geistesfreiheit zu gewinnen
und zu betätigen; es gilt, solange wir eines tieferen Verständnisses und daraus
erwachsender echter Vernunftmotive entbehren, jede Stellungnahme zu
unterlassen, also kein Vorurteil hinzunehmen.
In dieser Hinsicht gilt es, sogar die Selbstverständlichkeit dessen, was wir
„Natur“ und „Naturwissenschaft“ nennen, in Frage zu stellen, also Klar-
heit darüber zu gewinnen, was den eigentümlichen Sinn und die durch die
106 einleitung in die philosophie

Vernunft geforderte und gerechtfertigte Eigenart dieser ateleologischen


Weltbetrachtung ausmacht, wie andererseits verständnisvoll den eigentümli-
chen Motiven der teleologischen Weltbetrachtung genugzutun und zunächst
ihren Sinn sich zur Klarheit zu bringen. Wie sehr das Not tut, zeigt der
Rückblick auf die historische Entwicklung, in deren griechischen Anfängen
mühsam und doch sehr unvollkommen zunächst die Unterschiede zwischen
physischer und geistiger Wirklichkeit und – damit wieder unklar verfloch-
ten – die Unterschiede zwischen mechanischer oder naturkausaler Welt-
theoretisierung und teleologischer, mit Werten und Zwecken als erklären-
den Prinzipien wertstiftender Weltbetrachtung sich emporringen, sich aus
einer ursprünglichen Indifferenz in immer neuen theoretischen Entwürfen
durcharbeiten.1
Wir wollen, um einen festen Boden zu gewinnen, zunächst eine ganz
allgemeine Überlegung vorausschicken, die uns eine prinzipielle Klarheit
schaffen wird über die Abgrenzung von Urteilssphären, in denen der Begriff
„Zweck“ und die mit ihm wesentlich verwandten Begriffe ihre Heimatstätte
haben, und demgegenüber die Abgrenzung von Sphären theoretischer Be-
trachtung, die ihrem Wesen nach ateleologisch sind und aller mit dem Begriff
des Zweckes verschwisterten Begriffe entbehren.
Wir haben den Menschen bisher vorwiegend nach einer Seite betrachtet,
als wäre er ein bloß aufgrund der Erfahrung theoretisierendes Wesen. Zu-
mindest haben wir auf die anderen Grundarten der Verhaltungsweisen des
Ich-Bewusstseins keine hinreichende Rücksicht genommen. Der Mensch
stellt nicht nur eine Umwelt, Dinge, Tiere, Menschen durch Erfahrung vor,
er hat nicht nur die Wahrnehmungserlebnisse und sonstige Erfahrungserleb-
nisse, durch die dergleichen Gegenständlichkeiten für ihn da sind. Vielmehr
hat er immerfort auch mit dergleichen Erlebnissen verflochtene weitere Er-
lebnisse, durch die, was vorstellungsmäßig einfach für ihn da ist, ihm zugleich
etwas bedeutet und ihn danach praktisch bestimmt. Die vorgestellten Sachen
bewegen sein Gemüt in Zuneigung und Abneigung, Gefallen, Missfallen,
Liebe und Hass, und solche Wertungen bestimmen den Willen.2 Indem
wir in solchen und ähnlichen Akten dahinleben, sind uns die vorgestellten
Gegenstände nicht bloß bewusst mit den Eigenheiten, mit denen sie uns
die jeweilige Vorstellung vor Augen gestellt hatte, sondern sie erhalten als
Korrelate solcher Gemütsakte besondere Prädikate; ihnen gemäß stehen
1 Randbemerkung Übergang zur Axiologie, Ethik etc.
2 Randbemerkung Es fehlt (wie in der Rekapitulation Bl. 152 = S. 181 f. nach dem großen
Abschnitt über Axiologie und Ethik aber ergänzt wird) die Scheidung zwischen Subjekten und
Dingen.
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 107

sie uns gegenüber als gefällige oder missfällige, schöne oder hässliche, als
nützliche, als zweckmäßige Mittel oder als Zwecke selbst usf. Alle solche
Akte – sowohl die der bloßen Vorstellungssphäre, ein bloßes Empfinden,
Wahrnehmen, Erfahren zum Beispiel, als auch Akte der Gefühls- und Wil-
lenssphäre – können sich abspielen, ohne dass ein theoretisches Interesse
und ein theoretisch begreifendes, ein logisches Verhalten sich zugesellt.
Geschieht das aber, so gibt es verschiedene Urteilsrichtungen je nach der
Richtung des theoretischen Interesses.
Die Urteilsrichtung kann rein die auf das Erfahrene sein. Zum Beispiel:
Wir können auf einen wahrgenommenen Gegenstand rein so, wie er in der
Wahrnehmung dasteht, gerichtet sein, zunächst, ihn einfach beschreibend,
auseinanderlegend die Merkmale, die die Wahrnehmung von ihm gibt. Und
das kann der Anfang sein einer theoretischen Bestimmung solcher Sachen
überhaupt. In diesem Fall hat das Urteilen, der theoretische Akt, ausschließ-
lich sein Bewusstseinsmedium im vorstellenden Akt. Er richtet sich durch
ihn hindurch auf den vorgestellten, hier auf den wahrgenommenen Gegen-
stand. Es kann aber auch das theoretische Interesse durch den Gemütsakt
oder die mehrfältigen Akte der Gefühls- und Willenssphäre, die gerade im
Spiel sind, hindurchgehen. Sie sind ja nicht bloß äußerliche Annexe zu den
Vorstellungserlebnissen, sondern in ihnen erhält der Vorstellungsgegenstand
sozusagen eigene Lichter, er gewinnt neue Charaktere, er steht ja als ein
schöner oder hässlicher, angenehmer oder unangenehmer, zweckmäßiger
oder unzweckmäßiger da; im handelnden Willen als ein nicht bloß sich
verändernder oder gewordener, sondern als willentlich gestalteter oder sich
umgestaltender, einer leitenden Zweckabsicht gemäß.1
Das theoretische Interesse kann sich auf die Eigenheiten des Gegenstan-
des in sich selbst, d. i. des Gegenstandes, wie ihn die bloß unterliegende
Vorstellung dem Bewusstseinssubjekt hingestellt hatte, richten, es kann sich
aber auch auf die Werteigenheiten, Zweckeigenheiten, Werkeigenheiten des
Gegenstandes richten, die dem Gegenstand bewusstseinsmäßig zuwachsen
durch die Akte des Gemüts und Willens. Bei gleicher Vorstellungsunterlage
können die Gemütsakte offenbar wechseln. Man sagt zum Beispiel: Einmal
bin ich so gestimmt, ein anderes Mal anders; einmal berührt mich derselbe
und in derselben Weise erfahrene Gegenstand im Gemüt so, ein anderes
Mal anders; einmal dient er mir für die leitenden Zwecke, ein andermal
für andere. Demgemäß wären die möglichen Sachurteile dieselben, während

1 Randbemerkung Die nächsten Blätter etwas breit, aber inhaltlich gut.


108 einleitung in die philosophie

die Urteile über Werte und Zwecke, Mittel usf. wechseln könnten. Ich kann
ausschließlich für den Gegenstand „sachlich“ interessiert sein; und obschon
mein Gemüt irgend dabei berührt sein mag, so bleibt es außer Spiel. Ich
fälle dann keinerlei Werturteile, keinerlei Urteile über all die Merkmale, die
in welcher Weise immer ihren Ursprung in der Gemüts- und Willenssphäre
haben. Jederzeit kann aber das theoretische Interesse sich eben nach dieser
Richtung wenden, und es treten dann die dieser Sphäre eigentümlichen
Begriffe auf, Begriffe, die in der vorigen gar keine Stätte haben konnten.
Diese Schichtung des Bewusstseins, der gemäß die Gegenstände unserer
jeweiligen Umwelt Produkte verschiedenen Ursprungs sind und verschie-
dene Stufen zeigen, kann sich immer wieder erhöhen, das heißt, es kön-
nen zu gegebenen Schichten neue Schichten hinzutreten, und demgemäß
können die Gegenstände immer wieder neue Charaktere annehmen. Ein
Ding ist etwa aufgefasst als ein Tisch, also als ein aus wertender und nach
Zwecken gestaltender Tätigkeit erwachsenes Gebilde. Es wird dann aber
weiter etwa aufgefasst als ein interessantes Werkstück des 16. Jahrhunderts,
erhält einen antiquarischen Wert, vielleicht eine sentimentale Wertcharak-
teristik; das alles kann dann einen Nutzwert im Handel des Antiquars be-
stimmen.
Evident ist, dass, wie immer in dieser Art von der Gemütssphäre her neue
Charaktere und Schichten neuer Prädikate erwachsen können, wir nach der
Gegenrichtung immer und notwendig auf Prädikate verwiesen werden, die
nicht der Gemütssphäre entstammen. Gemüt und Wille bedürfen, um in
Aktion zu treten, offenbar eines Vorgegebenen, das nicht aus dem Gemüt
und Willen seine Prädikate gezogen hat. So werden wir also, all die höheren
Schichten der Gemütswertung abtragend, schließlich auf eine Unterstufe
kommen müssen, die schlechthin keine Einschläge solcher Provenienz hat;
wir müssen also schließlich zu einem puren vorstellenden Bewusstsein kom-
men, einem sozusagen schlechthin gemütslosen Bewusstsein, das uns jeweils
Gegenstände gibt als bloße Sachen, als bloße Dinge. Diese bloßen Dinge
haben in ihrem Inhalt, haben in dem Sinn, den ihnen das bloße Erfah-
rungsvorstellen zuteilt, keine Spur von Wertprädikaten und Prädikaten des
Zweckes. In dieser Art bestimmt sich uns in strenger Weise ein Begriff von
Natur als bloßer Natur, und der Bestand rein natürlicher Eigenschaften.
Betrachten wir ein Ding, z. B. einen Tisch, als Gegenstand der bloßen
Sacherfahrung. Nun, dann betrachten wir die Raumgestalt des Dinges; und
bestimmen wir sie mittels geometrischer Begriffe oder bestimmen wir seine
Farbe, sein Gewicht, seine Elastizität, so sind solche und ähnliche reale
Eigenschaften völlig unabhängig von allem Wechsel der Wertungen und
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 109

der dem Ding dann zugemessenen Wertbeschaffenheiten und Zweckeigen-


schaften. Auf den Begriff „Tisch“ stoßen wir dann niemals. So gewinnen
wir einen eigenen, abgeschlossenen Bestand an Eigenschaften, die das Ding
als „bloße“ Realität konstituieren, als ein identisches Seiendes, das seine
Identität bewahrt, gleichgültig wie Subjekte von dem Ding im Gemüt berührt
werden mögen. Es tritt mit anderen Worten durch diese reduktive Analyse
erst hervor, dass jedes umweltliche Objekt einen notwendigen Kernbestand
an Eigenheiten hat, die wir unter dem Titel „bloße Naturobjekte“ befassen.
(Sie sind a priori für das praktisch wertende und wirkende Subjekt schon vor-
ausgesetzt als ihm bewusstseinsmäßig vorgegebene Substrate für mögliche
praktische Stellungnahmen und Behandlungen.) (Dieses bloße Naturobjekt
ist für das Subjekt anschaulich gegeben in der „bloßen Sacherfahrung“,
Erfahrung in einem prägnanten Sinne, in der wir uns eben alle begleitenden
Gemütserlebnisse ausgeschieden denken.)
Wir können nun in Konsequenz des schon Angedeuteten bloße Er-
fahrungsurteile bilden und unser theoretisch bestimmendes Denken darauf
richten, was die bloßen Naturdinge und was die Natur überhaupt als bloße
Sachenwelt ist. Dann wird unser Urteilen nie zu irgendwelchen Wertprädika-
ten und praktischen Prädikaten führen. Die Begriffe die hier auftreten, sind
bloße Naturbegriffe. Andere können in dieser Einstellung nie vorkommen.
Ziehen wir dann aber in Rücksicht, dass die Dinge gewertet werden, dass
sie als Zweck und Mittel betrachtet, dass sie im Handeln praktisch gestaltet
werden. (Im bloßen Erfahren stand dem Ich, dem Erfahrenden, eine bloße
Sache gegenüber als wirklich seiend, eventuell als möglich, wahrscheinlich
seiend, also in Gewissheitsmodalitäten.) In dem Werten steht die erfahrene
Sache nicht nur als Sache, sondern zudem da als schön oder hässlich, in
praktischen Akten als nützlich, zwecklos, als Werk, eventuell als schönes
Werk der Kunst usf. Siedelt sich nun gleichsam auf dem Grund dieser höheren
Bewusstseinsweisen über der Schicht des bloßen Erfahrens ein theoretisch
bestimmendes Interesse an, so erwächst ein Denken und Theoretisieren
höherer Stufe, in dem Wertbegriffe eine bestimmende Rolle spielen. Aber
gibt es hier etwas objektiv zu bestimmen?
Überlegen wir: In der niedersten Stufe haben wir bloße Sachen. Bloße
Erfahrung setzt sie als wirklich und weist die Wirklichkeit oder Unwirklich-
keit im weiteren Erfahrungszusammenhang durch Bestätigung oder durch
Auflösung in Schein aus. Mit anderen Worten, es gibt so etwas wie erfahrende
Vernunft, und sie bietet sich in höherer Form als theoretisch bestimmende,
auf Erfahrung fußende Wissenschaft. Daher kann man über Wirklichsein
und Nichtsein, über Beschaffenheiten und Gesetze in der tatsächlichen Welt
110 einleitung in die philosophie

der Sachen streiten. Der Streit wird entschieden durch Vernunftgründe; er


endet in der Erkenntnis der begründeten und, in vollkommenstem Maß, der
wissenschaftlich begründeten Einsicht.
Auch über Wertprädikate streitet man. Man streitet darüber, ob etwas
wirklich schön oder hässlich sei. Das bloße Faktum, dass jemand als schön
wertet, besagt nur, dass ihm die Sache als schön vor dem wertenden Auge
stehe, und noch nicht, dass sie wahrhaft schön sei. Auch hier scheint der
Streit also darauf hinzuweisen, dass es, ebenso wie es eine Ausweisung
des Sachseins oder Naturseins durch Erfahrung gibt, so eine Ausweisung
des Wertseins oder Unwertseins im wertenden Bewusstsein gebe, also mit
anderen Worten eine Vernunft im Werten, im Schön-Werten und Hässlich-
Werten, im Werten als gut und nützlich und so in jeder Weise. Die Ausweisung
wäre also Sache des wertenden Bewusstseins selbst, und sie endete mit einem
volllebendigen und gesättigten inneren Erschauen des „Wertes selbst“, dass
jede Unsicherheit, Unklarheit, jedes Schwanken des Gemüts zwischen Für-
wert-Halten und Für-unwert-Halten ausschlösse. Diese rein zur Schicht
des Gemüts gehörigen Vorkommnisse können nun aber auch Unterlagen
eines theoretischen Verhaltens, eines Denkens, denkenden Bestimmens wer-
den, und sie sind es oft genug. Wir urteilen über Werte, und die Werturteile
selbst prätendieren, ihre objektive, das heißt für jeden Vernünftigen bin-
dende Wahrheit zu haben.
Diese Betrachtung eröffnet uns eine ganz neue Wahrheitssphäre und da-
mit ganz neue Wissenschaften. Oder vielmehr, es eröffnet sich uns jetzt eine
für uns Anfänger hinreichend deutliche Scheidung möglicher Urteile und
möglicher Wissenschaften. 1) Urteile können Urteile über bloße Sachen
sein, über Gegenstände, in deren Sinnesgehalt kein Prädikat eindringt, das
uns zurückweist auf Funktionen des Wertens, des Wollens, des Handelns.
Das umgrenzt scharf die Gruppe von Wissenschaften, die im prägnanten
Sinne „Naturwissenschaften“ heißen. 2) Urteile können Urteile über Werte
und Zwecke von Sachen sein und können überhaupt Urteile sein, deren
beurteilte Gegenstände mit einem Merkmalsgehalt gedacht sind, der auf
wertende Funktionen, auf Willensfunktionen, gleichgültig wie, zurückweist:
Es sind das Prädikate, für die sozusagen ein jedes Subjekt blind wäre, das
bloß erfahrendes wäre, das des Wertens und Wollens unfähig wäre. Ob das
denkbar ist, darauf kommt es nicht an. (Es soll das nur die Abstraktion
verständlich machen, die ihr gutes Recht hat, durch eine notwendige Schich-
tung der Bewusstseinsfunktionen, in der die bloß erfahrenden Funktionen
die notwendige unterste Stufe annehmen, also unter Absehen der höheren
Gemütsschichten zu betrachten sind.)
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 111

Beachten Sie, dass all die im gemeinen Leben gebräuchlichen Begriffe,


wie Tisch und Haus, wie Feld und Wiese, wie Hammer, Maschine, Kunst-
werk usf. keine bloßen Naturbegriffe sind im Sinne unserer Abgrenzung –
es sind fast durchaus Begriffe von Erzeugnissen und von Erzeugnissen zu
ganz bestimmten Zwecken – und dass sie nur in dieser Rückweisung auf
erzeugende Handlungen und auf bleibende Menschenzwecke verstanden
werden können. Es können aber auch Begriffe sein von Sitten religiöser Ver-
ehrung und einer sonstigen Gemütsstellungnahme. Und auch wo wir diese
Begriffe nicht ins Spiel setzen und nicht mit ihnen und den entsprechenden
Begriffsworten aussagen, sondern die betreffenden Objekte sehen, da fassen
wir sie unmittelbar und vermeintlich wahrnehmungsmäßig als Werke und
Zweckobjekte auf oder als ästhetische Objekte, geistige Objekte, Objekte
einer teuren Erinnerung usf. Eben damit sind sie nicht bloß als Erfah-
rungsobjekte wahrgenommen, sondern mit höheren Auffassungsschichten
apperzipiert. Und es ist dann auch klar, dass es eine ganz andere Linie
der theoretischen Ausweisung ist, herauszustellen, ob das betreffende Ding
wirklich ist und wie es als Natur ist, und der Ausweisung, ob es wirklich
ein Werkgebilde ist und ob es wirklich zweckmäßig, schön, gut ist u. dgl.
oder auch nur faktisch in einer Kultursphäre dafür gehalten geworden ist,
gegolten hat als Schönes, Gutes.
Durch diese Betrachtungen ist es klar geworden, dass in unseren bishe-
rigen wissenschaftstheoretischen Betrachtungen eine gewaltige Einschrän-
kung beschlossen lag, die wir früher nicht merken und nicht näher bestimmen
konnten. Zwar unsere Idee einer formalen Wissenschaftslehre bleibt unbe-
troffen. Sie ist eben wegen ihres Ausschlusses aller erdenklichen Bindung
an besondere Erkenntnissphären von so universaler Allgemeinheit, dass
sie in keinem Sinne Raum übrig lässt für unbemerkte und verschwiegene
Schranken. Anders verhält es sich mit der realen Wissenschaftstheorie. Wir
haben mit dem Begriff „Realität“1 etwas völlig Bestimmtes und Abgeschlos-
senes, wenn wir unter „Realität“ eben dasselbe verstehen wie bloße Natur.
Und stillschweigend haben wir sie so verstanden und alle Kategorien an
Beispielen der bloßen Sachenwelt expliziert. Jetzt erkennen wir aber, dass
das, was wir im gewöhnlichen Sinne „Welt“ nennen, die Welt in der
wir leben und wirken, nur der unteren Schicht nach Sachenwelt oder Natur
ist, wie denn – gesprochen vom Standpunkt der Neuzeit mit ihrer reichen
Entwicklung mannigfaltiger Wissenschaften – die Wissenschaften von bloßer

1 Randbemerkung Vgl. Bl. 75 = S. 92 f..


112 einleitung in die philosophie

Natur bei weitem nicht all unsere Wissenschaften erschöpfen. Denn alles
was wir irgend unter den Titel „Kultur“ befassen, gehört einer Sphäre
von Gebilden an, die nur als Korrelate des wertenden und des praktisch
gestaltenden Bewusstseins verständlich sind.1
Am Schluss der letzten Vorlesung sprachen wir von der Wechselbeziehung
zwischen verbundener Menschheit und Umwelt. Die Umwelt ist immerfort
mehr als bloße Natur, sie ist eine sich mit der betreffenden Menschheit
entwickelnde, von ihrem wertenden und handelnden Leben her sich immer
neu gestaltende Welt, eine Welt der Kultur. Im aktuellen Leben, das nicht
ein bloß vorstellendes, sondern immerfort ein wertendes und handelndes
ist, gewinnen die erfahrenen Gegenstände immer neue Kulturprädikate für
die Subjekte. Sie sind nicht nur für sie da, sie bedeuten ihnen auch etwas;
und diese Bedeutungen sind nicht bloß individuelle und momentane Ge-
mütsfärbungen oder Zweckcharaktere, Charaktere des Im-Werk-Seins oder
fertigen Werk-Seins, sondern in eigener und näherer Analyse bedürftiger
Weise wachsen den Gegenständen überindividuelle und bleibende Eigen-
schaften zu, die jedermann an ihnen finden, nachverstehen und nachprüfen
kann, z. B. einen Tisch als Tisch, ein Werkzeug als Werkzeug usf. Mitunter
täuscht man sich darin, und es gibt auch hier Täuschung und Wege der
Nachweisung der Täuschung. Zum Beispiel: Man hält einen spitzen Stein
für eine prähistorische Pfeilspitze oder eine natürlich entstandene Höhle für
eine zweckvoll gestaltete Behausung.

1 Gestrichen Das betrifft aber nicht bloß Kulturobjekte in dem Sinne von Naturdingen, die

für irgendwelche wertende und handelnde Personen aufgefasst sind mit Wertcharakteren und
mit praktischen Charakteren, von ihnen eventuell als Werke geschaffen und dann als Werke
gesehen sind, im Übrigen gleichgültig, ob es sich um derartige Gebilde von Einzelpersonen
für sich oder von kommunikativ zusammentretenden und Gemeinschaftswerke gestaltenden
Sozialitäten handelt. Vielmehr sei darauf hingewiesen, dass auch jederlei menschliche Ge-
meinschaften, Verbände sich wechselseitig verständigender und miteinander sozial geeinigter
Personen, hierher gehören. Auch sie sind als Verbände Gegenstände der Welt, und auch sie
sind nur, was sie sind, aufgrund von wertenden und praktischen Funktionen; sie sind nur,
indem sie im wechselseitigen Werten, Wollen, Wirken sich mit entsprechenden Prädikaten
konstituieren. Jedes sozial lebende Wesen hat als Glied solcher Verbände soziale Funktionen
und entsprechende Funktionsprädikate, die offenbar nicht Prädikate bloßer Natur sind. Und
schließlich, selbst wo wir eine Person unter Abstraktion von allen ihren sozialen Funktionen
betrachten oder sie in ihrer Rückbezogenheit auf sich selbst betrachten, finden wir sie zwar auch
als Natur – wir können sie wie eine bloße Sache betrachten, und sie kann sich selbst auch so
betrachten –, aber sie kann doch auch nicht anders, als sich selbst zu werten, sich selbst praktisch
zu leiten, sich selbst zu erziehen; sie ist nur in einem beständigen sich selbst Gestalten, sich selbst
Schaffen und Umschaffen, und mit Beziehung darauf hat sie neue Sorten von Prädikaten, die
keine bloßen Naturprädikate sind.
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 113

Natürlich ist ein isoliertes menschenartiges Wesen denkmöglich und so-


mit auch denkmöglich eine rein individuelle Kultur. Aber wie der Mensch
faktisch ist, ist er nur und von Anfang an in einem Gemeinschaftszusam-
menhang; er wächst auf in beständiger Wechselverständigung mit Anderen,
und vermöge dieser Wechselverständigung erwachsen mannigfaltige „soziale
Akte“, mit eigentümlichem Sinn ausgestattete Akte des Individuums, in
denen die Ich-Du-Beziehung liegt, in denen der eine sich an den Anderen
richtet, ihn motiviert oder von ihm Motive empfängt, Bitten oder Befehle
an ihn richtet oder von ihm aufnimmt, sie erfüllt, vollführt oder in denen er
sich mit Anderen zu gemeinschaftlichen Leistungen verbindet oder Werke
entwirft, die er als für jedermann begehrte und nützliche bereit und ihnen
zu Diensten stellt usf. Alles Wirken und Leisten des Einzelnen wird schließ-
lich, sofern er nicht allein, sondern im Gemeinschaftsverband als unter Ge-
meinschaftswertungen, Gemeinschaftsforderungen, Gemeinschaftsnormen
stehend lebt, irgendwie sozial bedeutsam. Zum Beispiel: Die Werte des
Einzelnen werden zu Werten für jedermann, sie werden eventuell zu aus-
tauschbaren Besitzwerten und werden von jedermann in dieser Bedeutung
verstanden und anerkannt. So werden Gemeinschaft und Kultur zu Kor-
relaten. Die Kulturen gliedern sich parallel mit den Gemeinschaften. Eine
Einheit einer Kultur reicht soweit, als eine Einheit der im Werten und Wirken
verbundenen Gemeinschaft reicht.
Merkwürdig ist hierbei aber, dass Personen und personale Gemeinschaf-
ten nicht nur die Rolle von Subjektkorrelaten von Kulturen spielen, sondern,
vermöge der wundersamen Zurückbezogenheit eines Ich-Subjekts auf sich
selbst und auch personaler Gemeinschaften auf sich selbst, immerfort auch
die Rolle von Kulturobjekten spielen. Individuen, Stämme, Völker, Städte
usw. haben nicht nur ihre Kultur, sie sind auch selbst Kulturobjekte. Ein
Mensch lebt nicht nur in seine Umwelt hinein, er selbst gehört zu seiner
Umwelt, er macht sich selbst zum Objekt seines Wertens und beständig auch
zum praktischen Objekt. Er kann als Mensch nicht anders, als auch sich
selbst zu werten, sich selbst praktisch zu beraten und zu erziehen, sich selbst
in Kultur zu nehmen. Ähnliches gilt auch von den Gemeinschaften, die in
der Tat nicht eine bloß zufällige, sondern wesentliche Analogie mit persona-
len Subjekten haben und, insbesondere in höherstufiger Entwicklung, den
Charakter von Personalitäten höherer Ordnung haben, nämlich personale
Einheiten darstellen, die fundiert sind in individuellen Personen, durch sie
hindurch in Gestalt von sozialen Akten urteilend, wertend, handelnd. Ein
Verein wird aufgrund von gemeinschaftlichen Wertungen und Wollungen
in einer verbundenen Einheit der Wollung gegründet, etwa zu Zwecken
114 einleitung in die philosophie

einer Gattung gemeinschaftlich zu leistender Arbeiten und Werke. Er übt


an sich selbst Kritik, er reformiert sich selbst, er schafft sich neue Statuten,
er arbeitet an sich selbst und sieht in sich ein Werkgebilde. Und ebenso auch
bei Gemeinden, bei Staaten, Völkern.
In all dem waltet nun eine Typik der Gestaltungen und eine feste Objekti-
vität in Artungen des Seins und Geschehens, des wirkenden Lebens und der
erwirkten Geistesgestalten, mit zugehörigen Regeln und Gesetzen. Wir se-
hen, dass sich hier ein weites Feld für das theoretische Interesse eröffnet und
damit das große Reich mannigfaltiger Kulturwissenschaften. Zu ihnen gehö-
ren die schon im frühen Altertum einsetzenden historischen Wissenschaften,
aber auch die Politik, die Pädagogik und die ungezählten, späterhin und
insbesondere in der neuesten Zeit begründeten „Geisteswissenschaften“.
Bemerkenswert ist dabei, dass alle Wissenschaften als Wissenschaften un-
ter einem klaren Gesichtspunkt hierher gehören. Nämlich alles denkende
Erkennen, alles Urteilen, Schließen usw. ist doch eine handelnde Tätigkeit,
ist gerichtet auf theoretische Werte, die unerachtet ihrer Idealität im er-
kennenden Leisten, werkmäßig erarbeitet werden: Sätze werden erarbeitet
im einsichtigen Charakter der Wahrheit, Schlüsse und Beweise im Charak-
ter der wahrhaften Folgerichtigkeit. Alle solche theoretischen Werte sind
von Subjekt zu Subjekt mitteilbar, austauschbar und auch durch gemein-
schaftliche Arbeit zu erzielen. Demnach ist auch jede Wissenschaft anzu-
sehen als ein intersubjektives Kulturgebilde, sofern die miteinander durch
literarische Wechselverständigung zusammenarbeitenden Forscher Zusam-
menhänge von Wahrheiten, Schlüssen, Beweisen, Theorien gemeinschaft-
lich schaffen und als überindividuelle Gebilde den künftigen Generationen
übermitteln zur ständigen Fortarbeit. Unter diesem Gesichtspunkt sind die
Wissenschaften nur besondere Themen einer allgemeinen Wissenschaft von
der Kultur und speziell die Themen einer Wissenschaft von der wissenschaft-
lichen Kultur, zum Beispiel einer Geschichte der Wissenschaften. Natürlich,
und das ergibt eine merkwürdige Rückbeziehung auf sich selbst, trifft das
wie jede Wissenschaft auch die allgemeine Wissenschaft von der Kultur, die
also in ihren allgemeinen Sätzen sich selbst mit umspannt – so wie dann
speziell eine allgemeine Geschichte der Wissenschaften auch sich selbst,
diese wissenschaftliche Geschichte umspannt.
Es sind nun zweierlei wissenschaftliche Forschungen in den Kulturwis-
senschaften zu scheiden: 1) Kultur kann einfach als eine Tatsache der Er-
fahrung behandelt werden, ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, dass die
betreffenden faktischen Menschengruppen faktisch so gewertet und solche
Kulturgebilde geschaffen haben, wobei die und die faktischen Typen von
naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 115

Kulturgebilden erwachsen sind oder auch solche und solche Typen von Ent-
wicklungen. Offenbar sind diese empirischen Kulturwissenschaften von ganz
anderer Art als die empirischen Naturwissenschaften. Denn die Erfahrung,
durch die wir Kenntnis von einem Kulturgebilde gewinnen, ist nicht eine
bloße Sacherfahrung. Es ist ein Erfahren, das auf Akten der Gemütssphäre
sich gründet und auf die nur in ihnen vorstelligen Bedeutungsprädikate
rekurriert. Ob hierbei die vermeinten Werte wirkliche Werte, die vermeinten
Kunstwerke, wissenschaftlichen Werke u. dgl. vor der Vernunft als wahrhafte
gelten können, danach ist nicht die Frage. Zum Beispiel, in der Geschichte
der Naturwissenschaft können die Wissenschaftstypen der Renaissance be-
schrieben werden und kann ausführlich die typische Art der wissenschaft-
lichen Systeme der Astronomie, Alchemie, Magie herausgestellt werden,
ihre Zusammenhänge mit der allgemeinen Kultur der Zeit, die Motive, die
damals gerade diese Gestalten bestimmt, gerade solchen Vorstellungsweisen,
Methoden, Schlussweisen überzeugende Kraft verliehen haben, können zum
Verständnis gebracht werden, ohne Rücksicht auf die Fragen nach Vernunft
und wissenschaftlicher Wahrheit.
2) Und so verstehen Sie sogleich die zweite Art von wissenschaftlichen
Untersuchungen, die eine höhere Schicht ist: nämlich dadurch ausgezeichnet,
dass eben darauf ausgegangen wird, die vermeinten, die jeweils für gültig
erachteten Werte und die ihnen gemäß erwachsenen Gebilde herauszu-
werten, die Endzwecke nach ihrem wahren Wert zu beurteilen und auch
die Methoden der Erzielung der Zwecke, die Angemessenheit der Mittel
nachzuprüfen. Dann heißt es in unserem Beispiel, dass die Methoden jener
Wissenschaften grundverkehrt, ihre Resultate zumeist falsch, diese Wissen-
schaften überhaupt bloß Scheinwissenschaften waren, dass aber etwa die
und die Einzelheiten Vorahnungen wertvoller Wahrheiten waren, die unsere
echten Wissenschaften zweifellos gemacht haben.
Doch wir haben bisher von Erfahrungswissenschaften gesprochen als
empirischen Kulturwissenschaften. Selbstverständlich muss es aber auch hier
ein Reich des Apriori geben. Es leuchtet überhaupt ein, dass all die Wege,
die wir früher im Aufstieg zur Idee einer realen Wissenschaftslehre gegangen
sind, sich parallel hier müssen gehen lassen. Das Allgemeinste bleibt insofern
bestehen, als wir früher den Begriff der Realität undifferenziert gelassen
haben. Jetzt scheidet sich uns Realität im Sinne der bloßen Natur und Realität
im Sinne der leistenden Geistigkeit und ihrer Kulturleistungen. Nach diesem
zweiten Glied der Scheidung, das offenbar eigene Regionen wahrhaften
Seins ergibt, muss es also auch eine eigene reale Wissenschaftslehre in
Zweigliedrigkeit geben, gemäß der zweifachen Korrelation von Akt und
116 einleitung in die philosophie

noematischen Gehalten. In den letzteren beschlossen sind die Gegenstände


der Erkenntnis, die hier Kultur schaffende Subjekte und Kulturobjekte sind.
In dieser Richtung läge also, und das ergibt sich als ein notwendiges Postulat,
gegenüber einer realen Ontologie bloßer Natur eine neue Ontologie, die der
geistigen Welt im angegebenen Kultursinn. Diese Ontologie der Geistigkeit
hätte die Aufgabe, ausgehend von empirischen Beispielen, die Korrelation
von Kultur leistender Subjektivität und daraus entspringender Kulturob-
jektivität in unserer geläuterten platonischen Methode der Ideenschau die
von allem Zufälligen möglicher Empirie gereinigten Ideen zu gewinnen, die
uns die reine Sinnesgestalt und damit die unaufhebbare Norm möglicher
Kulturgeistigkeit überhaupt typisch vor Augen stellen (den reinen Sinn aller
Subjektivität als Kultur leistender und aller geleisteten Kultur).
Die1 zugehörigen Idealgesetze würden dann den Bestand von Wahrheiten
ergeben, die nicht verletzt werden dürfen ohne Widersinn. Verletzt würde
dabei der aller Kulturgeistigkeit als solcher wesenhafte Sinn. Es müsste
dann der Weg gesucht werden, alle solche Ideen in systematischer Ordnung
abzuleiten, und insbesondere würde sich dann als notwendig herausstellen
die Parallele zu unserer scharf umrissenen Kategorienlehre der bloßen Na-
tur und speziell der bloß physischen Natur, also die Kategorienlehre des
Geistes, möglicher Kulturgeistigkeit überhaupt. Dabei wären die aus dem
ursprünglichen und unaufhebbaren Sinn der Geistigkeit hervorquellenden
allgemeinen Leitfäden gewonnen für alle mögliche exakte Erforschung der
Geistigkeit. Es wäre dann für die Geisteswelt dasselbe geleistet oder zu
leisten, was hinsichtlich der bloßen Natur und spezieller für ihre Wesensform
der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Bewegung, Kraft die uns wohlbekannten
apriorischen Disziplinen Geometrie, Phoronomie, reine Mechanik leisten.
Natürlich wird sich auch in der apriorischen Sphäre scheiden müssen die
apriorische Sinnesstruktur möglicher Kulturgeistigkeit überhaupt und das
Apriori möglicher positiv wertvoller Geistigkeit.
(Wir dürfen hier nicht verweilen. Es ist das Schicksal gerade einer wissen-
schaftlich fortgeschrittenen Philosophie, dass sie exakt umgrenzte Desiderate
für wissenschaftliche Untersuchungen entwerfen kann, ehe auch nur ein
Anfang bestimmter Erkenntnis da ist, der zur Illustration dienen könnte.
Handelt es sich aber auch hinsichtlich der Ontologie der Geistigkeit wie
der kulturwissenschaftlichen Wissenschaftslehre überhaupt um ein bloßes
Desiderat, so ist doch die bloß mit ihm gegebene Einsicht in die Möglichkeit,

1 Randbemerkung Naturwissenschaftlicher Widersinn – geisteswissenschaftlicher Widersinn.


naturwissenschaftliche und teleologische welterklärung 117

ja Notwendigkeit solcher Disziplinen ein außerordentlicher Gewinn. Neue


Marksteine sind festgesteckt, die zu jeder Orientierung im Reich der Wis-
senschaft und in weiterer Folge zu jeder „Weltanschauung“ unentbehrlich
sind. Immerhin,1 eine Hauptlinie können und müssen wir verfolgen, die-
jenige die uns zur Idee der Ästhetik, der Ethik führt, für die wir doch
auch über innere Vorbereitungen und auch über historische Vorlagen verfü-
gen.)
Die2 Kontrastierung der wissenschaftlichen Weltbetrachtung der griechi-
schen Philosophie mit der Weltbetrachtung unserer Naturwissenschaften,
die auffällige Tatsache, dass die erstere eine vorherrschend teleologische
war, aber es, von einigen Ansätzen abgesehen, zu keiner Naturwissenschaft
in unserem Sinne gebracht hat, veranlasste uns zu einer Reihe selbständiger
Überlegungen. Methodisch vorbereitet durch3 unsere früheren Studien, bei
denen uns ideengeschichtliche Motive die Leitung boten, gewannen wir sehr
wichtige Einsichten über notwendige Demarkationen im Gesamtbereich
möglicher Erkenntnis und möglicher Wissenschaften von unserer Umwelt
und einer denkbaren Welt überhaupt. In dieser Umwelt scheidet sich uns
eine notwendige Unterschicht ab als bloße Natur mit bloßen Naturprädi-
katen: Abgesehen ist dabei von allen Prädikaten, die ihren Sinn und ihre
allgemeine Geltung herleiten daraus, dass Subjekte schon vorgegebene Ge-
genstände werten und aufgrund der diesen zugeteilten Werte sich an ihnen
als Handelnde betätigen. Eben diese Prädikate bestimmen dann die höhere
Schicht der Umwelt, die spezifisch geistige Welt der Kultur, Prädikate, die
also von vornherein durch ihren Sinn auf eine in Wertung Stellung nehmende
und handelnde Subjektivität zurückweisen. Bloße Sachen, bloße Natur um-
spannt alle Gegenstände, deren Dasein und Sosein gegeben ist durch bloße
Erfahrung, also in einem Erleben, das in sich selbst nichts von einer werten-
den Stellungnahme oder einer praktischen Leistung in sich schließt. Einen
Tisch betrachte ich als bloße Sache, ich habe von ihm bloße Wahrnehmung
und bestimme ihn als bloße Natur, beschreibend und theoretisierend, wenn
ich abstrahiere davon, dass er ein Zweckobjekt ist, dass irgendein Subjekt
ihn als nützlich wertet und dass er unter der Leitung gewisser Zwecke
von einem Tischler durch Verarbeitung von Brettern geschaffen worden
ist. Die Handlungen des Tischlers betrachte ich als einen bloß physischen

1 Randbemerkung Der Übergang zur Wertelehre und Ethik erfolgt erst S. 98 = S. 119.
2 Randbemerkung Anknüpfung an den historisch-geschichtlichen Gang bis folgende Seite =
S. 118.
3 Statt durch im Msk. doch.
118 einleitung in die philosophie

Naturzusammenhang, wenn ich davon absehe, dass es Handlungen sind,


was mich ja auf Werten und Wollen zurückführen würde, sondern davon
die bloße Außenseite sozusagen nehme, die betreffenden räumlich-zeitlich
kausalen Vorkommnisse.
Sofern nun das Reich des spezifisch geistigen Daseins ebenfalls seine
Objektivität hat, Thema ist für wahre Prädikationen, also auch für Wis-
senschaften, kontrastieren sich uns Natur- und Geisteswissenschaften (oder
auch Kulturwissenschaften). Auf der letzteren Seite sind die Themen nicht
nur die durch geistiges Leisten konstituierte Objektivität, sondern auch die
leistende Subjektivität selbst, sofern sie nicht bloß leistende ist, sondern auch
selbst zum Thema geistiger Gestaltung werden kann und immer wieder auch
wird.
Nach den gegebenen Darstellungen ist die Geisteswelt nichts von der
Natur Getrenntes, sondern sie setzt beständig eine Natur als Unterlage,
als Substrat der wertenden und schöpferischen Leistungen voraus. Sofern
zum Wesen der Welt diese Verflochtenheit trotz der Schichtung nach prin-
zipiell andersartigen Strukturen gehört, hätten wir ergänzend zu unseren
bisherigen Betrachtungen über apriorische und empirische Natur- und Geis-
teswissenschaften auch die die Ideen „Natur“ und „Geist“ verbindenden
Wissenschaften mit apriorischen und empirischen Disziplinen beizufügen.
Die Wissenschaft von den Subjekten als Gliedern der Welt (die ihre ge-
meinsame Umwelt ist und sie zugleich ihrem Dasein nach umspannt) heißt
„Psychologie“. Sie gehört zu den Geisteswissenschaften, sofern das Subjekt
als in seinem eigenen Leben als Kultur schaffendes und auch als kultiviertes
erforscht wird. Insofern Subjekte aber auch als Natur betrachtet werden
können oder das seelische Sein selbst eine Schicht hat, die den Charakter
bloßer Natur hat, gibt es auch eine Psychologie als Naturwissenschaft. Dass
diese Scheidung zu größten Schwierigkeiten und wissenschaftlichen Kämp-
fen Anlass gibt, werden wir noch zu erörtern haben.

Apriorische Wertelehre und Ethik

Wir fügen nun eine wichtige Fortführung unserer Betrachtung bei, indem
wir anknüpfen an die frühere Scheidung der Kulturgebilde in solche, die in
der intersubjektiven Erfahrung sich ausweisen als faktische, eventuell von
den meisten oder allen als wertvoll anerkannte Gebilde, und in solche, die in
der wertenden Vernunft ausweisbar sind als wahrhafte Werte. Ich erinnere an
unsere Beispiele der Renaissancewissenschaften Alchemie oder Astrologie,
apriorische wertelehre und ethik 119

die als geistige Gebilde erwuchsen und faktisch allgemein für wahre Wissen-
schaften galten, während sie vor der Vernunft sich als Scheinwissenschaften
herausstellen.1
Dies führt uns auf die Frage nach den Prinzipien und überhaupt Gesetzen,
unter denen alle Vernunftbetätigung im Werten bzw. alle echten, wahren
Werte als solche stehen. Sofern diese Echtheit sich selbst in einem Werten,
einem besonders ausgezeichneten Werten, das eben darum „vernünftig“
heißt, herausstellt und sofern dieses Herausstellen selbst ein geistiges Leisten
ist, ein Erstreben und Erzielen der Echtheit, stehen wir durchaus in der geis-
tigen Sphäre, und die hierher gehörigen Disziplinen der Vernunft sind selbst
als Geisteswissenschaften anzusprechen. Wir stoßen also im allgemeinsten
Rahmen derselben auf die obersten normativen Disziplinen, wir stoßen auf
die apriorische Wertewissenschaft und darin auf die Ästhetik, ferner auf die
apriorische Wissenschaft von der praktischen Vernunft, die Ethik; auch von
Logik werden wir in diesem Rahmen noch ein Wort zu sagen und ihr hier
eine Stelle anzuweisen haben.
Gehen wir aus vom Werten, ein allgemeiner Titel für jederlei Gefallen
und Missfallen, sich über etwas Freuen oder sich darüber Ärgern und wie die
Bezeichnungen sonst mit mancherlei Differenzierungen lauten mögen. Wir
stellen gleich einen radikalen Unterschied heraus. Wenn wir werten, kann
das Gewertete ein Wirkliches oder Unwirkliches sein, ein normal Wahr-
genommenes oder ein Illusionäres, ein frei Fingiertes. Bewusstseinsmäßig
kann dabei die Wirklichkeit als Wirklichkeit gesetzt, die Unwirklichkeit als
Unwirklichkeit bewusst sein. Bald werten wir Dinge der erfahrenen Um-
welt, bald eine Zentauren-Landschaft, die uns ein Bild anschaulich macht,
während wir die Fiktion dabei als Fiktion auffassen, bald geben wir uns dem
Spiel eigener Phantasie hin, etwa musikalischer Phantasie und haben unser
Gefallen an der Melodie, die innerlich, im Bewusstsein ihrer Unwirklichkeit
gleichsam gehört wird.

1 Gestrichen Die Frage der Scheidung naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung und Welt-

erklärung gegenüber einer teleologischen war für uns der Ausgangspunkt für eine Reihe
selbständiger Überlegungen. Wir werden sie noch eine Strecke fortführen müssen, ehe wir die
gewonnenen Einsichten über die notwendigen Demarkationen im Reich möglicher Erkenntnis
und Erkenntnisthemen dazu verwerten können, um es zu verstehen, warum das Altertum zu
einer Naturwissenschaft in unserem Sinne nicht durchgedrungen ist und warum die teleolo-
gische Weltbetrachtung in ihm die wesentlich vorherrschende ist, wie umgekehrt, warum die
neuzeitliche Weltbetrachtung mit der Naturwissenschaft eine spezifisch naturwissenschaftliche
Weltbetrachtung ausgebildet, aber ihrerseits geneigt ist den eigentümlichen Sinn und die Not-
wendigkeit einer teleologischen Weltbetrachtung zu verfehlen.
120 einleitung in die philosophie

Es gibt nun ein Werten für das dieser mitgegebene Glaube oder diese
Überzeugung vom Wirklichsein oder Nichtsein oder auch Wahrscheinlich-
sein usw. des gewerteten Gegenstandes für die wertende Stellungnahme
wesentlich motivierend, grundlegend ist. Und es gibt andererseits ein Werten,
wo diese Überzeugung vom wirklichen Sein des Gewerteten (also auch jede
logische Stellungnahme dazu) für das Werten völlig irrelevant bleibt. Im ers-
teren Fall richtet sich das Werten auf den Gegenstand selbst und wie er ist; im
zweiten Fall bloß auf den erscheinenden Gegenstand als solchen, auf das Wie
der Erscheinungsweise. Wir freuen uns einmal etwa an unserer behaglichen
Wohnung oder an den schönen Wintertagen. Was da gewertet ist, das ist das
betreffende Gegenständliche in seinen gegenständlichen Eigenschaften. An
dem wahren Sein dieser Eigenschaften hängt die Wertung. Wir haben eine
Freude an einer Person, eine Freude darüber, dass sie gerade so ist, wie sie ist,
dass sie diese Intelligenz hat, dieses Gemüt, diese musikalischen Fähigkeiten
und Fertigkeiten. Dann ist die Wertung fundiert in der Überzeugung von der
Wirklichkeit der Person und der Wirklichkeit dieser ihrer Eigenschaften.
Sowie die Überzeugung vom wirklichen Bestehen dieser Eigenschaften ver-
loren geht, ist die Freude alsbald dahin. Ebenso beim Missfallen, beim Hass
eines Menschen, den wir mit Eigenschaften auffassen, die uns abstoßen. Der
Hass verliert seinen Boden, wenn wir erkennen, dass wir uns getäuscht, dass
wir ihm solche Eigenschaften fälschlich zugedeutet haben.
Wir können aber einen Menschen in ganz anderer Weise als „schön“
werten, zum Beispiel eine Person als leiblich schön. Offenbar kommt es
hier ausschließlich auf die Erscheinungsweise an: Die Schönheit ist uns nur
gegeben, und das Schön-Gefallen ist nur ein wirklich ursprüngliches und
entfaltetes, wenn die Person in einer gewissen Lage zu uns steht, wenn sie
uns gewisse Aspekte zeigt und nicht andere. Erkennbar als dieselbe mag sie
in unendlich vielen anderen Gegebenheitsweisen sein, ihre Schönheit gehört
aber nur zu den ausgezeichneten Darstellungsweisen. Ebenso ist ein Berg
schön genannt nur mit Beziehung auf den Anblick, den er uns von einem
bestimmten Aussichtspunkt aus zeigt.1

1 Gestrichen Gehen wir vom Menschen und seiner faktischen Umwelt aus. Sie steht ihm

gegenüber als da seiende, sei es als bloße Natur, sei es schon ausgestattet mit Kulturcharakteren.
Sie berührt ihn im Gemüt, er wertet sie, und das bestimmt weiter seine Praxis, in der, in der
früher erörterten Weise, die Umwelt neue und dabei auch bleibende Charaktere geistiger Art
annimmt. Als da seiende steht ihm die Umwelt gegenüber in Form der Erfahrung, als gewiss
seiende oder im Einzelnen auch als vermutlich seiende, wahrscheinlich seiende usf. In der
Phantasie können ihm dazu auch Phantasiegestaltungen vorschweben, und er kann zu ihnen
apriorische wertelehre und ethik 121

Der ausgezeichnete Anblick ist aber nicht eine reale Eigenschaft des Ge-
genstandes selbst, sondern eine Eigenschaft des wahrgenommenen Gegen-
standes als solchen im Medium der Gegebenheitsweise. Ob die menschliche
Person oder der schöne Berg nun auch als Illusion sich herausstellten, solange
nur die Anschauung den Gegenstand in demselben Aspekt zeigt, bleibt das
Gefallen als Gefallen am Schönen erhalten. Die reine Schönheit gehört also
nicht zur Wirklichkeit. Verstehen wir „Interesse“ und „Interessiertsein“
in einem prägnanten Sinne, also in dem des Interesses an der Wirklich-
keit, wie das Kant tut, dann wäre also das Wohlgefallen am Schönen ein
„uninteressiertes“. Wenn wir den wirklichen Berg, die wirkliche Person als
schön bezeichnen, so ist das eine subjektiv objektive Bezeichnungsweise:
Er ist schön, sofern er nicht nur ist, wie er ist, sondern, von einem Subjekt
angeschaut, unter anderem gewisse Aspekte, Gegebenheitsweisen hat, die
ein reines Schön-Gefallen fundieren. Dieses Als-schön-Gefallen bezeichnen
wir im weitesten Sinne als ästhetisches.1
Daraus ergibt sich eine große Scheidung der Werte in Daseinswerte (oder
Gutwerte) und in ästhetische Werte oder Schönwerte und somit auch eine
Scheidung der Wertelehren in eine Güterlehre und eine Ästhetik. Sind in
der reinen Ästhetik Gegenstände überhaupt betrachtet um ihrer Schön-
heiten willen ohne Ansehung der Frage der Wirklichkeit der Gegenstände
und ihrer Wirklichkeitseigenschaften, so ist nun zu beachten, dass, wo ein
Gegenstand der Wirklichkeit als schön gefällt und als schön beurteilt wird,
zugleich auch die Wirklichkeit dieses Schönen ein Gefallen erwecken kann,
und zwar gerade mit Rücksicht darauf, dass es ein Schönes ist. Deutlicher
gesprochen: Wir freuen uns darüber, es ist uns wert, dass ein Gegenstand
wirklich ist, dem in Bezug zur auffassenden Subjektivität Erscheinungswei-
sen zugehören, subjektive Modi der Gegebenheit, die ein Als-schön-Gefallen

auch Stellung nehmen in der Weise, dass er das Phantasierte als Möglichkeit, d. i. als mögliches
wirkliches Dasein, setzt und dann in der Regel es in Beziehung zur gewissen Wirklichkeit
setzt. So zum Beispiel, wenn er erwägt, wie das Mögliche, das für wert gehalten ist und im
Begehren als Seinsollendes dasteht, willentlich verwirklicht, im Handeln realisiert werden
kann. Allgemein haben wir hier bezeichnet wirkliche und mögliche Umwelt als eine reale
Seinssphäre, die wertbar ist, nach Wirklichkeit und Modalitäten der Wirklichkeit und darin
bestimmend ist vermöge der Werte, die ihr beigemessen sind, für ein Handeln oder Wirken.
Demgegenüber gibt es aber auch ein Gefallen und Missfallen, ein positiv und negativ Werten,
an bloßen Phantasiegestaltungen als Phantasiegestaltungen, nicht am Phantasieren, sondern
am Phantasieobjekt, am Phantasievorgang, an Phantasie-Welten, und zwar als in den und den
Darstellungsweisen, Aspekten, Gefühlsanklängen u. dgl. phantasierten.
1 Randbemerkung „Gegebenheitsweise“, das ist hier sehr weit zu nehmen: jede Weise der

Darstellung etc.
122 einleitung in die philosophie

fundieren. Das ergibt aber nicht etwa ein Mischgebiet, sondern es ist offenbar
ein apriorisches Gesetz, dass mit jeder ästhetischen Schönheit einem realen
Gegenstand zugleich ein Gutwert zuwächst. Als wirklicher Gegenstand hat
ein Ding neben anderem Gutem auch dieses Gute, dass er geeignet ist,
unter gewissen Verhältnissen gesehen, sich als schön gefallend zu erweisen.
Also jetzt werten wir seine Wirklichkeit mit und in einer Weise, dass die
ursprüngliche reine Schönwertung eine Gutwertung begründet: Der Gegen-
stand ist nicht nur schön, er ist um seiner Schönheit willen auch gut. Der
evidente Zusammenhang, der zwischen reinen Schönheiten und Gütern,
die aus der Darbietung von Schönheiten entspringen, besteht, macht es
begreiflich, dass die Ästhetik auch, ihre Reinheit verlierend, von den schönen
Objekten und den Kunstwerken als Erzeugnissen handelt. (Dabei ist aber
zu beachten, dass auch die Freude an der Schöpfung des Werkes ästhetisch
bedeutsam werden muss; dass das Schöne bewusst ist als Erzeugnis eines
bewunderten Künstlers und seines Schaffens, das ist ja selbst ein Gegeben-
heitsmodus des Schönen, der ästhetisch wirken kann.) Lassen wir uns nun
mit der bloßen Aussicht auf eine wissenschaftliche und reine Ästhetik als
Wissenschaft von den reinen ästhetischen Werten begnügen, deren nähere
Betrachtung in apriorischer und empirischer Hinsicht uns zu weit führen
würde.1
Der in der letzten Vorlesung vollzogenen radikalen Scheidung der Werte
können wir folgenden philosophisch wertvollen Ausdruck geben: Unter
„Regionen“ verstanden wir die obersten sachhaltigen Gattungen, wobei
sachhaltig jede nicht bloß formal-logische Bestimmung war. Dann ist Natur
eine Region, aber auch Wert eine Region, und die Klassifikation der Werte
in Schönheitswerte und Gutwerte war eine fundamentale Scheidung der

1 Gestrichen Betrachten wir stattdessen das Reich der Gutwerte, und zwar in universaler

Allgemeinheit. Jeder Wille geht auf ein Willensziel, und das ist offenbar ein Gutwert oder besser
ein vom Wollenden vermeinter Gutwert. Er muss auch vermeint sein in der Überzeugung des
Wollenden und Handelnden als ein für ihn erreichbarer. Es scheidet sich also Gut überhaupt
und praktisches Gut. Der letztere Begriff ist ein engerer, aber die Verengung bezogen auf ein
hinzugedachtes Subjekt des Wollens und den jeweiligen Bereich seiner praktischen Möglich-
keiten. Versuchen wir nun hier, Wissenschaften zu entwerfen. Also einmal eine Wissenschaft
von den Gütern, eine Güterlehre. Da kommt es auf die verschiedenen Arten und Gattungen
von Gütern an, aber auch auf ihre Wertvergleichung, auf die Aufstellung von Rangordnungen
der Vorzüglichkeit; ferner, sofern wir den Menschen als Willenssubjekt betrachten, auf eine
praktische Güterlehre. Freilich hat jeder Mensch seine praktischen Möglichkeiten, seinen sogar
von Zeitpunkt zu Zeitpunkt wechselnden Bereich der ihm praktisch zugänglichen Güter. Aber
es braucht nicht gesagt zu werden, dass trotzdem allgemeine Gesetze für die Bestimmung
praktischer Güter und vor allem für Auswahl des praktisch Besten aufgestellt werden können.
apriorische wertelehre und ethik 123

Regionen in zwei Hauptgattungen. Nachtragen möchte ich noch eine zweite


allgemeine, das Wertgebiet überhaupt durchsetzende Unterscheidung, die
aber keine eigentliche Gattungsunterscheidung ist, nämlich die in Selbst-
werte und Werte um eines anderen willen. Zum Beispiel: Eine Person, die
wert ist durch das, was sie in sich selbst ist, und ein teueres Andenken an eine
Person. Jede dieser Hauptkategorien kann nun für sich behandelt werden,
und es kann zunächst innerhalb der Sphäre der Schönheit wieder nach den
Grundgattungen gefragt werden und nach ihren wesentlichen Unterarten.
Darüber möchte ich jetzt noch kurz einige Worte sagen.
Zunächst in der ästhetischen Sphäre: Eine solche Grundgattung des Schö-
nen ist die rein sinnliche Schönheit, die schon Platon im Philebus in ihrer
Reinheit gesehen hat, z. B. die rein sinnliche Schönheit von Ton und Tongebil-
den. Aber nicht Musik in unserem Sinne mit der immer Geistiges verknüpft
ist, Geistiges, das sich darin ausdrückt; wie das schon die Überschriften be-
sagen wie „Eroica“, „Pastorale“ u. dgl. bei Symphonien, von dem Ausdruck
musikalischer Sprachgestalten wie „Lieder“, „Opern“ zu schweigen. Ebenso
eine rein sinnliche Schönheit von Farben und Farbenkonstellationen unter
Zuzug der sinnlich-räumlichen Gestalten.1
Den rein sinnlichen Schönheiten stellen wir gegenüber rein geistige
Schönheiten. Dahin gehören zum Beispiel Schönheiten von Theorien, wie
z. B. die „Eleganz“ gewisser mathematischer Beweise und Theorien im Un-
terschied von anderen genau so guten und dasselbe beweisenden, aber nicht
eleganten. In diesem Sinne bewundern wir ganze Wissenschaften, wie die
eigentümliche Schönheit der euklidischen Geometrie, die eigentümliche
Schönheit der antiken Philosophie und das nicht um ihres Wahrheitsgehaltes
willen, sondern unerachtet vielleicht der vollen Erkenntnis der Falschheit.
Ferner, jedes Kulturgebiet hat seine Formen von Schönheiten und das nicht
nur die wissenschaftliche Kultur. Auch in der Sphäre der schönen Kunst
selbst können wir eine zweite Schönheitswertung finden, etwa in Formen der
Schönheit der gesamten Kunstentwicklung, eine Schönheitswertung, die bei
allen parallelen Entwicklungen statthaben kann.
Wie Kulturgebilde außerpersönlicher Art, so können auch Personen,
geistige Individualitäten, im Ganzen oder nach gewissen Seiten als schön

1 Randbemerkung Es genüge uns, was in der Tat leicht verständliche Gründe hat, Selbstwerte

zu betrachten. Nicht zu übersehen ist dabei auch, dass, wenn wir von Werten schlechthin
sprechen, darunter entweder positive oder negative Werte verstanden werden sollen. (Genau
besehen scheiden sich die Werte eigentlich in drei Gruppen: in positive Werte, negative Werte
und in Adiaphora, Nullwerte. Das Null ist ein wertlich Ununterscheidbares.)
124 einleitung in die philosophie

gewertet werden (zum Beispiel: Wir können die Schönheit ihrer Handlungs-
weisen werten). Ebenso die personalen Verbände, die Gestalten personaler
Gemeinschaft, können als schön gewertet werden. Die Schönheit einer po-
litischen Entwicklung, einer Geschichte, die Schönheit eines bestimmten
Staatswesens, die Schönheit einer Religion, einer Kirche, auch wenn man
etwa ungläubig ist. Geistiges jeder Art gewinnt seine Mitteilbarkeit und
Objektivität sozusagen durch einen sinnlichen Leib, und so tritt uns geistige
Schönheit eigentlich nie rein entgegen, überall ist der Schönheitswert ein
Wert aus der Verbindung. Das Geistige findet im Sinnlichen seinen Ausdruck,
der seine eigenen Schönheiten hat, die ihren Glanz aber in die Schönheit des
Ausgedrückten überstrahlen lassen und so eine neue höhere Schönheitsform
ergeben. Natürlich ergeben sich hier Probleme nicht nur der Klassifikation
und der Aufweisung der Gesetze, nach denen a priori aus Schönheitswer-
ten der oder jener Gruppe neue Werte konstruierbar wären, sondern auch
Probleme der relativen Rangordnung der Werttypen untereinander.
Gehen wir jetzt zu der Gattung der Gutwerte über, so ergeben sich hier
die entsprechenden Probleme einer universellen, nicht nur empirischen, son-
dern vor allem apriorischen Güterlehre. Also wieder Probleme, die sich auf
die Klassifikation der Güter beziehen und auf die Gesetze der Ableitung,
sozusagen auf die eventuell apriorischen Operationsgesetze, nach denen aus
Gütern wieder Güter erwachsen. Endlich auch die Probleme der Rangord-
nung im Reich der Güter, insbesondere der prinzipiellen Rangordnung der
Güter verschiedener Gattungen. Um hier einige Titel zu nennen: So gibt es
die Klasse der ästhetischen Güter, all das Gute umfassend, das gut ist um
irgendwelcher Schönheiten willen; die logischen Güter: Gewertet werden
dabei einzelne Wahrheiten, Schlüsse, Beweise, Theorien, ganze Wissenschaf-
ten als Seinswerte (das Seiende ist hier das logisch Richtige, Wahre); die
Güter der Personen und der personalen Gemeinschaft: Als gut gewertet
können sein Charaktereigenschaften der Personen oder die Personen in
ihren Charaktereigenschaften, aber auch einzelne Tätigkeiten der Personen,
wie Betätigungen der Nächstenliebe, aber auch Charaktereigenschaften ei-
nes Volkes, einer Staatsnation, wie sie sich im Gang ihrer Geschichte relativ
konstant zeigen, ebenso ein Staat in seiner Verfassung, in einzelnen seiner
Normierungen usf.
Das systematische Studium einer reinen Güterlehre, und zwar einer aprio-
rischen (von allem Zufälligen der Erfahrung gereinigten) müsste die Verbin-
dungsgesetze erforschen, die zwischen solchen Gruppen bestehen und ohne
die ihre systematische Ordnung nicht gewonnen werden kann. Zum Beispiel:
Bei der Wertung der Person stoßen wir auf die Wertung ihrer Akte und
apriorische wertelehre und ethik 125

sehen dabei, dass jeder wertvolle Akt der Person Wert verleiht, aber auch,
dass der Wert der Akte abhängig ist vom dem, worauf der Akt sich richtet.
Richtet sich ein Urteilen auf eine echte Wahrheit, so ist das Urteilen um
dessentwillen ein Gutwert. Richtet sich ein Werten auf einen wahren Wert
sonst, so ist das Werten a priori gut, wenn es positiv wertet, was positiv wert
ist, und negativ, was negativ wert ist. Im Gegenfall aber schlecht. Ebenso ist
das Für-besser-Werten eines wahrhaft Besseren gut, das Als-minderwertig-
Werten eines wahrhaft Besseren schlecht. Und so gibt es vielerlei apriorische
Gesetze, denen gemäß Güter in der außerpersonalen Sphäre sozusagen ihre
Abwandlungen haben in der personalen Sphäre.
Machen wir jetzt einen weiteren Schritt von der Güterlehre in die ei-
gentliche Ethik. Jeder Wille geht auf ein Willensziel; und zum Wesen eines
Willenszieles gehört a priori, dass es für den Wollenden ein vermeintlich gutes
ist, also ein Vorstelliges, das er aber vermisst, das er demzufolge begehrt. Es
schwebt ihm also als Nichtseiendes vor und dabei als Ende einer möglichen
Handlung, die es realisieren, es in ein da seiendes, die Begehrungs- und
Willensintention erfüllendes Gutes verwandeln würde.1 Danach scheidet
sich Gutes schlechthin und praktisches Gut, und zwar für ein handelndes
oder als handelnd gedachtes Subjekt. Nicht jedes Gut kann a priori mein
Willensziel sein, es muss ja nach meiner Überzeugung durch mein Handeln
möglicherweise realisierbar sein, zumindest für einigermaßen möglich muss
ich die Realisierbarkeit halten. Wo ich die Gegenüberzeugung habe, kann
ich mir kein Ziel stellen, z. B. zu machen, dass 2 × 2 = 5 sei, oder zu machen,
dass die Erde still stehe.2

1 Randbemerkung Das ist nicht ausreichend.


2 Gestrichen Natürlich kann meine Überzeugung auch irrig sein, und andererseits braucht ein
vermeintlich für mich praktisches Gutes nicht wahrhaft ein praktisches Gutes sein, selbst wenn
ich es erreichen könnte und selbst wenn es ein Gutes wäre. Wenn ich eine sinnliche Lust, die an
sich gar nichts Schlechtes, ja an und für sich Gutes wäre, realisiere, so ist dann ein Gutes. Wenn
ich aber um dieses Sinnlichen willen etwa ein hohes Gut der Nächstenliebe oder Gottesliebe
mir versage, so ist in der sinnlichen Annehmlichkeit nicht ein praktisch Gutes, sondern ein
sehr Böses realisiert. Das Vorzeichen des praktischen Gutes hat sich umgekehrt. Danach kann
man a priori sagen: Das Realisieren eines +/– Gutwertes schafft selbst zwar notwendig ein
+/– praktisches Gut; aber wie die Vorzeichen übereinstimmen oder sich umkehren, das hängt
an besonderen Gesetzen, wie zum Beispiel: Das Realisieren eines Besseren ist ein positives
praktisches Gut oder kann es sein; sicher ist aber das Realisieren eines Schlechteren, obschon
Guten ein Schlechtes. Ebenso ist es klar, dass die Realisierung eines Schlechten nicht selbst ein
praktisch Schlechtes sein muss, sondern es nur dann ist, wenn nicht das Schlechte eine überra-
gend gute Folge hat, usw. Es ergibt sich dann immerfort a apriori dass für jeden Handelnden in
jedem praktischen Fall nur ein einziges praktisches Gut schlechthin existiert, nämlich das Beste
126 einleitung in die philosophie

Offenbar1 spricht sich in diesen Selbstverständlichkeiten eine apriorische


Gesetzmäßigkeit aus. Es ist ja evident, dass es ein praktischer Widersinn
wäre, etwas anzustreben, was nach eigener Überzeugung kein praktisch Er-
reichbares (Gekonntes) ist. Man kann das auch mit den Worten aussprechen:
Niemand kann erstreben, was er für unerreichbar hält. Aber dann darf man
dies nicht als ein psychologisches Naturgesetz missverstehen. Es ist nicht
gesagt, dass niemand faktisch für unerreichbar Erachtetes erstreben kann.
Denn wir wissen doch, dass dergleichen und leider nicht selten vorkommt.
Jeder Irrenarzt weiß davon zu erzählen.2 Zu beachten ist dabei, dass wir den
Wahnsinnigen und speziell den praktisch Widervernünftigen um dessentwil-
len so nennen, weil er gegen das unmittelbar evidente Vernunftgesetz ver-
stößt, es entweder nicht einsieht oder sich davon nicht praktisch motivieren
lässt. Der Parallelfall ist der logisch Wahnsinnige, der sich durch unmittelbar
evidenten logischen Widersinn nicht in seinen logischen Überzeugungen
hemmen lässt.3
Diese apriorische Gesetzmäßigkeit, die die Scheidung zwischen Gut und
praktischem Gut bestimmt, ist aber nicht die einzige der „praktischen Ver-
nunft“, unter welchem Titel wir an die spezifisch ethische Gesetzgebung
denken. Der in praktischer Hinsicht heillos Dumme oder Verrückte ist darum
nicht ethisch unvernünftig, d. i. ethisch schlecht.4 Was bestimmt den Begriff
des Ethischen? Welche eigentümlichen apriorischen Gesetze treten hier auf?
Dass es sich mit diesem Begriff um einen Wertbegriff handelt und dass die
hierbei maßgebende Wertung keine ästhetische, sondern eine Seinswertung
ist, ist von vornherein klar und ebenso, dass das, was wir dabei werten,
ausschließlich Personen sind mit Beziehung auf ihre Willenentscheidungen,

im Rahmen der Gesamtheit praktischer Möglichkeiten nach Tun und Unterlassen; denn auch
das Unterlassen muss in Anschlag gebracht werden und kann eventuell besser sein als Tun,
etwa wo im positiven Tun nur Böses getan werden könnte. Sind solche allgemeinsten, von den
möglichen inhaltlich bestimmten praktischen Gütern und Schlechtheiten unabhängigen Gesetze
klargestellt, so hängt nun offenbar alles Weitere von der systematischen Güterlehre, und zwar
von einer sachhaltigen Güterlehre ab. Es bedarf gegenüber der unpraktischen Güterlehre einer
praktischen, insofern als erwogen werden muss, welche bestimmten Gattungen und Artungen
praktisch realisierbarer Güter oder Übel es überhaupt gibt, die als praktische Anschläge in
die praktische Rechnung, in die Bestimmung des höchsten praktischen Gutes, das das einzig
Gesollte ist, eingehen.
1 Randbemerkung Sachlich schlecht die ganze weitere Vorlesung. bis S. 136 Mitte
2 Randbemerkung So geht es nicht.
3 Randbemerkung Heißt das, dass er die Einsicht alsbald vergisst und sie für ihn nicht praktisch

wirksame Überzeugung wird?


4 Randbemerkung Ganz unzureichend, von S. 105 = S. 129 an wird nachgeflickt.
apriorische wertelehre und ethik 127

und zwar auf ihre Willensziele, auf die aktuellen und potenziellen. In letzterer
Hinsicht, der potenziellen, beurteilen wir habituelle Eigenschaften einer
Person, deren Kenntnis aussagt, wie sie sich praktisch entscheiden würde
unter den jeweilig dazu gedachten Umständen.
Betrachten wir mögliche Willensziele einer Person, so ist zweierlei zu
unterscheiden. Es kann die Frage die nach dem wirklichen Wert oder dem
Unwert des Willenszieles sein, gleichgültig ob es Willensziel ist oder nicht
und von der wollenden Person gewertet wird oder nicht!1 So ist das wissen-
schaftliche Streben nicht nur auf ein vermeintes, sondern auf ein wirkliches
Gut gerichtet, wenn die betreffende Wissenschaft oder Theorie eine echte
und wahre ist. Der Gutwert dieser Theorie ist aber ein Wert an sich, gleich-
gültig ob jemand ihn als Willensziel erstrebt oder nicht und von diesem Wert
überhaupt weiß oder nicht. Fürs zweite können aber auch Willensziele als
Willensziele gewertet werden.2 Und sie können dann als solche positiv- oder
negativ-wertig sein. Hier stehen wir vor der Frage des ethischen Wertes, des
ethisch Guten und des ethisch Schlechten. Hier tritt uns also ein Doppelsinn
der Rede von einem praktischen Gut entgegen. Einmal kann es besagen ein
Gutes, das, vermeint als praktisch realisierbares Sein, mögliches und even-
tuell wirkliches Willensziel ist. Und das andere Mal kann es ein Willensziel
bedeuten, das nicht nur auf ein Gutes und dabei auf ein erreichbares Gutes
gerichtet ist, sondern das zudem als Willensziel sein Recht, seinen Gutwert
hat. Wir können das auch so ausdrücken: Dass etwas ein Gutes ist, besagt
noch nicht, dass es für mich ein erreichbares Gutes ist, aber schon, dass es
für mich ein vermeintes und gar eingesehenes Gutes ist. Und weiter: Dass
etwas für mich ein erreichbares Gutes ist, besagt noch nicht, dass es ein für
mich Gesolltes ist. Korrelativ ausgedrückt: Es besagt noch nicht, dass mein
daraufhin gerichteter Wille ein richtiger Wille, ein ethischer ist.3

1 Randbemerkung Wie beurteilen wir aber die Willensziele, für die Personen sich entscheiden?

Wie bewerten wir sie und bewerten wir sie danach, wie die betreffenden Personen sie selbst
bewerten? Und da ist der Ausgang der Überlegungen.
2 Eingelegtes Blatt Ethische Wertung, Bewerten von Personen, ihren Willensgesinnungen,

Willenszielen nach ihren Motiven, Bewertung der von ihnen vermeinten Werte usw. Ethisches
Sollen: doppelsinnig: 1) das ethisch Richtige, der richtige ethische Wert. 2) Was ich soll, was
jemand soll, was von ihm gefordert wird, was man ihm zumuten kann, von ihm abfordern, was
ich von mir abfordern kann und was ich, die Forderung anerkennend, erfülle und erfüllen kann,
selbst wieder in einem Willen, in einem Handeln, das selbst wieder ethisch gewertet werden
kann. Bei einer ethischen Wertung ist von einem Imperativ keine Rede. Begriff des Imperativs!
Der absolute ethische Wert – der kategorische Imperativ.
3 Randbemerkung Das alles ist nicht ausreichend.
128 einleitung in die philosophie

Das gilt es jetzt also klarzumachen: Selbst wenn das Ziel meines Willens
ein erreichbares und ein gutes wäre, könnte es als mein Willensziel doch
schlecht sein, etwas das ich ethisch nicht soll. Zum Beispiel: Vielleicht darf
man ernstlich sagen, dass jede sinnliche Lust an und für sich, eine Augen-
weide oder Magenfreude, ein Gut ist. Realisiere ich dergleichen, so realisiere
ich also ein Gutes. Aber nicht alle Güter stehen in der Werteskala auf einer
Stufe. So könnten neben dem sinnlichen Gut in meinem praktischen Bereich
höhere Güter erreichbar sein. Wenn ich nun die Wahl hätte zwischen dem
bloß sinnlichen Gut und dem höheren Gut einer Nächstenliebe oder Got-
tesliebe und ich wählte das sinnliche, so wäre dieses, trotz seiner sinnlichen
Güte keineswegs ein Gesolltes, nicht ein ethisch Gutes; sondern ein ethisch
Böses hätte ich gewählt. In diesem Zusammenhang kehrt also das praktisch
Gute sein Vorzeichen um; als Willensziel gewertet wird das in sich Positiv-
Wertige zum Negativ-Wertigem. Apriori besteht zwar das Gesetz, dass das
Erstreben eines erreichbaren +/– Guten notwendig ein +/– ethisches Gutes
schafft oder schaffen würde; ob aber die beiderseitigen Vorzeichen überein-
stimmen oder nicht übereinstimmen, das hängt von besonderen Gesetzen
ab.
Wir können hier Folgendes ausführen: Zum Wesen des wollenden Ich
gehört die Wahlfreiheit. A priori ist nämlich einzusehen, dass ein waches
Ich, ein Ich, das lebt, indem es Akte vollzieht, in jedem Zeitpunkt seines
wachen Lebens ein Feld praktischer Möglichkeiten hat. „Ich kann“ dies
und das und allerlei, und zwar so, dass mancherlei mir bewusst ist im Cha-
rakter des „von mir Gekonntes“. Ferner: Es ist mir evident, dass ich, wo
ich tue, auch unterlassen könnte, und wo ich unterlasse, ich tun könnte;
dass ich, eine praktische Möglichkeit bevorzugend, ich auch eine andere der
praktischen Möglichkeiten hätte bevorzugen können und dass ich auch, im
Voraus mein Feld praktischer Möglichkeiten überblickend, mich in gleicher
Weise für eine jede der darin beschlossenen praktischen Möglichkeiten
entscheiden könnte. (Sprechen wir vom praktischen Bereich, so meinen
wir nicht die Gesamtheit dessen, was der Handelnde in objektiver Wirk-
lichkeit realisieren könnte, sondern was ihm innerlich, bewusstseinsmäßig
als von ihm Gekonntes vor Augen steht.) Ein ganz anderes, diese Frei-
heit des „Ich kann“ keineswegs störendes Gesetz ist dies, dass jede der
erfolgenden Entscheidungen ihre Motive hat, ihre im Bewusstseinsbereich
des Ich liegenden „Bestimmungsgründe“. Dass ich, unter all dem, was ich
jetzt kann, gerade dieses Eine tue, das entscheidet sich nicht von außen
her wie durch eine Lotterie, sondern ich wähle gerade dies, weil dafür
etwas in meinem Bewusstsein spricht; und es spricht zu mir, es bestimmt
apriorische wertelehre und ethik 129

mich, gerade es zu wollen, mich dafür zu entscheiden: Etwa, mich verlockt


ein materieller Vorteil oder mich bestimmt der überragende Eigenwert der
Sache. Aber das ändert nichts daran, dass ich das eine so gut wie das andere
kann.
Die ethische Wertung bezieht sich auf den Willen im Reich seiner Wahl-
freiheit, dieser Freiheit, die gar nichts Mystisches ist, sondern eine vollkom-
mene Evidenz, evident für jeden, der sich den zum Willensbewusstsein ge-
hörigen Sinn klarmacht. Dies vorausgesetzt, ist es eine apriorische Einsicht,
dass das ethische Gut oder1 das für irgendein bestimmtes Subjekt Geforderte
in jedem Zeitpunkt von dem gesamten praktischen Bereich als Bereich
seiner bewusstseinsmäßigen freien Wahl abhängt und spezieller abhängt von
dem Inbegriff der darin beschlossenen positiven und negativen vermeinten
Gutwerte.2 Man sieht dabei sofort, dass das Beste dieses Bereiches der für
den betreffenden Wählenden erreichbaren Güter sich bestimmen wird als
das ethisch Gute, als das Gesollte.3 Dabei erfordert die exakte Bestimmung
und Ableitung dieses Prinzips die Formulierung einer Anzahl von unmittel-
baren Axiomen der ethischen Vernunft. Ein Hauptgesetz ist dabei das der
Absorption: Stehen im Wahlbereich +/– Güter zur Wahl, die also nach der
Überzeugung des Handelnden in Freiheit verwirklicht oder nicht verwirk-
licht (getan oder unterlassen) werden könnten, so ist von jedem erwogenen
Paar miteinander praktisch unvereinbarer Güter, von denen also nur das
eine verwirklicht werden könnte, das mindere Gut a limine abzuweisen; es
muss sozusagen von vornherein durchgestrichen werden, es soll unterlassen
werden. Der Wille zum minder Guten ist nicht ein ethisch minder guter,
sondern ein ethisch schlechter. Das Bessere absorbiert das minder Gute in
der Wahl; oder wie es im Sprichwort heißt: Das Bessere ist Feind des Guten.
Mag zum Beispiel die sinnliche Neigung noch so stark sein, das sinnliche
Gute darf nicht gewählt werden, wo zugleich ein höheres geistiges Gut in
Wahl steht. Und auch wo relativ hohe Güter in Wahl stehen, kommt dieselbe
Absorption mit in Frage. Andererseits kann doch auch ein Negativ-Wertiges
in der Wahl als ein positiver Posten im Anschlag bleiben und eventuell
seine Wahl gefordert sein, nämlich als Mittel für ein erreichbares höheres
Gutes. Alle hierher gehörigen Axiome müssen natürlich in strenger und

1 Randbemerkung Nicht „oder“, sondern in weiterer Folge!


2 Randbemerkung Vermeinten Gutwert!
3 Randbemerkung 1) Gesollte im Sinne von ethischem Wert 2) Im Sinne von dem Abzu-

fordernden.
130 einleitung in die philosophie

vollständiger begrifflicher Fassung ausgesprochen werden. Sie müssen alle


in Frage kommenden Wesensmomente der Willenssachlage als solcher mit
berücksichtigen.1
So haben wir zum Beispiel noch gar keine Rücksicht genommen auf den
Unterschied von Mittel und Zweck, wobei wir evidenterweise zurückkom-
men auf letzte Zwecke, auf Zwecke, die nicht mehr Mittel sind für andere
Zwecke. Es ist dann ein apriorisches Gesetz der praktischen Vernunft, dass
unter der Hypothese, dass ein Zweck ein guter sei, also ein ethisch gefordertes
Willensziel sei, in Konsequenz davon jedes dazu geeignete Mittel in den
Kreis der ethisch zu erwägenden Anschläge tritt, dass es sozusagen auf der
ethischen Waage ein Gewicht hat. Wird die Erwägung der Endzwecke noch
in hypothetischer Unentschiedenheit gelassen, so kann schon an und für sich
der Bereich der für diese Zwecke relevanten Mittel nach ihren relativen
Gewichten betrachtet werden, und es können apriorische Axiome dafür
formuliert werden: Axiome der praktischen Konsequenz, wie zum Beispiel
dies, dass ein Mittel, das einen Endzweck mit großer Wahrscheinlichkeit
oder gar mit Sicherheit herbeiführen würde, den vernunftgemäßen Vorzug
hat; das „bessere“ Mittel absorbiert das minder gute, und das beste Mittel ist
das in Konsequenz der betreffenden Zweckwertung einzige Gesollte, gesollt,
wenn eben der Endzweck ein gesollter ist.2
In dieser Art sind alle allgemeinen Axiome der praktischen Vernunft
aufzusuchen, sowohl die Gesetze der praktischen Konsequenz, die nur soge-
nannte „hypothetische Imperative“ betreffen, als auch Gesetze der Ver-
nunft in der Wahl letzter Willensziele, nicht hypothetischer, sondern kate-
gorischer Imperative, falls hier überhaupt eine Mehrheit denkbar ist.3 In
letzterer Hinsicht ist übrigens, da auch für die Endzwecke eine größere
oder geringere Wahrscheinlichkeit der Erzielung bewusstseinsmäßig beste-
hen kann, die Frage der Rolle dieser Sicherheitsgrade für die Auswahl der
„besten“ Endzwecke zu beantworten.
In anderer Hinsicht ist ferner darauf zu achten, was die Beziehung des
jeweiligen Gesamtbereiches erreichbarer praktischer Werte auf den Zeit-
punkt der Wahl bedeutet. Die ethische Beurteilung einer Person – wie wir

1 Notiz Die ganze Vorlesung muss neu erarbeitet werden. Das war doch leichtsinnig, flüchtig,

dass ich nicht von dem Unterschied des objektiv betrachteten Guten und dem vom Handelnden
vermeinten Guten sprach, nichts von Gesinnung, von Motiven etc.
2 Randbemerkung Selbstverständlich, wenn auf Seiten der Mittel sonst keine Wertunter-

schiede als bestimmend in Frage kommen können.


3 Randbemerkung Hier ist noch keine Rede von Imperativ vgl. Bl. 110 = S. 134.
apriorische wertelehre und ethik 131

hier den Begriff des Ethischen gefasst haben und was die Güte ihrer Ent-
schließungen bzw. der ihr Handeln leitenden Willensziele angeht – fordert,
dass wir sie in einer jeweiligen Lage betrachten, dass wir uns in ihr prak-
tisches Bewusstsein einfühlend versetzen, uns den praktischen Bereich des
Gekonnten, in dem sie sich in dem betreffenden Zeitpunkte selbst findet, re-
konstruieren und dann ihre Entscheidung nachwiegen. (Die Person in ihrem
ganzen Leben und Streben beurteilen, fordert also, eben dasselbe für jeden
Zeitpunkt zu leisten.) Dabei ist aber als ein Wesensmoment zu beachten,
dass kein Zeitpunkt isoliert ist und dass der Handelnde a priori in jedem
Zeitpunkt auf einen offenen Zukunftshorizont bezogen ist und dass der
praktische Bereich, der seine Wahl bestimmt und bestimmen muss, wenn er
wahrhaft praktisch vernünftig ist, auch all die praktischen Möglichkeiten mit
in Rechnung ziehen müsste, die er, vom Jetzt ab in die Zukunft vorblickend,
als künftige Erreichbarkeiten erkennen oder als vermutliche ansetzen kann.
Das Beste des Momentes muss fallen gelassen werden, wenn seine Wahl
ein hohes Gut der Zukunft unmöglich machen würde. Selbstverständlich
müssen alle guten und bösen Folgen für die Zukunft bei der Frage des jetzt
zu Wählenden mit in Rechnung gestellt werden. Klar ist dabei, dass der für
jedes wache Ich bewusstseinsmäßig vorhandene Zukunftshorizont, wie ver-
schieden er inhaltlich auch sein mag, immerfort ein praktischer Horizont ist,
der vernunftmäßig ein positives Tun in ihn hinein fordert. Niemals kann ein
Ich unter der Forderung stehen, überhaupt nichts zu tun, sondern höchstens,
momentan sich zurückzuhalten, um nach Abwarten eines Erfolges mit einem
Handeln eintreten zu können. Denn wir dürfen es als ein Axiom ansetzen,
dass ein Individuum, in dessen praktischer Sphäre überhaupt kein Gutes
wäre, undenkbar ist. Undenkbar wäre auch die Forderung, etwas zu tun,
was jedes weitere künftige Tun unmöglich machen würde, also zum Beispiel
Selbstmord zu begehen.
Jedenfalls erschaut man aufgrund solcher systematisch und exakt formu-
lierbaren Einsichten, dass es im Reich der praktischen Vernunft (oder des
Ethischen, nach unserer bisherigen Fassung dieses Begriffs) für einen jeden
Handelnden und jeden Zeitpunkt seines Handelns nicht eine Vielheit von
praktischen Imperativen gibt, sondern nur einen einzigen: den kategorischen
Imperativ. Es gibt für ihn jeweils und vor der Vernunft ein unum necessarium;
ein Einziges ist jeweils für ihn das Gesollte in jeder Lage seines Lebens und
damit für sein ganzes waches und freies Leben überhaupt. Konstruieren wir
die Idee eines durchaus nach praktischer Vernunft handelnden Subjekts, so
wäre sein ganzes Leben in endgültiger Notwendigkeit bestimmt; aber das be-
sagt keineswegs, dass darum von einem und jedem Zeitpunkt aus das künftige
132 einleitung in die philosophie

Leben inhaltlich berechnet werden könnte. Denn die Umstände ändern sich
in unvorherzusehender Weise, und die Voraussetzungen der Erreichbarkeit
und des Wertes und der Brauchbarkeit von Mitteln usw. erweisen sich im
Fortgang der Erfahrung als unzuverlässig und änderungsbedürftig.1
Überlegen wir näher den Sinn des kategorischen Imperativs und der
ganzen, seine Bestimmung vollziehenden und ihn tragenden apriorischen
Gesetzmäßigkeiten.2 Das positiv Gute zu wählen, das das Beste ist in der
gesamten im Moment der Wahl sich in die endlos offene Zukunft erstre-
ckenden praktischen Wirkungssphäre, ist das eine schlechthin Geforderte.
Gewertet werden dabei die Willensziele irgendeines Subjekts überhaupt,
also primär und eigentlich3 gewertet wird dabei der Wille, deutlicher die
Willensentscheidung. Denn man darf ja nicht das Wort „Wille“ in einem
laxen Sinne nehmen, in dem etwa eines Wunsches oder einer Willensneigung,
Willenserregung, sondern in dem eben der Entschiedenheit des „So tue ich!“,
die sich fortgesetzt im Handeln auswirkt.
Was die Willensrichtung anlangt, die der kategorische Imperativ gesetz-
lich bestimmt, so ist zu beachten, dass diese Bestimmung nicht als eine
objektive missverstanden werden darf:4 als ob der Wille ein guter wäre, der
das in objektiver Wahrheit für den Handelnden Beste unter dem Erreich-
baren wählt und realisiert. Es ist ja sehr wohl möglich, dass jemand genau
das aus tadelhaften Motiven bevorzugt, etwa weil er sich einen gemeinen
Vorteil davon verspricht, was, objektiv erwogen, sich ansehen ließe als das im
praktischen Bereiche des Handelnden wahrhaft Beste. Wie sehr es nicht auf
das Willensziel nach objektiven Werterwägungen ankommt, sondern auf die

1 Notiz Ich werde wohl die ganze Lehre vom kategorischen Imperativ aufgeben müssen

bzw. neu begrenzen. 1) Das bonum und summum bonum, betrachtet nach Seiten der Gutwerte
(Güter). Die Gütersphäre hat für mich einen praktisch realisierbaren Teil: mein praktisch bestes
„Gut“. 2) Ist das schon für mich das Gesollte? Könnte es nicht bezweifelt werden, dass das beste
praktische Gut, das für mich absolut Gesollte ist? Welche Bedeutung hat die Subjektivität des
Wollens? Kommt sie nur als objektivierte in Betracht, sofern ich sie nur bewerte nach dem
außersubjektiven Guten, das sie schafft? Problem der Liebe. Kann ich nicht Liebe für ein
Wertgebiet haben und so, dass diese Liebe nicht einerlei ist mit dem Werten und Sich-am-
Wert-den-man-besitzt-Freuen? Eine personale Liebe, etwas spezifisch Personales, das als reine
Liebe selbst den Wert der Person bestimmt. Nun kann man scheiden Werte außer mir und in
mir, und diese Liebe selbst als Gut in Rechnung ziehen. Aber reicht das aus etc.? Liebe der
Mutter, Liebe des Freundes, Nächstenliebe, spezifische Liebe zur Kunst überhaupt, etc. Das
Geliebte und der objektive Wert. Das Geliebte als das für diese Person subjektiv Vorzügliche,
andererseits objektiv wertvoll in der objektiven Beurteilung der Person.
2 Randbemerkung Nicht kategorischer Imperativ, da ja von einem Imperativ keine Rede ist.
3 Randbemerkung Was heißt primär und eigentlich?
4 Randbemerkung Also!
apriorische wertelehre und ethik 133

innere Motivation, die innere Gesinnung, das wird sogleich klar werden. Es
kommt schon bei der Bestimmung des praktischen Bereiches gar nicht an auf
die objektive Erreichbarkeit der darin beschlossenen möglichen Willensziele,
sondern nur auf die Überzeugung des Handelnden von der Erreichbarkeit.
Und ebenso hinsichtlich der Güter und Übel des praktischen Bereiches nicht
darauf, ob sie wahre Güter und wahre Übel sind, sondern ob der Handelnde
sie als solche wertet, sie dafür hält. In der ethischen Wertung wird der
Wille irgendeiner Person nicht in einem beliebigen, sondern in einem ganz
bestimmten Sinne gewertet, nämlich ausschließlich mit Beziehung auf das,
was ihm bewusstseinsmäßig und somit als Motiv vor Augen steht, auf das,
was ihm als erreichbar gilt, als gut und schlecht, als besser und am besten
gilt.
Bevorzugen wir das „nach bestem Wissen und Gewissen“ Beste unter
dem Erreichbaren, so haben wir ethisch gehandelt; unser Wille ist dann und
nur dann absolut richtig. Er ist es, selbst wenn es sich hinterher herausstellt,
dass unsere Überzeugungen über Erreichbarkeit, über Güter, Rangordnun-
gen der Güter, Vorzüglichkeiten falsch waren. Freilich kann dann das Subjekt
doch noch ein ethischer Tadel treffen, aber nicht das Subjekt als Subjekt der
jetzigen Wahl, sondern als das früherer Wahlentscheidungen. Es hätte früher
vielleicht seine Urteile besser vorbereiten, seine Fähigkeiten des Gutwertens
und richtigen Bevorzugens besser ausbilden können; das lag früher vielleicht
mit in seinem praktischen Bereich und es ließ sich davon nicht bestimmen.
Konkret müssen wir also den kategorischen Imperativ so fassen: Entscheide
dich für das, tue jederzeit das, was du nach bestem Wissen und Gewissen
als das Beste unter dem für dich Erreichbaren wählen kannst. (Für den
Begriff des Besten und die nähere Bestimmung des Bereiches praktischen
Könnens, der als Wahlbereich zu fungieren hat, haben natürlich die früher
angedeuteten Axiomgruppen das Genauere zu sagen.)
Nach all dem ist es klar, dass das Prinzip des kategorischen Imperativs
nichts anderes ist als ein apriorisches Motivationsgesetz, wie dasselbe von
jedem Vernunftgesetz im prägnanten Sinne einzusehen ist. Es drückt eine
evidente, absolut gültige Gesetzlichkeit aus, wie die Motivation eines Willens
beschaffen sein muss, damit der Wille ein ethisch guter, das Gewollte ein ab-
solut Gesolltes sein kann. Ja nicht nur das, es drückt gesetzlich ein unbedingt
gültiges positives Kriterium des ethisch guten und schlechten Willens aus.
Man überzeugt sich leicht, dass nur die ethische Wertung den Willen
einem summum bonum nach, einem praktisch Besten (einem praktischen
Eigenwert nach) wertet, während alle anderen Wertungen des Willens Werte
betreffen, die ihm zuwachsen um anderer vorgegebener Werte willen. So
134 einleitung in die philosophie

ist der künstlerische Wille gewiss ein guter, aber nur, sofern er auf den
vorgegebenen Wert des Kunstwerkes gerichtet ist und Mittel ist für dessen
Realisierung. Der ethische Wille ist aber ein Gutwert an und für sich, mag
das Gewollte, objektiv betrachtet, sich als ein Unwert herausstellen. Machen
wir nun einen Schritt vorwärts. Einen recht merkwürdigen Schritt.1
Zum Willensbereich eines jeden Ich gehört a priori auch der ganze Bereich
seiner Bewusstseinsaktivität, darunter also auch sein eigenes Wollen, und
nicht nur Akte des Einzelwollens, sondern des allgemeinen Wollens kommen
hier in Frage. Ich kann zum Beispiel den Entschluss fassen, überhaupt nicht
oder von nun ab überhaupt nicht wieder zu morden, zu stehlen und sonstige
gute oder böse Handlungen zu tun. Das Ich gibt sich in einem Willen ein
Gesetz für alles weitere Wollen, das unter die gesetzliche Allgemeinheit
fällt. Und dieser Wille ist nicht ein bloß momentanes Ereignis, sondern
eine bleibende Gesinnung, eine bleibende Willensentschiedenheit, die durch
weiteres Willensleben bewusstseinsmäßig fortwirkt in Form der praktischen
Konsequenz. Notabene solange nicht ein neuer, aufhebender Willensent-
schluss eintritt und eine neue bleibende Willensentschiedenheit eintritt, der
die frühere praktische Konsequenz durchstreicht und eine neue setzt; oder
auch solange nicht durch fernere Brüche der Konsequenz von Seiten anders
gerichteter stärkerer Motive oder durch Nichtgebrauch der alte Entschluss
kraftlos wird und innerlich sozusagen dahinsiecht und abstirbt. Auch diese
fundamentalen apriorischen Willensmöglichkeiten kommen ethisch in Be-
tracht, das heißt, die allgemeinen Entschließungen, die in den praktischen
Bereich fallen, müssen mitgewertet und ausgewertet werden.

1 Notiz 1) Urteil, naiver Glaube – ursprünglich sehender Glaube. Zu jedem Urteil gehört we-

sensmöglich die Möglichkeit, das Urteil „in Frage stellen zu können“, ein Urteilsprojekt, einen
Vorwurf (Problem) daraus zu machen und dann dazu Stellung zu nehmen. Das Urteil ist in der
Weise der Begründung einsichtig motiviert, wenn die Frage (das Problem) entschieden wird,
motiviert durch die Einsicht, durch Rückgang auf das Ausweisende selbst. Jedes Urteil kann die
Form des Stellungnehmens zum Problem, des Gerichtetseins auf das Wahre selbst annehmen.
2) Werten, naives Werten – naives ursprüngliches Wertnehmen. Ein Wertproblem jederzeit
herzustellen, den „Wert“ in Frage stellen, sich richten auf auswertende Begründung, für wert
halten, Entscheidung der Frage, Werten in Motivation durch die Anmessung an den „Wert
selbst“ (Wertnehmung). 3) Wollen – naives Wollen. Jedem Wollen entspricht eine mögliche
Willensfrage. Ursprüngliches Wollen, in dem naiv ein Sollen vorliegt, ein Gesolltes ursprünglich
bewusst ist. Jedes Wollen übergeführt in Willensfragen = jedem praktischen Ziel entspricht das
fragliche Ziel, und das fragliche ist ein „wahres Ziel“, ein wahrhaft Gesolltes, wenn das Wollen
sich anmisst an das ursprüngliche Bewusstsein des Sollens und je seine Richtigkeit ausweist; das
Ziel ist motiviert (begründet) als richtig. Aber hier kommen die Vorzugsfragen, relatives Sollen
und absolutes durch das „höhere“ Sollen. Das „niedere“ ist dasjenige, das in der Konkurrenz
der „Wahl“ seinen Sollenscharakter durchstrichen hat, aber nur in dieser Relativität.
apriorische wertelehre und ethik 135

Was uns hier interessieren soll, ist nun eine merkwürdige Anwendung auf
den kategorischen Imperativ selbst. Bisher hatten wir eigentlich noch kein
Recht von einem kategorischen Imperativ zu sprechen. Was wir unter dem
Titel bisher herausgearbeitet hatten, das war das Motivationsgesetz und Kri-
terium für den ethisch guten Willen. Es war nicht gesagt, dass der Handelnde
dieses Gesetz selbst formuliert hat, geschweige denn einen entsprechenden
allgemeinen Willen in sich gestaltet haben muss. Tue ich nach bestem Wissen
das Beste unter dem, was sich mir als erreichbar bietet, so tue ich das ethisch
Gute. Ich brauche nicht den Einfall zu haben, die Allgemeinheit der Ge-
setzessachlage zu formulieren, und brauche nicht zu sehen, dass für mich
auch die praktische Möglichkeit besteht, mir es willentlich zum Besitz zu
machen, so zu handeln, also einen Willensentschluss des Inhaltes zu fassen,
von nun ab gesetzmäßig das jeweilig Beste unter dem Erreichbaren zu tun.
Aber sowie ich auf diesen Gedanken komme und sich mein Wahlbereich um
diesen Gesetzeswillen bereichert, wird er zur ethischen Forderung und zur
höchsten ethischen Forderung.1
Das ethische Kriterium, das Gesetz derjenigen Motivation, die einen
Willen als ethischen Willen charakterisiert, hat für den dieses Gesetz Einse-
henden die praktische Konsequenz, dass sein Wille hinfort nur dann ethisch
gut sein kann, wenn er den Entschluss fasst, immer dem Gesetz gemäß
zu handeln. So wird das Gesetz zum höchsten Imperativ. Handle überhaupt
gemäß dem Prinzip, das Beste usw. zu tun. Sowie jemandem dieser Imperativ
von Außen entgegengebracht wird, sowie er vom Erzieher dem Zögling mit-
geteilt und einsichtig gemacht wird, ist er eo ipso das ethische Normprinzip,
das wirklicher ethischer Praxis. Zugleich sehen wir ein, dass eine Person,
die bewusst sich im Sinne des kategorischen Imperativs zu gesetzmäßigem
Gut-Tun-Wollen entschließt, ethisch höher steht als eine Person, die, was
denkbar wäre, für das Beste sich entscheidet, aber das Beste nicht in bloßer
Konsequenz eines allgemeinen Gesetzeswillens, eines Willens, allgemein gut
zu wollen, tut.
Wir2 knüpfen hier sogleich die Frage ethischer Wertung der Person an.
Nach dem Bisherigen ist das im ersten und eigentlichsten Sinne ethisch
Gewertete der Wille und, genau besehen, nicht der Wille als ein momen-
tanes, flüchtiges Erlebnis des Wollenden, sondern als zugleich fortdauernde

1 Randbemerkung Wie kommt die Idee einer Forderung, eines Befehls hier herein?
2 Randbemerkung Siehe die nächste Vorlesung = S. 136–143. Gedanken gut, Darstellung
sehr mangelhaft.
136 einleitung in die philosophie

und in immer neuen Modifikationen fortwirkende Willensentschiedenheit im


Zusammenhang der Motivation. Die Person hat ethischen Wert als Subjekt
eines ethischen Willens und sie gewinnt, als identischer Quellpunkt immer
neuer Willensentschlüsse, einen einheitlichen ethischen Wert gemäß dem
sich hier leicht darbietenden Ideal, nämlich der Idee einer Person, die, in
welcher Phase ihres gesamten Lebens wir sie auch immer betrachten, ethisch
vollkommen ist, also jene feste und bewusste Willensrichtung (= Gesinnung
als entschlossene Gesinnung) auf das jeweilige, ihr sich als das Beste Darbie-
tende aufweist, die die Stoiker als δι εσις bezeichnet haben. Ihr entspricht
dann der ethische Charakter als die habituelle Eigenheit des Subjekts, als
ursprüngliche und in der Betätigung fest geübte Disposition zum ausschließ-
lich guten Wollen.1 Diese absolute ethische Vollkommenheit ist also ein
überempirisches Ideal. Sich aus der Unfreiheit, aus der Knechtschaft durch
herabziehende sinnliche Neigungen und durch nachwirkend-motivierende
unethische Entschlüsse zu „ethischer Freiheit“ emporzuentwickeln, zum
freien Entschluss sich durchzuringen, das Gute und Beste um seiner selbst
willen zu wollen und diesem Entschluss im Kampf mit jenen Gegenmäch-
ten Wirksamkeit zu verschaffen, das ist die praktisch ethische Aufgabe, die
Aufgabe der beständigen Annäherung an das Ideal der Vollkommenheit.
Die wissenschaftlichen Betrachtungen, die wir in den letzten Stunden
angestellt haben, gehören in den Bereich einer einheitlich in sich abgeschlos-
senen Disziplin, der Ethik. Sie ergibt sich uns als die Wertewissenschaft vom
ethischen Willen und von dem von da aus zu bestimmenden Eigenwert
eines Willenssubjekts, einer Person. Für das Individuum und im individu-
ellen Falle ergibt sich beständig die Gewissensfrage oder ethische Frage:
Was soll ich tun? Was ist hier und jetzt das schlechthin Gesollte und was
ist überhaupt meine wahre Lebensaufgabe? Eine Ethik als Wissenschaft
kann nicht von jedem bestimmten Individuum und jedem einzelnen Fall
seiner Praxis handeln, aber wohl kann sie in Allgemeinheit und zunächst
sogar in der Allgemeinheit überempirischer Idealität von dem Wesen eines
Wollenden und Handelnden überhaupt, vom Wesen praktischer Lagen- und
Wahlbereiche überhaupt und vom Wesen derjenigen Motivation überhaupt
lehren, die seinen Willen als ethischen kennzeichnet. (Und es besteht hier
sogar das Merkwürdige, dass die bloße Form der Willensmotivation den
ethischen Wert des Willens positiv bestimmt und nicht eine bloße Bedingung
des ethischen Wertes ausmacht.)

1 Randbemerkung Freilich Disposition ist ein gefährliches Wort.


apriorische wertelehre und ethik 137

In gleicher apriorischer Allgemeinheit kann man und muss man dann noch
weiter gehen. Statt in bloß formaler Allgemeinheit von +/- Gütern, die dem
Handelnden zur Wahl stehen, zu sprechen und bloß Gesetze aufzustellen, die
formale Gesetze praktischer Vorzüglichkeit sind und die im formalen kate-
gorischen Imperativ als Kriterium kulminieren, kann man die systematische
Güterlehre heranziehen mit den in ihr behandelten Rangordnungen oberster
Gattungen von Gütern und zwar reiner Gattungen. Wir können dann a
priori freie Subjekte uns denken, die dergleichen Güter im Bereich ihrer
praktischen Sphäre haben und theoretisch erwägen, welche Art von Leben
sich für sie vernunftgemäß ergeben müsste, welche idealen Kultursysteme
idealiter als vernunftmäßig geforderte da erwachsen müssten.
Ehe wir diese Richtung weiter verfolgen, unterscheiden wir die Idee einer
theoretischen Wertelehre oder Normenlehre, wie wir sie bisher im Auge
hatten, von der einer Kunstlehre. Diese letztere Idee hat ihre Quelle darin,
dass, wie wir früher schon erkannt haben, zum Wesen eines Ich die ideale
Möglichkeit gehört, in Allgemeinheit zu wollen, allgemein formulierte prak-
tische Möglichkeiten zu erwägen und allgemeine Entschlüsse, Entschlüsse
von gesetzlichem Inhalt, zu fassen, in denen sich also der Handelnde bewusst
ein Gesetz seines weiteren Handelns vorschreibt, ein praktisches Gesetz,
und von sich im Weiteren beständige Konsequenz, das Sich-praktisch-treu-
Bleiben fordert. Das gilt schon in der formalen Sphäre. Das in der theore-
tischen Ethik herausgestellte Gesetz oberster theoretischer Norm oder des
höchsten Kriteriums für einen ethischen Willen wurde zum kategorischen
Imperativ; und das sagt: Die Ethik wird zur praktischen Normenlehre, zur
Kunstlehre vom richtigen Handeln. Den kategorischen Imperativ und alle
daraus abzuleitenden Folgen nimmt der Handelnde, von der Ethik geleitet,
in seinen Willen auf; und dass er das tun soll, das ist selbst als eine For-
derung im kategorischen Imperativ beschlossen, notabene wenn die Ethik
für ihn praktisch da ist. Das gilt dann weiter, wenn wir die reinen Gattungen
sachhaltiger Güter, die wie für uns Menschen so für irgendein gedachtes Wil-
lenssubjekt praktisch maßgebend werden könnten, heranziehen und, über
formale Willensgesetzgebung hinausstrebend, materiale praktische Normen
aufstellen.
Hier ist zunächst Folgendes von großem Interesse. Es gibt zum Beispiel
als eine Gattung reiner Gutwerte Erkenntniswerte, wissenschaftliche Werte;
eine andere Gattung sind ästhetische Werte und durch sie bestimmte Gut-
werte, wie die künstlerischen. Und so gibt es noch deren mehrere. Jede
können wir a priori als praktisch realisierbar für Vernunftwesen denken.
Hypothetisch können wir nun Werte einer solchen Gattung wie oberste
138 einleitung in die philosophie

praktische Ziele behandeln; wir nehmen sie als Zwecke an und fragen
nur: Wie müsste ein Subjekt handeln, welche Art von Leistungen müsste
es vollziehen, um das Beste im Rahmen einer solchen Gattung zu realisie-
ren? Also zum Beispiel innerhalb der Gattungsidee Wissenschaft: Was nach
Leisten, nach Denkbetätigungen und was nach theoretischen Gestaltungen
in Schlüssen, Beweisen, Theorien müsste da von irgendeinem Subjekt als rein
wissenschaftlich gerichtetem Subjekt gefordert werden? Ebenso könnten wir
die Idee eines vollkommensten Kunstschaffens und einer vollkommensten
Kunst erwägen, und zwar in wissenschaftlicher Allgemeinheit. Wir würden
dann also allgemeine Normen, Gesetze und Wertbestimmungen für solche
Gestaltungen aufsuchen. Mit Rücksicht auf die evidente Möglichkeit, dass
eben diese Gesetze wiederum in den Willen aufgenommen und dadurch für
das Handeln des Wissenschaftlers, des Künstlers usw. praktisch bestimmend
werden könnten im Sinne praktischer Vernunft, erwüchsen dann Kunstleh-
ren: die Kunstlehre der Wissenschaft, die logische Kunstlehre, ebenso die
Ästhetik als Kunstlehre oder vielmehr die Kunstlehre von der schönen Kunst
usf.
All diese Kunstlehren sprechen Imperative aus, aber nur hypothetische
Imperative, denn in ihnen wird die Wissenschaft, die Kunst wie ein Endzweck
behandelt, während es in Wahrheit nur einen Endzweck gibt: den ethischen
Willen und die durch ihn erwachsende ethische Tat. Daraus ergibt sich, dass
die Ethik nicht nur eine Kunstlehre neben anderen ist, sondern dass alle
anderen Kunstlehren überhaupt ihr untergeordnet sind und nur die Funktion
haben können jedem Handelnden, falls in seiner Lage wissenschaftliche
Arbeit oder künstlerische Gestaltung das ethisch Gesollte ist, vernünftige
Maximen, Systeme hilfreicher Mittel an die Hand zu geben.
Indessen, sosehr all das richtig ist, so ist doch hier ein Unterschied ein-
leuchtend. So viele Gattungen vermeintlich oder in willkürlicher Hypothese
anzunehmender praktischer Güter und auf sie bezogener hypothetischer Im-
perative wir erdenken können, so viele Kunstlehren könnten wir ausgeführt
denken, in denen die aus den jeweiligen hypothetischen Imperativen fließen-
den Regeln praktischer Konsequenz systematisch abgeleitet würden. Danach
hätten wir zum Beispiel eine Kunstlehre des schrankenlosen individuellen
Egoismus im Falle der Hypothese: Größtmöglicher Genuss, größtmögliche
Macht sei ein guter Zweck, ja ein höchstes Lebensziel. Ebenso hätten wir eine
Politik, gestaltet als eine Kunstlehre schrankenlosen nationalen Egoismus
und nationaler Macht, wenn eben damit das richtige Ziel für nationales
Leben und Handeln bezeichnet wäre. In der ersteren Kunstlehre wären
also beschlossen kunstmäßige, womöglich wissenschaftliche Regeln, seine
apriorische wertelehre und ethik 139

Nebenmenschen zu belügen, zu berauben, zu morden, natürlich ohne dabei


ertappt zu werden und Schaden zu leiden; in der anderen Kunstlehre Re-
geln, andere Nationen, wo immer es der eigene nationale Vorteil fordert,
auszurauben, sie zu versklaven, mit idealistischen, die Herzen betörenden
Phrasen zu belügen, eventuell leiblich und seelisch zu morden.
Nun springt uns der Unterschied solcher hypothetischen Imperative und
Kunstlehren gegenüber den von uns früher als Beispielen verwendeten ins
Auge. Denn früher handelte es sich um die obersten Gattungen wahrer
Güter, wie ästhetische Güter, Güter der Wissenschaft, Güter der individu-
ellen und sozialen Personalität, die alle auch Titel für praktische Güter sind
und die dann hypothetische Imperative nur insofern werden, als das formal
Praktische des kategorischen Imperativs von jedem Handelnden fordert, in
seiner Lage das jeweilig als das Beste Erkannte zu wählen. Und da kann
offenbar, was übrigens Sache näherer Ausführung wäre, von einem gefordert
sein, dass er als ein für sein ganzes Leben berufsmäßig durchzuhaltendes Ziel
Wissenschaft wähle, für einen anderen Menschen Kunst, von dem dritten
helfende und erziehende Fürsorge, etwa als Lehrer, für einen vierten die
parallele Wirksamkeit als Staatsmann oder als spezieller Funktionär im
Staatsleben.1
Solchen Berufszielen haftet nach dem kategorischen Imperativ noch eine
zweite beschränkende Relativität und damit eine gewisse, nur hypothetische
Geltung zweiter Art an, sofern in einem gegebenen Zeitpunkte der Wahl von
einem wissenschaftlichen Forscher verlangt sein kann, seine Berufsarbeit bei-
seite zu legen, weil hic et nunc eine liebende Fürsorge für Andere das größere
Gut ist, oder für einen Erzieher, dass er jetzt nicht erziehe, sondern für das
Vaterland die Waffen ergreift usw. Darum verbleibt doch das Berufsziel für
die Person gültig bestehen, und ihr kategorischer Imperativ schließt es, in
der bezeichneten Beschränkung, als bleibende positive Forderung ein. Die
Sachlage ist da doch eine wesentlich andere als bei beliebig willkürlich kon-
struierten hypothetischen Imperativen und demgemäß auch für beiderseitig
zu entwerfende Kunstlehren.2
Freilich können wir hypothetisch sogar eine Gattung zweifelloser Ungüter
so ansehen, als wären sie positive Güter. Wir können weiter ein allgemei-
nes Lebensziel sachhaltig konstruieren und hypothetisch so ansehen, als ob
es ein gefordertes, also der formalen Regel des kategorischen Imperativs

1 Randbemerkung Beruf. Durch das Leben inhaltlich hindurch gehendes, allgemein prakti-

sches Thema.
2 Am Rande eine Null.
140 einleitung in die philosophie

entsprechend wäre, obschon es in Wahrheit das nicht ist und in der inhaltli-
chen Auswertung sich als ein unbedingt Böses ergibt. Aber entsprechende
Kunstlehren wären nicht der Ethik im eigentlichen Sinne untergeordnet,
nämlich nicht als Kunstlehren für relative ethische Ziele, Ziele, die obschon
unter gewissen einschränkenden Umständen als ethische gefordert sein kön-
nen, sondern sie wären ihr nur in dem uneigentlichen Sinne untergeordnet,
nämlich sofern sie, wie alle Kunstlehren überhaupt, nach Recht und Unrecht
ihrer Ziele auszuwerten sind, eine Auswertung, deren prinzipieller Vollzug
eben die Aufgabe der Ethik ist. Hier aber ist das Urteil von vornherein
negativ entschieden; es ist ein Verdikt, das vorweg Ziele wie schrankenlose
Genusssucht oder eine schrankenlose nationale Machtsucht verwirft und
damit den entsprechenden, theoretisch ausführbaren Kunstlehren das ewige
Nein entgegenruft.
Genau besehen, erscheinen hierbei nicht nur die hypothetischen Impera-
tive, die hypothetisch angenommenen obersten praktischen Ziele, als gewer-
tet, sondern die ihnen entsprechenden Kunstlehren selbst. Eine Kunstlehre
aufzubauen, ein Regelsystem wissenschaftlich festzustellen, dem gemäß ein
solches Ziel am besten realisiert werden könnte, ist ja selbst ein praktisches
Ziel, dessen Wert von dem Wert jenes sie selbst, die Kunstlehre selbst, bestim-
menden Zieles abhängt. Egoismus ist ein unbedingt schlechtes Lebensziel,
also ist auch jede Kunstlehre des Egoismus ein Schlechtes und sogar ein
ethisch Böses, sofern die Ethik uns erweist, dass das Ziel unwertig ist und
schlechthin nicht in unseren Willen aufgenommen werden darf.1 Das betrifft
den individuellen wie den nationalen und staatlichen Egoismus in gleicher
Weise. Also ein unbedingt Schlechtes ist eine individuelle Ethik des Ego-
ismus, weshalb man mit Recht und zu allen Zeiten die hedonistische Ethik
des Aristippos und Epikur (eben als Ethik größtmöglichen individuellen Ge-
nusses) als ethischen Skeptizismus oder vielmehr Negativismus, als Negation
einer wahren Ethik angesehen hat.2 Und genauso ist ein unbedingt Böses eine
Politik, eine Kunstlehre vom Staat, die als machiavellistische Staatsethik der
Idee schrankenloser staatlicher oder nationaler Macht nachläuft. Also diese
Kunstlehren selbst als Kunstlehren sind ethisch schlecht. Wer solche negativ-
wertigen Kulturgebilde schafft, an ihnen gestaltend mitarbeitet, handelt,
wenn er Auge für die Schlechtigkeit des Zieles hat, böse, und Auge dafür
gewinnt er eben durch die Ethik. Andererseits können Kunstlehren als solche

1 Randbemerkung (Das alles stört den einfachen Gedankengang!)


2 Randbemerkung Zu breit und vom Hauptgedanken ableitend.
apriorische wertelehre und ethik 141

ethisch gut sein, wie eben die logische Kunstlehre, die ästhetische Kunstlehre
und schließlich und im höchsten Sinne die ethische Kunstlehre selbst.
Es ist selbst offenbar eine Aufgabe der ethischen Kunstlehre, die ethisch
geforderten obersten Kunstlehren zu bestimmen; und damit im nahen Zu-
sammenhang steht die ethische Frage der Berufe. Wir finden faktisch den
obersten Gattungen praktischer Güter entsprechende Gattungen von Beru-
fen. (Nach Deduktion des formalen kategorischen Imperativs ist auf eine
Klassifikation der Güter, die eventuell praktische Güter werden können, zu
verweisen und nach Regeln zu suchen, wie in der Konkurrenz von Gütern
dieser verschiedenen Klassen zu verfahren ist. Sehr einfach wäre doch die
Sachlage, wenn es im allgemeinen Wesen eines Handelnden überhaupt läge,
zwar Güter aller dieser Klassen realisieren zu können, während zugleich a
priori einsehbar wäre, dass eine einzige Klasse für das höchste und prakti-
sche Gut bevorzugt wäre, weil durch sie schon klassenmäßig die Güter der
anderen Klassen absorbiert würden.)
Wären Wissenschaft, Kunst, Nächstenliebe, Gottesliebe voneinander ge-
trennte Gattungen praktischer Güter und praktisch unverträglich und würde
eine Rangordnung bestehen, die eine Klasse, etwa die des Moralischen, die
Güter der Nächstenliebe, als die unbedingt höhere und höchste auszeichnen
würde, dann wäre jeder wissenschaftliche Forscher und Künstler ohne wei-
teres ein ethisch verblendeter oder schlechter Mensch, und die entsprechen-
den logischen und künstlerischen Kunstlehren wären in Konsequenz davon
selbst schlecht. Aber davon kann natürlich keine Rede sein. A priori muss
also erwogen werden, wie hier die Verhältnisse liegen, und danach, welche
Typen eines ethischen und zuhöchst eines von Werteinsicht durchleuchte-
ten Lebens, und danach, welche Typen ethischer Persönlichkeiten a priori
möglich sind. Wenn in diesen Typen nun Güter aller obersten Gattungen ihre
Rolle spielen können, so bekommen offenbar die ihnen zugeordneten relativ
höchsten Kunstlehren selbst den Charakter von Gütern und von praktischen
Gütern.1 Denn sicher werden doch zu den Typen von Handelnden, und zwar
a priori, solche gehören von Handelnden, welche dazu befähigt sind, die
Allgemeinheit einer wissenschaftlichen praktischen Gesetzgebung in ihren
Willen aufzunehmen und sich durch sie einsichtig und vernünftig leiten zu
lassen und sich damit ethisch-praktisch auf eine höhere Stufe zu erheben, die
dann eo ipso nach dem kategorischen Imperativ die geforderte ist.

1 Randbemerkung Bis hier gelesen. Vgl. Nächste Vorlesung = S. 143–151, wo wiederholt

und dann klar fortgeführt worden ist.


142 einleitung in die philosophie

Ferner: Sicher werden unter solchen Typen auch die Typen möglicher
Berufsmenschen vorkommen oder von Handelnden der uns wohlvertrauten
Form von wissenschaftlichen, künstlerischen, seelsorgerischen, politischen
Berufsmenschen. Deren Idee kann ja a priori konstruiert werden unter der
Leitung der in unserem faktischen Menschenleben faktisch gegebenen, in
der Menschheit faktisch sich immer wieder entwickelnden Typik. In unser
aller Leben treten als praktisch erzielbar Güter aller Klassen auf, und je nach
Umständen der momentanen Lage sind bald diese, bald jene die zu bevorzu-
genden. Gott und die Ethik fordern es nicht, dass wir, um die Kirche nicht zu
versäumen oder ein inniges Gebet nicht zu unterbrechen, einen Mord sollen
geschehen lassen oder dass wir eine wissenschaftliche Entdeckung, die wir
just im Griff haben, sollen fahren lassen, um dafür auf Straßen und Gassen
nach einem Notleidenden zu suchen, dem wir helfen könnten.
Aber1 wie sehr in jedem Menschenleben die momentanen Willensziele
wechseln und dabei auch die Gütersphären, denen sie sich einordnen, so
hat doch jeder von uns seinen „Beruf“ und seinen ethisch geforderten.
Nicht selten ist diese Forderung im Voraus eine klare und völlige eindeu-
tige. Nicht wenigen sagt es ein innerer Ruf seines „Daimon“ und bestätigt
es ein Überschlag über die praktischen Möglichkeiten seines zukünftigen
Lebenshorizontes, dass er alles in allem sein Bestes tue, wenn er regelmäßig
einen Hauptteil seiner Arbeitszeit wissenschaftlicher Forschung zuwende
und sich darin zum Meister entwickle. Diesem Grundstock seiner Güterleis-
tung müsse er durch Verknüpfung mit Leistungen aus anderen Gütersphären
die ethische Gestalt des relativ Besten geben. Er entsagt in edler Gesinnung
manchem Schönen und Herrlichen eben in dem Bewusstsein, sich sein ganzes
Leben in dieser Weise durchschnittlich zum relativ Besten zu gestalten. Ein
Anderer wählt ebenso den Beruf des Künstlers oder Schauspielers, ein dritter
den des Predigers oder Erziehers. Freilich, zur Not hätte der Künstler auch
einen Gelehrten, der Politiker einen Schauspieler, der Schauspieler einen
Schulmann abgeben können. Aber eben zur Not. Und im Allgemeinen wird,
wer das eine ebenso gut wie das andere tut, nicht der beste Mann sein, weder
für das eine, noch für das andere.
Sowie wir die Typik der Berufe unter dem Gesichtspunkt praktischer
Vernunft, also ethisch werten, stoßen wir notwendig auf die obersten Wert-
gattungen, nach denen sich die möglichen Berufe selbst unter obersten
Gesichtspunkten typisieren, und dann weiter auf die obersten Kunstlehren,

1 Zu diesem Absatz am Rande zwei Nullen.


apriorische wertelehre und ethik 143

die den obersten Gütergattungen zugeordnet sind. Diese Kunstlehren sind


dann selbst von der praktischen Vernunft geforderte, also mit dem positiven
Wertvorzeichen ausgestattet, in weiterer Folge alle ihnen untergeordneten
Kunstlehren und kunstmäßigen Betätigungen und Gattungen von Leistun-
gen; so wie etwa der logischen Kunstlehre untergeordnet sind alle Wissen-
schaften und Methodologien dieser Wissenschaften, bis in die speziellsten
kunstmäßigen Regeln herab, wie man sie in den Seminaren, den Laborato-
rien, Kliniken lernt. Ebenso ordnet sich der Kunstlehre der wirtschaftlichen
Güter eine Mannigfaltigkeit besonderer Künste und Handwerke unter. Und
so überall.1,2
Erscheinen hier, den höchsten Gütergattungen gleichlaufend, oberste
Kunstlehren ethisch gleichgeordnet, nämlich unter dem Gesichtspunkt des
Berufes, so erscheinen sie alle nur ethisch der ethischen Kunstlehre, da von
dieser ja alle Regelgebung der Vernunft ausläuft, wie sie alle, wenn sie
konkreter und immer konkreter ausgestaltet wird, schließlich in sich fasst.
Die Ethik ist ja die theoretische Normenlehre und weiterhin die Kunst-
lehre für alles vernünftige Handeln; die praktische Vernunft im logisch-
wissenschaftlichen Denken und somit die Vernunft in Form aller Wissen-
schaften ist ein Zweig der ethischen Vernunft, aber nicht minder die prakti-
sche Vernunft in Gestalt des künstlerischen Schaffens und in allen Sphären
irgendwelchen Kulturleistens.
Der3 Gedanke, der uns in der letzten Vorlesung beschäftigt hat, war der
folgende: Die Ethik als Kunstlehre vom guten Wollen und Handeln hat im
Gesetz des kategorischen Imperativs ein obzwar formales, aber doch absolu-
tes, notwendiges und hinreichendes Kriterium für das gute Handeln oder für
das jeweilig schlechthin Gesollte. Die apriorische Lehre von den obersten
Gattungen möglicher praktischer Güter oder Ungüter, von den Gliederun-
gen und Rangordnungen innerhalb dieser Gattungen und im Vergleich der
Gattungen miteinander gibt dann apriorische Prinzipien der Anwendung des
kategorischen Imperativs. Das genügt, um als Konsequenz einzusehen, dass
alle anderen Kunstlehren unter der Ethik stehen, so dass diese also gleichsam
die königliche unter allen Kunstlehren ist. Alle stehen unter ihrem Richter-
spruch. Ist der oberste Zweck einer Kunstlehre, wie zum Beispiel der Zweck
schrankenloser Genusssucht ein a priori schlechter, so ist die Kunstlehre als

1 Randbemerkung Nicht gelesen.


2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung Rekapitulation.
144 einleitung in die philosophie

eine schlechte ethisch geächtet. Ist andererseits der oberste Zweck einer
Kunstlehre ein guter, sofern er auf eine Gattung positiv-wertiger praktischer
Güter verweist, wie Wissenschaft, schöne Kunst, wertvolle Persönlichkeit,
Staat, so ist damit noch nicht ohne weiteres gesagt, dass die betreffenden
Kunstlehren (die praktische Wissenschaftslehre, Ästhetik, Erziehungskunst,
Staatskunst) schon ethisch gebilligte sind. Noch immer sind ihre Impera-
tive hypothetische Imperative, nämlich solange nicht gezeigt ist, dass die
obersten Zwecke dieser Disziplinen aus ethischen Gründen geforderte, also
in der formalen Forderung des kategorischen Imperativs beschlossene sind,
oder solange nicht gezeigt ist, dass die Rücksichtnahme auf die bestimmten
Gattungstypen möglicher praktischer Güter dem kategorischen Imperativ
eine inhaltlich bestimmte Gestalt verleiht, der von den Handelnden eine
Verwirklichung von Gütern aller solcher Gattungen kategorisch fordert, sei
es auch nicht in jedem Einzelfalle.
So ist es bei uns Menschen. Für uns ist doch die formale Gesetzesforde-
rung, nach bestem Wissen und Gewissen unter allen erreichbaren Gütern
das Beste zu tun, nicht die einzige Einsicht über unser absolutes Sollen. Für
uns als Wesen von einem gereiften Vernunfttypus ist es evident, dass nicht
nur Güter aller Klassen (theoretische Güter, ästhetische, personale Güter,
darunter Güter der Nächstenliebe usf.) wechselnd in unseren praktischen
Wirkungssphären auftreten können, sondern dass wir Güter keiner Sphäre
völlig vernachlässigen dürfen, ohne gegen den kategorischen Imperativ zu
verstoßen. Er hat also für uns eine konkretere Gestalt, die, wenn auch
zunächst in einiger Unbestimmtheit, uns vorschreibt, Güter aller Gattungen
zu fördern, also auch uns für ihre Erkenntnis und Realisierung im Voraus
geschickt zu machen.1
Für keinen, geschweige denn überhaupt, nach einem apriorischen Ge-
setz, fordert der kategorische Imperativ, ausschließlich Güter einer einzi-
gen Sphäre zu verwirklichen.2 Es ist keineswegs so, als ob ein Gesetz der
Rangordnung zwischen diesen Güterklassen waltet, welche denen der einen
Klasse oder besonderen Art unter allen Umständen und für alle Personen
einen unbedingten Vorzug gäbe, etwa den Gütern der Nächstenliebe, der
Frömmigkeit. Wäre dem so, dann wären praktische Güter all dieser anderen
Klassen, trotz ihrer Güte an sich, ein für allemal negativ-wertig. Aber so ist

1 Randbemerkung Ist es für einen Christus mit eine Pflicht, in Konzerte zu gehen oder Bilder

zu kolligieren etc.? Ist seine Aufgabe nicht vielleicht eine so große, dass alle diese „Bildung“
für ihn verschwindet?
2 Randbemerkung Aber wer seinen Beruf dahin hätte, Erlöser der Menschheit zu sein?
apriorische wertelehre und ethik 145

es eben nicht.1 In unser aller Leben sind je nach Lage der Umstände bald
Güter der einen, bald der anderen Klassen die absolut gesollten. Gott und
die Ethik fordern es nicht, dass jemand, um die Kirche nicht zu versäumen
oder ein inniges Gebet nicht zu unterbrechen, einen Mord geschehen lässt
oder dass er eine wertvolle, wissenschaftliche Arbeit stehen lässt, um auf
Strassen und Gassen nach Notleidenden zu suchen, an denen er Nächsten-
liebe üben könnte. Schon aus diesem Grund also sind die auf die Gattungen
positiv-wertiger praktischer Güter bezogenen Kunstlehren von der Ethik
her mit einem positiven Vorzeichen ausgestattet; sie vertreten, wenn auch in
bedingter Weise, Bestandstücke des höchsten praktischen Guts.2 Sie sind von
der Ethik daher nicht nur geduldet, sondern sie ordnen sich einer konkret
durchgeführten und nicht bloß in formaler Allgemeinheit verbleibenden
Ethik als Bestandstücke ein.
Doch wir können die Gründe noch wesentlich verstärken, indem wir an
die für den entwickelten Vernunftmenschen allgemein bestehende ethische
Berufspflicht erinnern. Wobei es offen gelassen sei, ob die Notwendigkeit
eines Berufsleben a priori bloß zur Idee des Menschen gehöre oder sogar
schon zur formal-allgemeinen Idee des Vernunftwesens überhaupt. Nicht
selten weist der kategorische Imperativ in Gestalt einer gewissenhaften
Selbstprüfung klar und eindeutig auf einen bestimmten Beruf und damit
auf eine bestimmte und keine andere Klasse wertvoller Leistungen hin. Die
einen weist schon im Voraus ein innerer Ruf und Herzensdrang auf die
Wissenschaft hin, die anderen auf die Kunst, auf den Beruf des Erziehers, des
Predigers usf. Dieser Drang bestätigt sich oder kann sich bestätigen in einem
Überschlag über die eigenen praktischen Möglichkeiten im überschaubaren
künftigen Lebenshorizont, und es wird dem ethisch Erwägenden völlig klar,
dass er alles in allem sein Bestes tun würde, wenn er regelmäßig einen
Hauptteil seiner Zeit und seiner besten Arbeitskraft gerade diesem Wertge-
biet, etwa dem wissenschaftlicher Forschung, zuwenden und sich darin zum
Meister entwickeln würde.
Im Voraus ausgezeichnet ist damit also ein bloßer Grundstock wertvoller
Leistungen, der nicht für sich selbst das ethisch Geforderte ist, sondern
allererst durch Verknüpfung mit Leistungen aus anderen Gütersphären,
wie die jeweiligen Lebensumstände sie fordern, die Gestalt des höchsten
praktischen Gutes erhalten soll. Der im Beruf Lebende entsagt dann in edler

1 Randbemerkung Unterschied zwischen genereller und individueller Wertung.


2 Randbemerkung Des Durchschnittlichen, für alle Menschen eines Niveaus gültig.
146 einleitung in die philosophie

Gesinnung manchem Schönen und Herrlichen, eben in dem Bewusstsein,


sein ganzes Leben nur in dieser Gestalt des Berufslebens durchschnittlich
zu seinem relativ besten Leben gestalten zu können.1 Überschauen wir das
Berufsleben der Menschheit und die mannigfache Typik der Berufe unter

1 Zwei eingelegte Blätter Es ist klar, dass eine nach dem bloßen kategorischen Imperativ,

wie er hier im Anschluss an Brentano zugrunde gelegt worden ist, durchgeführte Ethik keine
Ethik ist. Ich bin ganz wieder in meine alten Gedankengänge zurückverfallen, und doch hat
mir schon 1907 Geiger den berechtigten Einwand gemacht, dass es lächerlich wäre, an eine
Mutter die Forderung zu stellen, sie solle erst erwägen, ob die Förderung ihres Kindes das
Beste in ihrem praktischen Bereich sei. Für die Wertnormierung wie für die Wertevidenz,
auf die die Wertnormierung zurückgeht, kommt zweierlei in Betracht, und zwar zunächst für
singuläre materiale Werte: 1) der objektive Wert, der Wert, den jedermann, jeder axiologisch
Vernünftige, der den betreffenden Sachgehalt als Grundlage hat, fühlend und wertnehmend
erfassen kann, originaliter; 2) derselbe objektive Wert als individueller, subjektiver Liebeswert.
Nämlich, was da gemeint ist, ist dies, dass Werte sich zum wertenden Subjekt und seinen
vernünftigen Akten anders verhalten als in der logischen Sphäre Gegenstände zu urteilenden
und überhaupt objektivierenden Akten.
Was überhaupt „wert“ ist, ist natürlich an sich wert; jeder „Vernünftige“ kann den Wert
nachfühlen und wertnehmend erfassen. Aber derselbe Wert kann für den einen unendlich mehr
„bedeuten“ als für den anderen. Dieses Viel-Bedeuten ist zunächst zu erwägen in Bezug auf
die sogenannten Affektionswerte. Man schätzt nicht nur etwas, man hat seine Leidenschaft
dafür, man ist dann „verliebt“ u. dgl. in „unvernünftiger“ Weise. Aber man wird nicht daran
vorbeikommen, auch eine reine und „echte Liebe“ anzuerkennen, die nicht nur ein Wertnehmen
eines erschauten Wertes ist, sondern ein sich vom innersten Ich-Zentrum her dafür Entscheiden,
und zwar liebend entscheiden. Man wird dann weiter sagen müssen, dass das so Geliebte einen
neuen, vom betreffenden Ich herstammenden Wertcharakter hat, der dem objektiven Wert
evident zukommt, sofern er vom Liebenden evident daran vorgefunden werden kann, aber
ihm nur zukommt für dieses Ich. Jeder Andere muss, wenn er den Liebenden als Liebenden
einfühlend versteht, diesen subjektiven Liebeswert als den objektiv werten wahrhaft, aber für
dieses Ich geltend, anerkennen. Gewisse Werte, Werte gewisser Regionen (geistige Werte jeder
Region), haben nicht nur objektiven Wert, sie sind auch potenzielle Liebeswerte für mögliche
und wirkliche Personen und haben auch um dessentwillen Wert. Dinge haben dann Übertra-
gungswerte, und zwar empirische Werte, um dessentwillen, dass sie Mittel für die Realisierung
von Liebeswerten sind (wie Mittel der Kinderpflege). Für die praktische Vernunft kommen nun
die „subjektiven“ Werte in besonderem Maße in Betracht. Der Daimon, der zum wahren Beruf
führt, spricht durch Liebe. Also nicht auf bloß objektive Güter und objektiv größtes Gut kommt
es an, sondern jedermann hat seine Liebessphäre und seine „Liebespflichten“.
Habe ich diesen Versuch gemacht, so fragt es sich, ob ich nicht weiter gehen muss. Was wäre
ein Leben ohne Liebe? Liebe und Wertfühlen müssen zunächst genau untersucht werden. Soll
man sich für alle Werte liebend entscheiden? Aber da bedarf es dann wieder innerhalb der Liebe
Unterschiede. Kann ein Kind für jedermann in gleicher Art Liebesobjekt sein? Jeder Mensch
ist Objekt einer möglichen allgemeinen, für jedermann ideal möglichen und zu „fordernden“
Menschenliebe, die das Normgerechte ist für jedermann. Aber der allgemeinen Menschenliebe
gegenüber gibt es eine personale Liebe, die ihr eigenes Recht hat und dem Geliebten für diesen
Liebenden einen rechtmäßigen Individualwert verleiht. So die Freundesliebe, Mutterliebe. Auch
für höhere Personalitäten: die Liebe für mein Volk, die nicht ausschließt die allgemeine Liebe
für jedes Volk.
apriorische wertelehre und ethik 147

dem Gesichtspunkt ethischer Vernunft, so ist es klar, dass sie sich alle,
soweit sie überhaupt positiv-wertig sind (bei berufsmäßigen Dieben, Heh-
lern, Schiebern werde ich freilich noch kaum von Beruf sprechen), den
apriorischen obersten Wertgattungen unterordnen, nach denen sich also die
Berufe selbst unter apriorischem Gesichtspunkt typisieren. Weiter stoßen
wir dann auf die obersten Kunstlehren, die eben den obersten Gütergat-
tungen zugeordnet sind. Diese Kunstlehren, wie die Kunstlehre von der
Wissenschaft, die Kunstlehre von der schönen Kunst, sind dann also vom
Gesichtspunkt der Berufsethik aus von der ethischen Vernunft geforderte
und in ihren Rahmen miteinbezogene Kunstlehren; sie werden zu Bestand-
stücken einer praktischen Ethik. Das Gesagte erstreckt sich dann auf alle
den obersten und prinzipiellen Kunstlehren untergeordneten, spezialisierten
Kunstlehren.
An einem Beispiel wird das einleuchtend. Die unter der obersten Idee
von Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt stehende logische Kunstlehre
hat unter sich alle Wissenschaften und wissenschaftlichen Methodologien;
mit ihnen haben dann schließlich alle, auch die speziellsten kunstmäßigen
Regeln ihr ethisches Vorzeichen, das der wahren, letztgegründeten prakti-
schen Vernünftigkeit (Regeln, wie sie in den Seminaren, Laboratorien etc.
gelernt werden). Ebenso ordnet sich der allgemeinen Kunstlehre wirtschaft-
licher Güter, nachdem sie selbst von der allgemeinen Ethik her ihr ethisches
Vorzeichen und ihre Rechtsgrenzen gewonnen haben, die Mannigfaltigkeit
besonderer Nutzkünste und Handwerke unter. So überall.
In dieser Weise gewinnen wir also die Einsicht, dass alle Kunstlehren,
also alle Regelsysteme praktischer Vernunft, ihre letzte Zentrierung haben
in der ethischen Kunstlehre, deren Verzweigungen sie alle sind, soweit sie
überhaupt an praktischer Vernunft wirklichen Anteil haben. Denn wenn
ihre obersten Zwecke ethisch verworfen sind, mag in ihnen zwar noch die
Vernunft praktischer Konsequenz walten, aber mit den ethisch verworfe-
nen praktischen Gründen sind auch alle praktischen Folgen verworfen; es
waltet also praktische Unvernunft. Die Universalität des kategorischen Im-
perativs gibt auch der Ethik Universalität, die Universalität der Regelgebung
in allen möglichen praktischen Sphären; also wirkt sie sich in allen rechtmä-
ßigen praktischen Regeln und Kunstlehren selbst aus. Die wissenschaftliche
Vernunft, die künstlerische Vernunft und so jede Vernunft, sofern sie prak-
tisch gedacht ist, erweist sich als Besonderung der ethischen Vernunft.
Das ist eine nahezu selbstverständliche Wahrheit, aber doch eine Wahr-
heit von beispielloser Tragweite. Man beklagt das Spezialistentum in der
Wissenschaft, das Spezialistentum auch in der Kunst als eine bedauerliche
148 einleitung in die philosophie

Beschränkung. Was aber in viel höherem Maße zu beklagen ist, ist das sich
damit, aber nicht nur damit verbindende Spezialistentum der Gesinnung, der
fixierten habituellen Willensrichtung. Der eine ist ein Gelehrter, der andere
ein Künstler, der dritte ein Arzt, ein Schulmann oder sonst was. Aber selbst
wenn er darin groß ist, was nützt diese Größe und die sich fachmäßig betä-
tigende Vernunft, wenn sie aus letztem Grunde doch unvernünftig ist? Die
wahre Größe in Kunst, Wissenschaft und allen praktischen Sphären ist unter
allen Umständen ethische Größe. Diese aber fordert einerseits, dass man
zum Beispiel die Wissenschaft treibt um ihres eigenen Wertes willen, also in
reiner Liebe für möglichst hohe theoretische Werte dieser Sphäre, dass man
sie also nicht treibt um des Ruhmes willen oder in der Weise eines vornehmen
Sports, um sich an der eigenen und anderen überlegenen Geschicklichkeit
zu freuen. Es gehört dazu aber auch, dass man Auge und Herz für die ganze
Welt der Werte überhaupt hat und sich demütig als ein Diener ansieht, dem
die Förderung einer Gütersphäre berufsmäßig anvertraut ist, als jemand,
der dazu bestimmt ist, ethisch sein Bestmögliches zu tun und dadurch das
Werden einer Gotteswelt, einer Welt fortschreitender Wertfülle möglichst,
nach eigenen schwachen Kräften, zu fördern.
Freilich kommen wir von da aus unvermutet in die Metaphysik – wofür
wir noch nicht vorbereitet sind. Aber so weit sind wir doch, zu verstehen,
dass die Ethik nicht ein Titel von Veranstaltungen ist, um den handelnden
Menschen zu versklaven und seinen Aufschwung zum „Übermenschen“ zu
hemmen, sondern ein Titel für wissenschaftliche, und richtig durchgeführt,
für schlichte und völlig evidente Normen und praktische Regeln ist, dazu
bestimmt, unserer praktischen Freiheit die Gestalt der Freiheit der Vernunft
zu geben, also dazu bestimmt, unserem ganzen Leben und Streben die Gestalt
des denkbar schönsten und besten, also auch des denkbar befriedigendsten
Lebens zu geben.
In weiterer Folge wäre zu sagen: Es ist für den Menschen als Vernunftwe-
sen die Aufgabe, auch unserer Umwelt, die ja in eins mit unserem wirkenden
Leben eine sich immer wieder neu gestaltende ist, die Form einer wahrhaft
wertvollen Welt zu geben, einer Welt edler Kultur, die ihre Einheit und Har-
monie in sich haben muss als Spiegelbild der Einheit und Harmonie unseres
personalen Lebens; sie darf also nicht einseitig angestopft sein mit einsei-
tigen Werten oder gar mit Erzeugnissen einer an Scheinwerte vergeudeten
Technik, sondern der Idee müsste sie genügen, die bestmöglichen Güter
dank dem Wirken einer ethisch gesinnten Menschheit zu verwirklichen und
aufsteigend von Generation zu Generation. Diese bestmögliche Kulturwelt
würde eo ipso, vermöge der praktischen Rückbeziehung des Menschen und
apriorische wertelehre und ethik 149

der Menschheit auf sich selbst, auch eine bestmögliche Menschheit in sich
fassen, d. i. eine einheitlich organisierte und sich zum Willen auf eine liebende
Gemeinschaft erziehende und fortentwickelnde Menschheit.
Das alles fordert die Ethik. Doch ehe wir von hier aus in die allgemeinen
Weltanschauungsfragen einmünden, bedarf es noch einiger wichtiger Er-
gänzungen. Zunächst wollen wir einer scharf betonten kantischen Meinung
Folge leisten, die wesentlichen Grenzen der Wissenschaften nicht ineinander
fließen zu lassen, und er hatte dabei speziell im Auge die Scheidung rein
apriorischer und empirischer Wissenschaften. In unseren letzten Betrach-
tungen haben wir die Scheidung in der Tat nicht mehr ganz rein und klar
gehalten; wir müssen die Reinheit, da höchste philosophische Interessen
davon betroffen werden, wieder herstellen. Weiter gehend, müssen wir hier
auch den Unterschied formaler und materialer Ethik zur Geltung bringen.
Wiederholt hatten wir ja vom formalen Gesetz des kategorischen Imperativs
gesprochen und die zu ihm gehörigen Axiome und Gesetze, wie das Gesetz
der Absorption niederer Güter durch relativ höhere, als formal bezeichnet.
Was gemeint war, wurde zwar aus dem Zusammenhang verständlich, aber
es muss jetzt auch begrifflich fixiert werden.
Als wir in der theoretischen logischen Sphäre innerhalb der Korrela-
tion „erkennendes Denken – Wahrheit – Sein“ den Begriff des Formalen
einführten gegenüber dem des Materialen, da handelte es sich um Modi
des Erkennens, die zum Wesen des Erkennens überhaupt gehören, wor-
auf immer es sich richten mag, welches also unbestimmt variabel bleibt.
Demgemäß handelte es sich um Gegenständlichkeit überhaupt und alle
abgeleiteten Begriffe, die zur leeren Idee eines Gegenstandes oder Etwas
überhaupt gehören und ebenso für Wahrheiten. Damit gewannen wir formale
Wissenschaften, zusammengefasst in der Idee einer formalen theoretischen
Wissenschaftslehre. (Dahin gehört die formale Logik der Sätze, die formale
Arithmetik und Analysis.) Ihnen gegenüber sind Wissenschaften, welche,
ob nun als apriorische oder empirische Wissenschaften, auf die sachhaltigen
Gattungen möglicher Gegenstände Rücksicht nehmen, die also zum Beispiel
von Naturdingen, von Raum, Kraft, Maß usw. handeln, materiale Wissen-
schaften.
Als wir nun in die Kulturwelt übergingen und da auf Wertprädikate
und praktische Prädikate stießen, da führte unser Weg schließlich zu wis-
senschaftlichen Disziplinen von prinzipieller Allgemeinheit, in welchen das
Thema war das Apriori des Wertens überhaupt und möglicher Werte über-
haupt, das Apriori des Wollens und möglicher Willensleistungen überhaupt,
Gesolltheiten überhaupt. Vom Standpunkt der formalen Logik sind die
150 einleitung in die philosophie

hierher gehörigen Wahrheiten und Wissenschaften material bestimmt. Wert


und Unwert sind keine formal-logischen Kategorien. (Es gehört ja nicht
zum Wesen eines Gegenstandes überhaupt in sich wert oder unwert sein zu
müssen, oder gar ein ethisch Gutes oder Böses sein zu müssen.)1 Andererseits
hat der Begriff „Wert“ und der Begriff des ethisch Gesollten doch eine
gewisse ähnliche Universalität wie der Begriff des Seins. Führt uns dieser
auf das Bewusstsein des Für-Seiend-Haltens und speziell des Urteilens
zurück, so führt uns Wert zurück auf das Gemütsbewusstsein des Gefallens
und Missfallens mit all seinen Modi, und der Begriff des Gesollten zurück
auf das Wollen.
Gehen wir aber zurück auf die Subjektivität, so sind in ihr Urteilen,
Werten, Wollen untrennbar verbunden; kein Subjekt ist denkbar ohne Akte
all dieser Klassen und somit undenkbar ohne Beziehung auf Gegenstände,
auf Werte, auf Ziele. Ich will hier nicht darauf eingehen, wie diese Funktionen
sich wechselseitig aufeinander beziehen, wie alle Gegenstände, auch wenn
sie nicht in sich werte sind, durch Beziehung auf selbst Wertvolles durch
Wertübertragung an Wert bedeutsam werden können, wie Ziele notwendig
wertvoll sein, andererseits Werte zu Zielen werden können, wie Werte und
Ziele beurteilbar werden und danach in die Seinssphäre als Gegenstände
rücken. Genug, wir haben hier drei oberste Funktionen, die eine parallele
Betrachtung fordern und nicht etwa um jener eigentümlichen Wechselum-
fassung willen nur unter dem Hute der gegenstandssetzenden Funktion
betrachtet werden dürfen.2

1 Randbemerkung Das ist unklar.


2 Gestrichen Wir verstehen dann die Notwendigkeit der Übertragung des Begriffes vom For-
malen auf die Wertesphäre, die axiologische, wie wir auch sagen, und die praktische Sphäre. Wie
dann überhaupt die radikalen Grundbegriffe der Vernunft, wie der Vernunftbegriff selbst, sich
dreifach parallel gestalten: theoretische (objektivierende) Vernunft, axiologische, praktische
Vernunft; Seiendes, Wertes, Gesolltes; Urteilsentscheidung und logischer Satz, Wertentschei-
dung und axiotischer Satz, Willensentscheidung und Willenssatz. Alle Vernunft drückt sich
in der logischen Sphäre aus durch Gesetze logischer Form, in denen Wertentscheidungen,
Wertsätze als Werturteile sich aussprechen und ebenso Willensentscheidungen als Willenssätze.
Wir werden Wertaxiome und Willensaxiome als formale bezeichnen müssen, wenn sie innerhalb
der obersten Allgemeinheit Wert überhaupt oder andererseits Gesolltes überhaupt sich halten,
ohne die besondere Gattung oder Art von Werten zu bestimmen. All unsere früher aufgestellten
Axiome waren in diesem radikalen Sinne formal. Was sie sagen, gilt für jedes wertende und
wollende Subjekt überhaupt und für Werte und Ziele überhaupt, für Güter überhaupt, Schön-
heiten überhaupt; es ist nichts Sachhaltiges vorgezeichnet, das die Güter oder Schönheiten
bindet, wie zum Beispiel Tonschönheiten oder Schönheiten visueller Erscheinungen. Schon
wenn wir sagen sinnliche Schönheit, haben wir einen formalen Begriff, denn „sinnlich“ besagt
apriorische wertelehre und ethik 151

Es ist die größte philosophische Angelegenheit, in allen Vernunftsphären


die reinen Prinzipien und die Systematik, die der prinzipiellen Strukturen,
herauszustellen und alles Ideale darüber in die Einheit eines verbundenen
Kosmos der Idealität zu stellen, ebenso demgegenüber alle empirischen
Zusammenhänge in der Einheit der einen Tatsachenwelt und Tatsachenwis-
senschaft zu behandeln. Dass diese einheitliche Tatsachenwelt unter Ideen
und idealen Normen steht und, so weit sie ihnen entspricht, ihren Anteil an
Vernunft hat, dass sie aber andererseits nur eben Anteil hat und somit eine
irrationale ist, das ist von Anfang an und bleibt für immer ein Hauptmotiv
letzter metaphysischer Probleme.

nicht etwa ein sachhaltig Gemeinsames, wie etwa Farbe ein gemeinsames Wesen ist, das alle
bestimmten Farben gemein haben und ebenso Ton für alle bestimmten Töne. Damit bestimmt
sich die Idee einer formalen apriorischen Wertelehre (ich nannte sie früher Axiologie) und
einer formalen apriorischen Praktik als Parallelen der apriorischen formalen Logik (oder
Wissenschaftstheorie). Diesen Disziplinen stehen an der Seite materiale Disziplinen, die von
den Gattungen und Arten sachlich bestimmter Werte und praktischer Ziele handeln würden.
In der Ethik, der wir eine genauere Ausführung zuwenden wollten, verbleiben wir so lange
in der formalen ethischen Sphäre, solange wir die formal-allgemeine Idee eines vernünftigen
Willenssubjekts als einer handelnden Person überhaupt zugrunde legen. Wir dürfen zwar dann
an Menschen exemplifizieren, aber nichts dürfen wir verwenden was darüber hinausgeht, dass
der Mensch überhaupt handelndes Subjekt ist.
Im Rahmen dieser Idee eines praktischen Vernunftsubjekts überhaupt können wir dann die
freien Möglichkeiten, die konstruierbaren Typen, verfolgen, so weit sie sich eben mit den Mitteln
rein formaler Wert- und Willensbegriffe konstruieren lassen. Sowie wir die Idee des Menschen
als solchen zugrunde legen, haben wir die formale Sphäre überschritten. Wir können dann
noch eine apriorische Ethik des Menschen, eine spezifisch humane, behalten, sofern wir nichts
Faktisches, nichts, was sich an Zufälligkeiten der Erfahrung bindet, mit aufnehmen. Kurzum, wir
bilden das reine Eidos „Mensch“; dazu gehört, dass wir die menschliche Umwelt in der Weise
eines reinen Eidos typisieren. Würde sich in wirklicher Ausführung dieses Postulats zeigen, dass
die reine Idee „Mensch“ einen spezifischen Inhalt hat, der wirklich über die formale Idee eines
vernünftigen Wesens überhaupt hinausgeht, dann wäre eine spezifisch humane Wertelehre
und Ethik zu scheiden von einer formalen. Doch das alles ist Zukunftsmusik, da niemand
diese für eine radikale Weltanschauung höchst wichtigen Postulate sich zu eigen gemacht hat.
Die reinliche Abscheidung der formalen und materialen apriorischen Ethik bedingt korrelativ
eine reinliche Abscheidung einer empirischen und dann selbstverständlich humanen Ethik. Die
historische Ethik war eine solche humane Ethik, sie wollte eine Kunstlehre sein, dem Menschen,
wie er faktisch auf dieser Erde ist, Regeln an die Hand geben, wie er unter normalen typischen
Umständen praktische Vernunft betätigen könne. Selbstverständlich waren so manche Sätze
darin apriorische und selbst formal-ethische; aber so sehr das Apriori in gewissen philosophi-
schen Richtungen bemerkt und wie lebhaft es auch geltend gemacht worden ist, so fehlte
es doch an den systematischen Leitgedanken für die konsequente Abscheidung des Apriori,
abgesehen davon, dass mythische Vorstellungen vom Apriori von vornherein alles verdarben.
Andere philosophische Richtungen waren und bleiben bis heute für das Eigenrecht des Apriori
überhaupt blind und scheiden überhaupt nicht Text bricht ab.
152 einleitung in die philosophie

Wir waren in der letzten Vorlesung damit beschäftigt, der Idee des for-
malen Apriori in der Wertesphäre und praktischen Sphäre zu ihrem Recht
zu verhelfen und sie zur Idee des Formalen in der Erkenntnissphäre in die
zugehörige Beziehung zu setzen. In der Erkenntnissphäre hatten wir: 1) den
Unterschied apriorischer und eidetischer Wissenschaften gegenüber bloßen
Tatsachenwissenschaften a posteriori durchgeführt. Auf der letzteren Seite
standen Wissenschaften, die sich, wie die empirischen Natur- und Geisteswis-
senschaften, auf Fakta der Erfahrung beziehen; auf der ersteren standen
Wissenschaften, die, wie die Mathematik, auseinanderlegten, was im reinen
Wesen gründet, was für Gegenstände als Gegenstände reiner Ideen in unbe-
dingter Notwendigkeit generell vorgezeichnet ist. In der Erkenntnissphäre
hatten wir 2) geschieden Wissenschaften, die zur formalen Idee eines Etwas
oder Gegenstandes überhaupt gehören und hatten uns im Zusammenhang
damit erhoben zur Idee einer formalen Logik oder Wissenschaftstheorie,
die das Apriori von Gegenstand überhaupt, von Wahrheit und Erkenntnis
überhaupt in theoretischen Disziplinen entfaltet.
Und nun sollte gezeigt werden, dass nicht nur der Unterschied des Apriori
und Empirischen, sondern auch der Unterschied des Formalen gegenüber
dem Materialen aus wesentlichen Gründen übertragbar ist auf die Werte-
sphäre und praktische Sphäre. Zunächst scheint das anstößig, denn Wer-
tewissenschaften und Wissenschaften von praktischen Gebilden und von
praktischen Forderungen wie die Ethik sind doch besondere Wissenschaf-
ten; sie stehen als solche unter der formal-allgemeinen Idee „Wissenschaft
überhaupt“, sie können der Logik nicht gleichgestellt werden. Nur so viel
stand fest, dass es ein Apriori des Wertens und Handelns gibt, dass also die
Geisteswissenschaften, deren eigentümliche Grundbegriffe uns auf Akte des
Wertens und Handelns zurückweisen, notwendig auf apriorische Erkenntnis
zurückführen, die ihre systematische Entwicklung in apriorischen Wertewis-
senschaften und in apriorischen Normenlehren der Praxis, zuhöchst in einer
apriorischen Ethik fordern. Vom Standpunkt der Logik waren diese Wissen-
schaften nicht mehr logisch-formal: „Wert“, „Zweck“, „Mittel“, „absolut
Gesolltes“ u. dgl. sind keine formal-logischen Kategorien, nicht gleichste-
hend mit Begriffen wie „Eigenschaft“, „Beziehung“, „Ganzes“ und „Teil“
u. dgl.
Andererseits stehen doch diese Begriffe wie „Wert“, „Schönes“ und
„Gutes“, wie „Zweck“ und „Mittel“ nicht in derselben Linie mit sach-
haltigen Begriffen wie „Farbe“ und „Ton“, wie „Pflanze“, „Leib“, „Erde“,
„physische“ und „psychische Natur überhaupt“. Gegenstände sind für uns
überhaupt da und nur da durch das Bewusstsein, näher durch Gestaltungen
apriorische wertelehre und ethik 153

des Erkennens, Wahrnehmens, Sich-Erinnerns, phantasiemäßig Vorstellens,


dann auch Denkens in höheren, spezifisch logischen Gestaltungen, bis hin-
auf zum systematischen wissenschaftlichen Erkennen. Dadurch haben wir
also ein Bewusstsein zunächst von Natursachen; als seiend oder vermutlich
seiend erfahren und denken wir sie, oder als Möglichkeiten setzen wir sie
hypothetisch an, und in logischen Akten streben wir, ihr wahrhaftes Sein und
Sosein zu bestimmen.1

1 Eingelegtes Blatt. Randbemerkung zum folgenden Text Das gehört wohl in die Einschiebung

in der „Einleitung in die Ethik“ über Sachwissenschaften und normative Wissenschaft
Edmund Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, hrsg. von
Henning Peucker, Husserliana xxxvii, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht, 2004, S. 259–
320 oder in die „Einleitung in die Philosophie“ Edmund Husserl, Einleitung in die Philosophie.
Vorlesungen 1922/23, hrsg. von Berndt Goossens, Husserliana xxxv, Kluwer Academic Publis-
hers, Dordrecht, 2002.
Demnach ist die Universalität der formalen Gegenstandslehre, so aller reinen Mathematik,
auch in dieser Hinsicht eine leere, als sie nicht spricht von Prädikaten, die ihren Ursprung in
der Gemüts- und Willenssphäre haben, und nicht von Gegenständen, die von vornherein von
daher ihren Sinnesgehalt mitbezogen haben, obschon doch auch die Gemütsfunktionen eine
Universalität haben und in umgekehrter Richtung alle Erkenntnisgegenstände umspannen;
denn schließlich ist kein Gegenstand denkbar, der nicht in irgendeiner Hinsicht, zumindest
mittelbar, das Gemüt bewegen könnte, und sei es nur in der Weise, wie die formalen mathema-
tischen Theorien ihre größere oder geringere Schönheit haben. Randbemerkung Zu Bl. 126 ff.
= S. 152 ff..
Demnach kann man auch mit gutem Grunde es vertreten, dass die gleiche Universalität
der Geltung, welche die formale Gegenstandslehre, Mathematik und die formale Logik für
alle wirklichen und idealen möglichen Welten hat, sofern sie überhaupt Gegenstandswelten
sind, seiende im Sinne der Erkenntnis, den parallelen normativen Disziplinen und formalen
Wissenschaften von Wertgegenständen und praktischen Gegenständen für die wirkliche und
alle möglichen Welten insofern eigne, als sie eben nicht bloß Erkenntniswelten, sondern auch
Wertewelten und Güterwelten sind, und das sind sie notwendig, vor allem jede individuelle
Seinswelt. Sie ist, was sie ist, nur als Umwelt einer Subjektivität. Und eine Subjektivität, die wir
uns als vernünftige Subjektivität denken, ist notwendig eine solche, die sich nicht nur einer Natur
gegenüber findet im Sinne einer bloßen Natur, sondern die eine geistige Umwelt im besonderen
Sinne sich schafft. Und eben das führt uns auf die letzten Entscheidungen über normative
und Sachwissenschaften. Gestrichen: So erwachsen Wissenschaften wie die Mengenlehre, die
Zahlenlehre und die Disziplinen der sonstigen formalen Mathematik. In ihnen ist ebenfalls keine
Normierung das spezifisch wissenschaftliche Thema. Das Thema ist das Universum der mögli-
chen Gegenstände als Gegenstände möglicher bestimmender Wahrheiten überhaupt. Auch aus
bloß formaler Mathematik kann man keine sachhaltige Wissenschaft, keine Wissenschaft von
bestimmten, nur durch Anschauung ursprünglich zu gebenden Gegenstandsgebieten ableiten,
obschon umgekehrt die Mathematik in allen solchen Gebieten hilfreiche Anwendung finden
kann. Erkenntnis, als Gegenstände setzend und Gegenstände urteilsmäßig bestimmend, ist
universal, sie umspannt auch die Gemüts- und Willenssphäre und die hier sich konstituierenden
Werte und Wertinhalte, Willenssubstrate und Willensbestimmungen usw., nämlich, was zum
Beispiel in einem Wertbewusstsein sich am Gegenstand als Wert konstituiert hat, das ist für die
Erkenntnis in Form eines Wertgegenstandes fasslich. In der bestimmenden Erkenntnis kann
an dem schon anderweitig gegebenen Gegenstand der Wertcharakter als Prädikat gefunden
154 einleitung in die philosophie

Sind Gegenstände uns schon in irgendwelcher Weise bewusst, anschaulich


da oder schon theoretisch erkannt, so berühren und bestimmen sie auch
unser Gemüt; sie werden gewertet als die, die sie sind, sei es in der Weise
von Selbstwerten, sei es dass sie mittelbar, durch Übertragung Wertcharak-
tere annehmen. Nun wird aber dadurch wieder die Erkenntnisfunktion in
Bewegung gesetzt; die Wertcharaktere, die den Gegenständen im Werten
zuwachsen, werden in Form von Eigenschaften, Wertprädikaten in den Sinn
der Gegenständlichkeit mit hineingezogen. Das betreffende Gegenstands-
bewusstsein hat sich bereichert, und wir haben Gegenstände einer höheren
Stufe, die von vornherein als mit Wertmerkmalen ausgestattet, etwa als
Schönheiten, aufgefasst werden. Und ebenso hinsichtlich der praktischen
Funktionen und entsprechender praktischer Prädikate. Gegenstände stehen
von vornherein da als Werke, als Werkzeuge, Kunstwerke usf. Davon haben
wir schon gesprochen, als wir die Idee der Kultur erörterten. Hier legen
wir nur Nachdruck darauf, dass es sich, dem Wesen eines Ich-Subjekts ge-
mäß, um einen endlosen Prozess handelt, dem gemäß sich immer wieder
neue Gegenstandsbildungen vollziehen können, in denen immer neue Wert-
prädikate und von der Willensseite herstammende Prädikate erwachsen
können, eben weil die wertende Funktion und die mit ihr sich verbindende
Willensfunktion a priori immer wieder ins Spiel treten können, wobei Zug um
Zug die Erkenntnis neue gegenständliche Prädikate zur Auffassung bringt.
Immerfort stehen die Gegenstände nun zwar unter den formalen Kategorien
der Gegenständlichkeit, und die in den Gehalt der Gegenstände der Erkennt-
nis aufgenommenen Wertprädikate oder praktischen Prädikate sind vom
logischen Gesichtspunkte material. Andererseits aber sind die wertenden
Funktionen und praktischen Funktionen immer wieder bereit zur Leistung
neuer gegenständlicher Sinngebung, und sie haben, abgesehen von aller
Besonderheit, in der sie, bestimmt durch schon vorgegebene gegenständliche
Merkmale, walten, ihre allgemeinste Typik, eben ihre Form, die dem reinen
Wesen des Wertens überhaupt und des Praktischen überhaupt entspricht.

und ihm bestimmend zugelegt werden. Jeder Schritt in der wertenden und praktischen Aktion
erzeugt gleichsam für das urteilende Subjekt erfassbare und bestimmbare Gegenstände höherer
Stufe; ähnlich wie auch jeder Urteilsschritt neue Gegenstände schafft: die aus den Urteilen zu
entnehmenden Urteilsinhalte oder Sachverhalte. Die bestimmende Erkenntnis muss schon,
sehen wir, ein Substrat haben, Gegenstände, die ihr vorgegeben sind. Aber diese Gegenstände
können ihr auch dadurch vorgegeben sein, dass etwa anderweitig schon gegebene Gegenstände
in gewisser Weise das Gemüt affizieren, von daher eine Wertfärbung erhalten; und nun kann der
mit dem Wertcharakter behaftete Gegenstand selbst als Substrat in Bestimmungen eintreten,
indem er in seiner Wertkonkretion das urteilende Subjekt affiziert, mit Erkenntnisbewegungen
zum Gefolge.
apriorische wertelehre und ethik 155

Eben dieses zum allgemeinsten Wesen des Wertens und Wollens, des
wählenden Entscheidens Gehörige drückt sich, erkenntnismäßig gefasst, in
den universalen apriorischen Axiomen der Wertelehre und der Lehre von
den praktischen Gütern und Gesolltheiten aus. So wie die logischen Axiome
ausdrücken, was für Gegenstände überhaupt gilt, für Wahrheit und Sein
überhaupt, für Erkennen und richtiges Erkennen überhaupt gilt, gleichgül-
tig, was den besonderen Sinnesgehalt, Merkmalsgehalt der Gegenstände
bestimmen mag, so drücken die formalen Wertaxiome aus, was für Werten
und richtiges Werten überhaupt gilt und für vermeinte und für wahre Werte
überhaupt, gleichgültig, was für Gegenstände es sind, die gewertet werden,
und was für Sachgehalte an diesen Gegenständen zum Substrat der Wertung
werden. Und ebenso hat in praktischer Hinsicht das Apriori eine formale
und damit allerallgemeinste Bedeutung: eines, das vom Wollen überhaupt
und von Willenszielen überhaupt, von Zwecken und Mitteln überhaupt,
vom absolut Gesollten überhaupt handelt, gleichgültig, was des Näheren die
Arten von Gegenständen, die Personen (Ich-Subjekte), die Umstände, die
besonderen bestimmenden Wertungen sind, die da in praktischer Erwägung
stehen können.
Die Universalität der wertenden und praktischen Funktionen, die trotz
ihrer Fundierung durch schon vorangehende Erkenntnisfunktionen keine
mindere ist als die Universalität eben der Erkenntnisfunktionen, bringt
es mit sich, dass die obersten formalen Prinzipienwissenschaften, die Lo-
gik, die formale Wertelehre und die formale Wissenschaft von der Praxis,
sich in wunderbarer Weise wechselseitig übergreifen und dabei auf sich
selbst zurückbezogen sind. (Wir nennen: formale Axiologie, formale Prak-
tik.)
1) Die Logik als formale Wissenschaftslehre im früher definierten Sinne
umspannt alle Wissenschaften überhaupt, sofern sie für alle Wissenschaften
als solche universal gültige Gesetze aufstellt. Also umspannt sie in ihrer
Geltung auch die formale Wertelehre und formale Praktik und zugleich
umspannt sie sich selbst. Sie entspricht ihren eigenen Normen.
2) Fürs zweite, die formale Wertewissenschaft (formale Axiologie) um-
spannt alle Wertgebiete in ihrer formalen Allgemeinheit; da alle Wissen-
schaften und in ihnen alle Wahrheiten Werte sind und im wissenschaftli-
chen Streben ja beständig als Werte angesehen werden, so umgreift die
formale Wertewissenschaft alle Wissenschaften, nicht freilich so wie die
Logik, sondern eben als Werte. In dieser Weise ist aber die Wertewissen-
schaft selbst ein Wert und ein unendliches Wertsystem und umgreift sich
selbst.
156 einleitung in die philosophie

Ebenso 3) für die Ethik als formale Ethik oder formale Praktik: Alle
Wissenschaften sind nicht nur Werte und Systeme von Werten, sie sind
auch praktische Gebilde; und die formale Praktik als Wissenschaft vom
Apriori jeder möglichen Praxis überhaupt und jeder möglichen praktischen
Gebilde und ihrer praktischen Werte umspannt also alle Wissenschaften und
damit auch sich selbst. Wir können auch sagen: Erkennende, wertende und
praktische Vernunft durchdringen sich wechselseitig, und ihre Wesensgesetz-
gebungen übergreifen sich wechselseitig ohne sich doch zu stören und ihre
Sondereigenheit irgendwie einzubüßen.
(Ein logisches Gesetz umfasst ein Wertgesetz logisch, nur sofern, als
dieses ein Gesetz ist, aber nicht, sofern es über Werte spricht. Denn die
Axiologie als solche spricht von Werten und Gesetzen für Werte, nicht
von Gesetzen für Wahrheit und Sein überhaupt. Und ebenso umgekehrt
umfasst ein Wertgesetz nicht ein logisches Gesetz axiologisch, als ob ein
logisches Gesetz eine Aussage über Werte der logischen Sphäre wäre, da
doch die Logik von Werten überhaupt nicht spricht, der Begriff Wert in
ihr überhaupt nicht vorkommt. Aber Wahrheit wird eben auch gewertet
und kann danach unter Wertprädikate gebracht werden. Sowie das ge-
schieht und darüber ausgesagt wird, stehen wir in der wertewissenschaft-
lichen Sphäre.)
Wie die obersten Wesensgestalten der Vernunft, so sind auch ihre drei
Korrelatbegriffe der Wahrheit: logische Wahrheit, axiologische Wahrheit,
praktische Wahrheit und desgleichen: gegenständliches Sein überhaupt,
Wertsein überhaupt, gesolltes Sein überhaupt in dem merkwürdigen Ver-
hältnis der Koordination und doch der wechselseitigen Umgreifung, was
freilich mit einiger Vorsicht zu verstehen ist. Doch dürfen wir hier nicht
verweilen, den Fortgeschrittenen wird die Bedeutung solcher Einsichten für
eine höchste Kategorienlehre einleuchten.1

1 Randbemerkung Wichtige Beilage, leider vergessen in der Vorlesung.


Beilage Die Ethik umfasst also das Universum aller Wissenschaften und Künste und in-
dividuellen praktischen Leistungen in ihrer Regelgebung und damit, in der Rückbezogenheit,
die prinzipiell höchsten Disziplinen eigentümlich ist, sich selbst. Da die ethische Umspannung
„praktische Forderung“ heißt, so sagt das: Indem die Ethik, und zwar die apriorische Ethik
die Forderungen des kategorischen Imperativs systematisch entwickelt, kommt sie als auf eine
praktische Forderung auch dahin, dass eine Ethik entwickelt werden soll. Unter den wissen-
schaftlich deduzierten Forderungen, die sie aufstellt, kommt auch die vor, dass sie selbst sein und
all diese Forderungen wissenschaftlich aufstellen soll. Das fordert der kategorische Imperativ.
Auf dem Wege über diese Selbstforderung der Ethik kommen dann auch die Forderungen aller
echten Wissenschaften und Künste als ethische Forderungen.
apriorische wertelehre und ethik 157

In unseren früheren Vorlesungen haben wir eine große Anzahl von Axio-
men für die Wertewelt und die praktische Welt ausgesprochen, die fast
durchaus vom Charakter formaler Axiome waren; ich erinnere nur an das
Absorptionsgesetz und alle Axiome, die im Gesetz vom kategorischen Im-
perativ kulminierten, der selbst in der formalen Ethik das höchste Gesetz ist.
Jedenfalls hat sich uns scharf die Idee einer formalen Axiologie und (was uns
bei unserem bevorzugenden Interesse für Ethik näher steht) die Idee einer
formalen Ethik klargestellt. Selbstverständlich dürfen wir in dieser nicht vom
Menschen, der Spezies homo auf dieser Erde, sprechen, sondern in ihr fun-
giert als Subjekt nur die formale Idee eines handelnden Ich als solchen und
bezogen ist dieses nicht auf die faktisch gegebene Natur und Menschenwelt,
sondern auf eine Umwelt überhaupt in formaler Allgemeinheit. Es steht dann
aber natürlich nichts im Wege, das formale Apriori sachhaltig zu beschränken
und, immer noch in eidetischer Allgemeinheit, eine apriorische Normenlehre
und Kunstlehre des guten Wollens und Handelns für den Menschen zu
entwerfen, nämlich so, dass sie sich an die Idee des Menschen bindet und
den Menschen bezogen denkt auf eine humane Umwelt, die ihrerseits selbst
in eine reine Idee gefasst werden müsste. Obschon eine solche apriorische
humane Ethik natürlich an prinzipieller Allgemeinheit hinter der formalen
Ethik zurücksteht, so ist sie doch ein klares und durchaus unabweisbares
Postulat.
Die historische Ethik in ihren immer neuen Versuchen vom Altertum bis
zur Gegenwart wollte von vornherein eine humane Ethik sein, sie wollte
eine Kunstlehre sein, die dem Menschen allgemeine Regeln an die Hand
geben sollte, wie er sein praktisches Leben am besten gestalten könne.
Selbstverständlich waren so manche der Regeln, die dabei zur Aussprache
gebracht wurden, obschon auf den Menschen in den irdischen Verhältnissen
bezogen, von apriorischer und selbst formaler Geltung. Aber selbst nach der
platonischen Entdeckung des Apriori dauerte es Jahrtausende bis die Idee
einer apriorischen Ethik zu reiner Ausgestaltung gekommen war und gar
die Idee einer formalen Ethik als Parallele einer formalen Logik sich in ihrer
Eigenheit und Bedeutung abgehoben hatte. Es kommt hier in Betracht, dass
es, wie wir gehört haben und noch hören werden, ungeheurer Mühen und
großer Geisteskämpfe bedurfte, ehe das platonische Apriori seinen reinen,
von allen mystischen Beimengungen befreiten Sinn gewonnen oder sich in
der Reinheit seiner Geltung durchgesetzt hatte.
Wie schon in den primitiven Anfängen das Apriori zu Tage lag, obschon
in seiner Eigenheit unbemerkt, will ich an der hedonistischen Ethik zeigen
und daran zugleich eine ergänzende Ausführung zur Idee der Ethik selbst
158 einleitung in die philosophie

anknüpfen, die für unsere philosophischen Interessen unentbehrlich ist.1 Die


antike Ethik beginnt als Glückseligkeitslehre, und die ethische Frage bleibt
überhaupt im Altertum an diese Form gebannt: Wie gewinnt der Mensch
seine Eudaimonia und was bestimmt sie? Alle Menschen, ja alle Lebewesen
streben nach Glück, das Glücksstreben gehört zur Natur des Menschen. Was
ist es, das glücklich macht, wie bestimmt sich sein wahres Glück?
Eine sehr einfache Antwort auf diese Frage gibt der Hedonismus, der in
seiner ersten und im Prinzip völlig reinen Gestaltung bei Aristippos auftritt.
Er nannte sich Schüler des Sokrates und gehörte in der Tat zu seinen regel-
mäßigen Begleitern, dem Geist nach war er ihm himmelsfern. Aristippos’
klare Antwort auf die Frage der Eudaimonia lautet also: Glücksstreben ist
Luststreben. Alle Lebewesen streben nach Lust und fliehen den Schmerz.
Nur in der Lust erfüllt sich das Streben. Aber nicht jede Lust steht jeder
gleich, die höhere Lust bevorzugt der Mensch von Natur aus. Sein wahres
Glück findet der Mensch also oder zumindest das größtmögliche und durch
eigene Tätigkeit zu erzielende Glück, wenn er größtmöglicher Lust und
geringstmöglicher Unlust teilhaftig wird. Dabei muss natürlich daran gedacht
werden, dass mit der Erzielung einer Lust sich möglicherweise teils lustvolle,
teils schmerzliche Konsequenzen in der Zukunft verbinden. Das alles muss
in Rechnung gezogen werden und die praktische Vernunft, die φρνησις,
fordert vom Menschen, dass er also beständig der gute Lustrechner sei, für
jeden Tag und für sein ganzes Leben das Maximalproblem richtig löse, das
der größtmöglichen Lust.
Was besagt nun aber höhere und höchste Lust? Die Antwort nach Aris-
tippos lautet: Die quantitativ größere, die intensivere, die länger dauernde
Lust. Ferner: Mehrere Lüste, die allzumal realisierbar sind, verbinden sich
nach ihren Quantitäten zu einer Lustgröße; und in der Summe fungieren
andererseits Schmerzen, die unvermeidlich mit verbunden sind, als negative
Größen. Scheiden wir nun sinnliche und geistige Lust, so ist das nach Aristip-
pos nur ein Unterschied der Objekte: Einmal haben wir Lust am Wein, das
andere Mal an einer Tragödie oder einem Kunstgebilde aus Marmor. Wer
die letzteren Lüste „höhere“ nennt, der hält ihre Lustquantität für größer.
Freilich, nach Aristippos irrt er da, denn, wie er allen Ernstes behauptet,
die sinnliche Lust ist die höchste, sie hat die größte Quantität und ist in
größter Quantität auch erzielbar. Also, werden wir Lüstlinge! Das fordert
die „praktische Vernunft“.

1 Randbemerkung Formaler Charakter der hedonistischen Ethik.


apriorische wertelehre und ethik 159

Wo ist hier aber ein Apriori, werden Sie fragen? Und soll gar die Zu-
mutung gestellt werden, dass diese gemeine Lustlehre eine a priori gerecht-
fertigte sei? Nein, das beileibe nicht. Aber fürs Erste könnten wir schon
auf den durchscheinenden Leitgedanken hinweisen, dass der Mensch, und
dann offenbar jedes Willenssubjekt überhaupt, selbstverständlich praktisch
vernünftig nur dann ist, wenn er das Bestmögliche realisiert. Aber davon
abgesehen, gesetzt der Hedoniker hätte mit seinem Grundsatz Recht „Die
Lust ist das Gute, das Gute ist die Lust“, Recht mit dem Satz „Der Mensch
kann gar nicht nach anderem streben als nach Lust“ und selbstverständlich,
wie gemeint ist, eigener Lust. Und gesetzt, alle Lust sei mit aller quantitativ
vergleichbar. Wir hätten dann in unserem praktischen Bereich ausschließlich
homogene Größen.
Um nicht in den Schein zu kommen die Aristipp’sche Lehre für erwä-
genswert zu halten, können wir auch die Hypothese wählen, dass einmal in
unserem praktischen Bereich für die Wahl nur Lustwerte und quantitativ
vergleichbare Lustwerte in Frage kommen. Wie etwa der Fall, wo kein höhe-
res Gut in Frage ist als das, wie uns zu sättigen, und uns nun die Speisekarte
gereicht wird zur Wahl des Besten. Nun gilt offenbar das quantitative Prin-
zip, und sein Apriori werden wir nicht mehr zu bezweifeln Anlass haben.
Denn das ist ja evident: Wo homogene Lustwerte und Werte überhaupt
in irgendeiner Hinsicht eine quantitative Vergleichung zulassen (und nur
homogene lassen es offenbar zu), da ist die größere Quantität die vernünftig
zu wählende: der Gänsebraten gegenüber Wurst oder Wurstersatz und der
zweimalige Gänsebraten gegenüber dem einmaligen, wenn das Portemon-
naie keinen Protest erhebt. Das ist eine Evidenz der praktischen Vernunft.
Natürlich gilt das auch in anderen, nach unserer Meinung höheren Sphä-
ren. Wenn unsere Aufnahmefähigkeit groß genug ist, so hat das längere
Konzert den Vorzug vor dem kürzeren, schon um der Quantität willen. Meh-
rere Worte, mehrere musikalische Darbietungen vereint geben aus Quan-
titätsgründen allein schon einen höheren Wert. Aber freilich macht es die
Quantität allein nicht, da sich die Kunstwirkungen nicht bloß summieren,
sich in der Folge auch zu einer gesteigerten, wie in anderen Fällen einer
geminderten Werteinheit verbinden können. Aber wenn das nicht der Fall
ist, da entscheidet Quantität allein. Dieses Apriori steckt also sicher im Hedo-
nismus; und bei dieser Gelegenheit erkennen wir, dass in der apriorischen
Ethik auch eigene Prinzipien der Wertquantität aufgestellt werden müssen,
Prinzipien die offenbar einen rein formalen Charakter haben.
Ich brauche nicht zu sagen, dass diese Prinzipien keine ausschließliche
und irgendwie beherrschende Rolle spielen können, da ja evident ist, dass
160 einleitung in die philosophie

bloße Summation ein abstraktiver Grenzfall ist und dass, wie sich uns alsbald
aufdrängte, Werte, die in der Einheit eines Bewusstseins zusammen auftre-
ten, sich zu Ganzen verschmelzen, sodass mit der Erstreckung der Dauer und
der zeitlichen Zufügung neuer Güter, ebenso auch mit der Steigerung ihrer
Intensität, Hand in Hand gehen werden Veränderungen im verbundenen
Gesamtwert, die nicht nach Summationsprinzipien ausgerechnet werden
können. Im Übrigen brauchen wir uns mit der Kritik der Aristipp’schen
Lehre nicht aufzuhalten, da ja von vornherein außer Zweifel steht, dass schon
das Prinzip der quantitativen Vergleichbarkeit aller Freuden und Schmerzen
grundverkehrt ist: Als ob wir den Wert einer Symphonie oder einer heroi-
schen Tat, selbst wenn wir ihn als Lustwert missverstehen wollten, umrechnen
könnten in so und so viel Pfund Gänsebraten oder Kaviar. Demnach ist auch
der hinsichtlich der Gesinnung höher stehende Hedonismus der späteren
Kyrenaiker, welcher die geistigen Güter über die sinnlichen stellt, im Prinzip
nicht gebessert, da er nur urteilt, die geistigen Güter seien die quantitativ
günstigeren, sie hielten länger vor u. dgl.
Wichtiger ist nun für uns die Frage, ob nicht die Glückseligkeitsethik
bei entsprechender Ergänzung ihrer Prinzipien doch Recht hat, ob wir also
nicht einen Fehler begangen haben in unserer allgemeinen Bestimmung der
Idee einer Ethik, nicht von der doch so naheliegenden Idee des Glücks
auszugehen. Ist nicht alles Streben und Wählen auf Befriedigung gerichtet,
und hat nicht das Beste unter dem Erreichbaren von vornherein den Sinn
größtmöglicher Befriedigung, nur dass der Ausdruck „größtmöglich“ nicht in
einem wörtlichen, bloß quantitativen Sinne verstanden werden darf? Ohne
uns auf längere und feinere Erörterungen einzulassen, können wir in der
Hauptsache doch bald Klarheit gewinnen.
Zweifellos ist, dass a priori zum Wesen jedes Willens gehört, dass seine
Erfüllung als Realisierung des Willensziels eo ipso lustvolle Erfüllung ist; die
Befriedigung des Willens, seine Entspannung als Erfüllung, Erzielung ist eo
ipso auch ein Lusterlebnis. Aber wie schon Aristoteles in seiner berühmten
Kritik des Hedonikers Eudoxus gesehen hat, beides muss man sorgfältig
scheiden. Und somit darf man auch nicht verwechseln das Willensziel und
die im gelingenden Handeln notwendig eintretende Lustbefriedigung. Ganz
gewiss können wir auch Lust zum Willensziel wählen und wir tun es oft
genug. Aber selbst dann müssen wir unterscheiden: die Lust, die unser Ziel
ist und die Befriedigungslust der Erzielung dieser Lust, mag sie auch mit
der erzielten Lust zu einer Einheit verschmelzen. Andererseits, nicht immer
erstreben wir Lust und grundverkehrt gar ist es zu meinen, als ob jedes
Streben notwendig Lust zum Ziel haben müsste. Das Verführerische, das in
apriorische wertelehre und ethik 161

dieser populären Meinung liegt und das alle Hedoniker bis zu Mill, Bentham,
Fechner bestochen hat, hat darin seine Wurzel, dass man, von außen her auf
das Phänomen der Willenserzielung hinblickend, am Erzielten immer und
sogar als notwendiges Bestandstück die Erzielungslust fand und dass man
nicht, von innen her sich in das Streben und Handeln einfühlend, sah, dass das
Willensziel selbst nur ausnahmsweise eine Lust ist, sondern jederzeit das ist,
was eben als Wert vermeint und als zu realisierender Wert gesetzt ist. Werten
wir Wissenschaft praktisch, so wird sie unser Ziel, ebenso Kunstschaffen
und so vieles anderes. Lust, eine bestimmte Lust oder eine unbestimmt
allgemeine Lust, sich zum Ziel setzen, das ist ihr Wert beimessen und sie rea-
lisieren wollen. Es kann sinnliche Lust sein, es kann irgendeine höhere Lust,
etwa Befriedigung am Genuss eines Kunstwerkes, sein oder unbestimmte,
etwa im Sinnen nach irgendeinem Genuss eben diese Unbestimmtheit. Aber
es ist dann doch ein klarer Unterschied.1 Nach wissenschaftlicher Erkenntnis
streben ist nicht dasselbe wie nach der Lust in wissenschaftlicher Erkenntnis
streben. Einmal ist die Erkenntnis selbst Endziel, das andere Mal wird sie
zum Mittel für die von ihr erwartete Befriedigungslust. Und dann, wie schon
berührt, muss sich als Erfolg der Verwirklichung dieser Befriedigungslust
eine zweite Befriedigungslust einstellen.
Vermöge des funktionellen Zusammenhangs von Willensziel und Befrie-
digungslust ist dann klar, dass in gewissem Sinne das Ideal größtmöglicher
Eudaimonia und das eines ethisch besten Lebens Hand in Hand mitein-
ander gehen.2 Zunächst können wir sagen: Wer das ethisch Gute tut, des-
sen Wille ist dabei der denkbar erfüllteste, er erzielt ja sein bestmögliches
Willensziel.3 Nun aber, selbst wenn er auf Lust ausginge, eingerechnet alle
mögliche Befriedigungslust, so könnte er keine höhere Lust4 sich als Ziel
erdenken als diejenige, die in der Erzielung der ethischen Befriedigung ihm
als Blüte der konsequent ethischen Handlungen entgegenleuchten würde.
Sie ist evidenterweise im Rang über alle erreichbaren Lustwerte erhoben.
Aber freilich, sowie wir fragen warum – Warum ist das ethische Leben das

1 Randbemerkung Lust als sinnliche Erregung und Stimmung, bewirkt durch Erfüllung des

Strebens – und Erfüllung des Strebens, in der das Gewollte und Gesollte als „wahres“ Ziel
erzielt ist, das für mich Gesollte und das Seinsollende selbst als wahrhaft Gutes. Das ist wieder
ein Unterschied.
2 Randbemerkung So geht das nicht.
3 Randbemerkung Nicht immer objektiv! Obschon subjektiv: Das, was er wählen soll, das

wählt er und tut er.


4 Lust gestrichen; dazu Randbemerkung Befriedigung!
162 einleitung in die philosophie

denkbar befriedigendste, beglückendste?1 –, so erkennen wir alsbald, dass


die hierbei maßgebende Glückseligkeitswertung nicht gleichgeordnet ist der
ethischen Wertung, sondern von ihr selbst abgeleitet, und wir erkennen, dass
eine andere Wertung überhaupt maßgebend nicht werden kann. Aus keinen
anderen Grund doch ist die ethische Befriedigung die Lust höchster Dignität,
als weil sie eben ihre Dignität vom höchsten Wert, dem ethischen, ableitet.
Praktisch darf ich keine andere Freude vor dieser ethisch erweckten Freude
bevorzugen, denn sonst würde ich ein Schlechtes bevorzugen, ich verletzte
ja den kategorischen Imperativ. Freilich sehe ich auch ein, dass ich diese
Freude nur dann realisieren kann, wenn ich nicht an Freude denke, sondern
an die Güter aller Art, die praktisch für mich in Betracht kommen können,
und ihrem eigenen Wert folge. Ich sehe ein, dass dann eo ipso diese schönste,
an Würde höchste Freude mir erblühen muss. Ferner: Auch außerpraktisch
kann keine andere Freude höheren Wert haben, weil ja, wenn sie ihn hätte,
ich Sie gegenüber der ethischen Freude anstreben dürfte. Und das gäbe einen
ethischen Widerspruch.
Wir haben (also den richtigen Weg gewählt und) erkannt, dass die Prin-
zipien der Ethik nicht durch die Idee der Glückseligkeit und des möglichst
befriedigenden Lebens bestimmt sein dürfen, während andererseits ethisches
Leben sich doch als das denkbar befriedigendste, das für das Willenssubjekt
und seine Praxis überhaupt möglich ist, erweist. Zugleich kann für uns jene
Populär-Sophistik keine Macht mehr haben, die da sagt: Jeder kann nichts
anders tun, als was ihm selbst Vergnügen macht. Selbst wer Nächstenliebe
übt, tut es doch nur, weil es ihm Vergnügen macht, dem Anderen zu helfen.
Als ob es danach keine reine Liebe zum Anderen gäbe, die also im Anderen
ihr Telos hat, und als ob die Freude am Anderen und die Liebestat am
Anderen, weil sie Freudenerlebnis und Tätigkeitserlebnis in uns ist, Freude
an unserer Freude und strebendes Tun nach unserer eigenen Förderung
wäre.2
Ähnlich wie mit der Glückseligkeitsethik steht es mit der oft mit ihr
verwoben auftretenden Vollkommenheitsethik. Sie blickt in dem vielseiti-
gen Wesensbestand des ethischen Lebens nach einer ganz anderen Seite.
Während die Glückseligkeitsethik auf das dem Telos anhaftende Befrie-
digungsgefühl hinblickt, blickt die Vollkommenheitsethik auf das Ich hin,
von dem das Wollen ausgeht und das, je nach der Willensrichtung und dem

1 Randbemerkung Aber darum noch lange nicht glückliche.


2 Randbemerkung Aber spielt immer Freude, Lust eine Rolle?
apriorische wertelehre und ethik 163

Wert des Willens, selbst sich erhöht und erniedrigt. Es steht nichts im Wege,
die Idee einer normativen und praktischen Disziplin von der Selbstvervoll-
kommnung einer Persönlichkeit zu entwerfen, und sowie man sie erwägt,
erkennt man sofort, dass sie ausgeführt sich im Hauptsächlichen mit der
Ethik des kategorischen Imperativs, der Ethik des guten Willens, decken
müsste, während sie doch nur als eine Ableitung aus der von uns gewon-
nenen ethischen Prinzipienlehre gerechtfertigt werden kann. Klar ist, dass
für jedes Subjekt das Tun des ethisch geforderten Besten zugleich das Beste
für seine Selbstvervollkommnung wäre, und andererseits auch dies, dass die
Idee der bestmöglichen, durch Selbsttätigkeit gewonnenen Vollkommenheit
alle ethisch geforderten Ziele in sich schließen müsste.
Es ist hier darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Frage, wie Personen, sei
es richtig oder unrichtig, werten und wofür sie sich praktisch bevorzugend
entscheiden, keineswegs irrelevant ist für die Wertung der Persönlichkeit
selbst.1 Im Gegenteil leitet sich von daher vielfältig Wert und Unwert der
Persönlichkeiten ab. Es ist ja a priori evident, dass eine Person, die, einsehend
oder in der praktischen Sicherheit, jederzeit die Einsicht wiederherstellen
zu können, ein wahrhaft Schönes als schön, ein wahrhaft Gutes als gut
wertet, eben dadurch und in dieser Hinsicht selbst wahrhaft gut ist und umso
besser, je vollkommener das Gute ist, das sie erschaut. Wir können auch
sagen: Nicht nur ist überhaupt einsichtig und aus Einsicht sich ableitende
sichere Vernunftüberzeugung ein Besseres als blindes Meinen, sondern der
Einsehende und vernünftig Überzeugte ist besser (als solcher) als der blind
Meinende.
Ferner: Ein Willensakt, der durch Einsicht motiviert ist, der „der Ein-
sicht folgt“, ist besser als ein solcher, der ihr nicht folgt. Aber auch der
entsprechend Wollende (das der Einsicht folgende Subjekt selbst) ist besser
als das einem blinden Meinen folgende Subjekt. Also auch in der Bevorzu-
gung: Das als besser Erkannte praktisch bevorzugen, gibt auch dem Subjekt
Wert, während es unwertig wird, sowie es ein als minder gut Erkanntes
in der Wahl einem Höheren vorzieht. Ja, hier genügt überhaupt schon die
Überzeugung.
Evident ist und immerfort a priori, dass eine Person, sofern sie einen
generellen Willensentschluss fasst, ihr ganzes künftiges Leben im Sinne des
kategorischen Imperativs zu gestalten, besser ist, als wenn sie sich bloß
entschließt, in dem bestimmten Fall das Bestmögliche zu tun, ohne an eine

1 Randbemerkung Axiome.
164 einleitung in die philosophie

generelle Selbstregelung gedacht zu haben und zu denken. Mit Rücksicht auf


solche apriorische Erkenntnis können wir fragen: Wann gewinnt eine Person
für sich selbst den höchsten praktischen Gutwert? Durch ihr Gut-Tun vervoll-
kommnet sie sich eo ipso. Sie kann das erkennen und auch darüber hinaus
sich selbst vervollkommnen wollen. Jeder Akt begründet für sie eo ipso
einen Habitus, jeder wertvolle Akt einen relativ wertvollen, sie veredelnden
Habitus. Nun kommen aber auch Gewohnheit und Übung praktisch in Frage.
Sie scheinen zwar oder bezeichnen zwar blinde Neigungen, aber sie können
doch auch Verbündete sein in dem Streben nach dem Guten, vor allem
sofern sie auch als Gewohnheitsneigung, nach Einsicht in den Wert, das
Beste zu wählen, das Gut-Tun erleichtern können und damit anderen blinden
Neigungen, die so oft die Entscheidung für das Schlechtere, obschon es als
Schlechteres erkannt ist, befördern, entgegentreten. (Mittelbar dient also
auch die Ausbildung von gewohnheitsmäßigen Neigungen und je nachdem
die Bekämpfung von solchen, sofern sie in unserer praktischen Macht stehen,
der Selbstvervollkommnung und ist ein Thema ethisch geforderter Regelge-
bung.)
Wir brauchen nicht weiter zu gehen. Es ist klar, dass alle solche Überle-
gungen im Sinne einer ethisch gerichteten Selbsterziehung, deren Ziel größt-
mögliche Selbstvervollkommnung ist, ihr gutes Recht hat. Aber andererseits
ist auch klar, dass all die praktischen Werte, die hier resultieren, aus der
Idee des guten Willens und des kategorischen Imperativs abgeleitet sind und
dass ein Leben, das nach diesem Prinzip und nach den zugehörigen Axio-
men durchgeführt wird, eo ipso die Selbstvervollkommnung mit sich führt;
wobei aus solchen Prinzipien auch die Grenzen bestimmt werden müssen,
in welchen es nützlich und dann auch notwendig ist, das Ziel der Selbstver-
vollkommnung sich ausdrücklich zu stellen, und wie auch zu untersuchen
ist, welche besonderen seelischen Sphären, wie etwa die Ausbildung günsti-
ger Neigungen, einer besonderen Kultur bedürfen. Wir können auch sagen:
Selbstvervollkommnung ist ein notwendiges Thema jeder empirischen, aber
auch apriorischen Ethik. Aber diese Idee bezeichnet nicht den zentralen
Begriff der Ethik, sie führt uns auf primitivere Begriffe zurück, auf die
formalen axiologischen und praktischen Kategorien und die zugehörigen
axiologischen Grundsätze. Uns hat aber diese ganze Betrachtung auch dahin
bereichert, dass wir eine ziemliche Anzahl neuer Axiome kennengelernt
haben, die uns eine Vorstellung vom Reichtum des ethischen Apriori geben
können.
Es sei jetzt nur noch eine wichtige Ergänzung beigefügt, die uns zugleich
als Übergang zur sozialen Ethik dienen soll. Für Selbstvervollkommnung
apriorische wertelehre und ethik 165

konstruiert die formale Ethik ein Ideal: das formale Ideal der ethisch voll-
kommensten Persönlichkeit. Dieses Ideal ist nun zwar wesentlich mitbezo-
gen auf das Ideal einer vollkommensten Persönlichkeit schlechthin, aber
keineswegs fallen beide Ideale zusammen. Jedermann sagt sich als ethisch
reflektierendes Subjekt: Ich soll mein Bestes tun, das ist für mich das absolut
Gesollte. Und ebenso: Ich soll so gut werden, als ich es irgend kann, ich soll
eine ethisch vollkommene Persönlichkeit werden. Aber da ist zunächst zu
bemerken, dass diese Rede von ethisch vollkommener Persönlichkeit ihre
Vieldeutigkeiten hat. Ich habe in einem Sinne ethische Vollkommenheit,
wenn ich in ungebrochener Konsequenz das, was nach meiner Überzeugung
das Beste unter dem Erreichbaren ist, tue. Das ist eine praktische Idee,
die Idee einer unendlichen Aufgabe in Ansehung des beständigen Kampfes
mit herabziehenden Neigungen, andererseits aber doch ein möglicherweise
erreichbares Ideal. Aber ein weiteres Ideal ist dies, dass ich in beständiger
Konsequenz allzeit aufgrund der Einsicht werte und wähle und das gemäß
vollkommener Einsicht Beste realisiere. Dieses Ideal zu erreichen kann ich
nie erhoffen, meine Einsicht wird mich zweifellos oft genug im Stich lassen.
Bezeichnet ist aber eine ideale Aufgabe, sofern ich weiß, dass, in gewissen
Grenzen und fortschreitend, Einsichtigkeit im Urteilen und Werten in mei-
ner Macht steht. Das muss ich also in meinen Willen aufnehmen, und der
vorhin formulierte Imperativ der Selbstvervollkommnung fordert dann eo
ipso eine möglichste Annäherung an dieses zweite, im Unendlichen liegende
Ideal.
Vergleichen wir nun mehrere Persönlichkeiten, deren jede wir als dem
ersten Ideal entsprechend denken, so erfüllen sie die formale imperativische
Forderung, so gut zu sein, als sie überhaupt sein können, sich zu so Guten
gestaltet zu haben, als sie jeweils überhaupt konnten. Darum brauchen sie
aber nicht auf derselben Stufe der Annäherung an das zweite Ideal zu stehen,
wie wenn etwa der eine intellektuell beschränkt ist, der andere weitblickend,
begabter, entwicklungsfähiger. Jeder steht unter der kategorischen Forde-
rung des ethischen Imperativs, und er hat seine ethische Vollkommenheit,
wenn er diese Forderung konsequent erfüllt. Aber jeder ist eben der, der
er ist, und nicht der, der ein anderer ist, und was der eine kann, kann
darum noch nicht der andere; Werte, die dem einen offen stehen, stehen
dem anderen nicht offen, und selbst wenn sie in seinem Bereich sind, mag er
unfähig sein, sie richtig abzuwägen, während der andere es wohl kann.
An ethischer Vollkommenheit in dem eigentlichen Sinne sind alle Men-
schen gleich, die in Konsequenz ethischer Gesinnung handeln, die ihre
Persönlichkeit zu der besten, die sie nach ihren Anlagen und unter ihren
166 einleitung in die philosophie

umweltlichen Umständen werden kann, gestalten. Jeder dieser Menschen


hat dieselbe ethische Vollkommenheit, weil eben ethische Vollkommenheit
ihrem Wesen nach nur Ausdruck der Erfüllung einer formalen Forderung
ist und bezogen ist auf die jeweilige Person.1 A priori nimmt sie je nach
der Person einen immer neuen Inhalt an. Um der Erfüllung dieses Ideals
willen haben Menschen Würde oder besser, die höchstmögliche Würde; denn
Würde haben sie schon um einer in ihnen vorherrschenden ethischen Ge-
sinnung willen und eine umso vollkommenere, je näher diese Herrschaft der
absoluten Herrschaft im Sinne des Ideals kommt. „Würde“ ist also eigentlich
das spezifisch zum personalen Subjekt als Subjekt kategorisch geforderten
Handelns gehörige Wertprädikat, und als ein an der reinen Form haftendes
Prädikat wird es durch inhaltliche Unterschiede der Person nicht berührt.
Damit ist aber gesagt und stimmt zu dem vorhin Gesehenen, dass mit
der ethischen Personenwertung als einer formalen nicht verwechselt werden
kann eine andere, auf den sachhaltigen Bestand der personalen Eigenschaf-
ten bezogene Gutwertung irgendeiner Person. Sowie wir die Besonderheiten
der Persönlichkeiten in Rechnung ziehen, finden wir auch zwischen ethisch
gleich Vollkommenen unendlich viele Wertunterschiede. Ein Kant und ein
Bauer, beide gedacht als ethisch vollkommen, beide beständig nach bestem
Wissen und Gewissen das Beste tuend, stehen einander ethisch gleich, ihnen
gebührt die gleiche ethische Verehrung. Und doch besteht zwischen beiden
ein gewaltiger Wertunterschied. Jetzt werten wir nicht ethisch, sondern wer-
ten voll inhaltlich die Personen, wie andere Gegenstände, als Gutwerte: das
Denken, Fühlen, Schaffen des philosophischen Genies und die personalen
Eigenschaften, die sich in solchen Akten ausleben, stehen auf einer überwäl-
tigend höheren Stufe gegenüber denjenigen des schlichten Bauern. Natürlich
aber wäre es grundverkehrt und sogar ethisch verwerflich, wenn der Träger
der höheren Wertstufe nach dieser außerethischen Wertvergleichung, sich
auf seine Höhe etwas zugute tun und verächtlich auf den Tieferstehenden
herabsehen würde.
Zu beachten ist aber hinsichtlich der hier „außerethisch“ genannten
Wertvergleichung von Personen, welche auf die Gutwerte der Personen
gerichtet ist und alle wertbaren Seiten in ihnen in Rechnung zu ziehen
hat, dass für sie die ethische Vollkommenheit auch ihre Rolle spielt und
eine sehr merkwürdige. Sehen wir von allen Mittelwerten ab, von denen
hier selbstverständlich keine Rede ist. Es handelt sich um die Frage des

1 Randbemerkung Würde.
apriorische wertelehre und ethik 167

Eigenwertes einer Person, abgesehen davon, dass sie wie anderes als Mittel
Wert werden kann. Zunächst möchte man sagen: In der ethischen Wertung
haben wir rein die ethische Gesinnung zu betrachten. Bei der Gutwertung der
Person schlechthin haben wir die ganze Person zu betrachten, die ethische
Gesinnung ist dann eine bloße Komponente. Der ethische Charakter ist nicht
der ganze Charakter, nur eine Seite der Persönlichkeit; als wertbar bestimmt
er auch den Gutwert der Personen, so gut wie die anderen wertbaren Seiten
der Person. Aber so einfach ist die Sache eben nicht, denn das ist eben das
Merkwürdige, dass alle anderen Werte, etwa die, den den echten Künstler,
den Gelehrten, den Erzieher auszeichnen, dem ethischen Wert nicht gleich-
geordnet sind, sondern dass der ethische Charakter allererst den Wert aller
anderen Charakterseiten endgültig bestimmt; oder auch, dass er einerseits
zwar vor aller Frage nach Wert und Unwert im Gesamtcharakter eine Kom-
ponente ist, andererseits aber in der Wertung als eine Form anzusehen ist,
die den Wert aller anderen Charakterkomponenten mitbestimmt, und zwar
so, dass jede Charaktereigenschaft nur so weit dem Eigenwert der Personen
zuzurechnen ist, als sie von ethischer Gesinnung durchseelt ist und in dem
Grad, in dem sie es ist.
Gewiss, das gewaltige wissenschaftliche Können und Leisten eines Platon,
Kant, eines Gauss oder das künstlerische eines Michelangelo oder Goethe
sind ungeheure Werte. Aber wir müssen scheiden den Wert der wissenschaft-
lichen Gebilde, der Kunstwerke usw., der Wert an sich ist, wie immer es mit
dem Wert der Persönlichkeiten, die darin sich ausgewirkt haben, stehen mag,
und andererseits den Wert eben dieser Persönlichkeiten selbst. Als Werte
wirkend sind sie selbst wert, aber dieser Wert ist bloßer Übertragungswert,
wenn die Persönlichkeiten nicht in ethischer Gesinnung geschaffen, wenn
sie zum Beispiel nicht, um Großes und Schönes zu erwirken, sondern um
berühmt und geehrt zu werden, geschaffen haben. Also wenn wir den Wert
einer Person, und zwar ihren reinen Eigenwert bestimmen wollen und nicht
ihren Mittel- und Nutzwert für anderes, so ist ihr ethischer Charakter der
Grundwert, von dem alle anderen Charakterseiten, die in der Person als
positive Werte aufweisbar sind, ihren dem Wert der Person selbst zuzurech-
nenden Wert annehmen.
Mit anderen Worten: Ehren und verehrend bewundern dürfen wir den
Genius nur, wenn er in ethischer Gesinnung philosophierte, mathematisierte,
obschon in abstrakter Betrachtung das geniale Leisten ein großer Wert ist,
aber der Person selbst nicht ohne weiteres zuzurechnen ist als ihr Eigen-
wert. Der Eitle, der Unethische hat seinen Lohn dahin. Nur der Ethische
eben, weil er nichts um eines Lohnes willen erstrebt, empfängt die höchste
168 einleitung in die philosophie

Gegengabe der liebenden Verehrung. (Alle „personal“ zu nennenden Werte


sind also in der Tat nur dann wirkliche Komponenten des Wertes der Person,
wenn sie die Form der ethischen Gesinnung angenommen haben oder, in
diese einbezogen, von ihr ethische Bestimmung erfahren haben.) Also im
Grunde genommen ist alle personale Wertung doch ethische Wertung, nur
dass wir scheiden müssen die rein ethische Wertung, die nur auf die Form der
Gesinnung geht, und die konkrete Gutwertung der Person, die, indem sie
deren personalen Eigenwert bestimmt, in der ethischen Form die Bedingung
der Möglichkeit des Eigenwertes der Person findet.
(In der im Unendlichen liegenden Idee einer allervollkommensten Per-
sönlichkeit ist die Idee einer vollkommensten ethischen Persönlichkeit be-
schlossen. Im Sinne der letzteren liegt, dass all ihre Charaktereigenschaften
durch die beständig betätigte Konsequenz des ethisch guten Willens oder
durch die Zucht der ethischen Selbsterziehung eine rein ethische Form
angenommen haben und somit nie anders in Erscheinung treten und tre-
ten können als im Dienst der ethischen Gesinnung. Jede ethisch gerichtete
Persönlichkeit ist auf diese rein ethische Formung ihres Charakters gerich-
tet. Das Ideal der schlechthin vollkommensten Persönlichkeit liegt darüber
hinaus, sofern materialiter verschiedene rein ethisch geformte Charaktere
von sehr verschiedener Wertstufe sein können nach dem Gehalt eben, der
da ethisch geformt ist.)
Die Frage der Selbstvervollkommnung und die damit zusammenhängen-
den Fragen der Personwertung leiten uns über zur Frage des Egoismus und
Altruismus, damit zur Frage des Verhältnisses von Ethik und Moral und
von individueller Ethik und sozialer Ethik. Sind Fragen wie „Was soll ich
tun?“, „Wie soll ich gut werden?“ ethische Grundfragen, so sind sie an eine
jeweilige einzelne Person adressiert. Und was in ihrer Beantwortung sich an
Forderungen ergibt, sind nicht minder Forderungen an die einzelne Person.
Nun könnte man einwenden: Indem die Ethik von mir Selbstvervoll-
kommnung fordert, fordert sie mich zum Egoismus auf. Mein eigenes Gutes
soll ich fördern. Und ist das nicht als Egoismus zu verpönen? Indessen,
treiben wir kein Spiel und überlegen wir den Begriff des Egoismus! Egois-
mus ist jede (habituelle) Bevorzugung des Eigenen gegenüber dem Frem-
den, genauer jede Bevorzugung eines wirklich oder vermeintlich Guten
in meiner Wirkungssphäre unter Hintansetzung, Schädigung oder Nicht-
Berücksichtigung von praktischen Gütern in der Wirkungssphäre eines An-
deren. Jeder hat einen gewissen, ihm unmittelbar eigenen praktischen Be-
reich, der ihm übrig bliebe, auch wenn von allen Anderen abgesehen wird.
Vermöge der Einfühlung hat jedes Ich aber auch Einblick in ein anderes
soziale ethik 169

Ich und seine praktische Gütersphäre, und dadurch schon und erst recht ver-
möge der wechselseitigen mitteilsamen Verständigung, durch die sich soziale
Gemeinschaft herausstellt, reicht die praktische Wirkungssphäre eines jeden
über sich hinaus in die Wirkungssphären der Anderen hinein. Das ethische
Apriori aber fordert es, dass inhaltlich gleiche praktische Güter mit gleichen
Werten in der ethischen Messung anzusetzen sind. Wo immer also ein Gutes
im Anderen mit in meine Wirkungssphäre gehört, steht es ceteris paribus dem
Guten in mir gleich; es ist dann unter Leitung des kategorischen Imperativs
von den Umständen her zu entscheiden, wann ich mein Gutes hintansetzen
oder bevorzugen soll, ganz ebenso, wie ich sonst bei der Wahl zweier dem
Eigenwert nach gleicher und miteinander unverträglicher Güter anderwärts
her Gründe des Vorzugs suche und finde. Egoist bin ich nur, wo ich mich um
diese Regel nicht kümmere und ohne weiteres das Gute für den Anderen
unberücksichtigt lasse, wo nicht gar es bewusst hintansetze.
Mit dem Egoismus geht Hand in Hand die intellektuelle Selbstliebe und
Selbstbewertung, die ihr Gegenstück hat in der echten Menschenliebe als
echter Nächstenliebe und Selbstliebe, gemeint als ein wertendes und prak-
tisches Verhalten, das rein motiviert, bestimmt ist durch den personalen
Eigenwert und darin also und vor allem durch den ethischen Wert. Im Gut-
Sein- und Gut-Werden-Wollen erweise ich an mir die richtige Selbstliebe; wie
ich die richtige Nächstenliebe erweise darin, dass ich das Gute im Anderen
beachte und vollwertig anerkenne und dass ich weiter im Rahmen meiner
Lebensaufgabe mein Bestmögliches dazu tue, ihn in der Erfüllung seiner
ethischen Aufgaben, also auch in seiner Selbstvervollkommnung zu fördern.
Bekanntlich liegen hier die größten praktischen Schwierigkeiten. Die auf
das richtige Verhalten gegenüber den Anderen bezüglichen Normen und
praktischen Regeln, also auch die auf die Zurückweisung und praktische
Überwindung des Egoismus bezüglichen, sind die im spezifischen Sinne
sogenannten moralischen Normen. Offenbar erschöpft das Moralische kei-
neswegs das Ethische überhaupt. Die ethische Vernunft ist die praktische
Vernunft überhaupt in ihrer vollen Weite und prinzipiellen Einheit; die
moralische Vernunft ist die Vernunft im praktischen Verhalten gegenüber
Anderen.

Soziale Ethik

Gehen wir nun zur sozialen Ethik und zum Verhältnis von individueller
und sozialer Ethik über. Denken wir uns Menschen geistig voneinander
170 einleitung in die philosophie

abgeschlossen, also unfähig, voneinander Kenntnis zu nehmen, also auch ein-


ander praktisch zu berücksichtigen, einander willentlich oder unwillentlich
in personaler Weise zu bestimmen, so hätten wir eine individuelle Ethik in
einem bestimmten Sinne. Für ein solches Subjekt gälte noch der kategorische
Imperativ. Es gäbe also immer noch eine Ethik, aber eine außerordentlich
dürftige. Die ganze moralische Sphäre wäre nicht vorhanden, ebenso die
sozial-ethische, da ja keine Sozialität möglich wäre. Das wäre die Ethik des
geistig isolierten Individuums, des Individuums sozusagen in der geistigen
Einzelzelle.
Geben wir nun diese Isolierung auf, so haben wir damit noch nicht ohne
weiteres die Sachlage, die wir von unserem Kulturleben her gewöhnt sind.
Es wäre denkbar, dass Individuen zwar nicht geistig vereinzelt (nicht abge-
kapselt), aber sozial vereinzelt leben. Sie sind geistig nicht ohne Verbindung,
sie nehmen voneinander Kenntnis, üben aufeinander Rücksicht, bestimmen
einander im Handeln, und doch sind sie ohne jede soziale Verbindung.
So etwa wie Trapper im urwaldlichen Amerika. Was hier also fehlt, ideell
als fehlend jederzeit gedacht werden kann, ist die soziale Gemeinschaft,
die wie jede solche Gemeinschaft eine uns allen, die wir in einer solchen
als Glieder leben, durchaus verständliche geistige Einheit ist, ein uns von
innen her verständlicher Organismus, der seine organischen Teilungen und
Gliederungen hat und, in wie vielen Stufen immer, zurückführt auf letzte
organische, nicht mehr teilbare Teile, also auf organische Individuen. Das
aber sind die einzelnen Menschen, die in der geistigen Gemeinschaft nicht
nur geistig beisammen sind, kollektiv, sondern in ihr die letztfungierenden
organischen Elemente sind. Hier bekommt also das Wort „Individuum“ als
Korrelat von sozialer Gemeinschaft einen bestimmten Sinn. In dieser Art ist
auch jeder Verein eine Gemeinschaft, hat seine organischen Teile in seinen
Ausschüssen, seinen Kommissionen und Disputationen und seine Individuen
in den einzelnen Vereinsmitgliedern.1
Das Wort „Organismus“ führt hier als Bild mit sich die Erinnerung
an physische Organismen wie Pflanzen oder, rein nach ihrer Leiblichkeit
betrachtet, Tiere. Aber wir treiben hier kein Spiel mit Analogien, sondern
benützen nur das Bild, um auf innerlich verständliche Eigenheiten der merk-
würdigen Einheitsformen und Ganzheiten, die da „Gemeinschaften“ heißen,

1 Randbemerkung (Verschiedene Gemeinschaften können offenbar nebeneinander bestehen

oder sich durcheinander bestimmen, ohne für einander zu organischen Gliedern werden zu
müssen.)
soziale ethik 171

aufmerksam zu machen. Besonders zu beachten ist, dass so etwas wie ein


Verein oder ein Staat nicht ein bloßes Ganzes ist aus seinen Individuen, als ob
er verschwände, wenn die bestimmten Individuen alle dahin sind. Vielmehr
ist er eine sich gleichsam im geistigen Stoffwechsel, im Ausscheiden und neu
Eintreten von Individuen, forterhaltende lebendige Einheit; wieder in einem
für alle fungierenden Individuen verständlichen Sinne.1
Eine solche Einheit hat ferner Analogie mit einer einzelnen Person, ja in
ihren höheren Formen eine so wesentliche Analogie, dass wir sie notwendig
als eine personale Einheit, nämlich als ein Subjekt, das seine Vorstellungen,
Meinungen, Gewissheiten, Vermutungen hat, weiter seine Wertungen, seine
Wünsche und nicht zum mindesten auch seine Absichten, seine Willensziele,
seine Zwecke und Mittel hat. Der Verein hat als Verein seine Überzeugungen
und vertritt sie nach außen, er spricht seine Wünsche, seine Erwartungen aus,
er verfolgt seine Vereinsziele und ordnet dazu die Mittel. In höchstem Sinne
gilt das von einem Staat, deutlicher, von dem in der Staatsform verbundenen
Staatsvolk. Danach ist es auch klar, dass sich die Fragestellung der Ethik, die
der praktischen Vernunft, auf die Gemeinschaft übertragen muss und, weiter,
dass auch die Gemeinschaft ihren kategorischen Imperativ hat: Unter den für
sie erreichbaren Gemeinschaftsgütern das Bestmögliche erstreben zu sollen
und andererseits sich selbst zur ethisch vollkommensten Gemeinschaftsper-
sonalität entwickeln zu sollen, zu der besten, die sie praktisch sein kann.
Wenn wir in dieser allgemeinen Weise die Idee einer Gemeinschaftsethik
erfassen und als berechtigt anerkennen müssen, so ist ihr Gegenstück nicht
eine individuelle Ethik als Ethik des geistig eingekapselten Individuums.
Auch nicht die Individualethik als Ethik des Individuums in einer Gemein-
schaft, sondern eine Ethik, die ihr Thema hat im guten Willen, in der prakti-
schen Vernunft des einzelnen Subjekts als Ich-Subjekts, mag ein solches wie
immer leben, ob sozial oder außersozial. Natürlich muss diese Ethik aber,
wenn sie in prinzipieller Reinheit, also als apriorische durchgeführt wird, alle
a priori vorgezeichneten Möglichkeiten eines Ich-Lebens konstruieren und
demnach auch auf die Möglichkeiten des Gemeinschaftslebens überhaupt
stoßen; sie muss dann also die a priori denkbaren Grundgestalten des Ge-
meinschaftslebens entwerfen und die generellen ethischen Forderungen, die
einem Ich-Subjekt dadurch zuwachsen, dass es als Gemeinschaftsindividuum
und näher als Individuum einer Gemeinschaft des oder jenes reinen Typus
gedacht ist.

1 Randbemerkung Eine Freundschaft aber, eine Ehe? Die ist an die bestimmten Personen

gebunden. Eine Freundschaft vieler Personen, ebenso eine Mehrere ist kein „Verein“.
172 einleitung in die philosophie

Schon daraus geht hervor, dass keine Rede davon sein kann, dass indi-
viduelle Ethik und Gemeinschaftsethik koordinierte Wissenschaften sind.
Eine voll entwickelte Individualethik führt notwendig auf Gemeinschafts-
ethik und schließt diese schon auf der Stufe rein formaler Ethik als formale
Gemeinschaftsethik in sich. Was wir „Individualethik“ also zuletzt nannten,
ist voll und ganz genommen die Ethik schlechthin, und Gemeinschaftsethik
ist in ihrem Bau nur ein oberes Stockwerk. Haben wir das aber gesehen,
so bleibt zur Durchführung einer Sonderung zwischen individueller und
Gemeinschaftsethik, die doch nicht das Ganze und einen Teil gegenüber-
stellen sollte, nur übrig, dass wir unter „Individualethik“, was dann aber
ein ganz unpassender Name wäre, eben das untere Stockwerk bezeichne-
ten, also den systematischen Inbegriff der Wesensgesetzlichkeiten, die vor
der Konzeption der Idee möglicher Gemeinschaft liegen und ihre ethische
Regelung dann selbst mitbestimmen. Immerhin aber bleibt doch so viel
übrig, dass eben Gemeinschaften als in Personen fundierte Personalitäten
höherer Stufe anzusehen sind, also selbst analog wie Personen fungieren;
und mag auch die Ethik für diese höheren Personalitäten die Ethik der Ich-
Person voraussetzen und sich dieser zudem auch einordnen, so ist es eben
das Eigentümliche dieses ethischen Sondergebiets, dass Fragen praktischer
Vernunft in ihm an Gemeinschaften als Personalitäten gestellt werden wie
sonst an Ich-Personen. Und eben dieser Kontrast der Fragestellungen und
Adressaten macht die unterscheidende Rede von individualethischen und
sozialethischen Fragen unentbehrlich.
Gehen wir der Beziehung sozialethischer Betrachtung zu individualethi-
scher weiter nach, so ist leicht einzusehen, dass jede Fragestellung nach Gut-
Tun, nach dem praktisch Besten der Gemeinschaft zurückführt auf Gut-Tun,
auf ethisches, der Einzelnen, dass also eine Gemeinschaft sozialethischen
Wert nur haben kann dadurch, dass ihre Individuen individualethischen
Wert haben. Das sozialethische Ziel, das eine Gemeinschaft verfolgen soll,
hat nur seine Vernunft dadurch, dass es in den individualethischen Zielen
der Glieder der Gemeinschaft verwurzelt und durch sie selbst gefördert
ist. Die Gemeinschaft lebt ja nur im Leben der vergemeinschafteten Ein-
zelnen, und zwar so, dass die Einzelnen durch Bewusstseinsakte vom Typus
„sozialer Akte“ sich selbst als Funktionäre der Gemeinschaft wissen, also
davon wissen, dass sie in solchen Akten Akte der Gemeinschaft vollziehen.
Gemeinschaft ist, wie wir es auch ausdrücken können, nicht eine natürliche
Verbindung der Einzelsubjekte, sondern sie ist, was sie ist, als gewusste
Gemeinschaft, gewusst in ihren Gliedern in Form von wirklichen oder mög-
lichen sozialen Akten. Durch sie hindurch ist die Gemeinschaft personale
soziale ethik 173

Gemeinschaft und darin auch Willensgemeinschaft. All ihr Werten, Wollen


und Handeln vollzieht sich im Wollen und Handeln der Individuen (also auch
ihr ethisches Werten und ethisches Wollen), das also in den jeweilig sozial
fungierenden Individuen ein besonderes Wollen ist unter ihrem anderen
Wollen.
Forderte der kategorische Imperativ von den einzelnen Individuen, auf
das soziale Wollen zu verzichten, ja die ganze Sozialität, deren es bewusst ist,
zu negieren, so könnte sie keinen sozialethischen Wert haben; und hat sie um-
gekehrt einen sozialethischen Wert, so kann sie ihn nur dadurch haben, dass
die sozial geeinigten Einzelindividuen in sich selbst, und ihrem kategorischen
Imperativ folgend, anerkennen müssen, dass sie sich als soziale Glieder dieser
Gemeinschaft betätigen sollen und die Erhaltung oder passende Umbildung
dieser Gemeinschaft für sie eine ethische Forderung sei.
Zum Beispiel: Historisch möge der Staat wie immer entsprungen sein, und
so mögen wir uns ungefragt durch Zufälligkeit der Geburt und Erziehung als
Glieder unserem nationalen Staat finden. Dem Staat zu widerstreben, der
behördlichen Anordnung nicht Folge zu leisten, mag seine unangenehme
Konsequenz haben. Aber wir sind freie Wesen, und es steht bei uns, ob wir
folgen oder widerstehen und die Konsequenz auf uns nehmen wollen, und
es steht bei uns, ob wir überhaupt den Staat wollen, so gut es bei uns steht,
ob wir Wissenschaft oder Kunst oder Betätigungen der Nächstenliebe üben
wollen. Nicht bei uns steht, ob wir es sollen. Das ist die ethische Frage,
und somit hat auch der Staat, der nur so lange ist, als er im Willen seiner
Bürger lebt, gegenüber seinem faktischen Dasein sein rechtmäßiges oder
nicht rechtmäßiges, das ist sein ethisches Dasein. Und ob er es hat, ist
eine ethische Frage, eine ethische Frage für jeden Bürger. Dass Staat und
Politik mit Ethik nichts zu tun haben, wie so oft gesagt wird, das ist ein
Widersinn praktischer Vernunft, genauso wie der Satz, dass 2 × 2 = 5 ist, ein
Widersinn der theoretischen Vernunft ist. Von hier aus ergeben sich aber
große Probleme für eine künftige Ethik und speziell soziale Ethik.
Am Schluss der letzten Vorlesung wurde uns der Widersinn des viel be-
liebten Satzes, dass Ethik und Politik miteinander nichts zu tun haben, klar.
Wir kennzeichneten ihn als einen Widersinn der praktischen Vernunft. Ich
begann auch die großen Probleme einer künftigen Sozialethik, die sich von
unseren Betrachtungen aus ergeben, zu umranden. Als Glieder historisch
gewordener Gemeinschaften, in sie hineingeboren und hineinerzogen, sind
wir überall in gewohnheitsmäßigen Meinungen, in anerzogenen Vorurteilen
befangen. Das empirisch Faktische der gegebenen Gemeinschaftsformungen
gilt uns als eine unanfechtbare Notwendigkeit. Der praktischen Vernunft
174 einleitung in die philosophie

wird nur eine ganz untergeordnete Rolle in der sozialen Sphäre eingeräumt,
den jeweils vorgegebenen Zwecken gemäß die passendsten Mittel zu finden.
Jeder Versuch, das Staats- und Volksleben unter dem Gesichtspunkt
praktisch letzter Zwecke zu betrachten und unter dem Gesichtspunkt
absoluter Werte einer praktischen Vernunft, wird als verstiegener Idealis-
mus abgetan. Welche grauenvolle Konsequenz ein solcher sozialethischer
Skeptizismus hat, das ist gerade in unserer Zeit offenbar geworden. Diesen
Skeptizismus zu überwinden, ist die Funktion strenger Wissenschaft. Ob-
schon die sokratische These, dass die Tugend lehrbar sei und dass mit der
rechten Einsicht der rechte Wille ohne weiteres gegeben sei, sicherlich
eine Übertreibung ist, so liegt doch in dieser Lehre nach einer Hauptseite
eine große Wahrheit. Alle Hoffnung auf eine Besserung des Elends der
Menschheit beruht doch auf einer Besserung ihrer Einsicht. Anders ausge-
drückt: Der Fortschritt in der Ethisierung der Menschheit in ihrem Leben
gemäß den Forderungen der praktischen Vernunft bedarf notwendig der
Hilfe der theoretischen Vernunft. Der Verstand ist Diener des Willens,
aber nicht nur, wie Schopenhauer es darstellt, Diener eines vernunftlo-
sen, sich in schrankenloser Begierde auslebenden Willens.1 Es gibt auch
einen ethischen und das ist einen von Ideen praktischer Vernunft geleiteten
Willen, und dessen berufener Diener ist die theoretische Vernunft oder,
wenn man will, der einsichtige „Verstand“. Jedes richtige Motiv, das der
Verstand herausstellt, ist für den Willen notwendig ein Motiv, und es er-
weist seine Motivationskraft selbst da, wo es durch andere Motive über-
wogen wird. Wege zu finden, diese Motivationskraft zu verstärken und
schließlich das Ich zu befähigen, ihm rein um des erkannten Eigenwer-
tes willen zu folgen, ist selbst wieder ein Beruf des erwägenden Verstan-
des.
Verstand waltet im Menschenleben natürlich schon vor aller Wissenschaft.
Indessen ist es klar, dass Wissenschaft nicht nur zu technischen, sondern auch
zu ethischen Funktionen berufen ist. In einer Epoche der Menschheitsent-
wicklung wie der unseren, in der die Wissenschaft schon zur praktischen,
wenn auch noch nicht zur ethischen Macht geworden ist, ist der Beruf
der Wissenschaft, auch zu dieser Macht zu werden, zweifellos. Natürlich
denke ich hier an eine Wissenschaft, welche sich eben die Ethisierung der

1 Randbemerkung Deutlicher: Es gibt einen vernünftigen, in der Weise der Vernunft sich

erfüllenden, sättigenden (und demgemäß in der Bewertung wahrhaft werten, also in der Wertung
satt auszuwertenden) Willen. Endlich einen in einem zweiten Sinne ethischen Willen; denn
ethische Vernunft ist auch zu definieren als die bewusst von ethischen Ideen und ethischen
Idealerkenntnissen geleitete Vernunft in der freien, logisch fundierten Willensaktion.
soziale ethik 175

Menschheit selbst zum wissenschaftlichen Thema macht. Freilich kann sie


unmittelbar nur auf die wissenschaftlich Gebildeten wirken, aber sie kann
zu einer sozialen Macht mittelbar werden, sofern die zur wissenschaftlichen
Motivation Befähigten ihre Einsichten auf dem Wege methodischer Volks-
erziehung auf alle Glieder der Gemeinschaft übertragen.
Soll der ethische Skeptizismus bei den wissenschaftlich Gebildeten mit der
Wurzel ausgerottet werden, so muss auch die Ethik eine wurzelhafte sein; sie
muss in strengster Wissenschaftlichkeit die absolut gültigen, also apriorischen
Normen der praktischen Vernunft erforschen. Es bedarf also in erster Linie
einer rein apriorischen Ethik, an deren jeweiligen Normen das historisch
erwachsene Menschheitsleben mit seinen faktischen Gemeinschaftsformen
endgültig ausgewertet und von denen geleitet es vernunftgemäß umgestaltet
werden kann.
In dieser Hinsicht genügt aber nicht die Axiomatik des kategorischen
Imperativs mit ihren zwar höchst wichtigen, aber inhaltsleeren Allgemein-
heiten. Vielmehr muss die formale Ethik stufenweise weitergeführt werden
bis zu einer spezifischen Ethik der Sozialität. In ihr ist es eine erste Aufgabe,
im Rahmen formaler Allgemeinheit die a priori vorgezeichneten Typen mög-
licher Sozialitäten überhaupt und speziell möglicher personaler Sozialitäten
zu konstruieren, zunächst ohne nach Wert und Unwert zu fragen. Eben diese
Frage bezeichnet die höhere Aufgabe und damit die eigentlich sozialethische
Stufe; es gilt, die den formalen Typen möglicher Gemeinschaften zugehöri-
gen Normen ethischen Wertes zu erforschen.
Es ist ähnlich wie in der Logik, wo wir als Unterstufe eine Formenlehre
möglicher Sätze und Satzgebilde hatten, vor aller Frage nach Wahrheit und
Falschheit, und als höhere Stufe die eigentliche Logik, welche die zu den
Satzformen, Beweisformen gehörigen formalen Gesetze möglicher wah-
rer Sätze, wahrer Beweise usw. herausstellt. Ähnlich in der Sozialethik:
Eine reine Formenlehre möglicher Sozialitäten ist das Fundament einer
Geltungslehre, einer Lehre von den möglichen Formen der ethisch echten
Sozialitäten. So ist zum Beispiel der Typus eines Zweckvereins gebildet
von vernünftigen Willenssubjekten zur Erzielung von Zwecken irgendei-
ner Art Z ein a priori und rein formal sich darbietender Typus möglicher
Gemeinschaften. Geht man in die ethisch auswertende Erwägung über,
so kann man dann sofort sehen, dass die ethische Zulässigkeit eines sol-
chen Vereins abhängig sei von dem Wert der Zwecke und ihrer ethischen
Zulässigkeit. Verfolgt er Gutzwecke, so kann er nämlich in der Begren-
zung, die der kategorische Imperativ vorzeichnet, ein ethisch zu billigen-
der sein; im anderen Fall schlechter Zwecke, wie z. B. in einem Verein
176 einleitung in die philosophie

von Falschspielern, in einer Räuberbande u. dgl. ist er ohne weiteres ein


ethisch abzuweisender. Im Allgemeinen wird man für mögliche Gemein-
schaftsformen nur hypothetische Regeln für ihren ethischen Wert geben
können.
Es fragt sich aber, ob nicht a priori eine Gemeinschaft aus Gründen
der Form kategorisch gefordert ist, ob man also nicht, und zwar a priori
sagen kann, der ethische Imperativ fordere von jedem Vernünftigen, das
ideale Ziel der Bildung und weiteren ethischen Ausgestaltung einer gewissen
Gemeinschaft in seinen Willen aufzunehmen, die rein formal bestimmt ist,
der gegenüber dann alle anderen möglichen Gemeinschaften nur eine un-
tergeordnete, ja eine dienende Rolle spielen dürfen. Was ist damit gemeint,
was ist das für eine kategorisch geforderte Gemeinschaft, in Relation zu der
andere Gemeinschaften nur hypothetisch sein können, die von ihr formaliter
die Regeln der Zulässigkeit empfangen müssen? Die Antwort lautet: Es ist
die Gemeinschaft der Menschheit, und zwar in Form einer zum höchsten
ethischen Zweck größtmöglicher praktischer Vernunft der Einzelnen oder
größtmöglicher ethischer Vollkommenheit der Einzelnen verbundenen Wil-
lensgemeinschaft.
Nehmen wir das Wort „Mensch“ als Bezeichnung für ein zu praktischer
Vernunft befähigtes Wesen überhaupt und fassen wir die formale Idee einer
Vielheit von Menschen, die im Verhältnis wirklicher und möglicher Wech-
selverständigung stehen.1 Erweitern wir diese Vielheit zur kommunikativen
Allheit, aber nicht zur Allheit aller Menschen überhaupt, sondern zur All-
heit der Menschen, die, von irgendeinem in ihr beschlossenen Einzelnen
aus gerechnet, in eine Einheit der Wechselverständigung möglicherweise
treten können. Also wir nehmen von einem gegebenen Menschen aus
alle Menschen zusammen, die nicht nur sind, sondern für andere da sind
und so andere motivieren können, wobei wir das Eintreten von neuen, das
Ausscheiden von schon vorhandenen (in der Weise von Geburt und Tod) mit
in Rechnung ziehen. Eine solche Allheit bilden die Menschen auf der Erde;
nicht mit dazu gehören aber die etwaigen Menschen auf dem Mars oder
der Venus, solange eben keine Möglichkeiten für eine direkte personale
Beziehung der Verständigung gegeben ist. Es gibt also eventuell mehrere
solche Allheiten.
Ich halte es nun in der Tat für eine evident zu machende Forderung
der ethischen Vernunft, dass jedes Individuum einer solchen Allheit, sagen

1 Randbemerkung Kommunikative Allheit.


soziale ethik 177

wir kurzweg einer Menschheit, danach streben müsste, die Umbildung der
Menschheit in eine universale Zweckgemeinschaft nach Kräften zu fördern,
und zwar im Sinne der Idee einer solchen Gemeinschaft, die ihren obersten
Gemeinschaftszweck sieht in der größtmöglichen Erhöhung aller Einzelnen.
Mit anderen Worten: Eine Menschheit darf nicht bestehen bleiben als eine
bloß kollektive Einheit, als kommunikative Allheit, sie muss sich umgestalten
in eine allumspannende Einheit einer sozialethischen Personalität. (Sie ist
dann eo ipso die höchste mögliche Personalität, nämlich die, die nicht mehr
erweitert werden kann, da sie außer sich keine erreichbaren Personalitäten
mehr haben kann, die sie in sich aufnehmen könnte.)
Dieser Imperativ kann selbstverständlich nur für jeden Menschen beste-
hen, der die Idee einer sozialethisch verbundenen Menschheit erfasst hat
und erkannt hat, dass eine Menschheit, die gemäß dieser Idee geregelt lebte
und sich ihr bewusst beugte, die größtmögliche ihr erreichbare ethische Stufe
erklimmen würde; ferner, der erkannt hat, dass bei der Freiheit des Menschen
und bei seiner Erziehbarkeit, die schon zum formalen Wesen des Menschen
als eines Vernunftwesens gehört, diese Idee den Charakter einer praktischen
Idee, und zwar der höchsten praktischen Idee für jeden sie Einsehenden hat.
Also wird es, wie fern sie von der Realisierung ist, ja wie fern sie davon auch
ist, in der Menschheit bekannt und eingesehen zu sein, für jeden, der sie
schon erschaut hat, zur Pflicht, sie anderen möglichst zugänglich zu machen
und für sie praktisch in jeder Weise zu wirken.
Der kategorische Imperativ vereinzelt nicht die Menschen und fordert
von den Einzelnen nicht sich als Einzelne zu den anderen Einzelnen in
Bezug zu setzen, sondern als Imperativ, das höchste praktische Gut zu
erstreben, fordert er Gründung bzw. Ethisierung von Gemeinschaften und
kategorisch die Gründung einer allumfassenden Menschengemeinschaft. Er
fordert es, sowie der Strebende erkennt, dass seine Wirkungssphäre zwar
nicht unmittelbar, aber durch tausendfältige Vermittlung die ganze Mensch-
heit mitumspannt, dass aber auch Willensverbundenheit in Form personaler
Gemeinschaft eine allgemeine Form ist für mögliche Wertleistungen immer
neu zu steigernder Wertstufen und dass die höchstmögliche Wertstufe es
fordert, dass wie kein einzelner Mensch, so keine sich absondernde personale
Menschengemeinschaft isoliert bleibt und ja gar ihr Bestes sucht ohne Rück-
sichtnahme auf das Beste anderer Menschen und anderer Gemeinschaften.
Diese höchstmögliche Wertstufe möglicher Sozialität ist aber zugleich die
ethisch höchstmögliche für die in ihr sozialethisch geeinigten Individuen,
die also ethisch bestmögliche nur sein können als Bürger einer solchen
Gemeinschaft.
178 einleitung in die philosophie

Die Menschheit ist kein bloß empirischer Begriffsumfang und keine bloß
kollektive Gesamtheit (auf einem die Grenzen möglicher Verständigung
und Rücksichtnahme bestimmenden Planeten). Sie darf es jedenfalls nicht
bleiben; sie soll (und dieses Sollen ist das des kategorischen Imperativs) zu
einer personalen Gemeinschaft werden, in der nur ein Wille lebt und ein
Wille, der auf das höchste praktische Gute aller gerichtet ist. Das ist aber
eine kategorische Forderung für die irdische Menschheit aus dem Grund,
weil sie es für jede Menschheit in unserem verallgemeinerten Sinne ist
und als das mit Evidenz einzusehen ist, mag es eine Allheit kommunizie-
render und ethisch verantwortlicher Wesen auf dem Mars oder in welcher
eine weitere Kommunikation ausschließenden Umwelt immer sein. Überall
fordert es dieselbe absolut gültige Ethik; sie fordert es eben in formaler
Allgemeinheit. (Und fordert hierbei, dass der Einzelmensch sein „Bestes“
nicht im egoistischen Sinne verstehe, sondern darin das Beste aller anderen
nach Maßgabe der Abstufungen praktischer Realisierbarkeit und der sonst
geforderten Wertabstufungen mitbeschließe. An sich wiegt gleich Gutes im
einen und anderen eben als ein gleiches Gewicht.)
Genau dasselbe gilt aber unter der Voraussetzung, dass schon Gemein-
schaften gebildet sind und als Personalitäten höherer Ordnung, etwa als
abgeschlossene nationale Staaten und sonstige Staaten, ihr Recht fordern.
Die absolut vernünftigen Grenzen ihres Rechtes auf Dasein und auf För-
derung bestimmt die Ethik; und wie individuelle Moral ein Titel ist für die
Gebote der Nächstenliebe und praktischen Berücksichtigung der Nächsten
im Sinne nächster Einzelpersonen, so ist nationale und staatliche Moral ein
Titel für die entsprechenden Gebote, welche die Beziehungen von nationalen
Personalitäten oder Staaten (in ihrem praktischen Verkehr miteinander)
regeln. Es ist nicht nationaler Idealismus, sondern nationaler Egoismus, wenn
große Nationen einer uns nicht eben fernen Geschichte mit großen Gesten
für ihre geheiligten eigenen Rechte, für ihre nationalen Güter zu kämpfen
vorgeben, aber die physische und moralische Vernichtung ihrer Gegner,
also einen nationalen Mord wie ein selbstverständlich berechtigtes Mittel
behandeln. Egoismus ist in jeder Form die moralische Todsünde, das πρ#τον
κακν. Und die Menschen müssen vor allem zu der Einsicht erzogen werden,
dass nationaler Egoismus nicht besser ist als individueller Egoismus, also
nationaler Raub und Mord nicht besser als Raub und Mord im gewöhnlichen
Sinne. Damit ist noch keineswegs jeder Krieg als „Mord“ ethisch verurteilt.
Die Erwägung des Rechtes und der Grenzen des Rechtes von Kriegen ist
selbstverständlich eine besondere ethische Frage, wie auch die nach den
eventuell zulässigen Formen und Normen eines ethischen Kriegs. Selbst
soziale ethik 179

solche Fragen müssen also vor allem in prinzipieller Reinheit und formaler
Allgemeinheit behandelt und eben dadurch über das Niveau der historischen
Vorurteile und der Leidenschaften der Gegenwart hinaufgehoben werden in
die reinen Sphären der Idee.
In dieser Art sehen wir, wie hohe Aufgaben die Ethik in ihrem Fort-
schreiten und schon in der Sphäre formaler Allgemeinheit zu lösen findet,
in der Höhe, in der sie also nichts berücksichtigt, was hinausgeht über die
allgemeinste Idee eines personalen Ich überhaupt bezogen auf eine Um-
welt überhaupt. Die volle Ausgestaltung der Ethik, stellt aber immer neue
Aufgaben. Waren wir auf die Formen möglicher Sozialitäten gestoßen, so
müssen wir nun auch an die Formen möglicher Umwelten denken. Mögliche
Subjekte und Gemeinschaften müssen ihre Umwelten zunächst als irgend-
welche Formen von Naturen finden, von Umwelten, die ihnen und ihrer
Arbeit vorgegeben sind, die sie aber von sich aus, ihren Wertungen und
Bedürfnissen gemäß, immerfort umgestalten und sich so, einzeln oder in
Gemeinschaftsarbeit, ihre Welt der Kultur schaffen. Nicht nur die a priori
möglichen Formen der Sozialität, sondern auch die a priori möglichen For-
men der Kultur müssen erwogen werden, wobei im Sinne unserer früheren
Erwägungen die Sozialitäten selbst in Kultur genommen sein können und
a priori nicht nur das Einzelsubjekt, sondern auch eine Gemeinschaft als
Gemeinschaftssubjekt sich selbst erziehen, also kultivieren kann.
Als erste Aufgabe die idealmöglichen Kulturtypen entwerfen, das heißt
wieder nur, eine vor aller Frage nach dem Wert liegende Formenlehre mög-
licher Kultur entwerfen; und wir haben auch hier als höhere Stufe die aprio-
rischen Disziplinen von den Formen wertvoller Kulturen. Selbstverständlich
ist die absolute Wertung, die Wertung absolut rechtfertigender Vernunft, die
ethische. So sehr die obersten Gattungen der Kultur durch oberste Gattungen
von Eigenwerten, wie logischen Werten, ästhetischen Werten bestimmt sind,
so ist Kultur doch ein Erzeugnis von willentlichen Tätigkeiten und hat somit
als Kultur jederzeit ihre letzte Rechtfertigung von der Ethik her zu erfahren.
Vorgreifend habe ich das einmal schon berührt, aber es findet seine volle
systematische Klärung erst jetzt, wo wir auf die Idee der Sozialität Rücksicht
genommen und auch Gemeinschaft und Gemeinschaftswerke ethisch werten
gelernt haben.
Rein die Idee einer Vielheit vernünftiger Subjekte überlegend, die auf
eine gemeinsame Umwelt bezogen sind und durch sie die Möglichkeiten der
Wechselverständigung gefunden haben, kommen wir also auf eine katego-
rische doppelte Forderung. Einerseits auf die Forderung eines einheitlichen
Menschheitsstaates, wie wir auch sagen können, einer ethisch verbundenen
180 einleitung in die philosophie

Gemeinschaft der Menschheit von personalem Typus, und korrelativ auf die
Forderung einer universalen Menschheitskultur von ethisch abgestimmter
Form.1
Wie immer es mit dem Faktum oder der Notwendigkeit der Weltschöp-
fung stehen mag und mit einer von einem Weltschöpfer ausgehenden oder zu
erdenkenden Zweckgestaltung der Welt, einer von ihm ausgehenden teleo-
logischen Form: Eine Welt vom Typus unserer Welt, eine Welt mit Menschen
und als Umwelt für ihre Menschen hat eine a priori notwendige Teleologie
in sich. Menschen, wache Subjekte und Subjekte einer erwachten Vernunft,
einer theoretischen und praktischen Vernunft, können nicht anders, als die
ethische Zielgebung anzuerkennen und sich ihr demgemäß unterzuordnen:
Wie immer sie irren, wie immer sie ethisch böse sein, wie töricht sie sich
im Einzelnen ihre Welt gestalten mögen, über allem klugen und törichten
Tun waltet die Idee einer vollkommenen Menschenwelt, einer Welt, der die
ethische Menschheit ihre ideale Gestalt aufgeprägt hat und immer wieder
aufprägt, in immer höheren Wertstufen.
Diese bestmögliche Kultur einer ethisch besten Menschheit ist ja nicht
eine statische Idee, sondern die Idee eines Entwicklungsprozesses. Wie im
Einzelnen, so wächst in einer Menschheit die Einsicht; es erhöhen sich die
Charaktereigenschaften, es bessern sich die Methoden, es bereichern sich
die erreichbaren Ziele und werden selbst immer höhere. Die Idee einer
bestmöglichen Menschheit einer Entwicklungsphase, die das Bestmögliche
leistet, was sie kann, und die bestmögliche Kultur hat, die sie schaffen könnte,
ist nicht mehr die einer bestmöglichen Menschheit in späteren Phasen, so wie
das ideal beste Kind, das wir durch Idealisierung einer individuell bestimm-
ten kindlichen Persönlichkeit gewinnen würden, nicht mehr das ideal Beste
der Mannesstufe wäre für diese selbe individuelle Persönlichkeit. Wie diese

1 Zusatz Die erwogene Idee einer in Form eines ethischen Zweckvereins verbundenen

Menschheit wird identifiziert mit der Idee eines Menschheitsstaates. Das ist aber bedenklich.
Der Staat ist eine von Rechtsnormen durchherrschte und durch sie verbundene Einheit. Die
Einheit der Rechtsregelung braucht aber nicht so weit zu reichen als die Einheit des personalen
Gemeinschaftswillens. Die Rechtsnormen brauchen nicht alle Lebens- und Wirkensgebiete, alle
Kultursphären zu umspannen und, soweit sie auf sie bezogen sind, die in ihnen gemeinschaftlich
zu vollziehenden Tätigkeiten nicht zu erschöpfen. Nur so viel ist zu sagen: A priori kann gesagt
werden, dass eine mit oberster ethischer Zielgebung abzuschließende Menschheit (eventuell
eine Menschheit im vollen Sinne einer kommunikativen Allheit) eine Staatsordnung, eine
rechtlich ordnende Verfassung fordere. „Staat“ ist dann eine Einheitsbezeichnung, die alle
Glieder der Allheit umspannt, aber die betreffende Menschheit doch nicht vollständig als
ethisch verbundene umspannt. Es ist damit also nur eine durchgehende Gemeinschaftsstruktur
bezeichnet.
teleologie 181

Ideale nach den einzelnen Individuen wechseln, so auch für Menschheiten


und Gemeinschaften. Somit bergen die formalen Typen von Idealen noch
Unendlichkeiten individueller Differenzierung, wie für einzelne Subjekte
und ihre Umgebungen, so für Menschheiten und Umwelten. Diese ethische
Teleologie liegt nach unserer Darstellung nicht vor als das Faktum einer
von ethischen Idealen wirklich motivierten Gestaltung einer Menschenwelt,
sondern in Form einer unendlichen ethischen Aufgabe. Das System absoluter
Ideale und Normen zu entwerfen, die in der Linie dieser Aufgabe liegen, ist
die Aufgabe der Ethik. Ein absolutes Sollen drückt sich in ihnen aus, wie
immer der einzelne Mensch und die Menschheit sich faktisch vorfindet und
seine ganze Welt vorfindet.

Teleologie

Mit1 der letzten Reihe von Betrachtungen hat ein großer systematischer
Abschnitt unserer Vorlesungen seinen Abschluss gefunden, und es gilt nun
uns zu besinnen. Das ursprüngliche Problem, das den Anstoß zur Heraus-
arbeitung der systematischen Linien dieses Abschnitts gegeben hat, das des
Gegensatzes zwischen naturalistischer und teleologischer Weltanschauung,
ist bei der Länge der Vortragszeit und vermöge des hohen Eigenwertes der
Erkenntnis, die wir uns zugeeignet haben, ganz in den Hintergrund getreten.
Wir lassen es für einen Augenblick noch in diesem Dunkel. Überblicken wir
die innere Einheit des Abschnittes. Er betrachtete die konkrete Umwelt,
in der der Mensch sich als erfahrender, denkender, wertender, handelnder
findet, die Welt, die ihn umgibt und der er sich selbst als Mitglied zurechnet.
Diese Welt hat in sich ihre Wesensgliederung, welche die möglichen Wis-
senschaften, die sich auf Gegenstände dieser Welt beziehen können, a priori
bestimmt.
Als unmittelbar Erfahrender findet jedermann einerseits sich umgeben
von Subjekten und Nicht-Subjekten oder Dingen, beide durch verschiedener-
lei Beziehungen aufeinander bezogen. Die Subjekte in ihren geistigen Akten
beziehen sich aufeinander und auf die Dinge; in ihrem Wechselbezug bilden
sie Subjektgemeinschaften und darin Personalitäten höherer Ordnung. In
ihren geistigen Beziehungen zu den Dingen, aber auch zueinander, schaffen
sie als praktisch leistende Subjekte Kultur in immer neuen Gestaltungen.

1 Randbemerkung Rekapitulation des Ganges, vgl. den Anfang Bl. 87 ff. = S. 105 ff..
182 einleitung in die philosophie

Die Welt, die uns Menschen umgibt, ist für unsere Erfahrung und vor allem
theoretischen Denken also immerfort zwar gegliedert als personale Welt (d. i.
Mannigfaltigkeit von Ich-Subjekten und Subjektverbänden) und Dingwelt;
andererseits aber steht sie in beiden Hinsichten immerfort als Kulturwelt da
(als eine Welt, welche für uns mit Prädikaten ausgestattet dasteht, die von
der Subjektivität her, als wertender und praktischer, ihren Sinn empfangen
haben).
Näher besehen, ergab sich uns aber hier eine neue Wesensstruktur. Alle
Kulturprädikate, mit denen wir als natürlich erfahrende Menschen unsere
Umwelt betrachten, weisen auf Prädikate bloßer Natur zurück.1 Mit anderen
Worten: Die konkret volle Welt trägt in sich eine Schicht bloßer Natur,
des bloßen Daseins und Soseins, das noch keinerlei Wertprädikate hat oder
von dessen Wertprädikaten man absehen kann, ohne sein konkretes Sein zu
stören.2,3 Dieser einfache, aber für ein tieferes Verständnis grundlegende Un-
terschied müsste uns durch diese kleine Rekapitulation wieder voll lebendig
werden.4
Danach scheiden sich notwendig die Wissenschaften: Auf der einen Seite
Naturwissenschaften als Wissenschaften von der bloßen Natur, auf der an-
deren Seite axiologische und auf wirkliche oder mögliche praktische Ge-
staltungen bezügliche Wissenschaften (Kulturwissenschaften, Geisteswissen-
schaften).5,6 (Naturwissenschaften sind dann weiter Wissenschaften von der

1 Gestrichen Das heißt, wie vielfältig auch die uns umgebenden Gegenstände in der natür-

lichen Erfahrung mit Prädikaten ausgestattet sein mögen, die auf wertende und praktische
Funktionen des Menschen zurückweisen, – alles Werten und Wollen weist doch zurück auf
letzte Substrate, also auf Gegenstände, die schon als wertbare da sind und schon ihre Prädikate
haben.
2 Gestrichene Randbemerkung Keinerlei aus Intentionalität von Subjekten in Bezug auf Ge-

genstände herstammende relationelle Prädikate.


3 Gestrichen In diesem Sinne hat die Welt mit all ihren Dingen und psychischen Subjekten

in sich beschlossen als einen notwendigen Seinskern und als eine Unterschicht Natur. Sie wäre
die Welt, die uns übrig bliebe, wenn wir alle plötzlich wertblind würden, unfähig für einen
Augenblick zu werten und Wertprädikate als solche zu verstehen. Statt so blind zu werden,
können wir aber auch in der Tat willkürlich unser Denken so einstellen, dass wir von allen
Bestimmungen der Dinge absehen, die uns darauf hinweisen, dass sie in Relation zu sie
wertenden und für sie praktisch interessierten Subjekten aufgefasst seien, zum Beispiel als
Werkzeuge, als Kunstwerke, als Felder usw.
4 Gestrichen Danach scheiden sich an unserer Umwelt oder an allen ihren Gegenständen die

bloßen Naturprädikate oder ihre bloße Natur und die spezifischen Wert- und Kulturprädikate.
5 Randbemerkung Hier bedürfte es also einer eigenen Betrachtung, um den Begriff der

induktiven Tatsache und der bloßen Sachwissenschaft einzuführen.


6 Randbemerkung Natur hier gleich Welt bloßer Tatsachen, aber das entspricht nicht der

freien Variation!
teleologie 183

physischen Natur und der mit ihr wesentlich verflochtenen seelischen Natur:
Von den Verflechtungen handelt die psychophysische Naturwissenschaft.)1
Eine2 solche Scheidung der Wissenschaften ergibt sich als apriorische
Notwendigkeit vor aller Frage, ob die unter gleichen Titeln historisch er-
wachsenen Wissenschaften in entsprechender und bewusster Reinheit diesen
Begriffen schon entsprechen. Würden sie es noch nicht tun, so müsste die
entsprechende Reinigung vollzogen werden. Das Postulat gilt schlechthin,
dass bloße Natur in sich erforscht werden muss, und es ist klar, dass sich
nun auch die Idee einer Ontologie der Natur entsprechend gereinigt hat
als eine notwendig mitpostulierte Ontologie der bloßen Natur. Indessen
bedurfte es für uns solcher Reinigung insofern nicht, als wir unter dem
Titel „Geometrie“, „reine Mechanik“ u. dgl. (nur ohne ausdrückliches und
begriffliches Bewusstsein) in der Einstellung bloßer Natur waren, nämlich
geleitet von der modernen Naturwissenschaft, die eben dem Postulat faktisch
entspricht.
Doch ehe wir von dem historischen Prozess sprechen, der zu einer so
gerichteten Wissenschaft geführt hat, blicken wir, um die Rekapitulation
zu vollenden, nach der anderen Seite hin, der nach Einführung der Scheidung
der ganze Abschnitt gewidmet war. Er betrachtete die menschliche Umwelt
unter axiologischen und praktischen Gesichtspunkten, er betrachtete sie also
in der Hinsicht, in der jeder natürliche Mensch, der von der künstlichen
Einstellung auf bloße Natur nichts weiß, als voll lebendiger, handelnder, mit
dem Gemüt an den Dingen interessierter Mensch alles betrachtet.
Unsere Welt ist eine Wertewelt, eine Güterwelt, eine Welt wirklicher
und möglicher Zwecke und Mittel und dementsprechend auch möglicher
oder wirklicher Erzeugnisse. Sie konnte in dieser Hinsicht wissenschaftlich
zunächst betrachtet werden, als die jeweils den Menschen gegebene, ausge-
stattet mit Prädikaten des Wertes, die, sei es alle Menschen überhaupt, sei
es Menschen einer Zeit, einer Kulturepoche faktisch und zumindest norma-
lerweise als gültig anerkennen. Also vor aller Frage des wahren Wertes oder
Unwertes kann dann Wissenschaft der Typik faktischer Kulturen nachgehen
und als Historie die Entwicklung der faktisch in den betreffenden Epochen
und Folgen von Epochen geltenden Wertgestaltungen feststellen. Anderer-
seits können dann die Fragen axiologischer und praktischer Wahrheit oder
„Echtheit“ gestellt, demgemäß etwa die Entwicklungslinien echter Kultur
in einer wertenden Geschichte erforscht werden.

1 Randbemerkung Vgl. Bl. 75! = S. 92 f.


2 Randbemerkung Natur- und Geisteswissenschaft.
184 einleitung in die philosophie

Dabei blieben wir aber nicht stehen. Ohne die Leitung ideengeschicht-
licher Motive stiegen wir kühn empor zu den höchsten prinzipiellen Pos-
tulaten und zu den obersten Prinzipienwissenschaften, an deren Ausbil-
dung die radikale Normierung aller konkreten Wertewissenschaften hängt.
Wir bedurften hier keines ideengeschichtlichen Leitfadens, weil uns hier
die vorangegangenen Untersuchungen, die wir unter Leitung wesentlicher
platonischer Leitmotive durchgeführt hatten, ein klares Vorbild boten. Wir
hatten also vor Augen als beständige Parallele die Gruppe von Disziplinen,
die wir unter dem erweiterten Titel einer apriorischen Logik oder Wissen-
schaftslehre uns zugeeignet hatten, im Besonderen die formale Ontologie,
der wir gegenübergestellt hatten die materialen Ontologien und speziell die
Ontologie der Natur.
Im Voraus war uns dabei einleuchtend geworden, dass eine sachhaltige
Wissenschaft – wir blickten dabei auf die Naturwissenschaften hin – ihre
höchste Stufe wissenschaftlicher Objektivität und Strenge nur erreichen
könne durch Hilfe der entsprechenden materialen und formalen Ontologien.
Das also leitete uns bei dem Problem einer Wissenschaft von der Kulturwelt.
So konnten wir aufsteigen bis zur formalen Axiologie und zur formalen
Praktik oder Ethik, in welchen Disziplinen die universalsten und zugleich
radikalsten Prinzipien beschlossen sind für alle axiologische und ethische
Auswertung, aber auch für die konstruktive Ableitung aller formal möglichen
Typen vermeinter oder echter Kulturen.1

1 Eingelegtes Blatt Die Welt als Thema des vernünftigen Urteils, seiend in Wahrheit, als

logisches Thema. Die Welt als Thema der Wertung, als axiologisches Thema. Die Welt als
Thema des Willens, als ethisches Thema. 1) Die Welt als Tatsachenwelt. Unter den Tatsachen
sind auch die historischen, die geistigen Tatsachen, dass Menschen so und so werten, so und so
handeln. Aber der Weltforscher „wertet nicht aus“, er vollzieht als Forscher kein Weltwerten
und übt keine wertende Vernunft. Somit urteilt er auch nicht, sucht er auch nicht Wahrheit
dafür, wie die Welt sein soll, er urteilt nicht über Güte und Schönheit (Wert und Unwert), er
hat auch kein Interesse dafür ob andere richtig oder falsch werten. Fremdes Werten auswerten
ist selbst werten. 2) Tut er das, so ist sie axiologisches Thema, und die Welt hat jetzt auch
axiologische Beschaffenheiten. 3) Als bloßer Tatsachenforscher forscht er auch nicht nach
praktischem Seinsollen. Darin liegt vorher: Er selbst konstatiert zwar, dass Menschen da sind,
die das und jenes für ethisch gesollt halten; aber wie er selbst als Forscher nicht auf Seinsollen
überhaupt geht (nicht ethisches Subjekt ist), sondern auf Wahrheit (oder nur auf Sollen der
Wahrheit), so hat er auch kein Interesse dafür, wie andere ethisch sich verhalten. Sich in andere
einleben und ihr richtiges ethisches Verhalten auswerten, das ist selbst ein ethisches Verhalten.
Das Tatsacheninteresse: Interesse am Sein; das wertende Interesse: Interesse am Wert; das
ethische Interesse: Interesse am praktisch Seinsollenden. Das Interessiertsein an der Welt im
besonderen Sinne: mit dem „Gemüt“ und Willen interessiert sein, die Welt mit den Augen
der Liebe und des Hasses und im Streben nach Schönheit und nach guten Taten betrachten,
teleologie 185

Damit erscheint, wie wir hier ergänzend beifügen können, der Kreis der
obersten formalen Prinzipienwissenschaften wesentlich erweitert, wo nicht
gar abgeschlossen. Die Idee einer universalen Wissenschaftslehre selbst er-
weitert und bereichert ihren Sinn; sie wird aus der Wissenschaft vom for-
malen Wesen aller möglichen Wissenschaft überhaupt zur Wissenschaft von
allen möglichen Wissenschaften überhaupt, von allen überhaupt möglichen,
das sagt aus formalen Gründen möglichen.1 Oder sie wird von der Wissen-
schaft, die noematisch vom Sein überhaupt und der Wahrheit überhaupt
im theoretischen, nach keinen Wertmodalitäten des Seins fragenden Sinn
handelt, zur Wissenschaft vom Sein in einem höheren Sinne, sofern sie auch
alle zur Idee des Seins gehörigen und formal zu erwägenden Modalisierun-
gen des Seins mit in ihr Thema zieht. Dann stößt sie in sich zur formalen
Scheidung von Natursein, axiologischem und praktischem Sein vor. Der
Begriff der Wahrheit differenziert sich formal in Naturwahrheit für außer-
wertliches Sein, in axiologische und praktische oder ethische Wahrheit. (Und
dem entsprechen dann auch noetische Seiten als Parallelen unserer früheren
noetischen Wissenschaftslehre.)2
Demgemäß scheidet sich dann die formale Wissenschaftslehre in die for-
male Wissenschaftslehre oder Logik im alten von uns beschriebenen Sinne

einzeln und gemeinschaftlich. Gemeinschaft des wertenden Interesses, Gemeinschaft der Tat
und der Handlung. Bloße Tatsachenbetrachtung – Ausschluss des Interesses am Wert und
am praktischen Sollen. Kann ich Folgendes sagen? Wenn ich jetzt außerhalb des ethischen
Interesses lebe und somit jetzt nicht für ein Seinsollen interessiert bin (für das, was ich soll)
außer dem einen der Wahrheit, dann fällt die Sollenswahrheit außer meinen Bereich, auch
die Beurteilung der ethischen Verhaltungsweisen anderer, die doch in gewisser Weise auch
Fakta sind. Universal axiologisch eingestellt bin ich im wertenden Interessenleben, wenn ich
entweder selbst werte und so überhaupt die Werte der Welt erwerten und genießen will oder
in andere wertende Akte mich einlebe und mit ihnen oder gegen sie werte. Werte ich aus, so
gewinne ich selbst einen Wert. Universal ethisch eingestellt bin ich, wenn ich eben als ethisches
Subjekt strebe und somit universal die Möglichkeit einer ethischen Praxis für mich erwäge.
Aber auch wenn ich, in andere mich einlebend und mich mit ihnen „deckend“, mit ihnen
oder gegen sie ethisch entscheide – ich verhalte mich in ihnen, in diesen Akten, ethisch.
Dazu kommt, dass das Voraussetzung meiner ethischen Stellungnahme zu ihnen ist und dass
schließlich die ganze Menschheit eine ethische Gemeinschaft unter Idee ist etc. 1) universale
Tatsachenwissenschaften, 2) universale Wissenschaft von den Tatsachen und dem Wert der
Tatsachen, 3) universale Wissenschaft von den Tatsachen, dem Wert der Tatsachen und dem
praktischen Seinsollen und Verwirklichen einer für uns bestmöglichen Welt.
1 Randbemerkung Universale Wissenschaftslehre (im erweiterten Sinne).
2 Randbemerkung Gut. Damit ist aber gesagt, dass die beiden letzteren Blätter nicht korrekt

waren. Denn die Geisteswissenschaften, solange sie bloß „Tatsachenwissenschaften“ sind (ohne
Auswertung), sind nicht Wissenschaften vom wahren, wertlichen Sein und wahrem Seinsollen.
Dann haben wir aber auch den richtigen Gegensatz: Tatsachenwissenschaften, Wertewissen-
schaften und Sollenswissenschaften. Dann erst innerhalb der Tatsachensphäre speziell Natur.
186 einleitung in die philosophie

als die formal oberste Stufe und dann in die Disziplinen nach erfolgter
Differenzierung der Wertmodalitäten: in die formale Wissenschaftslehre
einer möglichen Tatsachenwelt und darin speziell Natur überhaupt oder
die Wissenschaft vom formalen Typus jeder möglichen Natur-, Tatsachen-
wissenschaft (einer Wissenschaft von individuellem, außerwertlichem Sein
überhaupt), in die formale Weltaxiologie und die formale Weltpraktik oder
Ethik, welche letzteren beiden Disziplinen aber auch aus gewissen Gesichts-
punkten der formalen Logik im Sinne der Oberstufe gleichgeordnet werden
können.1
Die Ergebnisse, zu denen wir gekommen sind, sind von einer Tragweite,
die uns wohl alle besonderen Abzweckungen, die wir beim Eintritt in unsere
Untersuchungen verfolgt haben, vergessen lassen dürften. Doch müssen wir
auch diesen Genüge tun. Denn auch in dieser Richtung werden sich höchst
bedeutsame Horizonte eröffnen. Ja, in gewisser Weise haben sie sich uns
schon eröffnet. Sowie wir in die Welt der Werte und Güter eintreten, also die
Welt nicht mehr mit dem bloß theoretischen Auge ansehen dürfen, fühlen wir
mit als lebendige Menschen mit aktuellen Wertungen und Zwecksetzungen.
Als ethische Subjekte sehen wir uns a priori in die Notwendigkeit versetzt, die
ganze Umwelt als eine Welt unendlicher Aufgaben anzusehen. Sie ist nicht
bloß und sie darf nicht bloß sein, wie sie ist, sie soll sein und werden, wie der
kategorische Imperativ es fordert. Wir sind für sie verantwortlich, denn sie
ist eine Welt praktischer Möglichkeiten, und wo praktische Möglichkeiten
bestehen, da spricht auch der kategorische Imperativ sein unbedingtes Sollen
aus. So ergibt sich und unter höchsten, absolut geltenden Prinzipien eine
ethische Weltanschauung oder, wie wir auch sagen können, eine teleologi-
sche. Die menschliche Umwelt hat einen besonderen teleologischen Aspekt.
Sie wird vom Menschen nicht nur mit den axiologischen und praktischen
Kategorien geformt angesehen, sie soll es auch werden, und sie soll es in
der imperativisch vorgezeichneten Form des ethischen Prinzips. Die höchste
Wahrheit ist die ethische; und so sehr die naturalistische Weltbetrachtung
und Wissenschaft ihr theoretisches Recht haben in ihrer Sphäre, so steht
selbst sie als Praxis unter ethischer Norm.
Indessen, diese Art, die Umwelt teleologisch zu betrachten, ergibt nicht
das, was man „teleologische Weltanschauung“ zu nennen pflegt. Die ethi-
sche Weltbetrachtung ist ja auch nicht wirklich so universal, dass sie die

1 Randbemerkung Wir haben vielmehr: 1) die formale dreifache Analytik 2) die formale

dreifache Realitätswissenschaft.
teleologie 187

gesamte Umwelt umspannt. Sie reicht nur so weit, als die Umwelt ernstlich
in die praktische Wirkungssphäre der Menschen hineinreicht. Sonnen und
Sterne können wir nicht aus ihren Bahnen herausbewegen, die Vorgänge im
Innersten der Erde können wir nicht praktisch umgestalten; und so bleiben
Unendlichkeiten der Natur unserer menschlichen Teleologie verschlossen.
Nicht anders muss es ergehen, wenn wir, geleitet von unseren formal ethi-
schen Ergebnissen, die Empirie verlassen und den verallgemeinerten Begriff
des Menschen und von Welt substituieren.
Eine Menschheit, in formaler Allgemeinheit bezogen gedacht auf eine
Umwelt bzw. auf eine Natur, wird a priori nur eine zwar offene, aber end-
liche praktische Umwelt haben können. Eine wirkliche teleologische Welt-
anschauung soll aber eine Anschauung sein und – wo sich ihr endgülti-
ges Wahrheitsrecht ausweisen soll – eine Wissenschaft sein, welche das
ganze Weltall unter axiologischen und praktischen Kategorien betrachtet,
das ganze Weltall, trotz seiner Unendlichkeit, als einen praktischen Gutwert
und alles in ihm als zweckvoll betrachtet. Natürlich springt daraus sogleich
das Problem uns entgegen, wie das möglich ist, wenn keines der der Welt
zugehörigen Subjekte das Weltall zum praktischen Bereich hat, also als
Subjekt der universalen Zwecksetzung fungieren kann. Das hätte ich nun
freilich gleich von vornherein sagen und somit den ganzen Abschnitt über
Axiologie und Ethik ersparen können.
Indessen, was für eine oberflächliche Betrachtung angehen mag, geht
nicht an für eine philosophische. Als uns am Leitfaden der ideengeschicht-
lichen Betrachtung des Altertums und speziell Platons das Problem der
Scheidung naturalistischer und teleologischer Weltbetrachtung und Welt-
wissenschaft unverstanden entgegentrat, musste zunächst prinzipiell erwo-
gen werden, wo der Begriff des Zweckes als Grundkategorie einer ganzen
Weltbetrachtung seine ursprüngliche Heimatstätte hat und welche wissen-
schaftlichen Disziplinen, vor allem welche prinzipiell zu eben dieser Heimat-
stätte gehören. Wir haben also eine durchaus notwendige Leistung vollzogen.
Wir sind zwar vom Menschen und der menschlichen Umwelt ausgegangen,
aber als wir bis zur obersten formalen Allgemeinheit aufstiegen und zum
kategorischem Imperativ, da hatten wir es mit dem rein und formal allgemei-
nen Subjekt möglichen Wertens und Handelns zu tun bekommen; und erst
nachher wieder war die Bildung eines formalen Begriffs einer Menschheit
im verallgemeinerten Sinne zu bilden notwendig geworden. Jedenfalls ist es
evident, dass wir im Voraus die letzten, absolut gültigen Prinzipien und Diszi-
plinen erreicht haben, unter denen alle mögliche und vernünftige Teleologie
stehen muss.
188 einleitung in die philosophie

Gibt es also berechtigt eine teleologische Weltanschauung und als Quelle


dieser Teleologie eine übermenschliche Subjektivität, in deren Wesen es also
nicht mehr liege, nur einen endlichen Willensbereich zu haben, so müssen
auch für sie die prinzipiellen Allgemeinheiten der formalen Ethik gelten; und
so gehen diese a priori und der wahren Einsicht nach auch aller prätendierten,
uns noch ihrer Möglichkeit nach unklaren teleologischen Weltwissenschaft
vorher. Der Mensch steht leiblich an einem zufälligen Raumpunkt der Welt,
notwendig ist sie ihm in einer gewissen Orientierung und Perspektive gege-
ben. Alles außer ihm ist gegeben in den Unterschiedenheiten des Nah und
Fern, des Hier und Dort, und alle Fernen verschwimmen ihm unterschiedslos
in dem phänomenal abgeschlossenen Fernhorizont. Wie räumlich so auch
teleologisch. Jeder Mensch ist in Bezug auf die Welt praktisch orientiert,
jeder hat sein praktisches Hier als das praktisch ihm unmittelbar Zugängli-
che; seine praktischen Wirkungen reichen unmittelbar ins Endlose, aber sie
verschwimmen in der praktischen Ferne, sie werden ununterscheidbar, also
auch nicht mehr praktisch berechenbar. Unsere Einflüsse reichen mit jedem
Stoss, den wir vollziehen, zwar sicher in die fernsten Fixsternregionen, aber
wir können nicht weiter in die hinwirken wollen, da sich hier nichts mehr
differenziert an Wirkungen erkennen, also auch nicht praktisch in Rechnung
ziehen lässt.
Fordert nicht ein Weltall, das als ein teleologisch vollkommenes denkbar
sein soll, ein die Weltzwecke setzendes und zweckvoll wirkendes Subjekt,
ein praktisches Subjekt, das einerseits vollkommen vernünftig und dabei
ethisch ist, andererseits in der gesamten Welt sein Feld vollkommener, freier
Verfügbarkeit hat? Darin würde also liegen, dass dieses Subjekt, nennen wir
es einmal „Gott“, in teleologischem Sinne Omnipräsenz hat, dass ihm gegen-
über die wirklichen und möglichen Weltdinge nicht teleologisch orientiert
sind, sondern alle gleich nahe, alle praktisch unmittelbar und somit absolut
zugänglich. Dass das genügt, will ich nicht behaupten. Aber Sie sehen, man
steht, sowie man an das Problem der Möglichkeit einer Weltteleologie rührt,
vor Problemen, die in völlig eigenartiger Weise das korrelative Begriffspaar
Subjekt und Umwelt betreffen und alsbald auf der Subjektseite das Got-
tesproblem mit sich führen. All diese Probleme sind aber wieder zunächst
formale Probleme und setzen unsere formalen Grundwissenschaften voraus,
wie denn die paar Schritte, die wir in der Erwägung der Möglichkeit eines
Gottes als Subjekts der Weltteleologie unternahmen, durchaus im Rahmen
formaler Erwägung sich hielten.
Blicken wir nun aber wieder auf die Geschichte zurück, deren ideenge-
schichtliche Anregungen wir ohnehin wieder sehr gut werden gebrauchen
teleologie 189

können. Eine teleologische, also theologische Weltbetrachtung hat in unse-


ren vermeintlich so erleuchteten und jedenfalls an strengen Wissenschaften
reichen und höchst fortgeschrittenen Zeiten keineswegs sehr viel Kredit.
Wenn Comte, der große französische Positivist aus der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, sie mit der ganzen sogenannten „metaphysischen“ Epoche als
bloße Auswirkung des kindlichen menschlichen Animismus charakterisiert,
dessen Sublimierungen durch scheinbar wissenschaftlich gestaltete Begriffe
den wahren Philosophen, den Positivisten, nie über die wissenschaftliche
Wertlosigkeit täuschen werden, so spricht er damit Überzeugungen aus, die
im innersten Grund noch den größten Teil der wissenschaftlich gebildeten
Menschheit und darüber hinaus bestimmen.
Es gilt nun aber zunächst zu verstehen, wieso die teleologische Welt-
anschauung eine so ungeheure historische Macht werden und warum sie
merkwürdigerweise, wenn auch nicht immer die Vielen, die Viel-zu-Vielen –
um einmal Nietzscheanisch zu sprechen –, so doch die auserlesenen We-
nigen mit innerster Seelenkraft erfüllen konnte. In eins damit gilt es aber
auch, die uralte Spannung dieser Weltanschauung mit der naturalistischen zu
verstehen. Dazu aber gehört es und ist ein Thema von eigenem Interesse, dass
wir zum Verständnis darüber kommen müssen, wie der Naturalismus oder
Positivismus entsprang und wie er die große historische Funktion annahm,
der Naturwissenschaft die Wege zu bereiten. Denn auch Naturwissenschaft,
in dem von uns abgegrenzten Sinne und darin beschlossen die Idee der
Natur als bloßer Sachenwelt, war nichts weniger als ein selbstverständlich
sich Darbietendes. Es bedurfte eigener historisch-sachlicher Motive, die
Menschheit in die naturwissenschaftliche Einstellung zu bringen. Anderer-
seits, sowie Naturwissenschaft erwachsen war, bestimmte sie im Guten aber
auch im Schlechten durch die ihr gedankten echten Werte und durch die
ihr weniger zu dankenden naturalistischen Scheuklappen, den Gang der
Menschheitsentwicklung und insbesondere die Entwicklung der menschli-
chen Weltanschauung und Weltwissenschaft.
Von all dem werden wir also sprechen. Es hängt innig zusammen: Me-
taphysik als Titel für eine prätendierte und immer neu versuchte teleo-
logische und somit auch theologische Weltwissenschaft, die hinausliegen
soll über allen Naturwissenschaften, aber auch allen humanen Geisteswis-
senschaften. Positivistische Weltauffassung als anti-teleologische oder anti-
metaphysische. Endlich das Werden der Naturwissenschaft und die histo-
rische Wirkung der gewordenen, nämlich ihre Wirkung auf die allgemeine
Weltanschauung, ja um es geradezu zu sagen, auf die Gestaltung der neu-
zeitlichen Philosophien, die bei allem Wechsel ihrer systematischen Typen
190 einleitung in die philosophie

doch gegenüber dem Altertum und Mittelalter einen neuen Wissenschafts-


typus darstellen und dem Begriff der Philosophie allererst die prägnante
Bedeutung geben.
Zunächst beginnen wir damit, es vorweg dem Comte’schen Positivis-
mus zuzugeben, dass eine teleologische Weltanschauung ihre psychologische
Quelle hat im naiven Animismus, den wir aus unserer Kleinkindzeit her
alle noch wohl kennen, also in der sehr natürlichen Neigung, der rohesten
Analogie nachgebend, alle Dinge wie Menschen oder tierartige Wesen auf-
zufassen, alle somit wie Leiber für eine psychische Innerlichkeit anzusehen,
also auch alle Bewegungen, alle Naturvorgänge wie geistig erwirkte. Für
Wahrheit oder Falschheit dieser Auffassung ist damit nicht das mindeste
gesagt und erst recht nicht für Wahrheit und Falschheit einer Weltauffassung
unter teleologischem Aspekt, als deren Etage der Animismus diente.
Aus vagen, überkühnen Analogien sind auch alle großen Entdeckungen
erwachsen und jedenfalls alle ungereiften Vorahnungen großer Entdeckun-
gen, ohne welche es zu diesen selbst nie gekommen wäre. Hätte nicht der
Grundgedanke der pythagoräischen Zahlenmystik „Alles ist Zahl“ und der
heraklitische Gedanke von der alles weltliche Werden durchherrschenden
Ananke vorangeleuchtet und die forschenden Geister vor aller streng wis-
senschaftlichen Fassung und Begründung so mächtig bewegt, so hätten wir
auch kein wissenschaftliches Prinzip der Naturkausalität. Auch die großen
Gedanken haben ihre Kindheitsstufe, und in dieser erwachsen sie aus der
Wirksamkeit überkühner Analogien. So finden wir denn auch die anfan-
gende griechische Philosophie im Hylozoismus befangen; das Lebendigsein
wird ohne weiteres zum Sein gerechnet, und das ist ja nichts anderes als
Animismus.1
Dieses Stadium stellt den extremsten Kontrast dar zu dem durch unsere
Naturwissenschaft repräsentierten, deren Voraussetzung ja die Idee bloßer
Natur ist und zuunterst einer bloß physischen Natur: völlig unbelebt gedacht
oder, wenn belebt und mit Psychischem ausgestattet, so doch als eine Materie,
der alles Psychische außerwesentlich ist. Nichts erscheint uns, erzogen wie wir
durch die neue Naturauffassung sind, selbstverständlicher, als dass materielle
Dinge sein könnten ohne alle Beseelung, dass es Weltperioden gegeben
haben könne, ja wirklich und in Jahrbillionen gegeben habe, in denen es
kein Leben, keine Tiere, keine Menschen gab. Wie umstritten die Interpre-
tation des Psychischen sein mag, jedenfalls ist es etwas zum Physischen oder

1 Randbemerkung Beides noch überhaupt nicht geschieden.


teleologie 191

Materiellen Hinzukommendes, ihm gegenüber Akzidentelles, das Physische


schon Voraussetzende, etwas, dessen Hinzutreten oder Wegfallen am eigenen
Sein und eigenen Wesen des Physischen, des Materiellen, prinzipiell nichts
ändert.
Die Gegenpole der Naturauffassungen Hylozoismus und psychophysi-
scher Dualismus (und insbesondere jener eigentümliche naturalistische Dua-
lismus, dem gemäß das Physische das allein wahrhaft Selbständige und Kern-
hafte ist) sind natürlich durch historische Entwicklungen vermittelt. In eben
dieser Entwicklungslinie entspringt die Idee einer einzigen weltdurchwal-
tenden Gottheit: zunächst in der hylozoistischen Stufe als Ausdruck für die
allem Leben immanent gedachte Vernunft oder Vernunfttendenz; dann auf
der Stufe des Dualismus tritt die Gottheit in der Form eines gesonderten,
spezifisch geistigen Prinzips auf, als das die Welt in der Weise der Be-
seelung und zugleich der Vernunftordnung und Gestaltung vergeistigende
Prinzip. Das ergibt natürlich noch lange keinen Gott im Sinne des Theismus.
Das Eigentümliche der alten griechischen Kosmologie ist, dass es in der
theoretischen Einstellung, mit der Wissenschaft als solche zum Durchbruch
kommt, nicht so sehr auf empirische Erklärung innerhalb der unendlichen
Allnatur abgesehen ist, als vielmehr darauf, dass die Allnatur, die Welt
selbst zum Thema gemacht wird. Was das theoretische Interesse fesselt, ist,
was mit Staunen erfüllt, die Einheit alles Seins, ist, dass alles mit allem sich
zu einem geordneten Ganzen, einer Physis, zu einem später sogenannten
Kosmos zusammenschließt. Und gesucht wird ein Prinzip der Einheit und
Ordnung. Da nun Sein und Lebendigsein noch ungeschieden sind, so ist
die Welt angeschaut als eine alles besondere Lebendigsein umspannende
Lebenseinheit. Nun erschaute man weiter in allem Leben ein dunkles oder
bewusstes Walten einer zielstrebigen Vernunft, und demgemäß erschien die
Welt mit ihrem einheitlichen Weltleben als ein von einer Vernunft durchwal-
tetes Sein.
So versteht man die dunkle $ν και π%ν Lehre des Xenophon, die Lehre
von der einen allwaltenden Gottheit, die zugleich mit der Welt identisch ist,
alle Dinge durch die Macht der Gedanken bewegt und lenkt. Ebenso die
bedeutendere und reichere Lehre des Heraklit: „Alles Sein ist Werden“.
Diese Auffassung stimmt zu der hylozoistischen. Im Wesen des Lebens liegt
ja Werden. Die Welt ist also ein unendlicher Lebens- oder Werdensprozess.
Da in allem Leben Gegensätze miteinander ringen, und durch dieses Ringen
mit der Lebenserhaltung eine Vernunfttendenz hindurchgeht, so wird der
Logos bei Heraklit zum göttlichen Prinzip einer das ganze Weltwerden
durchwaltenden Vernunftordnung. Wir haben hier schon eine durchgeführte
192 einleitung in die philosophie

teleologische Weltbetrachtung. Aber wir haben keinen Gott in einem abge-


schiedenen Sinne, in dem eines Geistes; er, der Logos, ist der Titel einer
vom Werden schlechthin nicht abtrennbaren, immanent als ewiges Gesetz
waltenden Vernunftordnung.
Die erste Scheidung zwischen Materiellem und Psychischem vollzieht sich
bei Empedokles als Scheidung zwischen den vier Elementen und den bewe-
genden Kräften für ihre Bewegungen, ihre Mischungen und Entmischungen,
wodurch alle Dinge werden; diese bewegenden Kräfte sind Liebe und Hass.
Bei seinem Nachfolger Anaxagoras verdichten sich diese beiden noch halb
mythischen psychischen Prinzipien zu dem einen Welt ordnenden νο&ς, der
aus dem Charakterlosen unendlich vieler Elemente den Kosmos gestaltet.1
Freilich von der sinnlichen Anschauung konnte sich Anaxagoras doch nicht
ganz frei machen, und er gebrauchte in der Kennzeichnung des νο&ς sinnliche
Ausdrücke, wie die „es sei das Feinste, das einzig absolut Reine“. Aber
er bezeichnet doch als seine Wesensprädikate außer der Einfachheit und
Selbständigkeit Wissen und Macht. Immerhin war so das Geistige scharf
allem Nicht-Geistigen gegenübergestellt und sozusagen der gute Wille da,
beiden Seinsarten Grundeigenschaften zuzuteilen, die total verschieden und
unvergleichlich sind. Eine eigene geistige Realität ist damit als Prinzip der
Weltordnung aufgestellt.2
Höchst bedeutsam ist nun, dass alsbald gegen diesen Versuch der prin-
zipiellen Sonderung, also gegen den ersten psychophysischen Dualismus,
der Atomismus auftritt als eine erste Begründung eines materialistischen
Monismus, der zugleich eine erste naturalistische Weltauffassung entwirft.3
Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen Physischem und Psychischem.
Alles Seiende ist von einer Art, und zwar Materielles. Näher bezeichnet:
Es gibt nur leeren Raum und das den leeren Raum Erfüllende. Dies aber
besteht durch und durch aus nichts anderem als aus „Atomen“, die sich aus-
schließlich durch geometrisch-mechanische Prädikate unterscheiden: durch
Größe, Gestalt, Lage, Einordnung, Bewegung und bewegende Kraft, die
aber ihrerseits durchaus nicht geistig zu verstehen sind. Die Atome sind
ewig, nach ihrer Entstehung kann man nicht fragen. Alles Geschehen ist
mechanisches Geschehen und steht unter rein mechanischer Notwendigkeit,
die uns also verweist auf feste Gesetze. Was man „Geist“ nennt, das löst sich

1 Randbemerkung Dagegen vgl. Wilhelm Windelband, Geschichte der antiken Philosophie,

C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München, 1912, S. 65.


2 Randbemerkung ändern.
3 Randbemerkung Leukipp ist älter, philosophisch, als Empedokles und Anaxagoras.
teleologie 193

selbst in Atome auf, nur besonders feine, besonders leicht bewegliche, aber
keineswegs mit prinzipiell anderen Wesenseigenschaften ausgestattete. Da-
mit fällt also auch jede teleologische Welterklärung. Es gibt nur mechanische
Naturerklärung.
Völlig konsequent ist diese Weltauffassung insofern nicht, als Demokrit
doch eine Ethik und sogar eine edle, obschon in hedonistischen Gedan-
kenkreisen sich bewegende, ausgebildet hat, wie es scheint, ohne es zu
empfinden, dass in einer Welt, in der alles Geistige unter mechanischer
Notwendigkeit steht, für einen freien ethischen Willen doch kein Raum
sein kann. Der Atomismus, begründet durch Leukipp als Materialismus
und zu systematischer Konsequenz ausgestaltet durch Demokrit, ist die
älteste historische Form einer rein naturalistischen Weltanschauung. Hatte
Anaxagoras den νο&ς von den Elementen, also geistiges Sein von Ungeis-
tigem unterschieden, so war die Scheidung insofern noch unvollkommen,
als er die Wirkungsart des Geistes auf die Elemente nicht deutlich von einer
Wirkungsart der Elemente aufeinander unterschied – der νο&ς stößt, und der
Stoß pflanzt sich fort in wirbelnden Bewegungen – und auch die Verhältnisse
beider Prinzipien zur Räumlichkeit nicht klärte. Demgegenüber schuf der
Atomismus den naturwissenschaftlichen Begriff der Materie dadurch, dass
er sich zunächst an die Räumlichkeit der gegebenen Erfahrungswelt hielt
und das Eigenwesen des räumlichen Seins als solchen herausschaute.
Mag auch Leukipp noch nicht von der durch Empedokles und Anaxagoras
versuchten Scheidung zwischen Geist und Elementen bestimmt worden sein,
so gewann diese Scheidung jedenfalls bei Demokrit Einfluss in Form einer
bewussten und wohlzuverstehenden Leugnung der Eigenart des Geistigen.
Materie ist das den leeren Raum undurchdringlich Ausfüllende und hat
keine anderen Wesensprädikate, als welche einem Ausgedehnten als solchem
zukommen, also geometrische, und vermöge der Undurchdringlichkeit und
Beweglichkeit mechanische Prädikate. Für Materie gibt es keine andere Art
der Wirkung als die durch Stoß und Gegenstoß. Wie soll aber Geistiges im
Raum stoßend wirken, mechanische Kraft üben, wenn es selbst Unräumli-
ches, Nichtmaterielles sein soll? Nur Materie kann auf Materie stoßen. Also
muss Geistiges selbst von derselben Wesensart sein wie Materielles; es muss
wie dieses aus Atomen bestehen, nur aus besonders feinen.
Freilich ist diese Lehre absurd. Niemand kann sie festhalten, der einmal
erkannt hat, dass Geistiges in innerer Anschauung mit absoluter Zweifel-
losigkeit gegeben ist und gegeben als seinem Wesen nach unausgedehnt.
Nämlich Bewusstseinserlebnisse wie ein Zorn, eine Freude, ein Urteil, ein
Wille sind doch nicht dreieckig oder kugelig, sie haben keine räumliche
194 einleitung in die philosophie

Ausdehnung, keine eigentliche Lage und keine Raumgröße, Raumgestalt;


das schließt ihr absolut klar gegebenes Eigenwesen aus. Aber wie immer, die
atomistische Umdeutung des Psychischen, erzeugt im Materialismus eine
naturalistische Blindheit für die ganze innere Welt und damit für die ganze
Geisteswelt in ihrer theoretischen Eigenheit. Infolge dieser Umdeutung sieht
er nur bloße physische Natur.
Fordert nun eine Naturwissenschaft in unserem Sinne als Wissenschaft
von bloßer Natur eine Abstraktion von allen Prädikaten geistiger Bedeutung
und als Physik Abstraktion von allem Subjektiven überhaupt, so müsste
die materialistische Blindheit für Geistiges dem Werden einer physischen
Naturwissenschaft zugute kommen. In eben der Linie auf eine solche Na-
turwissenschaft lagen auch die großen Antizipationen allgemeinster Grund-
gedanken einer mechanischen Naturerklärung bei Demokrit, die aus seiner
theoretischen Vertiefung in die einseitig als materiell gesehene Natur ent-
springen. So vor allem die Konzeption einer allwaltenden mechanischen
Naturkausalität nach strengen Gesetzen und die Ausschaltung der spezi-
fisch sinnlichen Qualitäten der erscheinenden Naturdinge als bloß subjek-
tiv.1
Indessen,die ganze Krise, welche die Entwicklung der griechischen Phi-
losophie schicksalsvoll bestimmte, ließ aus dem Atomismus doch nicht eine
systematische Begründung einer Naturwissenschaft erwachsen. Die skepti-
sche Lähmung, welche die griechische Philosophie oder Wissenschaft be-
traf, wurde durch Sokrates und Platon in einer Form überwunden, die ei-
ner Entwicklung der Naturwissenschaft nicht günstig war, obschon Platon
doch gerade durch seinen Idealismus nach verschiedenen Richtungen die
wichtigsten Vorbedingungen für eine exakte Naturwissenschaft beistellte.
Er zuerst hatte in strenger begrifflicher Form das Wesen an sich gültiger
Wahrheit und die unerlässliche Erfordernis der zu einem an sich Seienden

1 Gestrichen Ich nannte den Atomismus die erste naturalistische Weltauffassung. In der Tat,

erst durch die mit der jüngeren Naturphilosophie des Empedokles und Anaxagoras einsetzende
Scheidung von Materiellem und Geistigem wird jene Einstellung möglich, für die eine „bloße
Natur“ in unserem beschriebenen Sinne da ist. Die schärfste Ausscheidung alles Psychischen
und damit doch auch aller von den Subjekten herstammenden Wertprädikate an den Dingen,
vollzieht sich natürlich in der Form einer schroffen Negation des Geistigen in Form des Materia-
lismus. In diesem liegt also schon hinsichtlich der durchaus notwendigen Einstellung der Anfang
der Naturwissenschaft, abgesehen von der genialen Antizipation der Grundgedanken aller
mechanischen Naturerklärung mit ihrem Absehen auf eine durch rein quantitative Merkmale
bestimmte Natur und mit ihrer Scheidung zwischen dieser an sich wahren Natur gegenüber
der sinnlich erscheinenden Natur mit Sinnesqualitäten wie Farbe, Ton, die nur der subjektiven
Erscheinung angehören.
teleologie 195

gehörigen Bestimmungen herausgearbeitet, wie er andererseits durch seine


idealistische Umgestaltung der Mathematik zu einer apriorischen Wissen-
schaft ihr diejenige Gestalt gegeben hatte, durch die sie allein das berufene
methodische Instrument exakter Naturwissenschaft werden konnte.
Das Problem sah er klar. Soll es eine Naturwissenschaft im strengen Sinne
geben können, also eine Wissenschaft der Natur, die der Idee des wahren
Seins entspricht, so müssen über sie Wahrheiten ausgesprochen werden kön-
nen, die an sich gültige sind, unabhängig sind von allen subjektiv relativen
Prädikaten, also Wahrheiten derart wie die rein mathematischen, die keine
Standpunktwahrheiten sind, keine Bestimmungen ergeben, die jedes Subjekt
nach seiner zufälligen Stimmung und Lage anders vorfinden und aussagen
müsste. Das war ja der wertvolle Anstoß des Protagoras’schen Skeptizismus
gewesen, dass er (wie vielleicht schon der Leukipp’sche Atomismus) die
Relativität aller Urteile äußerer Erfahrung erkannt hatte. Die Qualitäten,
die die Dinge in der schlichten Erfahrung zeigen, die Farben, Tastqualitäten
usw., hängen von den Sinnen des Erfahrenden ab. Die sinnlichen Erfah-
rungsurteile sind also Standpunkturteile. Protagoras übertrug das auf alle
Urteile überhaupt, für ihn gab es also keine Wahrheit an sich. Hinsichtlich
der äußeren Natur konnte ihn Platon nicht überwinden.
Platon sah keinen Weg, aufgrund der sinnlichen Erfahrung, die doch den
Anfang aller Naturerkenntnis abgibt, also durch das Medium von subjektiv
relativen Erfahrungsurteilen, Urteile von objektiv gültiger Wahrheit her-
auszuarbeiten. Selbstverständlich wusste er, dass man Erfahrungsobjekte
messen und Geometrie auf Erfahrung anwenden könne und dass dadurch
mancherlei wertvolle, mindestens für technisch praktische Zwecke wertvolle
Bestimmungen gewonnen werden können; nur eben nicht, dass man hier
weiter kommen und die Relativität der Erfahrungsaussagen überwinden
könne. Demgemäß gibt es für ihn keine an sich seiende Natur; die sinnlich ge-
gebene Natur birgt in sich kein theoretisch bestimmbares An-sich-Sein. Eine
Leistung derart, wie sie die neue mathematische Naturwissenschaft vollzieht,
die Möglichkeit, allem Vagen und Fließenden der Erscheinung feste kausale
Eigenschaften zu unterlegen, die durch quantitative Methoden als exakte
bestimmbar sind, die Möglichkeit, exakte Naturgesetze mathematischer Ge-
stalt zu entdecken, in denen sich ein generelles An-sich der Natur, frei von
aller Relativität auf die zufälligen Subjekte, bestimmt, blieb ihm verborgen.
Die Sinnenwelt ist ihm eine Scheinwelt und nicht Erscheinungswelt, nämlich
subjektiv wechselnde Erscheinung einer wahren Welt.
Zwar hatte schon Demokrit sie als Erscheinungswelt interpretiert, spe-
ziell als Erscheinung einer sinnlich nicht gegebenen (von allen spezifischen
196 einleitung in die philosophie

Sinnesqualitäten freien) atomistischen Welt, einer Welt rein quantitativer


Bestimmungen; aber das war in Platons Augen und war in der Tat eine
bloß hypothetische Interpretation ohne jede wissenschaftliche Begründung.
Eine wirkliche Physik, die die sinnlich erfahrenen Tatsachen wirklich durch
Reduktion auf atomistische Vorgänge nach exakten Naturgesetzen erklärt,
hatte ja Demokrit nicht gegeben und nicht im mindesten eine Methode
gezeigt, wie sie auszuführen wäre. Zudem lag der Schwerpunkt der platoni-
schen Interessen für Platon als Schüler des Sokrates von vornherein gerade
in der geistigen Sphäre, in der ethisch-praktischen und politischen Sphäre
und in der Richtung auf eine teleologische Weltauffassung. Die verkehrte
Leugnung der prinzipiellen Eigenart des Psychischen bei Demokrit, womit
bei näherer Konsequenz alle ethisch-teleologische Weltanschauung abge-
schnitten war, konnte ihn nicht im mindesten bestimmen. So gab es für
ihn keine Physik und somit keine Naturerklärung im Sinne der Naturwis-
senschaft, für ihn gab es nur eine teleologische Weltbetrachtung. Freilich,
zu einer teleologischen Weltwissenschaft drang er auch nicht durch. Er
tat, was er tun konnte, er zeichnete mit den Mitteln seines Idealismus als
eine von philosophischen Impulsen geleitete künstlerische Schöpfung den
Mythos einer teleologischen Weltanschauung im Timaios. Sie ist von nicht
geringer Bedeutung als die erste auf dem Fundament des Apriori versuchte
Teleologie, reich an Motiven von historischer Fernkraft. Gehen wir dieser
Teleologie nach.
In seiner ersten Entwicklungsperiode hatte Platon ganz in seiner großen
Entdeckung des Apriori gelebt. Er war ihr allseitig, in die ihm erreichbaren
Weiten nachgegangen, im Reich reiner Ideen hatte er ein Reich exakter Er-
kenntnis, ein Reich an sich geltender, von aller Subjektivität der Auffassung
freier Wahrheit erkannt. Grundnormen für solche Wahrheiten und Dasein
im Sinne dieser Wahrheiten hatte er herausgestellt, Anfänge zu einer reinen
Logik und apriorischen Ontologie gewonnen. Die Erfahrungswelt genügte
diesen Normen nicht, sie schien als Scheinwelt überhaupt kein Thema für
den wahren Philosophen abzugeben.
Aber damit konnte es doch nicht sein Bewenden haben. Diese sinnli-
che Welt, wie sehr als im echten Sinne „nicht seiend“ und ethisch als die
Quelle herabziehender Neigungen gescholten, ist doch nicht ein pures Nichts.
Sie ist die Welt unseres irdischen Lebens, in ihr schaffen und wirken wir
als Menschen. Gegenüber dem starren An-sich-Sein der Ideenwelt ist die
Grundeigenschaft der empirischen Welt Bewegung, Veränderung, allgemein
gesprochen: Werden. Alles ist hier zufällig, denn es kann auch anders sein,
es konnte anders geworden sein, und in unendlich vielen anderen Gestalten
teleologie 197

kann es werden, als in welchen es faktisch werden wird. Warum ist überhaupt
diese Werdenswelt und warum wird sie so und nicht anders? In all ihrem
Werden ist sie nicht schlechthin nichts; denn wie wenig die empirischen
Aussagen jene objektive Wahrheit und Exaktheit haben, die nur Aussagen
über Ideen zukommt, es sind doch Aussagen, die etwas von Wahrheit ha-
ben. Es werden doch Prädikate den Dingen zugemessen, und alle Prädikate
weisen letztlich, bei entsprechender Reinigung, auf Ideen zurück. Dadurch
haben alle empirischen Dinge „Anteil“ an der Idee und ihrer Wahrheit.
Oder in umgekehrter Betrachtung: Ideen, wie sehr sie an sich sind, lassen
sich zum Empirischen herab, „wohnen ihm bei“, nur unvollkommen, wie
wir gehört haben, da ja das empirische Prädikat niemals eine vollkommene
Vereinzelung der entsprechenden Idee sein kann.
Nun ist aber jedes Ding in beständigem Werden. Werden, das heißt für
das Ding: seine Prädikate nicht festhalten, sondern sie wandeln, Prädikate
ablegen und neue annehmen. Also immer andere Ideen lassen sich zum
Empirischen herab, wohnen ihm bei. Die Ideenwelt bleibt also doch nicht
starr an und für sich, sie selbst tritt in Aktion, ist in Bewegung, Ideen ver-
binden sich: der Vielheit der Prädikate entsprechend, mit denen ein Ding
im Dasein entsteht und neu werdend sich neu erzeugt; sie trennen sich
wieder im Vergehen. Also Ideen müssen sich bewegen, müssen wirken und
zusammenwirken, damit so etwas wie empirisches Sein, empirisches Werden
zustande kommen kann.
Bei der scharfen Abtrennung der Ideenwelt kann es nicht sein Bewenden
haben und nicht bei der bloßen Rede von einer „Scheinwelt“, die zu sein
scheint und dabei an Ideen erinnert, mehr oder minder vollkommen sie
versinnlicht. Aber wie ist nun weiter dieses Wirken der Ideen zu verstehen?
Wie kann es dazu dienen, empirisches Werden zu erklären? Die Antwort
lautet: Das lässt sich nur teleologisch verstehen. Denken wir hier an die
wundersame Eroslehre des Symposion und Phaidros. Der hohe Eros, der
Eros im spezifischen und reinen Sinne, ist die begeisterte Liebe zu den
reinen Ideen, zu jenen urbildlichen Echtheiten, Vollkommenheiten, die sich
empirisch nur unvollkommen vereinzeln, und sie ist die Seelenhaltung, in
der am empirisch Einzelnen das Ideal erschaut und an diesem gemessen
wird. Der Eros ist also der Ausdruck für das liebende Erschauen aller Arten
absoluter Werte, und zwar ein Erschauen, in dem sie der Schauende innerlich
ganz zu eigen hat, mit ihnen ganz erfüllt und eins ist. Ist dann nicht die
notwendige Konsequenz, dass der Schauende auch zum ethischen Subjekt
im hohen und echten Sinne wird, dass er, wo und so weit es praktisch möglich
ist, das Empirische den reinen Allgemeinheiten gemäß, diesen allgemeinen
198 einleitung in die philosophie

Idealen gemäß, zu gestalten sucht? Ist es da nicht ganz verständlich, wie ein
Empirisches Eigenschaften der Idealität in wechselnder und in steigender
Vollkommenheit annimmt?
Wir können somit auch sagen: Während in der theoretischen, der rein
ontischen Einstellung Ideen, und ganz rechtmäßig, als Gegenstände an und
für sich betrachtet und erforscht werden, müssen wir sie, wenn das Werden
der empirischen Dinge durch sie „erklärt“, für uns sinnvoll verständlich
werden soll, aus ihrem theoretischen An-sich-Sein zurückversetzen in die
Subjektivität, in der sie im Falle vollster Ideenschau lebendiger Ideen im
Geiste seiende und wirkende Ideen werden. Sie wirken dann als lebendige
Ideale, als Prinzipien einer wertenden und praktischen Vernunft. Ihnen
kommen, wie Platon in der Tat sagt, Leben und Vernunft zu. Doch ist
das ein gefährlicher Ausdruck, da sie selbst ja nicht Vernunft sind, etwa
gar Vernunftsubjekte, sondern Vernunftziele, in der Subjektivität lebendig
erschaute, lebendig wirkende Ideale.
Aber nun ergeben sich neue Fragen. Die Menschensubjekte können na-
türlich nicht aufkommen für das Werden der Dingwelt. Sie wirken zwar
mit ihren Zwecken in die Welt hinein, aber in eine schon vorgegebene.
Sie machen sich an einzelnen Dingen zu schaffen; die einzelnen sind aber
nicht vereinzelt, sie ordnen sich und alle Dinge miteinander zu einem ein-
heitlichen Weltganzen, das immerfort als Ganzes vorgegeben ist und sein
empirisches Sein hat. Also der Einheit der Welt entsprechend und ihrer
zeitlichen Endlosigkeit entsprechend, in der immer schon Gestaltetes und
Prädikabeles da war, muss es eine Subjektivität sein, ein Demiurgos, die
vorzeitlich, vorempirisch, vor allem Menschendasein (das auch empirisches
Dasein ist) die Welt „geschaffen“ hat. Das heißt: Als Urquelle aller Ideenbe-
wegung, Ideenzusammenbildung zur Erwirkung von Empirischem fungierte
ein überzeitliches teleologisches Prinzip für alles Zeitliche.
Dabei1 aber bedarf es, da aus reinen Ideen für sich nur immer wieder reine
Ideengebilde erwachsen könnten, eines Prinzips der Irrationalität, eines irra-
tionalen Stoffes für die Vergeistigung durch zwecktätige Ideale, eines Stoffes,
der unideal ist und nur relativer Idealisierung fähig ist. Andererseits, die
reinen Ideen sind als Zweckideen nicht ohne teleologische Regel zu denken;
sie gliedern und ordnen sich, als teleologische Ideale gefasst, notwendig einer
Art Königreich der Ideale ein oder besser noch einer Art Sonnensystem, und

1 Randbemerkung Da wo etwas gemäß Idee erst gestaltet sein soll, dieses nicht selbst schon

ideal, rational sein kann.


teleologie 199

die Sonne dieses Systems, von der alle anderen Ideale das Licht ihrer Idealität
empfangen (der königliche Zweck, dem alle anderen dienen), ist die Idee
des Guten.
Zu Ende gedacht, würde das jedenfalls besagen: Bleiben wir in der Rein-
heit der Idee und schließen wir noch allen irrationalen Stoff der Gestaltung
aus, so muss sich die reine Idee eines absolut vollkommenen Seins überhaupt
als des denkbar höchsten teleologischen Ideals ergeben, welches allen ande-
ren Werten als Idealen ihre dienende Funktion anweist. Es ergäbe sich dann
der korrelative Gedanke eines höchsten Subjekts – sagen wir mythisch: eines
Weltbildners –, das, lebendig in sich dieses absolute Ideal schauend und davon
geleitet, den in sich widervernünftigen Stoff gestaltet und ihm (statisch oder
in Form einer Entwicklung) die größtmögliche, etwa im zeitlichen Prozess
dem Ideal sich unbegrenzt annähernde Vollkommenheit einer Weltgestalt
gibt. Also das im wahren Sinne Seiende, das an sich und streng Seiende, ist
die „Idee des Guten“ als das lebendige, im zeitlos-ewigen Schauen geschaute
Ideal des Demiurgos. Dieses Ideal aller Ideale ist als erschaut zugleich die
unendlich wirkende Sonne; das absolute Sollen der höchsten Norm ist die
Wirkungskraft des Seins, das als empirisches Sein ausschließlich um seiner
möglichsten Güte und Schönheit ist, im Einzelnen und im Weltganzen. Dieses
ist natürlich keine Summe, sondern eine Harmonie, Einheit eines schönsten
und besten Kosmos, des bestmöglichen, des der Idee des Guten bestange-
näherten. Jedes Ding ist um seines Wertes willen und fungiert als Mittel für
höhere Zwecke; alle Kausalität ist letztlich teleologische Kausalität, jedes
Warum besagt soviel wie Wozu.
Das ist freilich keine Darstellung der platonischen Teleologie, sondern ein
Gemisch von Interpretation und Fortbildung. Aber wir wollen ja darin nicht
Geschichte, sondern philosophische Denkmotive kennenlernen. Dass zum
Beispiel bei Platon keine deutliche Scheidung zwischen dem Demiurgen und
der Idee des Guten vollzogen ist, diese Idee, die doch nicht von vornherein
eine Person bezeichnet, als Gottheit bezeichnet ist, dass man geneigt ist,
ernstlich den platonischen Gott überhaupt mit dieser Idee zu identifizieren,
das können Sie in den historischen Darstellungen nachlesen. Wichtig ist aber
für uns, das ahnungsvolle Empordrängen großer Probleme zu erschauen, die
in der ersten idealistischen Teleologie beschlossen sind.
(Fürs Erste das Problem der Individuation. Hat man, Platon folgend und
seine Ideenlehre konsequent bis zur letzten Reinheit führend, wie wir es ver-
sucht haben, in theoretischer Einstellung das Eigensein der Ideen erkannt, so
sind die Ideen exakte allgemeine Wesenheiten, und ihnen entspricht ein idea-
ler Umfang von exakten reinen Einzelheiten, z. B. die reine Idee der Kugel
200 einleitung in die philosophie

und die Allheit möglicher Kugeln überhaupt, jede eine exakte Vereinzelung
der Idee: genau wie im rein geometrischen Denken. Sowie wir uns aber
anschaulich eine Kugel vorstellen, haben wir schon keine reine Kugel mehr,
sondern ein Ungefähres. So bei allen Ideen. Wenn wir uns nun ein konkretes
Individuum und schließlich eine individuelle Welt denken, können wir sie
anders denken als in dieser Spannung zwischen Ungefährem und einer rein
idealen, aber eben nur in der Idee gedachten exakten Vereinzelung reiner
Allgemeinheiten? Weist uns diese Spannung nicht zurück auf eine mögliche
erkennende Subjektivität, die das notwendige Korrelat ist für eine Welt, und
müssen nicht von da aus die Normen der möglichen Individualität gefunden
werden?)
Fürs Erste. Ein Problem muss werden das allgemeine Motiv, das als Ver-
nunftmotiv zu einer teleologischen Welterklärung drängt. Vernunftmotive
drängen gewiss auch zu einer naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung. Ihr
Ziel ist kausale Erklärung alles Naturgeschehens. Gibt es innere Gründe,
wirkliche Vernunftgründe, welche die Erkenntnis bei dieser doch zugestan-
denermaßen sehr notwendigen Erklärungsleistung unbefriedigt lassen und
ein plus ultra fordern? Wir sagten: Platon hätte noch keine Möglichkeit
einer objektiven Naturwissenschaft ersehen können und sei als Schüler des
Sokrates bei seiner großen geistigen Blickrichtung von vornherein auf eine
teleologische Weltbetrachtung hingewiesen worden.
Hätte sich für ihn aber eine solche erübrigt, wenn ihm seine Zeit und
etwa Demokrit eine wirklich objektive Naturwissenschaft dargeboten hätte?
War die Teleologie für ihn eine Notauskunft? Ich meine nicht. Sicherlich
hätte er gesagt, Naturwissenschaft sei freilich eine schöne und gute Sache;
in ihrer Art erkläre sie die Naturvorgänge ausgezeichnet; aber mit all ihrem
schönen Erklären machte sie doch nichts verständlich, eine noch so weit
und so gut kausal erklärte Welt sei noch in keinem Punkt eine verständliche
Welt. Wäre aber eine unverständliche Welt nicht ein Sinnloses? Nur im Reich
des Geistes gebe es ein echtes, ein verstehendes Erklären, nur so weit eine
geistige Begründung reicht, ist das auf die Frage „Warum?“ antwortende
Weil ein die Einsicht voll befriedigendes. So in jeder deduktiven theore-
tischen Begründung, etwa im Beweisen eines mathematischen Lehrsatzes,
dessen Wahrheit wir einsehen, weil sie einsichtig motiviert ist durch die axio-
matisch eingesehenen Gründe.1 Und ebenso in der axiologisch-praktischen
Sphäre: Warum ein Werk der schönen Kunst da ist und so ist, gestaltet in

1 Randbemerkung Weil ich so urteile, urteile ich und muss ich vernünftigerweise so urteilen.
teleologie 201

diesen Schönheiten, die ihm nun faktisch eignen, oder ein Werk der Technik,
warum es die und die Zweckmäßigkeiten hat, das ist verständlich, weil ein
schöpferisches Subjekt es um dieser Schönheiten oder Zweckmäßigkeiten
willen gestaltet, also die und die Mittel angewendet, die und die minderen
Möglichkeiten ausgeschieden hat. Der Künstler muss dabei mit mancherlei
vorgegebenen Naturtatsachen rechnen, aber genau so weit, als die bloße
Naturtatsache reicht, reicht auch das Unverständnis.
„Bloße“ Natur, etwa gar als bloß physische Natur betrachten, das heißt
gleichsam den Geist und damit alle geistige Erklärung stilllegen. Natur-
wissenschaftlich erklären heißt Tatsachen auf Tatsachen zurückführen, aus
einzelnen Tatsachen und ihrem regelmäßigen Erfahrungsgang Tatsachen-
regeln induzierend und formulierend abstrahieren und dann immer neue
Einzeltatsachen des passenden Typus auf solche ein für allemal formulierten
Gesetze zurückführen. Es sind Regeln vernünftiger Erwartung, Regeln nach
denen man das künftige Geschehen voraussehen und sich danach richten
kann. Aber diese Regeln oder Gesetze, selbst wenn sie methodisch die
Form der Exaktheit erlangt haben und eine an sich seiende wahre Natur
ausdrücken, sind doch selbst bloße Fakta, die anders sein könnten. Warum
haben die Naturdinge gerade diese und keine andere Gesetzesgestalt? Und
dann erst recht: Warum bilden sich gerade diese Dingindividuen und warum
ergeben sie gerade diesen individuell bestimmten Einheitszusammenhang
der gegebenen Natur? Sollte die Frage nach diesem Warum keine vernünftig
zu stellende sein? Sollte es also neben der Frage nach den Naturursachen,
d. i. nach erklärenden Kausalgesetzen, kein plus ultra mehr geben? Aber
gibt es nicht ein Fragen nach geistigen Gründen, wofür wir vorhin Beispiele
gegeben haben, und sind sie nicht wesentlich anders gerichtet? Sind sie nicht
die einzigen, um es zu wiederholen, die eine einsichtige, und das heißt eben
eine wirklich aufklärende Antwort zulassen?
So hätte Platon wohl seinen Übergang in die teleologische Welterklärung
gerechtfertigt; er hätte sie aus dem Postulat einer verstehenden Welter-
klärung abgeleitet. Und dieses Postulat selbst hätte er als das schlechthin
unablässige der Erkenntnis, als ihr höchstes und letztes und somit auch
als das letzte Ziel aller wissenschaftlichen Erkenntnis charakterisiert. Auf
dieses Ziel hinzuarbeiten, nach ihm alle besondere Wissenschaft zu diri-
gieren, sei die Aufgabe der Dialektik, denn dies ist der Name, den Platon
für die im Rang höchste Wissenschaft von der wahren Wirklichkeit, für
die Wissenschaft, die die höchsten Erkenntnisziele vertritt, gebraucht, wäh-
rend später das Wort „Metaphysik“ gebräuchlich und herrschend geworden
ist.
202 einleitung in die philosophie

Das Fundament unserer letzten Betrachtung war der durch sie hindurch-
gehende Kontrast zwischen natürlichem und geistigem Erklären, zwischen
der Bestimmung von Tatsachen nach Kausalität, also unter Rekurs auf Tatsa-
chengesetze, und der Bestimmung von Tatsachen nach geistiger Motivation,
also im Rekurs auf Verständnis gebende geistige Zusammenhänge. Indes-
sen, für das historische Bewusstsein der Menschheit konnte dieser Kontrast
zur Abhebung erst kommen und dann historisch bestimmend erst werden,
nachdem eine leistungsfähige Naturwissenschaft da war. Aber freilich blen-
dete sie, nachdem sie es war, durch die Größe ihrer Leistungen und die
Unendlichkeit weiter zu ergreifender Leistungen so sehr und leitete sie so
sehr das theoretische Interesse in diese Linien der Naturerklärung, dass
die Tendenz auf geistiges Verstehen darunter leiden musste und zeitweise
ganz zu verkümmern drohte. Darüber werden wir noch zu sprechen haben.
Vorläufig genüge, dass wir recht deutlich die innere Kraft und den Stachel
des Problems empfinden.1,2
Soll alles weltliche Dasein verständlich sein, so muss alles als zwecktätig
entsprungen sein, ja wenn das zwecktätige Machen die einzig mögliche Erklä-
rungsweise bietet. Genügt dazu nicht die Annahme, dass ein Einzelsubjekt
in der Welt zwecktätig wirke, nur viel weiter als wir, so weit, dass alles außer
ihm zwecktätig entsprungen wäre? Aber das scheint nicht zu gehen. Denn
das Problem ist ja nicht, überhaupt Verständlichkeiten zu gewinnen – die
bietet uns schon die Tatsache, dass Subjekte in der Welt wirken –, sondern
die ganze Welt als eine verständliche vorstellig zu machen.3 Ein Subjekt in
der Welt ist ein irrationales Faktum. Es ist hier und könnte dort sein, es ist in
dieser Stellung zu den anderen Dingen und Subjekten, es könnte in anderer
sein. Ein solches Subjekt führt also selbst das Problem des teleologischen

1 Randbemerkung Im Weiteren wäre auszuführen, dass geistig-verstehende Aufklärung durch

Motivation nicht gerade teleologisch im gewöhnlichen Sinne sein muss: nach der Kategorie des
zwecktätigen Machens.
2 Gestrichen 2) Die vor der Naturwissenschaft und eben durch ihr Fehlen sich auswirkende

Tendenz auf verstehende Welterklärung hatte selbstverständlich die Form der Teleologie. Denn
in der natürlichen, objektiven Einstellung ist der Blick auf objektive, reale Tatsachen gerichtet.
Soweit wir aber, obschon immer nur beschränkt, reale Tatsachen verstehen, verstehen wir sie
als zweckvoll gewordene. Ein verstehbares äußeres Werden ist undenkbar, wenn nicht als ein
willentliches und durch Willensmotive bestimmtes im Handeln. Aber hier müssen wir uns das
im Voraus schon früher angedeutete Problem, ja die Mehrheit von Problemen, klarmachen, die
eine kosmische Teleologie mit sich führt.
3 Randbemerkung Unterschieden muss werden: zwecktätiges und überhaupt verstehendes

Erklären subjektiv menschlichen Tuns und menschlicher Tätigkeiten und Werke, wobei eine
Natur vorausgesetzt ist als Umwelt und verstehende Erklärung der Natur selbst.
teleologie 203

Grundes mit sich. Muss also das Subjekt einer das Weltall mit allen seinen
Faktizitäten umspannenden Teleologie ein überweltliches sein, so ergibt sich
das Problem, wie ein solches Subjekt als möglich zu denken ist, welches a
priori die Bedingungen seiner Wesensmöglichkeit sind. Wie kann das Weltall
Bewusstseins- und Wirkungsgebiet einer Subjektivität sein, die nicht selbst
dem Weltall angehört?
Weiter dann: Jedes Subjekt der Erfahrung ist verständlich in seinem ver-
ständlichen Wirken. Aber jedes hat seine faktischen Dispositionen, Charak-
teranlagen usw. und entwickelt sich in seiner Lage faktisch zu gerade dieser
empirischen Person. Alles Faktische steht aber als in sich Unverständliches
unter der teleologischen Frage des Warum. Das teleologische Weltsubjekt
kann also nicht bloß die physische Natur gestaltet haben, es muss auch alle
solche Naturanlagen gestaltet haben; es selbst aber kann keine haben, es
kann nicht eine seelische Natur wie der Mensch haben, die den Charakter
eines Faktums hat, es müsste „reiner“ Geist sein, eine geistige Wesensart, die
durch sich selbst „notwendig ist“, durch und durch teleologisch gefordert ist.
Die Frage ist natürlich die, wie solche Postulate einsichtig denkbar gemacht
werden sollen; speziell wird gefragt werden müssen, ob denn wirklich, wie es
zunächst scheinen möchte, das Weltsubjekt sich selbst zwecktätig gestaltet
haben muss, was doch einen circulus vitiosus befürchten lässt. Ob nicht
vielmehr eine doppelte Teleologie zu Zwecken vollkommener Verständ-
lichkeit gefordert ist, eine objektive Teleologie, die der geschaffenen Welt
(die der natura naturata), und die subjektive Teleologie, d. h. die der voll
zu verstehenden Wesensart einer Welt schaffenden Subjektivität, die nach
allen ihren psychischen Seiten notwendig so ist, wie sie ist, weil sie alle durch
die Möglichkeit einer vollkommenen Schöpfung unablässig gefordert sind;
und diese Notwendigkeit ist dann nicht die eines unverständlichen Faktums,
sondern die einer verstehbaren Vernunftforderung.
Weitere Fragen wären die nach dem Verhältnis des Weltsubjekts zu den
endlichen Einzelsubjekten, deren jedes doch seinen Lichtkreis der verständ-
lichen Wirkungen hat. Ist das individuelle Vernunftleben zu denken als ein
Strahl des göttlichen Vernunftlebens? Ist das Individuum ein Medium des
göttlichen Wirkens? Ist die menschliche Gemeinschaft und die menschliche
Kultur gewissermaßen der göttliche Acker? Ist der Prozess der Menschheits-
geschichte, der irdischen und eventuell der parallelen auf den unbekannten
Gestirnregionen ein sinnvoll gewirkter Zusammenhang? Und muss eine
individuelle Welt aus teleologischen Gründen eine zeitliche sein und dann
also eine Einheit der Entwicklung? Und endlich: Kann eine Zeitwelt anders
eine teleologische sein, denn in Form einer Entwicklung gegen Ideen hin?
204 einleitung in die philosophie

In der letzten Vorlesung waren wir nach Zeichnung des Typus der platoni-
schen Teleologie darangegangen, zu erwägen, was dazugehören müsste, um
eine solche mythisch gestaltete Weltanschauung in eine wissenschaftliche
zu wandeln. Wir fragten also nach wissenschaftlichen Problemen, die von der
Idee einer Teleologie her aufgegeben sind, Problemen, von deren Lösung
es abhängen muss, ob eine teleologische Weltbetrachtung überhaupt ein
wissenschaftliches Recht hat und, wenn dies der Fall sei, welcher Weg und
welcher Wissenschaftsboden ihr a priori vorgezeichnet sei.
1) Als Erstes besprachen wir den höchst bedeutsamen Gegensatz zwi-
schen natürlicher Erklärung und geistiger oder verstehender Erklärung. Die
eine erklärt aus Ursachen, die andere aus verstehbaren Gründen. Dieser
Gegensatz bedarf – das ist ein Problem für sich – der tiefsten Erforschung,
und das hat schon für die Klärung des Gegensatzes der Naturwissenschaften
und Geisteswissenschaften eine außerordentliche Bedeutung. Es kommt
nun für uns auf die Tragweite der verstehenden Erklärung an, anderer-
seits auf die Grundformen verstehbarer Gründe und welche Rolle dabei
teleologische Gründe, Zwecke und Mittel spielen. Was das eine anlangt, so
gehen wir in der Durchforschung der Umwelt bald naturwissenschaftlich,
bald geisteswissenschaftlich vor. In der naturwissenschaftlichen Einstellung
finden wir Natur und finden überall in der physischen und psychophy-
sischen Natur Anreize, kausale Fragen zu stellen. Andererseits, wo wir
Personen betrachten, die als geistige Subjekte ihre Umwelt erfahrungsmä-
ßig vorfinden und zu der erfahrenen Umwelt Stellung nehmen, sich im
Werten und Wollen von ihr bestimmen lassen, wo wir dann in weiterer
Folge personale Gemeinschaften und ihre Kultur betrachten, da suchen
wir verstehende Erklärung, wir suchen nach Motiven, aus denen sich das
personale Verhalten und die personalen Gebilde, die Kulturerzeugnisse, die
Konstitution von Gemeinschaften verstehen lassen. Offenbar haben bei-
derlei Erklärungsweisen, in den Zusammenhängen in denen sie auftreten,
ihr Recht: die naturwissenschaftliche in der Erforschung der Natur, die
geisteswissenschaftliche in der Sphäre personalen Lebens, Wirkens, Leis-
tens.
Nun ergibt sich aber die Frage der Tragweite. Eine teleologische Welter-
klärung will das Weltall, das ist doch wohl alles und jedes, verstehend erklä-
ren. Wenn sie nicht mehr, wie es noch im Falle Platons vorlag, das Recht einer
kausalen Naturforschung bestreiten kann, so wird es zum Problem, wie sie in
ihrer Universalität die naturwissenschaftliche umgreifen kann. Mit anderen
Worten: Das Faktum der Natur und Naturkausalität, umschrieben in den
faktisch geltenden obersten Naturgesetzen, ist das Ziel aller wissenschaft-
teleologie 205

lichen Naturerklärung.1 Andererseits, dieses Faktum selbst mit all diesem


unendlichen wissenschaftlichen Reichtum soll verstehend erklärt werden;
die Natur, das zunächst als ungeistig Gegebene und Gedachte, soll doch
geistig sein, irgendein Gebilde des Geistes sein und als das aus Motiven
verstehbar werden. Diese Frage hat eine Allgemeinheit, die offenbar noch
nicht für eine eigentlich teleologische Weltauffassung und noch spezieller für
eine wie gewöhnlich optimistische Teleologie präjudiziert. Ob die Welt eine
bestmögliche ist, ob sie Vollkommenheitsidealen entspricht oder nicht, ob
sie als eine gottgewollte durch Bewusstseinsbeziehung zu solchen Idealen
verstehbar werden soll oder nicht, darüber ist in dieser Allgemeinheit nichts
gefragt. Aber klar ist, dass das allgemeinste Problem vorangehen muss.
Machen wir nun einen Schritt in die Besinnung.
2) In der natürlich-objektiven Weltbetrachtung, sofern, wie auch für
uns, noch die Möglichkeit einer anderen, sogenannten „transzendentalen“
Weltinterpretation nicht sichtlich geworden ist, hat eine verstehende Welter-
klärung selbstverständlich die Form einer teleologischen, einer aus Absich-
ten, Zwecken erklärenden. Das gilt zum mindesten dann, wenn der primitive
Animismus und Hylozoismus verlassen und somit der Begriff einer geistlo-
sen, entgeisteten Materie gebildet ist. Materielle Dinge in ihrem Dasein und
Sosein nehmen gelegentlich eine geistig-verständliche Gestalt an, nämlich
durch menschliche Zwecktätigkeit, und das ist die einzige Weise, wie sie
Verständlichkeit darbieten. Eine kosmische Teleologie will nun die Welt in
dieser Weise als zweckvoll verständlich machen, und darin liegt, sie bezieht
nicht nur vereinzelte Dinge und Vorgänge, vielmehr das ganze Weltall als
gesamtes und nach jedem darin beschlossenen Einzelnen auf zwecktätig
handelnde und schaffende Subjektivität. Kann diese als menschliche und
tierische Subjektivität gedacht werden? Und überhaupt als eine innerweltli-
che? Die Erfahrung zeigt, dass wir nur in sehr geringem Umkreis zwecktätig
gestaltend wirken können und dabei nur wirken auf eine uns schon vorgege-
bene Welt, die schon vor unserem Gestalten da ist und, so wie sie war, nicht
von uns, von irgendeinem Menschen überhaupt eine zweckmäßige Gestalt
empfangen hatte. Aber vielleicht gibt es, möchte man sagen, ein anderes zu
solcher Leistung befähigtes Subjekt.
Da ist aber die erste Frage, inwieweit das denkbar ist. Mit ihr kommen wir
auf arge Schwierigkeiten, auch wenn wir dabei bleiben, alle Vollkommen-

1 Gestrichen Dieses Faktum selbst und vor allem die Allheit der Naturgesetze zu entde-

cken, wissenschaftlich zu bestimmen, ist die naturwissenschaftliche Aufgabe der allgemeinen


Naturwissenschaften.
206 einleitung in die philosophie

heitsfragen hinsichtlich dieses Subjekts und der zu gestaltenden Welt außer


Spiel zu lassen. (Erheben wir uns über das Faktum der Erfahrung, versuchen
wir – wie es vollkommene Einsicht erfordert – die prinzipiellen Möglichkei-
ten zu erwägen, die hier zu konstruieren sind, sehen wir zu, ob wir nicht
lauter widerspruchsvolle Ansätze statt einsehbarer, gültiger Möglichkeiten
erhalten.)
Wir Menschensubjekte sind Subjekte, die eine erfahrene, aber selbst au-
ßerbewusste physische Natur als ihre Umgebung haben; zu dieser gehört der
menschliche Leib. Jedes bildende Gestalten, das physische Dinge zu Werken
macht, ist vermittelt durch unseren Leib. Denken wir uns alles Empirische
hier frei variiert, ist es dann denkbar, dass ein Subjekt auf physische Dinge
anders wirke als durch einen Leib in der Welt, über den es in subjektiver Art
unmittelbar verfügt? Dem Leib mögen wir dabei verschiedenste Gestalten
geben, aber müssen wir dabei nicht einen Leib mit einer Wesensart, die
Leiblichkeit als solche charakterisiert wie z. B. freie Beweglichkeit, festhal-
ten?
Nun könnten wir, um eine Universalität der Gestaltung der betreffen-
den physischen Umwelt durch dieses Subjekt zu ermöglichen, die gesamte
physische Natur als ihren Leib ansehen wollen. Aber damit wäre nichts
getan. Die noch so weitgehend gedachte Macht über einen Leib besagt nicht
Schaffen des Leibes selbst, sondern höchstens ein Umgestalten desselben.
Einem Subjekt ist sein Leib als Faktum vorgegeben; und das scheint doch
a priori und notwendig zu gelten, solange wir das Subjekt leiblich behaftet
denken müssen. Dasselbe würde gelten für die Gestaltung all der Subjekte,
die zum Bestand der Welt, die teleologisch verständlich gemacht werden
soll, als Glieder gehören. Ein innerweltliches Subjekt kann andere Subjekte
nur mittels seines Leibes in seine Wirkungssphäre bekommen. Es ist also
prinzipiell unverständlich, wie eine Teleologie, die das äußere Machen, das
Werkgestalten, zum Leitgedanken wählt, ewig hoffen kann, das Faktum eines
Weltalls, einer physischen Natur, der durch Leiber Subjekte eingeordnet sind,
teleologisch verständlich zu machen.
Es nützt nicht viel, derart wie Kant es tut, begrifflich zu scheiden zwischen
einem intellectus ectypus und dem intellectus archetypus. Der ectypische Intel-
lekt ist der menschenartige. Ihm sind Dinge vorgegeben, die ihn zunächst in
der Weise der Erfahrung affizieren. Von den vorgegebenen Dingen affiziert,
gestaltet er seine nachbildenden Vorstellungen und Gedanken, durch welche
er dann weiter in seinem Werten und praktischen Gestalten bestimmt wird.
Demgegenüber steht der intellectus archetypus, dem, ungleich dem menschli-
chen, kein Ding und keine Dingwelt vorgegeben ist, nicht für sein Vorstellen
teleologie 207

und Denken und so auch nicht für sein Handeln, der vielmehr denkend sich
die Dinge selbst gibt; sein urbildliches Denken ist zugleich ein sie Schaffen.
Wir können solche Unterschiede in Worten definieren, aber die Frage ist,
ob sie sinnvolle Möglichkeiten sind. Und natürlich betrifft das den durch
keine Erfahrungsanschauung exemplifizierten intellectus archetypus. Jeder
Mathematiker weiß, wie viel und wie exakt man begrifflich definieren kann,
wie viel aber von dem exakt Definierten als evident widersinnig herauszu-
stellen ist. Daher die Forderung, an die der Mathematiker sich streng bindet,
jeder Definition einen „Existenz“-Beweis beizufügen. Das gilt aber nicht
nur für die Mathematik.
Lässt sich die Möglichkeit eines Denkens, das zugleich Schaffen ist, und
zwar Schaffen ohne ein dem Denkenden schon vorgegebenes Reales, als
eine gültige nachweisen? Es1 ist klar, dass streng wissenschaftliche Fragestel-
lungen und Antworten hier nur zu gewinnen sind, wenn wir auf die syste-
matische Wissenschaft zurückgehen, auf die die hier auftretenden Begriffe
uns verweisen. Man operiert mit Subjektbegriffen und Weltbegriffen, man
wandelt die der Erfahrung abgenommenen Begriffe ab, und das soll im Rah-
men rechtmäßiger Möglichkeiten verbleiben. Der Begriff der Subjektivität
ist ursprünglich von uns selbst abgenommen; jeder andere Subjektbegriff,
also auch der eines „archetypischen“ Intellekts oder sonst eines für eine
Weltteleologie zu konstruierenden Subjekts, kann nur gewonnen werden
durch eine a priori als Möglichkeit einzusehende Abwandlung des ursprüng-
lichen Begriffs. Dasselbe gilt vom Weltbegriff. Handelt es sich uns auch um
Erklärung der gegebenen Welt, so soll doch das schöpferische Subjekt schon
vor der gegebenen Welt sein; und das führt auf die Frage, inwiefern die
empirische Beziehung, die wir bei dem Typus „Mensch“ auf seine Umwelt
finden, Notwendigkeit enthält, inwiefern wir die Umwelt abgewandelt und
eventuell weggestrichen denken können, ohne dass das Subjekt selbst davon
wesentlich betroffen und schließlich weggestrichen wäre. Also wir müssen
aus der Empirie in eine exakte apriorische Betrachtung übergehen.
Selbstverständlich genügt nun aber nicht, dass wir uns mit dem vagen
Begriff menschlicher Subjektivität begnügen bzw. von ihrer Erhebung in
die Wesensallgemeinheit reden. Es bedarf also eines systematischen wissen-
schaftlichen Studiums, das die Subjektivität nach allen apriorischen Erfor-
dernissen des Ich, des mannigfaltigen Ich-Erlebens, der Empfindungsdaten
des Bewusstseinslebens, der sinnlichen Gefühle, der Akte, andererseits aber
auch der möglichen gegenständlichen Gegebenheiten durchforscht. Dabei

1 Randbemerkung Von hier an ganz unzureichend, ja verfehlt.


208 einleitung in die philosophie

muss auf der Seite der einem Ich vorstelligen Gegenständlichkeiten selbst-
verständlich Freiheit der ideellen Abwandlung walten, also im Ausgang von
dem Menschen und seiner räumlich-zeitlichen Welt muss diese frei gewan-
delt gedacht werden bis zur Grenze der Annullierung, wobei also auch das
Ich im Grenzfall versuchsweise als leibloses vorstellig wäre. Ganz ähnlich
wie ein Geometer seine Raumgestalten sich frei wandeln lässt und exakte
Begriffe und Grundsätze gewinnt, welche die Normen idealer geometrischer
Möglichkeiten werden, so müsste hier verfahren werden.
Es handelt sich also keineswegs um eine naturwissenschaftliche Seelen-
lehre, die sich ja an das Faktum der Welt bindet, sondern um eine apriorische
Wissenschaft von der Subjektivität überhaupt und ihrem Bewusstsein über-
haupt und möglichen Bewusstseinsgegenständlichkeiten überhaupt. Ganz
fremd ist uns diese Wissenschaft nicht, obschon sie bisher immer im dunklen
Hintergrund verblieb: Wir stoßen ja bei allen logischen, axiologischen und
ethischen Wissenschaftslehren auf noetische Disziplinen, die von der Sub-
jektivität als vorstellender und denkender, wertender und wollender und wir-
kender handeln, aber in einer Allgemeinheit, die als formale nichts vom Be-
stand der faktischen Welt und der faktischen Menschlichkeit in sich schließt.
Ohne diese Wissenschaft, sahen wir schon, schwebt der Begriffsgehalt und
somit der ganze theoretische Wert einer Weltteleologie und noch allgemeiner
einer verstehenden Welterklärung überhaupt in der Luft.1 Nur von dieser
Wissenschaft her kann letztlich der Sinn einer verstehenden Welterklärung
rechtmäßig gestaltet und ihr methodischer Typus herausgestellt werden, also
auch die bestimmte Methode, sie für unsere Welt objektiv wissenschaftlich
zu begründen. Das zentrale Problem wird hier das der apriorischen Notwen-
digkeiten, welche die Korrelation zwischen Subjektivität und Objektivität
beherrschen. Kann überhaupt eine daseiende Welt außer aller Beziehung
zu einer Subjektivität gedacht werden, kann sie sein, ohne von der Sub-
jektivität her ihren Sinn empfangen zu haben? Weist jede mögliche Welt
notwendig zurück auf eine Subjektivität, deren Sinngebung sie allererst als
eine Art Subjektleistung konstituiert hat, so wäre damit schon der Weg einer
verstehenden Welterklärung vorgezeichnet. Aber wir sind noch nicht vor-
bereitet, den kühnen und für einen ersten Augenblick abstrusen Gedanken
des Phänomenalismus zu verstehen, der alle weltlichen Wirklichkeiten in
Subjektgebilde umdeutet.

1 Gestrichen Ohne sie kann man nicht wissen, ob die Begriffe nicht mit Widersinn behaftet

sind. Das gilt in der Tat nicht nur für die bisher erwogenen problematischen Gedanken, sondern
für alle anderen noch zu erwägenden.
teleologie 209

Ehe diese Wendung zur „transzendentalen“ Weltauffassung sich voll-


zieht, mühte sich die Metaphysik in immer neuen, oft großartigen Versu-
chen, auf dem Grund der natürlich-naiven Auffassung des An-sich-Seins der
Welt eine verstehende Welterklärung durchzuführen, und zwar sie aus einer
zwecksetzenden göttlichen Intelligenz erklärlich zu machen. Die großartigste
Gestaltung einer solchen Teleologie, höchst wertvoll in einzelnen Grundge-
danken und Theorien, ist die aristotelische Metaphysik. Bedeutungsvoll auch
im Altertum das mystische System des Neuplatonismus. Und dazu bietet das
Mittelalter seine stolze Reihe metaphysischer Systeme, die freilich gebunden
sind, sofern sie Systeme christlicher Theologie sind. Ihnen können wir nicht
nachgehen. Dagegen wird es unsere Aufgabe sein, die mit dem Auftreten der
Naturwissenschaft geschaffene neue Erkenntnislage des Menschen zur Welt
zu betrachten, das Aufkommen einer naturalistischen, anti-metaphysischen
Weltanschauung, welche die metaphysische zurückdrängt und doch den un-
ablässigen metaphysischen Bedürfnissen nicht genügen kann. Im Ringen
dieser feindlichen Weltanschauungen, zugleich im Ringen nach einer wis-
senschaftlich exakten Weltwissenschaft, die bis hinauf in die höchsten und
letzten Fragen das Licht mathematischer Einsicht verbreiten könnte, ist die
transzendentale Philosophie erwachsen, deren Werden eine neue Epoche
der Welterkenntnis bedeutet.
Wir1 haben in diesem Semester stufenweise immer neue Wissenschaf-
ten aufkeimen sehen, die dem ursprünglichen Begriff der Philosophie als
einer universalen und absoluten Erkenntnis einen immer reicheren Inhalt
geben. Als letzten Wissenschaftstypus – einen freilich sehr bestrittenen,
ausgezeichnet durch eine rätselvolle Problematik – hatten wir gewonnen
den Typus einer teleologischen Weltwissenschaft. Und zwar hatten wir ihn
so genommen und umschrieben, wie er sich in der ersten Konzeption auf
dem Grund der platonischen Ideenlehre ergab.
In Anknüpfung an den ideengeschichtlichen Zusammenhang, in den wir
diese letzten Betrachtungen gestellt hatten, gilt es nun, dem ursprünglichen
Begriff der Philosophie die letztabschließende Ausfüllung zu geben. Es gilt,
uns einen Weg zur reinen Phänomenologie und den in ihr beschlossenen
vernunfttheoretischen Disziplinen zu bahnen, Disziplinen, die zur Kritik
aller Vernunft in Wissenschaft und Leben berufen sind. Es gilt, Klarheit zu
gewinnen über die erst in der Neuzeit sich durchsetzende Scheidung zwischen

1 Randbemerkung Transzendentale Philosophie. In den nächsten beiden Vorlesungen fehlt es

an einem stufigen Gedankengang. Sie müssen formell verbessert werden.


210 einleitung in die philosophie

philosophischen Disziplinen in einem prägnanten Sinne und außerphilo-


sophischen Wissenschaften. Gerade hier liegt eine Hauptaufgabe unserer
Vorlesungen. Es muss uns einleuchtend werden, warum es in der Neuzeit
notwendig geworden ist, die Begriffe von Wissenschaft und Philosophie zu
differenzieren und warum der neue Begriff der Philosophie darum doch
dem Ursprung nicht eigentlich untreu wird. Es wird nämlich gezeigt werden
müssen, dass die besondere Gruppe von wissenschaftlichen Disziplinen,
die der neue Begriff innerlich eint, die ausgezeichnete Funktion hat, die
immerfort unentbehrliche Idee einer universalen und absoluten Erkenntnis
in besonderer Weise zu vertreten und über alle anderen Wissenschaften eine
Art königliche Macht zu üben, ohne sie doch in der inneren Freiheit ihres
eigenen berechtigten Leistens zu stören.
Knüpfen wir an Aristoteles an. Er ist der Schöpfer des ersten Entwurfs ei-
ner wirklich ausgeführten teleologischen Weltwissenschaft. Als Untergrund
dient ihm dabei die allerdings verflachende Abwandlung der Ideenlehre,
die er in so eifriger Kritik gegenüber seinem Lehrer Platon vertritt. Die
im aristotelischen System an der Spitze stehende „Erste Philosophie“, von
der der Name „Metaphysik“ stammt, obschon er selbst ihn nicht gebraucht
(sein Terminus ist eben „Erste Philosophie“), ist die Prinzipienlehre für seine
teleologische Weltwissenschaft oder, was für ihn dasselbe besagt, für seine
gesamte Philosophie. Alle übrigen Wissenschaften sind, sofern sie überhaupt
echte Wissenschaften sind, auf diese Erste Philosophie zurückbezogen, denn
echte Wissenschaft ist Erklärung aus Gründen und letztlich ist alle Begrün-
dung eine teleologische. Nichts ist und wird in der Welt, keine Bewegung,
keine Veränderung tritt in ihr auf, die nicht ihren zweckvollen Sinn hätte, um
dessentwillen sie realiter da ist. Eine wissenschaftliche Erkenntnis der Welt
ist nur durch Rekurs auf diesen teleologischen Sinn zu gewinnen; nur dann
haben wir ein Weltverständnis aus dem wahren Grund.
Sie sehen: Die Idee der Wissenschaft gewinnt (in der Auswirkung platoni-
scher Impulse) bei Aristoteles einen besonderen Sinn. Das große Thema der
Philosophie oder Wissenschaft ist nach ihm das Weltall, die gesamte reale
Wirklichkeit. Logik und sonstige eidetische Wissenschaften sind nur Hilfs-
disziplinen zur Erkenntnis der Realität. Nur das Reale ist im eigentlichen
Sinne seiend. Wissenschaft aber ist, wie vorhin schon gesagt, Erkenntnis
aus dem Grund. Wissenschaft geht nicht auf das bloße 'τι, sondern auf
das διτι, nicht auf das bloße Dass, sondern auf das Warum; dieses redu-
ziert sich ihm aber allzeit auf ein Wozu. Nur so gewinnen wir ein wirklich
erklärendes Verständnis. Darin liegt, dass nach Aristoteles die bloß erzäh-
lende Geschichte, auch die klassifikatorisch beschreibende Naturgeschichte
teleologie 211

keine echten Wissenschaften sind. Sie vollziehen nur eine Vorarbeit für die
wahrhaft wissenschaftliche Leistung, die in teleologischer Erklärung liegt.
Zweifellos würde Aristoteles auch die moderne exakte Naturwissenschaft,
wenn sie in seinem Gesichtsfeld gelegen hätte, nicht als echte Wissenschaft
anerkannt haben. Jedes Naturgeschehen, die geringfügigste Veränderung,
die irgendwo und irgendwann auftritt, ist nach ihrer Lehre in strenger Kau-
salität bestimmt. Das heißt, sie ist abhängig von ihren Umständen, und unter
diesen Umständen nach strengen Gesetzen eindeutig bestimmt. Diese Ver-
änderungsgesetze nennen die Naturforscher „Kausalgesetze“, und „kausale
Erklärung“ nennen sie den Nachweis, dass ein hic et nunc statthabendes
Ereignis eintreten musste, weil die und die Kausalgesetze gelten, die unter
gleichartigen Umständen eine so geartete Folge allgemein aussagen.
Aber Aristoteles würde diese Leistung naturwissenschaftlicher Kausaler-
klärung nie und nimmer als eine philosophische, als eine im wahren Sinne
wissenschaftliche anerkannt haben. Er hätte gesagt: Die Erkenntnis, die wir
in den Naturgesetzen gewinnen, ist nichts weiter als die Erkenntnis einer
aufgrund der Erfahrung und Induktion gewonnenen Beschreibung einer
faktischen allgemeinen Regelform des Naturgeschehens.1 In der kausalen
Erklärung wird das jeweilige einzelne Geschehen der vorher erkannten allge-
meinen Regel untergeordnet. Damit wird sie uns freilich sehr nützlich, da wir
nun in der Lage sind, aufgrund der gegebenen Umstände das als gesetzliche
Folge zu Erwartende mit Sicherheit vorauszusehen. Unsere Erkenntnis wird
auch insofern bereichert, als es gewiss von großem Interesse ist, die feste
Regelordnung der Natur kennenzulernen, der sich an seiner Stelle jedes
besondere Geschehen unbedingt fügt. Aber eine Erkenntnis aus dem Grund
haben wir damit nicht. Denn wir haben nur die besondere Tatsache auf
eine allgemeine Tatsache zurückgeführt. Erst wenn wir verständlich machen
könnten, warum diese allgemeine Tatsache gilt, warum gerade diese und
keine anderen Naturgesetzen gelten, hätten wir eine echte Erklärung auch
für den besonderen Fall.
Jede bloße Tatsache ist nach dieser Auffassung unverständlich, eine allge-
meine ebenso wie eine individuelle. Sie könnte auch anders sein. Warum
sie so und nicht anders ist, das muss seinen Grund haben, und es gibt
keinen anderen verständlichen Grund als einen geistigen Grund. Und das
führt notwendig auf Zwecke und zwecksetzende Vernunft. So ist echte Wis-
senschaft teleologische Wissenschaft. Ihre Prinzipien behandelt die „Erste

1 Randbemerkung Vgl. Parallele für Platon Bl. 168 ff. = S. 200 ff..
212 einleitung in die philosophie

Philosophie“, die Metaphysik. Die nach den Prinzipien zu leistenden beson-


deren teleologischen Erklärungen in den besonderen Seinsgebieten behan-
deln die Zweiten Philosophien im aristotelischen Sinne. Späterhin hat sich
der Begriff der Metaphysik über alle diese Disziplinen erweitert und übrigens
auch sonst in naheliegender Weise umgestaltet. „Metaphysisch“ heißt bald
jede teleologische Erklärung und jede teleologisch erklärende Wissenschaft
überhaupt, dann aber auch jede auf letzte Erklärungen gerichtete Wissen-
schaft, ob nun der Sinn letzter Erklärung wirklich in teleologischer Erklärung
gesucht wird oder worin immer sonst. Dann kontrastiert sich Metaphysik mit
jederlei Wissenschaft, die aus irgendwelchen Gründen nicht als letzterklä-
rende, sondern nur als eine relativ selbständige Unterstufe anerkannt wird.
Um wieder zu Aristoteles zurückzugehen, können wir auch sagen, dass
seine Weltanschauung eine geisteswissenschaftliche ist und dass echte Phi-
losophie als letzterklärende Weltwissenschaft nach ihm den Typus einer
Geisteswissenschaft hat. So wie die anderen auf den Menschen bezoge-
nen Geisteswissenschaften (die Politik, die humane Ethik, die Kunstwissen-
schaft usw.) die menschliche Umwelt, die personale Welt und Kulturwelt aus
menschlichen Motiven und Zwecken erklären und so innerlich verständlich
machen wollen, so muss das ganze Weltall, mit allem in ihm Seienden und
Werdenden aus geistigen Gründen erklärt werden als den allein verständlich
machenden und befriedigenden. Dann aber gibt es für Aristoteles nur den
einen Weg, dass alle menschlich bezogene Teleologie und alle im organischen
Leben in allen untermenschlichen Stufen allgemein angedeutete Entwick-
lungsteleologie auch auf das unorganische Dasein übertragen und dass all
diese Sonderteleologien synthetisch verknüpft werden durch Ableitung aus
einem teleologischen Urprinzip. Die wesentliche Einheit der gesamten Welt
muss ihr Korrelat haben in der Einheit Gottes, des selbst unbewegten Be-
wegers, des alles andere nach Zweckideen Gestaltenden, aber selbst von
nichts außer ihm Gestalteten. Nicht umsonst nennt daher Aristoteles seine
Metaphysik auch εολογα.
Dieses erste System einer teleologischen Weltwissenschaft bestimmt die
Philosophie der Jahrtausende nicht nur durch ihren bestimmten Inhalt, son-
dern vor allem durch ihre Idee und mindestens als beständiges Postulat einer
teleologischen und dabei wissenschaftlichen Welterklärung. Immer neue
Versuche werden unternommen, dieser Idee in haltbaren wissenschaftlichen
Systemen Ausgestaltung zu verleihen. Höchste Gemütsinteressen sprechen
ja allzeit für eine teleologische Weltanschauung, die auch die von der Reli-
gion geforderte war. Aber sosehr sie in der Philosophie des Altertums die
weitaus vorherrschende bleibt und in der mittelalterlichen Philosophie zur
teleologie 213

ausschließlich herrschenden wird, zu einer wirklich haltbaren und streng


begründeten Wissenschaft kann sie es nicht bringen. Wir haben unzählige
Systeme teleologischer Metaphysik, viele, in denen sich ein ernster, ja ein
leidenschaftlicher Wissenschaftswille ausspricht, aber nie gelingt es ihr, sich
gesicherte Fundamente, leistungsfähige Methoden, feste Ergebnisse zuzu-
eignen. Sie bleibt bis zum heutigen Tag ein unerfülltes Postulat.
Aber sogar das Postulat wird schon im Altertum bestritten. Der positi-
vistische Empirismus bekämpft alle Metaphysik, und seitdem er sich in der
Neuzeit mit Beziehung auf die fest gegründeten positiven Wissenschaften
eines sicheren Haltes rühmt, herrscht beständig der Streit zwischen teleo-
logischer und naturalistischer oder, wie wir auch sagen können, geisteswis-
senschaftlicher und naturwissenschaftlicher Weltinterpretation. Es handelt
sich hierbei nicht etwa um den Gegensatz materialistischer und immateria-
listischer Metaphysik, der sich historisch zuerst ausprägt im Gegensatz der
Philosophien eines Demokrit und Platon. Denn so sehr der Naturalismus in
der Konsequenz des Materialismus vorgezeichnet sein mag, wenn dem Sinn
des Begriffs „Materie“ voll Rechnung getragen wird, so eröffnete eben die
sinnwidrige Umdeutung des Psychischen in eine besondere, nur besonders
feine Materie den Weg zu weiteren Sinnwidrigkeiten und darunter in eine ins
Gebiet der Geistigkeit gehörige Teleologie. So hatte in der Tat die stoische
Schule den Materialismus angenommen, aber er bildet für sie kein Hin-
dernis, eine durchaus teleologische Weltinterpretation durchzuführen und
sich dabei von Platon und insbesondere Aristoteles reichlich belehren zu
lassen.
Eine rein naturalistische Philosophie, der Versuch einer anti-teleologi-
schen Weltwissenschaft, entwickelte sich erst und konnte sich erst entwi-
ckeln, nachdem der positivistische Materialismus auf den Plan getreten und
ganz allgemein das Recht jedweder über die Gegebenheiten möglicher Er-
fahrung hinausgehenden Wissenschaft entwertet hatte. Seine vermeintlich
zwingende Überzeugungskraft aber schöpfte dieser Positivismus aus den
sogenannten positiven Wissenschaften. Es mussten also erst diese und allen
voran die exakten Naturwissenschaften mit ihren neuen Erkenntniszielen
da sein und durch die ungeheure Fülle von strengen Erkenntnissen und
gar von technischen Erfolgen die wissenschaftlichen Geister blenden. Das
Auftreten des neuen Wissenschaftstypus, neu gegenüber den Wissenschaften
oder Philosophien des Altertums und Mittelalters, bereichert nicht nur die
menschliche Erkenntnis durch besondere Wissenschaften, sondern bedeutet
eine Epoche für die wissenschaftliche Weltauffassung überhaupt, eine Epo-
che für das gesamte Ringen der Menschheit um eine Philosophie im Sinne
214 einleitung in die philosophie

einer universalen Welterkenntnis. In eben diesem Ringen erwachsen neue


Gegensätze, und alle alten erhalten eine neue Bedeutung. Es erwachsen neue
Probleme, neue durch den Wissenschaftstypus der exakten Naturwissen-
schaft mitgeforderte Wissenschaften einer ihr gegenüber neuen Dimension.
Es erwachsen, wie schon angedeutet, die philosophischen Wissenschaften in
dem modernen Sinne.
Ehe wir weitergehen, werden wir gut daran tun, einige Begriffe zu
erörtern, die in den weiteren historischen und sachlichen Darstellungen eine
große Rolle spielen werden, Begriffe die freilich in steter Verschiebung
ihren Inhalt abwandeln, aber zunächst in dem Sinnesgehalt geklärt sein
müssen, mit dem die ältere Philosophie sie der neueren überliefert. Es han-
delt sich uns hauptsächlich um die Begriffe „Empirismus“, „Positivismus“,
„Rationalismus“, „Agnostizismus“, also Begriffe von weltanschaulichen
Richtungen.
Voranstellen1 möchte ich aber einige Worte über den Begriff der Philo-
sophie selbst, an den wir anzuknüpfen haben. Absichtlich haben wir bisher
keine andere Definition gegeben als diejenige, die dem Sinn der primitiv
anfangenden griechischen Philosophie entspricht. Wie Sie sich erinnern,
bedeutet „Philosophie“ im ersten und ganz ursprünglichen Sinne so viel
wie Wissenschaft, Erkenntnis aus rein theoretischem Interesse. Hierbei war
aber nicht zu denken an ein sachlich irgend begrenztes Interesse und so-
mit an so etwas wie eine Spezialwissenschaft. Die Entwicklung von nach
Gebieten abgegrenzten Sonderwissenschaften ist ja eine sehr späte Folge
der Entwicklung. Vielmehr war das theoretische Interesse von vornherein
zunächst ein ganz universales, gerichtet auf die Allheit des Seienden, auf das
ganze Universum, ohne jede Gebietsscheidung. Wie reiche Sonderbestände
der Erkenntnis später zuwuchsen, wie sehr sie nach Sondergebieten sich zu
Sonderwissenschaften gliederten, „Philosophie“ blieb immerfort ein Titel
für das auf das gesamte Universum gerichtete Erkenntnisstreben, wie in
der Tat durch alle Besonderheit hindurch immer ein Streben nach Tota-
lität ging, das sich an einer Spezialwissenschaft nicht endgültig genugtun
konnte.
Jeden Entwurf einer universalen Welterkenntnis in der logischen Gestalt
der Wissenschaft nennen wir ein philosophisches System. Ein System: In der
Tat ist es von vornherein klar, dass die auf die Gesamteinheit der Welt gerich-
teten Erkenntnisse nicht wie in einem Haufen nebeneinanderliegen können,

1 Randbemerkung Zu ausführlich.
rationalismus und empirismus 215

sondern dass eine Weltwissenschaft die Prätention mit sich führen muss, alle
Einzelerkenntnisse unter prinzipiellen Gesichtspunkten zu vereinheitlichen
und einheitlich zu begründen. Mit all dem ist schon vorgedeutet, dass nach
Sonderung von Einzelwissenschaften und Benennung derselben mit Sonder-
namen die Rede von Philosophie immerfort die Funktion behalten muss, auf
das Letztvereinheitlichende hinzudeuten, auf das, was allen Sondererkennt-
nissen in der ersehnten Einheit einer universalen Welterkenntnis Bedeutung
und Funktion gibt, also auf das Letztvereinheitlichende nach Methode und
Sache. Vorgedeutet, aber noch in ganz allgemeiner und vager Weise, ist so
schon auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit späterer Differenzierung der
Begriffe „Wissenschaft“ und „Philosophie“: „Wissenschaft“ als ein Titel,
der auch schon jeder abzusondernden theoretischen Disziplin zugesprochen
werden kann. Philosophie aber als ein Titel, der all das auszeichnet, ….1

Rationalismus und Empirismus

Nachdem wir uns den ursprünglichen und die Entwicklung der Phi-
losophie des ganzen Altertums beherrschenden, aber auch in die Neuzeit
hineinwirkenden Begriff der Philosophie wieder näher gebracht haben, ge-
hen wir an die Kennzeichnung des ursprünglichen Gegensatzes zwischen

1 Das anschließende Textstück wurde von Husserl gestrichen: was in der Linie des Interesses

an Einheitlichkeit und Vollkommenheit der Welterkenntnis liegt. Gehen wir nun an den ur-
sprünglichen Gegensatz von Empirismus und Rationalismus. Die Entwicklung philosophischer
Systeme wird beständig begleitet von der parallelen Entwicklung von Skeptizismen, die aus
den Gegensätzen der Systeme ihre Nahrung ziehen und sie als Geister der Verneinung beglei-
ten. Diese Kritik ist ein höchst wichtiges Ferment für alle wissenschaftlichen Entwicklungen.
Was wir „Empirismus“, „Positivismus“ und „Agnostizismus“ nennen, das sind nun besondere
Gestaltungen des Skeptizismus. Überlegen wir den ersten und ursprünglichsten Gegensatz von
Empirismus und Rationalismus. Mit der ersten Ausbildung der Philosophie ist alsbald ein gewis-
ser Gegensatz aufgerichtet zwischen rationaler und empirischer Erkenntnis. Der Alltagsmensch,
der von Wissenschaft nichts weiß, folgt der bloßen Erfahrung und der ihr blind entsprungenen
vagen Meinung. Die Vernunft in Form der Wissenschaft schafft mit Anspruch auf eine höhere
Würde Gedanken, die diesen natürlich gewachsenen Erfahrungsmeinungen widersprechen, sie
als Sinnträger, als klares Glauben entwerten. Die Welt, so sagt die griechische Philosophie
von Anfang an, die in rationaler Wahrheit ist, ist eine ganz andere als die Sinnenwelt. Dieser
allgemeine Gegensatz zwischen Vernunft und Erfahrung nimmt vermöge der methodischen
Reflexionen, welche die Entwicklung der Wissenschaft begleiten, immer neuen Gehalt an, so
im Platonismus die Form des Gegensatzes zwischen eidetischer Erkenntnis und sinnlicher Er-
kenntnis. Aber es bleibt dabei, dass die rationale Erkenntnis Gegenstände, die keine Erfahrung
kennenlernt, als vernünftig geforderte behauptet. In diesem Sinne war zunächst alle Philosophie
rationalistisch. Selbst der Materialismus.
216 einleitung in die philosophie

Rationalismus und Empirismus. Er ist bestimmt durch die relative Wertung


rationaler und empirischer Erkenntnis. Was bedeutet ursprünglich dieser
Gegensatz?
Er entspringt in eins mit der ersten Ausbildung der Philosophie. So pri-
mitiv sie in ihren Anfängen ist, sie ist doch eine, wenn auch ganz unvoll-
kommene, Realisierung der Idee „Wissenschaft“. Wissenschaft mit ihren
Denkbetätigungen gibt, wenn diese in methodisch richtiger Weise vollzo-
gen werden, Einsicht, und damit wird eine für jedermann verpflichtende
Wahrheit erfasst; das ist ihr Vorzug gegenüber der bloßen Erfahrung und
gegenüber dem mit der Erfahrung verflochtenen blinden Meinen des All-
tags. „Vernunft“, näher „theoretische Vernunft“, ist der (schon vor jeder
näheren Erforschung der bezüglichen Geistestätigkeiten auftretende) Titel
für das Vermögen zu solcher objektive Wahrheit setzenden Einsicht, und
„Sinnlichkeit“ der Titel für das Gegenvermögen. Rationalistisch in diesem
Sinne ist also Wissenschaft als solche; in dem angegebenen Sinne beurteilt sie
selbst schon in ihren primitiven Anfängen den Sinn ihrer Leistung. Antiratio-
nalistisch ist dann nur der extreme Skeptizismus. Sagt er „Alle Erkenntnis
ist bloße Erfahrungserkenntnis“ und ist er in diesem Sinne Empirismus,
so leugnet er Wissenschaft überhaupt, objektive Wahrheitserkenntnis über-
haupt, womit er sich selbst aufhebt.1
Indessen, wo von Rationalismus und Empirismus im Gegensatz gespro-
chen wird, ist nicht dieser Gegensatz gemeint, vielmehr der einer verschie-
denen Erkenntnisbewertung im Rahmen der Wissenschaft. Hier ist nun zu
bedenken, dass all die mit der Prätention der Wissenschaft auftretenden
Philosophien in verschiedensten Formen die durch die Erfahrung oder, wie
es auch heißt, durch die Sinne gegebene Wirklichkeit entweder schlechthin
oder nach ihren sinnlich gegebenen Eigenschaften leugnen und ihr eine ganz
andere, eine transzendente Wirklichkeit unterlegen. In wahrer Wirklichkeit
gibt es etwa nur ideale Wesenheiten oder gibt es nur qualitätslose Atome
in wirbelnden Bewegungen u. dgl. All das kann man nicht sehen, nicht
sinnlich erfahren. Danach nimmt der Begriff der Ratio einen Beigeschmack
an; sie wird zum Vermögen, durch logische Mittel eine übersinnliche Welt,
die womöglich die allein wahre Welt sein soll, zu erkennen.
„Rationalismus“ könnte man dann jede Philosophie nennen, die der Ver-
nunft solche Kraft transzendenter Erkenntnis zumutet. (Das Wort „Meta-
physik“ wird leicht in diesem Sinn umgedeutet: eine Wissenschaft, die hinter

1 Randbemerkung Erfahrung ist etwas subjektiv Wechselndes.


rationalismus und empirismus 217

dem Physischen der bloß sinnlichen Erscheinung oder Erfahrung ein Über-
sinnliches lehrt.) Und gegen diesen Rationalismus wendet sich dann der
Empirismus, wenn wir eben das letztere moderne Wort in diesem Kontrast
einführen sollen. Historisch aber wäre zu sagen, dass der Skeptizismus im
Altertum sich nach Überwindung des extremen Skeptizismus der Sophistik in
gemäßigten Formen durch das ganze Altertum hindurchzieht, verschiedene
Entwicklungsgestalten annimmt und schließlich bei den sogenannten medizi-
nischen Empirikern im 4. Jahrhundert speziell die uns jetzt interessierende
Gestalt jenes Empirismus annimmt, der in der Tat als die antike Vorform des
neuzeitlichen Empirismus oder Positivismus gelten muss.
Nämlich diese Mediziner sind im antiken Sinne Skeptiker, sofern sie sich
gegen das, was damals „Philosophie“ hieß, wendeten. Philosophie und Wis-
senschaft waren aber ungeschieden eins, und so erschienen sie als Bestreiter
der Wissenschaft. Was sie verwarfen, war die Möglichkeit jeder Erkenntnis,
die mit der Prätention der Wissenschaft, erfahrungstranszendente Reali-
täten zu erkennen, vorgab. Wofür sie aber eintraten und was sie als ein
Neues forderten, ist gerade das, was wir „moderne Erfahrungswissenschaft“
nennen würden, nämlich eine Erkenntnis in rein methodischer Bearbeitung
der Erfahrung, die in ihrem Sinn nie über den Bereich möglicher Erfah-
rungsgegenstände hinausführen kann. Das Nichterfahrene, auf das ein Erfah-
rungsschluss führt, ist jedenfalls doch Erfahrbares, nie ein Transzendentes,
wie aristotelische Formen oder Leukipp’sche Atome.1 Die medizinischen
Empiriker fordern also gegenüber der bisherigen, durchaus transzendent
gerichteten Wissenschaft eine rein immanente Erfahrungswissenschaft.
Dieser antike Empirismus ist noch in einem besonderen Sinne anti-
rationalistisch. Der Platonismus hatte gelehrt, dass die reine Vernunft, d. i.
die von aller Beimengung mit Sinnlichkeit sich völlig befreiende, die Ideen
als ihr eigentümliche Wesenheiten erschaue. Selbstverständlich leugnet der
Empirismus die Ideen, sofern sie eben allgemein als transzendente Realitäten
interpretiert wurden. In dieser Art steht also der Empirismus auch gegen den
Apriorismus in Gegensatz. Wir werden hören, dass der neuzeitliche Empiris-
mus in der Regel, aber nicht immer in diesem Sinne anti-rationalistisch war.
Genauer gesprochen: Die Leugnung einer wissenschaftlichen Erkenntnis
transzendenter Realitäten, die das Wesentliche des Empirismus ist, betrifft

1 Gestrichen Dieser Empirismus heißt auch in der Gegenwart Positivismus, weil diejenige

Wissenschaft, die er anzuerkennen beflissen ist, ausschließlich positive Wissenschaft ist (ein
Wort, das seinerseits dasselbe besagt wie pure, reine immanente Erfahrungswissenschaft).
218 einleitung in die philosophie

die Ideen und apriorische ideale Erkenntnis nicht mehr, wenn diese Erkennt-
nis eben nicht mehr als transzendente Erkenntnis, die Ideen also nicht mehr
als überempirische Realitäten interpretiert wurden. Aber freilich witterte
der Empirismus in der Regel hinter jeder apriorischen Erkenntnis eine
solche Hypostasierung der Ideen zu Realitäten und so kommt es bis zum
heutigen Tag, dass die Positivisten sich viel darauf zugute tun, jedes Apriori
zu bestreiten.
Ich erwähne schließlich noch, dass „Positivismus“ wesentlich dasselbe
besagt wie „Empirismus“. Das Wort weist hin auf die positive Wissenschaft
als diejenige, die allein anzuerkennen sei. Der Ausdruck „positive Wissen-
schaft“ besagt aber wieder nichts anders als den Kontrast gegen Metaphysik,
gegen erfahrungstranszendente Wissenschaft; also so viel wie Wissenschaft,
die sich rein auf dem Boden möglicher Erfahrung bewegt.
Machen wir nun von diesen historisch-sachlichen Begriffserörterungen
den Übergang zur ideengeschichtlichen Behandlung der Entwicklung der
neueren Naturwissenschaften und ihrer Wirkung auf den Ursprung der
neuen Philosophie.
Der antike Empirismus, der medizinische Empirismus, wurde von uns als
eine bloße Vorform des modernen Empirismus genannt. In der Tat ist die
positive Naturwissenschaft, die er allein kennt und gelten lässt, keineswegs
schon von der Art moderner Erfahrungswissenschaft, die als Physik doch
Atome, Ionen, Äther u. dgl. außerhalb der Erfahrung liegende Transzen-
denzen benützt. Und trotzdem wollen beide anti-metaphysisch sein. Und in
Zusammenhang damit ist auch zu sagen, dass die antike Naturwissenschaft
von einer exakten mathematisch zu formulierenden Naturkausalität, von
einer unter mathematischen Naturgesetzen stehenden und in gewissem guten
Sinne übersinnlichen Natur nichts wusste, zumindest wenn wir von geringen
Ansätzen absehen. Eben diese neue exakte Naturwissenschaft interessiert
uns aber. Nur sie war befähigt, eine Epoche in der philosophischen Erkennt-
nis zu bewirken, ihren gesamten Entwicklungsgang völlig neu zu bestimmen.
Nur in einem Sinne hat die empiristische Geisteshaltung in den medizi-
nischen Kreisen eine wesentliche Vorarbeit für die echte Naturwissenschaft
geleistet. Nach unseren früher gewonnenen Einsichten ist für die Natur-
wissenschaft überhaupt eine eigentümliche Einstellung vorausgesetzt, in der
von allen Prädikaten geistiger Bedeutung abgesehen wird. Dem kam die anti-
metaphysische Haltung der Empiristen, ihre Ablehnung aller teleologischen
Interpretationen, entgegen. Ihre Einstellung war schon eine rein sachhafte,
rein naturale. Das spätere Altertum bringt hier aber keine Fortentwicklun-
gen; das religiöse und theologische Interesse überwuchert und erstickt alles
rationalismus und empirismus 219

rein wissenschaftliche Forschen. Das ganze Mittelalter erst recht betreibt, im


Ganzen betrachtet, nur Theologie und theologisierende Philosophie, deren
rein supranaturalistische Geisteshaltung kein natürlich gerichtetes Interesse
aufkommen oder stark werden lässt.1
Erst die Renaissance, die große Geistesrevolution gegen die mittelalterli-
che Wissenschaft und gegen den ganzen Supranaturalismus der mittelalter-
lichen Weltanschauung, schafft die Vorbedingungen für eine Wissenschaft
von der bloßen Natur. Die Begeisterung für die antike Philosophie und
Wissenschaft kam auch der Erneuerung der antiken Geometrie und Astro-
nomie und Mechanik zugute, und das wird von großer Bedeutung. Damit
verflicht sich auch die neue Wirksamkeit Platons, der gegenüber dem in der
Scholastik so hoch gepriesenen Aristoteles auf den Schild erhoben wird.
Der Geist der platonischen Ideenlehre wird in einigen Kreisen lebendig und
schafft Empfänglichkeit für jene Betrachtung des Empirischen unter reinen
Ideen, die, wie wir erkannt haben, das eigentliche Wesen der „Exaktheit“
ausmacht. Ferner: Die Ablehnung der scholastischen Wissenschaft, die in ih-
rem sie repräsentierenden Hauptstrom transzendente Metaphysik gewesen
war, forderte eine neue Weckung des mittelalterlichen sogenannten Nomi-
nalismus, eine skeptische Unterströmung, die im spätmittelalterlichen Milieu
in Wilhelm von Ockham zu einem scharf ausgeprägten Empirismus geführt
hatte.2 Auch dieser kommt der Entwicklungsrichtung auf eine positive Na-
turwissenschaft zugute.
Das alles wirkt also in der gärenden Übergangszeit der Renaissance zu-
sammen. Und zuerst in kleinen Kreisen und dann zu einem großen Strom
sich erweiternd, erwächst eine Naturwissenschaft eines ganz neuartigen Stils,
mit wesentlich neuartigen Zielen und Methoden. Zuerst, wie gesagt, in klei-
nen Kreisen, denn das Wiederaufleben aller antiken Philosophien in den
verschiedensten Entwicklungsstufen erzeugt zuerst phantastische und ganz
unwissenschaftliche Zusammenbildungen, die sich freilich als der Scholastik
gegenüber sehr überlegene neue Wissenschaft aufspielen. Da die erregte
Phantasie der Renaissance rechte Nahrung findet an den Schöpfungen der
neupythagoräischen, neuplatonischen Mystik des späten Altertums, so neh-
men in der Leitung des 15. und 16. Jahrhunderts einen breiten Raum ein
Pseudonaturwissenschaften der Art wie Alchemie, Astrologie, Magie mit all

1 Randbemerkung Von den nicht zu Auswirkung kommenden Anfangsstücken rein naturwis-

senschaftlicher Betrachtung im Mittelalter ist hier abgesehen.


2 Randbemerkung Aber doch im Rahmen einer Theologie!
220 einleitung in die philosophie

ihrem Geisterspuk.1 Aber in kleinen Kreisen kristallisiert sich allmählich, ver-


möge der Wirksamkeit der vorhin bezeichneten Motive, eine rein natürliche
Forschungsweise ab, die alle teleologischen Fragestellungen zurückschiebt.
Immer drängt sich dabei die Idee der allwaltenden Naturkausalität durch.
Der altpythagoräische und platonische Gedanke der mathematischen We-
sensbestimmung der Natur verbindet sich damit und befreit sich von aller an-
tiken und neuen Mystik. Man beginnt zu ahnen, dass die kausale Abhängig-
keit der Naturvorgänge unter mathematisch formulierbaren Gesetzen stehen
muss und dass es möglich sein muss, durch experimentelles Eingreifen in das
Naturgeschehen, durch Beobachtung der als Folgewirkungen eintretenden
neuen Ereignisse und durch Methoden der sorgsamen Messung der sich
als bedingend und bedingt erweisenden Faktoren, die betreffenden Gesetze
wirklich zu bestimmen und ihre mathematische Gestalt zu erkennen.
Mit einem Mal tritt die Geometrie aus ihrer Isolierung hervor. Der Raum
ist die Form der Natur, eine mathematische Form, auf die alle Naturvorgänge
zurückbezogen sind. Die geometrische Gesetzlichkeit ist eine Naturgesetz-
lichkeit, nur eine a priori fest vorgezeichnete. Sie erschöpft aber nicht die
Mathematik der Natur, die nicht eine starre geometrische Wesensordnung,
sondern ein kausaler Werdenszusammenhang ist, in dem jedes Werden in
Abhängigkeitsbeziehungen von anderem Werden und von den jeweils ru-
henden Umständen ist, die aber jederzeit selbst wieder in Bewegung geraten
können. In all dem herrscht Exaktheit mathematischer Funktionalität und
gegenüber der antiken, sozusagen statischen Mechanik wird nun auch eine
neue, eine dynamische, eine Mathematik der Funktionalität notwendig, die
dann auch allmählich aufkeimt: Parallel mit der neuen Naturwissenschaft
erwächst als ihr großes, sie allein vollkommen ermöglichendes Instrument
die sogenannte Infinitesimalrechnung und so überhaupt die völlig neuartige
moderne Mathematik.
All das, neue Mathematik und neue Naturwissenschaft, reift sehr allmäh-
lich aus kleinen Anfängen heran. Zuerst gewinnt die Mechanik und Astro-
nomie, dann die Optik einen Bestand fester Theorien, die den neuen Wissen-
schaftstypus völlig klar ausprägen, sich als wissenschaftliche Werte von unan-
tastbarer, jeden Vernünftigen bindender Objektivität darstellen und sich den
phantastischen, unklaren Scheinwissenschaften der Renaissance gegenüber-
setzen. Mit ihnen kündigt sich die Neuzeit an. Indem sie sich schnell erweitern

1 Gestrichen Zunächst herrscht also nichts weniger vor denn eine die metaphysische und die

teleologische Problematik zurückdrängende Interessenrichtung.


rationalismus und empirismus 221

und eine ungemessene Begeisterung für solche strenge Wissenschaft er-


arbeiten, überwinden sie nun bald die ganze übrige Renaissancewissen-
schaft. Schließlich prägen sie der neuen Epoche ihren geistigen Stempel
auf. In der Tat, sowie die neue Naturwissenschaft auf dem Plan ist, übt
sie über sich hinaus die gewaltigsten geistigen Wirkungen, sie bestimmt in
entscheidender Weise die Entwicklung, ja völlige Neugestaltung der Philo-
sophie.
Die antike Idee der Philosophie als universale und absolute Welterkennt-
nis war in der Renaissance wieder aufgelebt, der jugendfrische, kühne, ins
Unendliche strebende Geist dieser Zeiten erfüllt sie mit gewaltiger Schwung-
kraft. An der neuen Naturwissenschaft gewinnt das philosophische Stre-
ben das leuchtende Vorbild. In das gesamte Universum muss das Licht
der echt wissenschaftlichen Vernunft hineinleuchten, in allen Erkenntnis-
gebieten müssen Wissenschaften von derselben Strenge, müssen Erkennt-
nismethoden von derselben zwingenden Kraft begründet, die von früher
schon bestehenden Wissenschaften aber völlig neu reformiert werden.1 Man
versucht mit Bacon aus allgemeinen Prinzipien das Gesamtreich möglicher
Erkenntnis in klassifikatorischer Vollständigkeit zu gliedern, um eine si-
chere Übersicht über die Erkenntnisreiche zu gewinnen, die bisher noch
unerforscht geblieben sind. Mit leidenschaftlichem Eifer geht man dann
an die Arbeit, und Ziel ist immerfort strengste Wissenschaft. Dafür aber
dient, sobald die ersten mechanischen und astronomischen Theorien sich
durchgesetzt haben, als Vorbild die methodische Gestalt der neuen Natur-
wissenschaft.2
Freilich, dieses Vorbild war nicht so leicht nutzbar zu machen; dazu
bedurfte es methodologischer Reflexionen. Überhaupt ist schon in der Re-
naissance die Frage der Methode die größte und am heißesten umstrittene
aller Fragen. Nur durch methodologische Besinnung kann sich eine neue
Wissenschaftsform aus älteren heraus gebären und sich kritisch gegen sie
dann auch durchsetzen. Das betrifft also schon das Werden der Natur-
wissenschaft selbst. Und erst recht bedurfte es methodologischer Überle-
gung, um neuen Erkenntnisgebieten die neuen Erkenntnismethoden an-
zupassen. Freilich lag da die Gefahr voreiliger, ganz äußerlicher Imitation
nahe. Auch war es ja nicht gesagt, dass wirklich alle Erkenntnisgebiete vom

1 Gestrichen Man gliedert das Reich möglicher Erkenntnis, man sucht seine natürlichen

innerlichen Demarkationen zu bestimmen und geht mit leidenschaftlichem Eifer an die Arbeit.
Ihr Ziel lautet: exakte Wissenschaft.
2 Randbemerkung Bis hier Vorlesung.
222 einleitung in die philosophie

gleichen methodischen Typus sein mussten oder, was dasselbe besagt, dass
jede Wissenschaft, auf welches Gebiet sie sich auch beziehe, von derselben
logischen Gestalt sein muss. Wenn diese Zeit schon über wissenschaftstheo-
retische Einsichten verfügte, wenn sie im Besitz einer weiten und frucht-
baren Logik schon gewesen wäre, dann wäre sie von vornherein nicht so
nachahmungseifrig gewesen. Sie hätte gewusst, dass jede abgeschlossene
Erkenntnisregion notwendig ihre eigentümliche methodische Gestalt hat
und dass über alle Regionen hinaus nur der allgemeine methodische Bestand
reicht, den die formale Logik und formale Ontologie umspannt.
Aber wir müssen bedenken, dass all die wissenschaftstheoretischen Ein-
sichten, die wir uns in den früheren Vorlesungen erarbeitet haben, nur in
Form unscheinbarer keimhafter Ansätze im Altertum vorgedeutet waren
und dass ihre volle Entwicklung erst in der neueren und neuesten Zeit
möglich geworden ist. Man hatte also noch gar keine Logik, und der be-
ständige Ruf nach einer methodologischen Reform sprach sich auch aus im
Ruf nach einer neuen Logik, einer immerfort und bis in unsere Zeit hinein
mehr gesuchten als erzielten Logik. So orientiert man sich also ziemlich
äußerlich an dem methodologischen Typus der neuen Naturwissenschaft,
deren methodische Art Text bricht ab
Wir begannen in der letzten Vorlesung die mächtigen Rückwirkungen
zu besprechen, welche der Durchbruch der exakten mathematischen Na-
turwissenschaft schon nach den ersten astronomischen und mechanischen
Theorien auf die Philosophie zu üben begann, wobei daran zu erinnern ist,
dass der antike Universalbegriff der Philosophie in der Renaissance wieder
aufgelebt war und dass diese Zeiten von einem geradezu leidenschaftlichen
Streben nach allumfassender wissenschaftlicher Erkenntnis getragen waren.
Rasch erwarb sich die neue Naturwissenschaft unbedingtes Vertrauen; sie
wurde zum bewunderten Vorbild, nach dem man im weiteren und weitesten
Bereich möglicher Erkenntnis strenge Wissenschaften begründen, nach dem
man in den schon bearbeiteten Bereichen die vermeinten Wissenschaften
reformieren muss. Das lange und leidenschaftliche Bemühen um die wahre
Erkenntnismethode, die man der verachteten scholastischen Methode gegen-
übersetzen, mit der man sich über das Durcheinander antiker Philosophien
und phantastischer Eklektizismen hinausheben und zu einer originalen und
völlig strengen Neubegründung der Wissenschaften kommen konnte, schien
sein Ziel erreicht zu haben. Die naturwissenschaftliche Methode ist die wahre
Methode der Philosophie, der Welterkenntnis überhaupt. Die menschliche
Vernunft ist, sagte man sich, eine in allen möglichen Wissenschaften, also
muss auch die Methode eine sein.
rationalismus und empirismus 223

Die universale Wissenschaftsbegründung und Wissenschaftsreform nach


dem naturwissenschaftlichen Vorbild wollte aber nicht ganz nach Wunsch
gelingen. Schnell vorwärts ging es im Reich der physischen Natur. Da gelang
es wirklich, immer neue Naturgebiete im Geiste der Mechanik zu exak-
ter Wissenschaft zu gestalten; die herrlichsten Entdeckungen folgten rasch
aufeinander. Anders in den außerphysischen Erkenntnisreichen. Zwar ging
man in kühnem Wagemut daran und schnell brachte man systematische
Entwürfe zustande, die größte Ansprüche erhoben und auch äußerlich den
Habitus exakter Wissenschaft zeigten, aber die nachfolgende Kritik zer-
störte alsbald den Schein der wissenschaftlichen Strenge. Die Systeme lösten
einander ab, aber die Situation blieb damit eben die alte: viele Systeme,
aber nicht eine, aller Kritik standhaltende und stetig fortschreitende Wissen-
schaft.
Das ist wohl begreiflich. Wie sehr auch gewisse antike Gedanken sehr
allgemeinen Inhalts, z. B. der einer universalen Bedeutung zahlenmäßiger
Gesetzlichkeit in der Natur, für das Werden der Naturwissenschaft metho-
disch leitend waren, die bestimmte Methodik selbst war in der konkreten
Arbeit an den Sachen selbst, an bestimmt gestellten Arbeitsproblemen er-
wachsen, und nur in den Leistungen selbst war sie gegeben und bekannt. Dass
im Übergang zu neuen Naturgebieten, vermöge der Wesensverwandtschaft
der Sachen und ihrer Probleme, ähnliche Methoden sich ergeben mussten,
ist verständlich und die Analogie selbst musste, ohne dass man über ein
tieferes, allgemeineres wissenschaftstheoretisches Verständnis des Sinnes
solcher methodischen Leistungen verfügte, von selbst wirksam werden. Also
hier hatte die Vorbildlichkeit ihre gute Funktion.
Es war aber doch nicht von vornherein gesagt, dass wirklich jedes Er-
kenntnisgebiet eine gleiche Methode fordert. Das ist für uns selbstverständ-
lich, uns, die wir uns den Unterschied zwischen formaler Wissenschaftstheo-
rie, in der also auch das Formal-Allgemeine aller wissenschaftlichen Methode
überhaupt beschlossen ist, von den material-apriorischen Disziplinen, die
jeder neuen sachhaltigen Region ihre besondere apriorische Gesetzesgestalt
vorschreiben, klargemacht haben. Auch die material-apriorischen Diszipli-
nen haben, wie die Geometrie, notwendige methodische Funktion, aber
diese reicht nicht über den Rahmen der Region hinaus. Was seinem Wesen
nach nicht ausgedehnt ist, kann von der Geometrie her keine methodischen
Normen empfangen. Wenn diese Zeit schon über eine universale Wissen-
schaftstheorie oder zumindest über die allgemeinsten wissenschaftstheore-
tischen Richtlinien verfügt hätte, dann wäre sie von vornherein nicht so
nachahmungseifrig gewesen. Sie hätte gewusst, dass es zwar völlig universale
224 einleitung in die philosophie

Normen der Exaktheit gebe, vertreten durch die formalen Wissenschafts-


lehren, dass aber zudem noch jede Region ihre besonderen apriorischen
Normen hat, entsprechend den an die Region gebundenen apriorischen
Wissenschaften.
Aber wir müssen eben bedenken, dass diese Zeit (wir stehen an der
Wende des 16. und 17. Jahrhunderts) eine Zeit völlig neuer Anfänge war
und es sein musste. Die Scholastik war entwertet, die Renaissance aber, als
Renaissance antiker Wissenschaft, war im Wesentlichen gescheitert. Man
hatte sich von der kirchlichen Autorität und der scholastisch gebundenen
Wissenschaft befreit. Man wollte freie Wissenschaft. In Freiheit konnte man
sich aber nicht irgendeiner alten Philosophie in die Arme werfen, das hieße,
sie selbst in eine Autorität verwandeln. Man musste also von vornherein
anfangen. Nur in der Weise nüchterner Kritik konnte man an die alten Über-
legungen anknüpfen; und für diese Kritik fehlte zunächst der sichere Boden
voraussetzungslos gezeugter und absolut sicherer Einsichten. Wir müssen
dabei auch bedenken, dass die wissenschaftstheoretischen Einsichten, die
wir uns in unseren früheren Vorlesungen erarbeiten konnten, nur in Gestalt
unscheinbarer und keimhafter Ansätze im Altertum vorgedeutet waren und
dass wir sie uns nur erarbeiten konnten, weil wir eben Kinder der Neuzeit
sind und all die Geisteskämpfe hinter uns liegen, die wir eben schilderten und
die wir schilderten, um aus ihnen für uns selbst neue Fortschrittsmotive zu
gewinnen. Man hatte also zur wissenschaftstheoretischen Orientierung oder,
was dasselbe, zur methodologischen Orientierung (über die wissenschafts-
theoretischen Vorerfordernisse neu zu begründender strenger Wissenschaf-
ten) noch keine wahre Logik, zumal im Gefolge der antischolastischen Re-
aktion selbst die wertvollen Bestände der aristotelischen Logik entwertet
erschienen; und erst recht hatte man noch keine Ahnung von den formal-
ontologischen Disziplinen, die erst in der Entwicklung der späteren formalen
Mathematik heranreifen sollten. Stattdessen diente die Vorbildlichkeit der
neuen Naturwissenschaft.
Aber gerade die begreifliche Schwierigkeit, in außerphysischen Gebie-
ten mit der methodischen Imitation zurechtzukommen und nachher das
offenbare Versagen der aus der scheinbar gelungenen Imitation gewonnenen
Systeme, zwang zu methodologischen Reflexionen, die immer von Neuem
notwendig wurden, immer größeren Umfang annahmen und schließlich auch
zu ganz neuen wissenschaftlichen Disziplinen führten; ich meine also nicht
nur zu Versuchen zur Neugestaltung und Erweiterung der alten Logik und
Anfängen zur Begründung einer formalen Ontologie, sondern zu den neuen
vernunfttheoretischen Disziplinen, die der Philosophie im alten Sinne univer-
rationalismus und empirismus 225

saler Weltwissenschaft eine völlig neue Gestalt und Methode gaben, wie sie
korrelativ aber auch für die wahre Wirklichkeit selbst eine neue Sinngebung
bedeuteten.
War am Anfang der Entwicklung die vorbildliche Naturwissenschaft
selbstverständlich eine absolute Wissenschaft, das heißt, galt sie als in sich
selbst begründet und demnach die durch sie theoretisch bestimmte Natur
als eine wahre Wirklichkeit schlechthin, wie bei Galilei und Hobbes, so wird
diese Auffassung schon bei Descartes problematisch, sofern nach ihm eine
jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorangehende, vernunftkritische
Erkenntnis notwendig ist, die das Recht der Naturwissenschaft und somit
das Sein der naturwissenschaftlichen Natur zu begründen habe. Bald wird
es zweifelhaft und bestritten, dass diese Natur im letztlich wahren Sinne sei.
„Idealistische“ Naturinterpretationen treten in verschiedenen Formen auf,
welche die exakte Naturwissenschaft nicht bestreiten, und doch den Sinn
naturwissenschaftlicher Erkenntnis und der Natur selbst gänzlich umdeuten,
umdeuten in Geistesgebilde. Das aber geht notwendig Hand in Hand mit
Untersuchungen über das Wesen der erkennenden Vernunft überhaupt und
speziell der naturwissenschaftlichen wie andererseits der metaphysischen
und geisteswissenschaftlichen.
Immer mehr stellte es sich heraus, dass man in einem gewissen, dem
aristotelischen gegenüber völlig neuen Sinne scheiden muss zwischen erster
Philosophie und zweiten Philosophien. Mit anderen Worten: Es wurde immer
deutlicher, dass alle bisherigen Wissenschaften, nämlich alle Wissenschaften,
die so wie die Naturwissenschaften geradewegs in Hand anlegender Arbeit
an ihr Erkenntnisgebiet herangingen, nicht endgültige Wissenschaften sein
können. Nicht, als ob das ihr Fehler war. Denn zweifellos, wo uns ein Gebiet
von Gegenständen vor Augen steht und seine theoretischen Fragen an uns
stellt, da ist es die erste Forderung, an sie selbst heranzutreten und aufgrund
der sie uns gebenden Anschauungen ihre Beschaffenheiten und Gesetze zu
suchen. Nur das ergibt ja überhaupt Wissenschaft. Aber alle Wissenschaft
als direkt auf Gegenstände gerichtete Erkenntnisbetätigung bedarf, so stellte
sich zwingend heraus, einer reflektiven und nach einer neuen Dimension ge-
richteten wissenschaftlichen Forschung. Erst wenn das Erkenntnisbewusst-
sein in den spezifischen Ausprägungen, in denen es als so geartete Gegen-
stände bewusst machendes, als Theorien gestaltendes fungiert, systematisch
nach Noesis und Noema durchforscht worden ist, kann die betreffende di-
rekte Wissenschaft und jede Wissenschaft überhaupt nach ihrer endgültigen
Erkenntnisleistung beurteilt und so z. B. der endgültige Sinn der naturwis-
senschaftlich bestimmten Natur interpretiert werden. Letzte Welterkenntnis
226 einleitung in die philosophie

fordert Bewusstseinserkenntnis; und die radikale Bewusstseinswissenschaft


wird zur ersten aller Philosophien, zur Quellenwissenschaft für alle letzten
Bestimmungen des Weltsinnes (und des Sinnes aller wissenschaftlichen, erst
in gerader Richtung zu erkennenden Gegenständlichkeiten).
Damit ist auf den entscheidenden Unterschied im Voraus gedeutet, der
unser Hauptthema bilden muss, den Unterschied zwischen jenen geraden,
geradewegs auf die Theoretisierung ihres Gebietes gerichteten Wissenschaf-
ten, die ich „dogmatische Wissenschaften“ nenne, und den im spezifischen
Sinne philosophischen Wissenschaften. Genauer gesprochen, werden hier-
her gehören die zur Einheit der Phänomenologie gehörigen Disziplinen,
darunter alle vernunfttheoretischen, sowie die Anwendung derselben auf
die endgültige Interpretation des in den dogmatischen Wissenschaften er-
kannten Seins. Eben dadurch gewinnen alle Wissenschaften ihre endgül-
tige philosophische Ergänzung und gewinnen selbst den philosophischen
Rang.
Diese allgemeine Vorzeichnung kann Ihnen natürlich nur formal ver-
ständlich sein, sie ist mit reichem Inhalt zu erfüllen, um Ihnen eine Vorstel-
lung von dem gewaltigen Fortschritt zu vermitteln, den die Neuzeit gebracht
hat. Freilich erst in unseren Tagen beginnen die Niederschläge der gewal-
tigen Mühen dreier Jahrhunderte sich in reiner Gestalt zu kristallisieren,
und wir dürfen nun die sichere Überzeugung haben, dass auch für die
Wissenschaft von der Vernunft und vom reinen Bewusstsein überhaupt die
Zeit der unklaren Standorts- und Systemphilosophien vorüber ist und dass
wie zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Stufe strenger Naturwissenschaft
so in unseren Tagen die sie übersteigende Stufe strenger Bewusstseinswis-
senschaft erreicht ist und dass damit die neue Epoche einer streng wissen-
schaftlichen Metaphysik, allgemein gesprochen einer Philosophie als endgül-
tiger und strenger Wissenschaft vom letzten Sinn des Weltalls, inauguriert
ist.
Für1 die Geistesbewegungen, in denen die Erkenntniskritik erwuchs,
spielte die Metaphysik und die völlig geänderte Stellung der Naturwissen-
schaft zu ihr eine besondere Rolle; und in Zusammenhang damit gewann der
alte Gegensatz zwischen Rationalismus und Empirismus eine neue Bedeu-
tung und Färbung. Eben darum haben wir die neue Reihe von Ausführungen
an die Metaphysik und an die Erörterung zunächst der alten Gegensätze
angeknüpft.

1 Randbemerkung Cf. Bl. 181 = S. 215 f..


rationalismus und empirismus 227

In der antiken Philosophie umspannte, wenn wir dem Hauptstrom folgen,


der sich in der christlichen Theologie und Scholastik fortsetzt, die teleolo-
gische1 Metaphysik die Rolle der philosophischen Universalwissenschaft; in
der metaphysischen Prinzipienlehre waren sie alle synthetisch verknüpft.
Naturwissenschaft war also in der herrschenden Tradition nichts anders als
Metaphysik, als Teleologie der Natur, Geisteswissenschaft, Metaphysik des
Geistes. Mochte in den deskriptiven Wissenschaften, in den Naturgeschich-
ten, in der Menschengeschichte, in der humanen Ethik und Staatslehre der
metaphysische, teleologische Gesichtspunkt keine große Rolle spielen, so
gelten sie doch nur als Unterstufen für die höheren, eigentlich philosophi-
schen Wissenschaften, und das sagte: für die eigentlich erklärenden. Von
diesen kam die teleologische Deutung, die allein gesuchte Erklärung.
Die Begründung der neuen Naturwissenschaft bedeutet als Neues die
Begründung einer nicht bloß beschreibenden, sondern theoretisch erklären-
den, ateleologischen Wissenschaft von der Natur.2 Ihr Ausgangspunkt war
die Erfahrungswelt in bloß sachlicher Einstellung, und in der Erarbeitung
durch naturwissenschaftliche Theorie war alle teleologische Betrachtungs-
weise prinzipiell ausgeschlossen. Nur auf Bewegungen als Fakta, auf funktio-
nelle Abhängigkeiten von Veränderungen als Fakta und auf entsprechende
Gesetze war der Blick gerichtet; und in dieser Richtung befriedigte sich ein
in sich völlig geschlossenes, über sich hinaus nach dieser Richtung nicht
mehr fortweisendes Interesse.
Damit konstituierte sich zum ersten Mal eine Gruppe positiver Wissen-
schaften, und zwar in Kontrast zur Metaphysik, des Näheren aber eine
positive Naturwissenschaft gegenüber einer Metaphysik der Natur. Eine
eigentümliche Sachlage schien sich dabei herauszustellen. Die früher ein-
zige Naturwissenschaft ging in zwei verschieden gerichtete und aufeinander
bezogene Wissenschaften auseinander. Dieselbe Natur, die auf der einen
Seite rein sachlich positiv erforscht wurde nach ihrer kausalen Gesetzes-
ordnung und nach den singulären Tatsachen (die aber in ihrem Werden
ihre kausale Erklärung aus den schon erkannten Gesetzen fanden), wurde
in der Metaphysik zum Thema teleologischer Forschungen. Tatsachen und
Gesetze sollten ihre geistige Bedeutsamkeit haben in der auf Gott be-
zogenen axiologischen und ethischen Ordnung.3 Ähnlich ging es in den

1 Randbemerkung theologische und damit teleologische.


2 Randbemerkung Das fehlt auch nicht im Mittelalter.
3 Randbemerkung Die induktive Naturwissenschaft wird zu einer eigenständigen, vernunft-

autonomen Wissenschaft, vom Glaubensgrund losgelöst, nicht theologisch. Und darunter leidet
228 einleitung in die philosophie

Geisteswissenschaften, die früher unter teleologischen Gesichtspunkten phi-


losophische Wissenschaften gewesen waren. Das Vorbild der positiven Na-
turwissenschaft fordert sofort als Parallele positive Geisteswissenschaft und
zudem eine Metaphysik des Geistes, so insbesondere eine positive Psycho-
logie, eine Psychologie von naturwissenschaftlicher (induktiver) Geistesart.
Lassen wir die großen Probleme, zu denen diese letztere Scheidung spezi-
ell drängt, zunächst außer Acht und halten wir nur allgemein die Metaphysik
im Auge in dem allgemeinen Kontrast zwischen ihr und den positiven
Wissenschaften, so treten, eben in diesem Kontrast, alsbald Schwierigkeiten
zu Tage, welche die Möglichkeit einer von der Religion geforderten und
im allgemeinen Bewusstsein so fest verwurzelten teleologischen Weltbe-
trachtung und Weltwissenschaft ernstlich zu gefährden scheinen. Mit diesen
Schwierigkeiten verflechten sich von vornherein solche, die aus einer unkla-
ren Spannung zwischen der naturalistisch-positivistischen Psychologie (die
allein die wissenschaftliche Psychologie sein sollte) und den Geisteswissen-
schaften stammen. Schon das musste als eine Schwierigkeit empfunden
werden, wie eine naturwissenschaftliche Welt, also eine Welt, in der alles
und jedes nach absolut strengen Gesetzen geregelt ist, noch Raum übrig
lassen soll für eine allumspannende Teleologie. In einer kausalen Welt ist
jedes Faktum eindeutig vorgezeichnet. Was geschieht und geschehen wird,
ist exakt auszurechnen, es geschieht jederzeit das Eine und Einzige, das
geschehen muss, den festen Gesetzen gemäß. Wo bleibt da Platz für ein
zwecktätiges Eingreifen, für eine Realisierung eines Bestmöglichen, also für
eine Wertmotiven folgende Wahl?1
Nun möchte man antworten, dass Gott diese gesetzmäßige Welt mitsamt
ihren Gesetzen eben ein für alle Mal als die bestmögliche aus nichts geschaf-
fen hat, mit einem Schlage, mit ihrer exakten Gesetzlichkeit. Aber dann
ergeben sich doch immer neue Schwierigkeiten, wenn diese Teleologie nicht
Sache der Religion, sondern Sache einer modernen Wissenschaft sein soll?2

zwar nicht notwendig, aber faktisch die teleologische Betrachtungsweise. Aber die Naturali-
sierung der Tatsachenwelt, die nur das Induktiv-Kausale sieht, führt zu den Schwierigkeiten
des Determinismus und zu einer anti-teleologischen Einstellung (Spinoza). Gott selbst wird bei
Spinoza zu einem ateleologischen Prinzip.
1 Randbemerkung Der Kausalität der Motivation war untergeschoben eine induktive Kausali-

tät.
2 Gestrichen Wie kann Gott, das alte philosophische Thema, zum exakt-wissenschaftlichen

Thema werden? Wie soll Schöpfung der Welt wissenschaftlich fassbar werden? Und die immer
erneuten Gottesbeweise boten leider immer wieder Anhaltspunkte für eine skeptische Kritik.
Wie ist in jeder Hinsicht das Verhältnis Gottes zur geschaffenen Welt zu verstehen? Ferner, die
rationalismus und empirismus 229

Gott, zweckvolle Weltordnung, Unsterblichkeit, Freiheit sind freilich uralte


Themen der teleologischen Metaphysik, die seit Aristoteles so vielgestaltig
bearbeitet worden ist. Aber wie sind dergleichen Themen als wissenschaftli-
che möglich, wenn, wie jede Wissenschaft, auch die Metaphysik eine Wissen-
schaft vom Typus der exakten Naturwissenschaft sein soll?1 Und wie zudem,
wenn die Naturwissenschaft selbst mit ihren mathematischen Erkenntnissen
über Natur wirklich absolute Erkenntnis über das Weltall ausspricht?
Dass unsere Umwelt ein Feld ist für unser geistiges Wirken, für unser
Werten, Zwecksetzen und zweckmäßiges Gestalten, macht uns gar keine
Schwierigkeiten, wenn wir uns als natürliche Menschen denkend und han-
delnd betätigen. Wahrnehmend, anschauend umspannt unser geistiger Blick
die Raumdinge. Und wie unser Anschauen, so umspannt unser Gefallen und
Missfallen, unser Begehren und schließlich unser Wollen diese Dinge eben
als von uns geistig in unserem Anschauen umspannte. Unmittelbar ist für
jeden von uns nur unser Leib Willensobjekt. Dass er unmittelbar Feld ist für
unser raumdingliches Tun, dass er ein Ding und zugleich unser Organ ist, dass
ich ihn bewege, dass ich die Hand hebe, durch ihn auf anderes stoße, anderes
ergreife – das ist voll verständlich. Das geistige Ich und seine Tätigkeiten
sind der anschaulichen Umwelt, genau so weit sie dem tätigen Ich bewusste
ist, nicht fremd. Es ist nicht von ihr getrennt, sondern mit ihr eins, über sie
geistig beweglich ergossen und sich frei ergießend. (Natürlich denken wir
dann, wenn wir uns eine ichartige, wie immer gesteigerte Vorstellung von
Gott bilden, Gott ebenso, nur unendlich vollkommener mit der Welt einig
und frei über sie verfügend.)
Aber wie nun, wenn die mathematische Naturwissenschaft eine absolut
unanschauliche Materie setzt, die rein nichts ist als ein Gebilde von Atomen
oder corpusculae und im Übrigen sonst nichts als ein Substrat für mechani-
sche und in mechanischen Gesetzmäßigkeiten geregelte Kausalitäten. Und
wie, wenn diese Idee „Natur“ alsbald übertragen wird auf das Geistige
als Psychisches und jedem tierischen Leib zugeordnet wird eine Seele, die,
obschon aus psychischen Elementen gebaut, doch wieder nur Substrat von

als selbstverständliche Notwendigkeit empfundene Übertragung der Idee positiver Wissenschaft


auf die psychische und geistige Sphäre führte mit der naturalistischen Psychologie eine neue
Schwierigkeit herbei: Wenn die Welt nicht nur physisch, sondern auch psychisch eine starre
Maschinerie ist, somit auch die Menschen in seelischer Hinsicht Maschinen sind, wie soll
überhaupt ein wissenschaftlicher Begriff von Schöpfung gewonnen werden?
1 Randbemerkung Das Ideal induktiver Wissenschaft wurde zum absoluten Ideal jeder Wis-

senschaft.
230 einleitung in die philosophie

reinen Kausalitäten ist? Nun ist das Seelische nicht mehr ein Geist, der
seine Umwelt geistig in sich hat; sondern wie physische Elemente und Ele-
mentenkomplexe real getrennt voneinander sind und nur durch kausalge-
setzliche Beziehungen miteinander verflochten, so ist jede Seele getrennt
von allem Physischen und nur durch kausale Beziehungen auf ihren Leib
bezogen und mittelbar auf andere Dinge. Wir haben also unter dem Titel
„psychophysische Natur“ einen Mechanismus von physischen und psychi-
schen Elementen. Und wenn das die alleinige absolute Wahrheit ist, wenn
die anschauliche physische Welt bloßer Schein ist und ebenso die geistige
Beziehung jedes Ich auf seine Umwelt ein bloßer Schein, dann ist nicht
abzusehen, wie eine Teleologie, eine göttliche wie eine menschliche, noch
einen Sinn haben soll.1
Für einen Platon und vor allem Aristoteles lagen die Verhältnisse anders.
Sie kannten nicht eine wirklich entgeistete Natur als Gegenstand einer exak-
ten Naturwissenschaft. Die demokritische Atomenwelt erschien ihnen eine
unwissenschaftliche Verkehrtheit. Dass je eine exakte Naturwissenschaft die
sinnlich erfahrene Natur in diesem materialistischen Stil entwerten könne,
lag ihren Vermutungen fern. Für sie war eine teleologische Metaphysik
bezogen nicht auf eine ungeistige, sondern auf eine durch und durch geistige
Natur. Jedes Naturding hatte in allem begrifflich Fassbaren seine geistige
Wesenheit, und das Geistige, das Eidos, war das Wertbestimmende und
nach Zweckhaftigkeit Strebende. Dieses Geistige formte zwar nach ihnen ein
Ungeistiges, die Materie, aber diese Materie war nicht die naturwissenschaft-
liche Materie, sondern etwas durchaus Unselbständiges, das ohne Geistigkeit

1 Gestrichen Gott, zweckvolle Weltordnung, ja Weltschöpfung ist zwar wie Unsterblichkeit,

Freiheit ein uraltes Thema der teleologischen Metaphysik, die seit Aristoteles so vielgestal-
tig bearbeitet worden ist. Sind dergleichen metaphysischen Themen aber in einer strengen
Wissenschaft fassbar? Die physische Natur in ihrer Gesamtheit umspannt die physische Natur-
wissenschaft. Die als Parallele geforderte positive Geisteswissenschaft behandelt das Geistige
im Naturzusammenhang, wie es und wo es darin durch Erfahrung vorfindlich oder erfahrungs-
mäßig zu erschließen ist. Umfasst also die psychophysische Naturwissenschaft nicht die Allheit
der physischen und geistigen Realitäten? Gibt es für Realitäten andere Gründe als Erfah-
rungsgründe? Können Erfahrungsschlüsse über das Reich möglicher Erfahrung hinausführen?
Naturwissenschaftliche Art ist es, von Ursachen auf Wirkungen und von Wirkungen auf
Ursachen zu schließen; man bewegt sich also innerhalb der endlosen Zusammenhänge der
Kausalität und kann so von Gegebenem auf Nicht-Gegebenes schließen; aber immer ist es dann
doch ein Innerweltliches, das prinzipiell Gegenstand von Erfahrungen werden könnte. Aber wie
ist eine Schlussweise möglich, die der abgeschlossen gedachten Allheit der Natur noch einmal
eine Ursache vorsetzt? Dass solche Gedanken, nachdem die Naturwissenschaft mit ihrer rein
natürlichen Kausalität da war, nahelagen, zeigt Hobbes, der die ganze Metaphysik, von der
schon bei Bacon nicht viel mehr übrig geblieben war, mit einem Strich aus dem Reich der
Wissenschaft verbannt.
rationalismus und empirismus 231

undenkbar sein sollte. Diese Materie wurde gerade angenommen, um das te-
leologisch Zufällige und die dysteleologischen Weltvorkommnisse erklärlich
zu machen, mit denen eine teleologische Welterklärung sich auseinanderset-
zen musste.
Demgegenüber aber hatte die neue Naturwissenschaft die Natur nicht nur
in der Einstellung purer Sachhaltigkeit betrachtet, sondern durch Entwer-
tung der anschaulichen Welt und durch Substruktion einer völlig unanschau-
lichen Materie im Sinne der Atomistik die Natur über alle Geistigkeit hinaus-
gehoben. Wie sollte das völlig ungeistige An-sich für eine geistige Gestaltung
Handhaben bieten und wie sollte es aus einer Geistigkeit herausgeboren,
göttlich geschaffen sein können, kurz, wie sollte es in einer Teleologie noch
eine Rolle spielen können? Freilich hatte die positive Wissenschaft auch dem
Geistigen in der Natur Rechnung getragen, aber in der Form, dass sie da und
dort einzelne materielle Dinge, genannt „organische Leiber“, mit Seelen
verbunden dachte. Ganz äußerlich war diese Verbindung, da die leibliche
Materie in sich ein volles, selbständiges Ding sein soll und verbleibt, auch
nach dem Tod.1
Diese Seele der positivistischen Psychologie (falls sie nicht geradewegs
im Materialismus des Hobbes in Physisches umgedeutet wurde) war im
Grunde doch etwas Seelenloses, ein Gegenstück der Materie, ganz wie sie
gedacht als ein Komplex von psychischen Elementen und in dem Wandel
der Elemente unter strengen Kausalgesetzen stehend, eben genau wie in der
materiellen Natur. Im Grunde war mit der entgeisteten physischen Ding-
welt eine entgeistete Geistigkeit, eine entseelte Seele verbunden.2 Ist eine
Seele, die bloßer Schauplatz für Verläufe sogenannter psychischer Elemente
ist, absolut fest und eindeutig durch Gesetzesordnung geregelt, noch eine
Seele? Ist solches Leben noch Leben und nicht eine Art Reduplikation des
Materiellen sozusagen in einer anderen Sprache? Dieselbe couleur in grün?
Wo ist also in einer solchen positiv geisteswissenschaftlichen Welt noch
Raum für eine Teleologie, für ein doch von jedem lebendigen religiösen
Menschen angenommenes Walten Gottes in seinem Seelenleben, in der
vorsehenden Fügung seiner Schicksale? Wo ist da Raum für die ethische

1 Randbemerkung Diese dem geistigen Walten völlig transzendente Materie wurde als ein

absolutes Sein-an-sich behandelt.


2 Gestrichen Auf einer physischen Natur, einem endlosen räumlich-zeitlichen Werdenszu-

sammenhang, in dem alles und jedes Geschehen in totaler Einförmigkeit nach festen Gesetzen
ablief, war aufgepfropft eine seelische Natur, in der in nicht minder totaler Einförmigkeit jedes
psychische Geschehen nach nicht minder festen Gesetzen ablaufen sollte.
232 einleitung in die philosophie

Verantwortlichkeit, die doch auch Verantwortung vor Gott ist? Wie alles See-
lische, so soll und muss, wenn die Psychologie dem naturwissenschaftlichen
Methodengeist gemäß in eine positive Wissenschaft verwandelt wird, auch je-
der meiner Willensakte innerhalb meines seelischen Zusammenhangs unter
den gegebenen psychophysischen Umständen absolut eindeutig vorbestimmt
sein. Wie in einem Hebelsystem jede Regung eines Hebels die anderen Hebel
unweigerlich in Bewegung setzt, so wird im leiblich-seelischen Hebelsystem
auch jene solche Hebelbewegung eintreten müssen, die im gegebenen Fall
„mein Willensentschluss“ heißt. Ich meine aktiv zu sein, ich bin aber Ma-
schine.1 Alles ist determiniert, und doch rede ich von Verantwortlichkeit. Ja,
diese Rede selbst ist nur mechanisches Resultat vorgängiger Mechanismen.
Ob das aber eine befriedigende Antwort ist und ob es jedenfalls nicht
dabei bleibt, dass wie kein Platz übrig bleibt für eine menschliche Zweck-
setzung, so für eine göttliche, ist kaum fraglich. Die Naturwissenschaft hat
aus der Natur freilich den Götter- und Dämonenspuk vertrieben. Die Natur
als bloß materielle Sachenwelt, die sie uns sehen lässt, muss gewiss ihr Da-
seinsrecht und einen guten Sinn haben; aber sowie wir diese Natur absolut
setzen und ihre Geistentfremdung ernst nehmen, sowie wir sie als in der Tat
geistloses Sein nehmen, geraten wir in metaphysische Schwierigkeiten. Und
diese vervielfältigen sich und werden ganz unverträglich, wenn wir gar im
Sinne der Vorbildlichkeit der physischen Naturwissenschaft das Seelische,
die Sphäre der Geistigkeit naturalisieren. Denn dann fällt nicht nur die
teleologische Metaphysik, sondern auch die Ethik, und vielleicht fällt, von
anderen Gesichtspunkten aus, auch die Logik und alle sinnvolle Rede von
Vernunft. Doch ohne darauf hier eingehen zu können, möchte ich nur noch
Folgendes als Abschluss heranziehen.
Wenn alle Wissenschaft von demselben Typus sein müsste wie die Natur-
wissenschaft, alle dem Ideal entspräche, dass alle Gegenstände des Gebietes
unter einer exakt und eindeutig bestimmenden obersten Gesetzlichkeit ste-
hen müssten, dann müsste das auch von dem All der Realität in absolutem
Sinne gelten; also nicht nur von der endlichen Welt, sondern auch von Gott
in sich und in seinen Verhältnissen zu den endlichen Weltdingen. Dann
hätten wir aber auch Gott entgöttert, wir hätten auch den göttlichen Geist
entgeistigt. Gottes Willensakte, Liebes-, Gnadensakte, alles wäre ausrechen-
bar wie nur irgendein Rechenexempel, es wäre rein kausales Gebilde aus
psychischen Elementen.

1 Gestrichen Das „ich meine“ als Erlebnis ist selbst solch ein maschinelles Vorkommnis.
rationalismus und empirismus 233

Die beiden großen Denker die an der Tête der neuen Philosophie standen
und sich von der neuen Mechanik in ihren philosophischen Reformbemü-
hungen leiten ließen, Descartes und Hobbes, haben solche Schwierigkeiten
gefühlt – gefühlt, aber nicht sich zur Klarheit gebracht. Hobbes in seiner
robusten Gewaltigkeit streicht die ganze Metaphysik als Wissenschaft weg.
Die Naturwissenschaft, sogar die physische Naturwissenschaft ist für ihn die
Wissenschaft schlechthin. Das Seelische, da es ohnehin ganz analog wie die
Materie als kausales Gebilde gedacht werden muss für eine positive See-
lenwissenschaft, wird von ihm geradezu materialistisch interpretiert. Alles
Seiende ist Körper, alle wahren Vorgänge sind körperliche Vorgänge, alle
wahren Ursachen und Wirkungen mechanisch. Es gibt keine teleologische
Erklärung, und Gott ist kein wissenschaftliches Thema. Vermutlich war er
geradezu Atheist.
Descartes, der ebenfalls und wohl als der Erste die Idee einer positiven
Psychologie gefasst hatte, sieht im Physischen und Psychischen zwei grund-
verschiedene Arten von Realitäten, nur kausal aufeinander bezogen. Die
Metaphysik will er keineswegs preisgeben, aber er müht sich vergeblich,
sie mit der physischen und psychischen Naturwissenschaft zu vereinigen.
Allerdings ist es sein unsterbliches Verdienst, das Tor in die wahre Phi-
losophie eröffnet und das Feld des reinen Bewusstseins sichtlich gemacht
zu haben, auf welches alle Probleme möglicher Erkenntnis zurückbezogen
werden müssen. Damit war der Weg freigelegt, um Naturwissenschaft und
Metaphysik zu versöhnen. Aber weder er selbst noch seine Nachfolger haben
das gesehen, so ungeheuren Eindruck die Meditationes auch machten. Nur
Leibniz ist bis zu einem gewissen Grade auszunehmen.
Die ungeklärten und doch stark empfundenen Schwierigkeiten, die auf
der neu anfangenden Philosophie lasteten, betreffen, wie wir sahen, nicht
nur die Spannung zwischen unvertilgbaren metaphysischen Bedürfnissen
und den Bedürfnissen nach einer universalen strengen Wissenschaft im Stil
der Naturwissenschaft. Die Möglichkeit der Metaphysik ward durch das
bloße Faktum der neuen Naturwissenschaft zum Problem. Aber ganz in
gleichem Sinne bestanden auch Schwierigkeiten für eine Moralphilosophie,
für eine Psychologie und schließlich für alle Geisteswissenschaft. Die Na-
turalisierung des Geistes in der positiven Psychologie musste in gewissen
Grenzen ihr Recht haben, und doch – für eigentümliche Leistungen aller
geisteswissenschaftlichen Betrachtungs- und Erklärungsweisen konnte sie
nicht aufkommen. Aber die hier liegenden Schwierigkeiten blieben freilich
lange in dunklen Hintergründen, während die metaphysischen Schwierig-
keiten schnell zu Tage traten und die geisteswissenschaftlichen zunächst nur,
234 einleitung in die philosophie

soweit sie in die Metaphysik mit übergreifen. Die Wirkung war jedenfalls
die, dass man immer von Neuem zu Erkenntnisreflexionen genötigt wurde.1
Wieder gewannen skeptische Tendenzen große Macht und bedeutsame
Entwicklungsfunktionen. Mit ungleich größerer theoretischer Energie und
mit ungleich größerem Umfang als im Altertum wurden die in der Er-
kenntnis und ihrer möglichen Geltung, die in der Beziehung der Erkennt-
nis auf eine Gegenständlichkeit liegenden Schwierigkeiten schrittweise ans
Licht gezogen und anti-metaphysisch verarbeitet. Mit nicht minder Energie
wehrt sich die Metaphysik gegen diese Angriffe und sucht das Recht einer
metaphysischen Erkenntnis durchzusetzen und das durch immer radikalere
Erforschung des Wesens der Erkenntnis und des Sinnes, der Grenzen ihrer
objektiven Gültigkeit. Beide Parteien werden zu immer tieferen erkenntnis-
theoretischen Studien geführt, und die älteren Gegensätze zwischen Ratio-
nalismus und Empirismus gewinnen, in der Entwicklung sich übrigens immer
wieder neu bestimmend, neue Gestalten.
Formell betrachtet, wiederholen sich zwar in den neuen die alten Gegen-
sätze, aber schon der Umstand, dass der Empirismus die neue mathematische
Naturwissenschaft nicht minder als absolut geltende anerkennt wie der Ra-
tionalismus, ist da der Sinn des Kontrastes beider Richtungen verschoben.
Der neue Rationalismus nimmt, wie der alte, eine Erfahrung überschrei-
tende Vernunft an; mit anderen Worten, die wahre Wissenschaft hat für ihn
einen metaphysischen Charakter. Über den aristotelischen gemäßigten Ra-
tionalismus hinausgehend, der die sinnliche Erscheinungswelt noch mit zur
wahren Wirklichkeit gerechnet hatte, lässt der neue Rationalismus die wahre
Natur nur als mathematisch bestimmte gelten. Sie bekundet sich nur in der
sinnlichen Erscheinung, sie ist aber hinsichtlich ihrer wahren physikalischen
Eigenschaften hinter der Erscheinung, der Erfahrung „transzendent“. Aber
die Natur ist für den Rationalismus bloße Unterstufe, über sie reicht noch
hinaus Gott und die supranaturale Wirklichkeit als Thema streng rationaler
Wissenschaft.
Der Empirismus hat in der neuen Form mit dem Rationalismus gemein-
sam die exakte Physik; also hinsichtlich der Natur gibt es auch für ihn eine die
Erfahrung transzendierende Vernunft. So weit ist er also eigentlich metaphy-
sisch, soweit er nicht mit Berkeley die physische Außenwelt psychologisiert.
Wenn er doch gegen die Metaphysik und die Kraft der Vernunft skeptisch

1 Gestrichen, dass man über den Sinn der vorbildlichen naturwissenschaftlichen Methode und

dann radikaler über das Wesen der einzelnen Erkenntnisleistungen, die in echter Erkenntnis
ihre Rolle spielen, sich Klarheit zu verschaffen suchte.
rationalismus und empirismus 235

gesinnt ist, so betrifft das also die supranaturale Sphäre; er bestreitet die Mög-
lichkeit strenger Wissenschaft von der religiösen Gotteswelt und überhaupt
einer Wissenschaft, die über Naturwissenschaft hinausgeht.1 Zumindest ist
er darin skeptisch und will möglichst wenig Raum lassen für eine solche
supranaturale Metaphysik (etwa nur Gottesbeweis). „Empirismus“ genannt
wird er aber, weil er darauf besteht, dass die neue Physik eine Erfahrungs-
wissenschaft sei, wie überhaupt jede auf reale Wirklichkeiten gerichtete Wis-
senschaft. Darin ist er in ständigem Kampf mit dem Rationalismus, der aus
einem besonderen Motiv dazu verführt wird, die Tragweite der apriorischen
Erkenntnis zu überschätzen und sogar jede echte und strenge Wissenschaft
als apriorische zu missdeuten.
Für den neuzeitlichen Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalis-
mus tritt diese Differenz und der Kontrast der beiderseitigen Theorien über
Art und Tragweite empirischer und apriorischer Erkenntnis stark in den
Vordergrund. Der Ursprung dieses Streites und dieser besonderen Bestim-
mung des Gegensatzes der beiden Parteien liegt in der Art, wie die ersten
großen Rationalisten, zunächst Descartes und dann in extremster Weise
Spinoza, sich das Vorbild der mathematischen Naturwissenschaft zugeeig-
net hatten. Descartes: Geometrie, alte Mathematik verwirklicht in sich das
Ideal der Klarheit und Deutlichkeit, der Rationalität. Die neue Physik als
mathematische ist Fortsetzung der Geometrie, auch sie erfüllt, wenn sie
wirklich vollkommen gestaltet ist, dieses Ideal. Ihnen, den ersten Rationa-
listen, war noch die (uns von unseren früheren Vorlesungen wohlvertraute)
Scheidung zwischen reiner Geometrie, überhaupt apriorischer Wissenschaft
von möglicher Natur überhaupt einerseits und andererseits mathemati-
scher Physik als rationaler Erfahrungswissenschaft von der faktischen Na-
tur nicht zur Klarheit gekommen. Sie schieden also noch nicht zwischen
rein mathematischen Sätzen und Naturgesetzen mathematischer Form. Die
neue Mechanik, die neue mathematische Astronomie und Optik wurden
als bloße Bereicherungen der alten Geometrie um Disziplinen von gleicher
wissenschaftstheoretischer Art angesehen, wie umgekehrt die Geometrie
als die älteste der exakten Naturwissenschaften. Die in den physikalischen

1 Gestrichen Gott, das alte Thema der teleologischen Metaphysik schon bei Aristoteles und

später von Neuem Thema vielfältiger Gottesbeweise, soll als erste Ursache aller Realität, als
absolut durch nichts außer ihm bestimmte Substanz, in strenger Wissenschaftlichkeit erwiesen
und ergründet werden und dabei als Substrat unendlicher Vollkommenheit; sein Verursachen
soll geistiges und dabei willentliches, zweckvolles Schaffen sein. Was besagt aber dieses Schaffen,
was das Behalten des schon Geschaffenen? Wie kann ein geistiges Prinzip ein ungeistiges, ein
vollkommenes ein unvollkommenes, ja ein an sich wertfreies entlassen?
236 einleitung in die philosophie

Gesetzen sich ausdrückende kausale Notwendigkeit wurde identifiziert mit


der Wesensnotwendigkeit des Mathematischen und rein Logischen. Damit
gewann die Vorbildlichkeit der exakten Naturwissenschaft einen besonderen
Sinn.1

1 Fünf eingelegte Blätter, versehen mit mit dem Titel Problematik des Rationalismus. Descar-

tes – Spinoza
Das Descartes’sche Ideal der Rationalität: die Geometrie. Die mathematische Naturwis-
senschaft, rein ausgeführt, ist in diesem selben Sinne rational. Apriorische Notwendigkeiten
und Disziplinen, die hier zu trennen sind: 1) eine analytische Ontologie (Logik) – Begriffs-
und Urteilsbildung, die Evidenz, die Verdeutlichung; 2) eine reale Ontologie, in der es sich
also nicht um eine formale Logik, sondern eine Logik möglichen realen Seins und realer
Wahrheit handelt. Aber eine ontologische Logik. Die Methode ist hier nicht die der analytischen
Möglichkeiten, sondern die „sachhaltiger“ Möglichkeiten oder „realer“, also Methode der
freien Variation von in sachhaltiger Anschauung als Reales Gegebenem, von Gegebenheiten
wirklicher oder möglicher Erfahrung. Also Ausgang von der Erfahrung – die Realitäten sind
mir gegeben als Realitäten dieser faktischen Welt. Ich variiere und suche die reinen Mög-
lichkeiten und Wesensnotwendigkeiten. Ein beliebiges Reales der Erfahrung oder möglicher
Erfahrung (Einbildung) ist undenkbar ohne Zeitlichkeit, ohne Räumlichkeit. Ist Einzelnes
nur denkbar in einer Welt? Mehreres Einzelnes ist nur denkbar in demselben Raum und
derselben Zeitform. Muss es kausale Eigenschaften haben? Muss eine Kausalität umgreifend
alle Realitäten verbinden? Kurz, die Ferne fordert a priori einzelne Realität – omnitudo reali-
tatis. Kann diese Allheit eine endliche sein, muss sie eine unendliche sein? Gehören nicht die
Aufgaben „Apriori eines Realen überhaupt“ und „Apriori einer Welt als omnitudo realitatis“
zusammen? Wie steht es dann mit den allgemeinen Strukturen der faktischen Welt, abgesehen
von den erst hervortretenden universalen „Formen“? Gehört nicht eine Typik der Realität
hinsichtlich oberster Realitätsgattungen zur universalen Charakteristik (also in gewisser Weise
auch zur notwendigen „Form“) einer Welt überhaupt? Also etwa bloße Naturdinge, Animalität
(Geist in einer gewissen Fundierung in bloßer Natur). Verbindung aller bloßen Naturdinge
und physischen Leiber (die Unterlagen für Seelen) zu einer universalen physischen Natur,
die immer und notwendig da ist. Eigentümliche Verbindung von Seelen durch Einfühlung,
durch intersubjektive Akte; Möglichkeiten zu personalen Verbindungen als personalen, zu
Personalitäten höherer Ordnung. Eigentümliche interphysische Kausalitäten, eigentümliche
psychophysische Kausalitäten, eigentümliche physiko-personale Beziehungen und personale
Leistungen im Physischen, aus denen geistige Gebilde erwachsen, Dinge, die Geistigkeit inkor-
poriert enthalten analog wie Leiber und doch in ganz anderer Weise, als geistige Bedeutungen
etc. In all dem ist das Apriori aufzusuchen, und selbstverständlich so, dass man eine Ordnung des
Vorgehens darin sucht, zunächst das relativ Unabhängige, den Fundierungen Zugrundeliegende
zu betrachten und dann der Stufenfolge der Fundierungen nachzugehen. Und die Methode
ist „mathematisch“: Nämlich, mag was immer mit einem A verflochten sein und mögen
diese Verflechtungen selbst ihre eigenen Notwendigkeiten mit sich führen, derart dass mit A
irgendwelche darin fundierte Momente und Verbindungen variieren müssen, so verfährt man
konkret so, dass man in der freien Variation des A nach allem Weiteren nicht fragt und dieses
völlig unbestimmt lässt. Ähnlich wie der Geometer nicht fragt, was zu einer Figur gehören
muss an Außergeometrischem, ohne das sie, ohne das Geometrisches im Sein undenkbar wäre.
Diese Unbestimmtheit ist nicht Variationsfeld des Geometers. Sie ist ein notwendiger, aber
unbefragter, begrifflich nicht fixierter, nicht in die geometrische Abstraktion hineingenomme-
ner, sondern außer wissenschaftlicher Betrachtung verbleibender Horizont. Das sagt nicht, dass
rationalismus und empirismus 237

Die in ihrer Art klassische Vollendung des Systems der euklidischen Geo-
metrie übte nun, wo immer die Naturwissenschaft als Prototyp echter Me-
thode herangezogen wurde, den vorwiegenden Reiz aus; mit anderen Worten

er überhaupt außer wissenschaftlicher Betrachtung bleiben darf – er bleibt es innerhalb der


Geometrie, aber darf es nicht bleiben innerhalb einer vollen Ontologie der Realität.
Kehren wir zu Descartes – Spinoza zurück. Der Anfang der neuen Naturwissenschaft ist cha-
rakterisiert durch eine eigentümliche Isolierung oder Verabsolutierung der forschenden Blick-
richtung bzw. des theoretischen Interesses, nämlich auf die physische Natur. Daraus entspringt
die Physik als eine in sich abgeschlossene Wissenschaft, die keine anderen Interessen und Fragen
kennt als Fragen an die physische Natur. Korrelativ damit ist die Verabsolutierung des Seins
der physischen Natur, ja schon die Ideenbildung „Natur“ selbst, als ein in sich abgeschlossenes
und wie eigenständig zu erforschendes so (wie ohne weiteres angenommen wird) ihrem Wesen
nach eigenständiges Sein. Hier sind Galilei und Descartes zu nennen. Aber was das Prinzipielle
anlangt, wohl mehr noch Descartes als der ältere Galilei. In der dualistischen Metaphysik
vollendet sich jene von nun an herrschende Wesensverselbständigung der physischen Natur, die
ihrerseits der Verselbständigung der Naturwissenschaft die den Jahrhunderten trotzende Kraft
gab. Indem Descartes die in sich geschlossene Subjektivität entdeckt, in der alle Erkenntnis-
möglichkeiten beschlossen sind und die von der Welt nur durch Phänomene, durch ihre eigenen
cogitata weiß und die ihr eigenen cogitationes, so bringt es sein Gedankengang mit sich,
dass diese transzendentale Subjektivität sich – in der vermeintlich rationalen Rechtfertigung
der Existenz der objektiven Welt (die das transzendentale Ich als zweifelsmögliche Erfahrung
bewusst hat) – in das empirische Ego seines Leibes verwandelt und dass nun ebenso jedem
objektiv erfahrenen Menschen ein ebensolches in sich abgeschlossenes Ego eines in eigenen
cogitationes verlaufenden Lebens zugesprochen wird als mens, animus seines Leibes. So wird
der Mensch (und jedes animalische Wesen, wenn von der sonderlichen Interpretation der Tiere
als bloßen Maschinen abgesehen wird, welche nicht weiter gewirkt hat) zu einem Doppelwesen
aus einer reinen Physis und einer reinen Psyche. Die außeranimalischen Dinge in eins mit den
Leibern bilden dann eine rein physische Natur, die von einer einzigen Wesensartung ist, in sich
absolut abgeschlossen – denn der Hauptpunkt in Abschließung des Seelischen und damit des
Materiellen ist die Wesensabschließung: extensa und cogitans, wesensverschiedene Attribute,
absolut heterogen und darum ohne jede Verbindung. Darin liegt: Einheit eines Dinges fordert
Einheit eines Wesens, und das sagt wieder: Alle Wesensmomente in dieser Einheit müssen
selbst wieder wesensmäßig einig sein, sie müssen miteinander im Wesen etwas zu tun haben; das
Heterogene kann nicht verbunden sein. So wird die physische Natur verabsolutiert im Wesen.
Sie kann also sein, ohne dass irgendein Geist ist in ihrem Zusammenhang. Damit stimmt die
bis zur Gegenwart vorherrschende Meinung der Naturwissenschaftler, etwa repräsentiert durch
die Laplace’sche naturwissenschaftliche Kosmogonie: Am Anfang ein toter Gasball, das war
das Universum wie viele Jahrmilliarden oder Jahrtrillionen immer, bis eben in fortgehender
Differenzierung physische Gestalten, schließlich organische Leiber erwachsen und Seelenleben
aufleuchtet. Aber freilich nach Descartes und für die Gläubigen steht vor der Welt der schaffende
Gott, also doch ein Geist – nur ändert das nichts daran, dass an und für sich betrachtet Natur und
Geist für sich denkbar sind, für sich a priori zu erwägen nach ihren Wesensmöglichkeiten und
Wesensnotwendigkeiten. Gegenüber der Wesenstrennung und damit realen Trennung müsste
nun eine psychophysische Kausalität eine gewisse reale Beziehung herstellen, da beide doch
zur Einheit einer Welt gehören sollen, was die bekannten Schwierigkeiten des Okkasionalismus
mit sich führt und das in Verflechtung mit den Schwierigkeiten des göttlichen Weltwirkens.
Jedenfalls aber ist klar, dass hier eidetische Probleme innerhalb einer Weltontologie liegen:
Das Problem eines rein geistigen Apriori, ist es dasselbe für die transzendentale Geistigkeit
238 einleitung in die philosophie

es unterschob sich dem naturwissenschaftlichen Vorbild das geometrische.


Schon Descartes zieht immer rein geometrische Beispiele heran und sieht in
der Geometrie das methodische Ideal aller, auch der Realitätswissenschaft.

und dasselbe für eine menschliche innerhalb der Welt? Für eine Weltontologie kommt nur die
letztere in Betracht. Ist eine Seele ohne Leiblichkeit in einer Welt denkbar? Ist in einer Welt
nicht ganz ernstlich und in wissenschaftlicher Gewissheit eine bloß physische Natur denkbar
ohne Seelen? Gilt das noch, wenn wir in der Unendlichkeit der Zeit eine Welt absolut in ihrer
unendlichen und vollen Dauer denken?
1) Unverständnis der Methode im Mangel an Unterscheidung zwischen reiner und rea-
ler Mathematik. Unverständnis des geometrischen Vorbildes: Methode der Induktion der
Grundbegriffe und Grundsätze als Methode der reinen Möglichkeiten und ihrer Variation
etc.
2) Wohl auch Überschätzung der deduktiven Konsequenz und Unfähigkeit zu verstehen,
dass analytische Notwendigkeit nicht realen Widersinn ausschließt, also schon vor aller Empirie.
3) In der Wirksamkeit des geometrisch-naturwissenschaftlichen Vorbildes der Wissenschaft-
lichkeit lag die Naturalisierung allen Seins; das geistige Sein formell von gleicher Artung wie
physisches (sonst wäre der Parallelismus gar nicht möglich geworden), die geistige Kausalität
also von derselben Art wie die physische – in gleichem Sinne wie sie mathematisierbar oder
logifizierbar (in gleichem Sinne „analoge“ analytische Notwendigkeiten), obschon noch nicht
enthüllt war der Unterschied analytischer Notwendigkeit und realer Wesensnotwendigkeit
und beider von der kausalen Notwendigkeit, wobei die letztere sich enthüllte als induktive
Notwendigkeit, die über sich induktive Allgemeinheit hat, die als induktives Gesetz mit bloß
präsumptiver Gewissheit den zu erwartenden Einzelfällen Regeln vorschreibt. Ist dies schon
gesehen, dann reduziert sich der Fehler auf Blindheit des Unterschieds der Motivation und
induktiver Kausation, die beide unter total verschiedenen Wesensgesetzen stehen, wobei die
Induktion sozusagen rein empirisch-formale Gesetze hat (alles ist assozierbar), während die
Motivation sachhaltige Formgesetze hat. Jedenfalls liegt hier die Quelle der Naturalisierung
schon im Rationalismus. Das Geistige wird als eine zweite Natur gedacht. Determinismus.
Wie die physische Natur eine Natur ist, so muss (für Spinoza wenigstens) die Geistigkeit eine
Geistesnatur sein und eine parallele. Hier wie dort eine Eindeutigkeit der Kausalität, den
Mechanismus. Randbemerkung zu 3) und 4): Blindheit für das Eigenwesen des Bewusstseins,
Rationalität
4) Unfähigkeit, das Ich-Streben, das personale Wirken, die Freiheit zu sehen. Widersinnige
Unterscheidung: Alle Wissenschaften werden zu Sachwissenschaften, die Normwissenschaf-
ten verlieren ihren Sinn. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Sachwissenschaften und
Normwissenschaften. Damit werden logische und ethische Methodologie unverständlich. Ten-
denz, die erkenntnistheoretische Untersuchung „über den menschlichen Verstand“ als bloße
Tatsachenuntersuchung zu führen. Den Normproblemen, Problemen der Intentionalität und
speziell der Wesensart der Erzielung logischen und außerlogischen Tuns mit Zwecken, Zie-
len, werden untergeschoben naturalistisch-psychologische Probleme, Probleme der induktiven
Tatsächlichkeit psychischer Intellekte oder praktischer Erlebnisse. Unverständlich wird die
doch beständig in Frage kommende Unterscheidung und Beziehung zwischen Erscheinung und
Erscheinendem, zwischen Meinung und Gemeintem, zwischen richtiger und falscher Meinung
etc.
Schon bei Spinoza: Leugnung der Freiheit, starrer psychischer Mechanismus und doch eine
Normenlehre, die beständig mit geistiger Motivation und mit Zwecksetzung etc. operiert. Wider-
sinn des Operierens mit Begriffen der Unvollkommenheit und Vollkommenheit, des deus sive
natura, der doch ein Gott der Liebe sein soll. Unterscheidung: Für den Vollkommenheitsbegriff
rationalismus und empirismus 239

Und Spinoza geht so weit, sein universales metaphysisches und ethisches


System, die Ethica, ganz im Stil Euklids aufzubauen.1 Den abgrundtiefen
Irrtum dieser methodischen Auffassung brauche ich nicht lange zu erörtern.

und seine Abstufungen werden untergeschoben „Grade der Realität“, den Motivationen der
Liebe und des Hasses das Spiel der kausalen Determinationen der betreffenden Erlebnisse
als Tatsachen in der immanenten Zeit und als solche unter induktiver Regelung stehend. Die
idealen Einheiten des Gemüts: Schönheit, Wert, Zweck, Mittel etc. gehen durch die Natura-
lisierung eigentlich verloren. Aber auch die des Verstandes: Sein und Wahrheit als Einheiten
mannigfaltigen Erkennens, Erfahrens und Urteilens.
Spinoza hat eine durchaus apriorische Metaphysik und darin beschlossen eine apriorische
Physik und eine apriorische Psychik. Aber in dem Parallelismus liegt, dass beide formal identisch
sein müssten und nur material verschieden. Beide sind unselbständige Teile, sofern sie auf
dem Boden einer allgemeineren Metaphysik stehen, der Metaphysik der Substanz. Aber die
Methode ist noch nicht gesehen, die einer Ontologie allererst Sinn gibt: die Methode der
aus exemplarischer Anschauung schöpfenden Induktion, die Methode der Variation und der
Systematik im Bilden einzelner ontologischer Disziplinen und der Betrachtung ihrer Wesens-
zusammenhänge durch Anschaulich-Machen und freies Variieren der Horizonte. Die Aufgabe
einer universalen Ontologie und der Gründung in ihr beschlossener spezialer Ontologien und
apriorischer Disziplinen, die sich auf unselbständige Wesensmomente der Spezialitäten wie
Natur oder Geist beziehen (Geometrie, etc.), ist eine notwendige. Wie die Verabsolutierung
der Natur zwar unberechtigt, aber eine in sich geschlossene Natur eine notwendige Abstraktion
ist und notwendig eine in sich geschlossene Naturwissenschaft ist, so ist die Abstraktion eine
notwendige, die auf bloße Figur hinsieht, mag es wie immer mit der Realität dieser Figur stehen,
ja mag sie Figur eines bloßen Phantoms sein, wofern sie nur einheitlich erfahrbar gedacht
ist.
Andererseits bedarf es der Erkenntnis, dass Wissenschaften von der Welt und eine universale
Wissenschaft von der Welt als Faktum nur so weit exakte Wissenschaften sind, als sie reine
Begriffe und reine Möglichkeiten, also a priori, schöpfen; und aller Wirklichkeitserkenntnis
zugrunde liegt die Erkenntnis der notwendigen Form, ohne die eine Wirklichkeit überhaupt
nicht möglich wäre. Das ist Grunderkenntnis der Wissenschaftstheorie: 1) Das Vorangehen
der analytischen Möglichkeiten; 2) das Vorangehen der ontologischen Möglichkeiten (aber
nachfolgend den analytischen); 3) die exakte Erfahrungswissenschaft, die über alle analytischen
und realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten schon Herrschaft hat und nun im Rahmen
dieser Form den empirischen Möglichkeiten und Gesetzen nachgeht.
1 Gestrichen Die grundirrige methodische Auffassung des mathematischen Rationalismus, die

also auf der Unfähigkeit beruhte, einen so primitiven Unterschied wie den zwischen Wesenser-
kenntnis und Tatsachenerkenntnis, Wesensgesetz und Tatsachengesetz machen zu können,
bestimmt die Idee eines neuen Rationalismus wesentlich mit, damit auch den neuzeitlichen,
sich wiederum skeptisch-kritisch gegen den Rationalismus wendenden Empirismus. An sich
sind die neuen Gegensätze von Empirismus und Rationalismus, so sehr sie nach ihren For-
meln sozusagen die alten, sich durch das Mittelalter fortpflanzenden Gegensätze wiederholen,
durch die mit der Naturwissenschaft geschaffenen neuen Lagen inhaltlich schon darum neu
bestimmt, weil der Empirismus die exakte Naturwissenschaft nicht minder als absolut geltend
anerkennt wie der Rationalismus. Dieser nimmt, wie der alte, eine Ratio als Vermögen einer
die Erfahrung überschreitenden Vernunft an. Mit anderen Worten: Die wahre Wissenschaft
hat für ihn metaphysischen Charakter, ihr Korrelat ist, noch hinausgehend über den gemäßigten
Rationalismus des Aristoteles, eine durchaus hinter der sinnlichen Erscheinungswelt liegende,
240 einleitung in die philosophie

Wir wissen ja, dass eine apriorische Wissenschaft nur Erkenntnis gibt und
geben kann für ideale Möglichkeiten, aber nie für reale Wirklichkeiten.
Die Arithmetik, die Geometrie und ähnliche Wissenschaften gelten für
die wirklich gegebene Dingwelt, weil überhaupt Dinge, die einem Apriori
widerstreiten, in sich widersinnig wären, also undenkbar vor aller Frage nach
Wirklichkeit. Was als Faktum in der faktischen Welt ist, kann eine apriorische
Wissenschaft nie lehren, sie sucht nur Normen für das einstimmig Denkbare.
Der Wahn, eine Metaphysik, eine universale Wissenschaft von der absolu-
ten Wirklichkeit, nach dem Vorbild der mathematischen Naturwissenschaft
gewinnen zu können, war noch zur äußersten Verkehrtheit gesteigert in Form
dieses Wahns, eine Metaphysik rein a priori ordine geometrico und damit auch
in der absolut zwingenden Exaktheit der Geometrie aufbauen zu können,
ja, nicht nur die supranaturale Metaphysik, dann auch die Physik in ihrer
endgültigen exakten Gestalt sei eben nur eine apriorische Mathematik. Die
Ethica des Spinoza, die den ungeheueren und ungeheuerlichen Anspruch
erhob, diese Leistung vollzogen zu haben, fand zwar um ihres Inhaltes willen
leidenschaftliche Ablehnung, aber die methodische Quelle der Verkehrthei-
ten blieb ungeklärt. Der wesentliche Teil der inhaltlichen Anstöße, so vor
allem der starre Determinismus (der beim Menschen wie bei Gott nicht den
leisesten Raum für so etwas wie freies Walten ließ, weil alles und jedes in ma-
thematischer Notwendigkeit eindeutig vorgezeichnet sein musste), war doch
bestimmt durch den Naturalismus, das heißt durch die Vorbildlichkeit der
mathematischen Naturwissenschaft; und der Determinismus wäre derselbe
gewesen auch ohne geometrische Missdeutung.
Jedenfalls wurde die rationalistische Metaphysik als höchst unbefriedi-
gend empfunden; man wollte, wie sie, strengste Wissenschaft, aber dass es
in diesem Stil nicht gehen könne, war klar. Warum aber dieser Stil verkehrt

also die Erfahrung überschreitende, transzendierende Welt. Sie ist in Unterstufe die Natur, rein
mit den unsinnlichen Bestimmungen der mathematischen Physik genommen. In der höheren
Stufe ist sie Gott und überhaupt die Welt des Supranaturalen.
Der Empirismus andererseits nimmt ungleich dem alten und mittelalterlichen Empirismus
nicht die bloße Erscheinungswelt, die Welt der sinnlichen Erfahrung als wahre Wirklichkeit hin,
sondern auch ihm gilt die physikalische Natur als wahre (insofern ist er eigentlich metaphy-
sisch); wogegen er streitet, ist aber das Supranaturale oder jene Vernunft, die fähig sein soll nicht
in Form des Glaubens, sondern strenger Wissenschaft von den religiösen Transzendenzen, von
den metaphysischen Realitäten im spezifischen Sinne Auskunft zu geben. Zumindest verhält
er sich da relativ skeptisch und will möglichst wenig von solcher Metaphysik, etwa nur einen
Gottesbeweis gelten lassen. „Empirismus“ heißt er aber, weil er darauf besteht, dass die neue
Physik eine Erfahrungswissenschaft sei und dass das wissenschaftliche Denken hier nur dadurch,
dass es auf dem Geltungsgrund der Erfahrung fuße Text bricht ab.
rationalismus und empirismus 241

war und wie richtige Methode hier aussehen muss, das war keineswegs klar.
So wurde man dahin gedrängt, das Wesen der Erkenntnis überhaupt, die
Quellen und Grenzen ihrer Geltung und vor allem ihrer Geltung jenseits
der möglichen Erfahrung, zum eigenen Thema der Forschung zu machen.
Denn in diesem wissenschaftlichen Jahrhundert, das auf allen Seiten von dem
Glauben an die Möglichkeit und Macht echter Wissenschaft erfüllt war, war
nicht wie im Altertum Raum für einen spielerischen Skeptizismus, der sich
damit begnügt hätte, die metaphysische Erkenntnis mit fein geschliffenen
Argumenten zu diskreditieren. So machte man sich an die positive und neu
gerichtete Arbeit. Immer neue Schriften tauchten auf, die speziell den Men-
schenverstand, die Erkenntnis und ihre rationale Geltung zum Thema hatten.
Daran beteiligte sich nicht nur der gegen den Rationalismus reagierende
Empirismus, sondern der Rationalismus selbst, teils aus Abwehr, teils um
sich für sich selbst fortschreitende Klarheit über die Erkenntnismethode zu
schaffen, die so große Ansprüche erhob.1
Doch muss hier auch gesagt werden, dass der Rationalismus in seinem
gewaltigen Bemühen um eine universale, absolut exakte Philosophie schon
vor all dem mit vernunfttheoretischen Untersuchungen begonnen hatte, die
er eben von vornherein zur Sicherung seines Verfahrens brauchte, nur dass
sie bei ihm noch keinen großen Raum einnahmen.2 Erst durch den Em-
pirismus erhielten die vernunfttheoretischen Studien die Ausgestaltung zu
einer großen und systematischen Wissenschaft und den bald allgemein aner-
kannten Beruf, alle anderen Wissenschaften hinsichtlich der Grenzen ihres
Rechtes und des Sinnes ihrer Leistung auszuwerten.3 (Die jetzt üblichen
Namen „Vernunftkritik“ und „Erkenntnistheorie“ stammen aus viel späte-
rer Zeit. Der erstere, kantische, weist eben auf diesen Beruf einer „Kritik“
speziell hin.)
Der neuzeitliche Geist kam hier in eine unerwartete und recht üble Lage:
Mit ungemessener Begeisterung hatte er sich der neuen Naturwissenschaft
in die Arme geworfen und hatte sie zunächst unbesehen verabsolutiert und
war alsbald entschlossen, nach ihrem Vorbild eine universale Philosophie,
eine universale mathematische exakte Weltwissenschaft zu schaffen. Und

1 Gestrichen (Ja es hat sich gezeigt, dass schon der erste große Philosoph der Neuzeit, Descar-

tes, geradezu die Notwendigkeit eines eigenen Studiums des Verstandes ausgesprochen und in
dieser Richtung eigene Untersuchungen angestellt hatte: aber die Regulae sind erst lange nach
seinem Tod erschienen.)
2 Randbemerkung Es gehörte zur Tradition des Rationalismus seit Platon eine Methodologie

der Erkenntnis.
3 Randbemerkung Das Letztere hat schon Descartes gewollt.
242 einleitung in die philosophie

nun musste er dessen innewerden, dass er schon den Sinn, die Leistung,
die Tragweite dieser vorbildlichen Wissenschaft selbst gar nicht verstehe.
Und daran nicht genug. Gedrängt zur Begründung einer neuen Wissen-
schaft von der Wissenschaft schaffenden Erkenntnis überhaupt, die als die
letztnormierende Instanz für alle anderen Wissenschaften fungieren soll, die
also selbstverständlich von absoluter Evidenz und Sicherheit sein musste,
musste man beobachten, dass gerade diese Wissenschaft zum Tummelplatz
der größten Streitigkeiten werden, dass gerade sie von aller zwingenden
Sicherheit am fernsten bleiben musste. Wenn wir hinzunehmen, dass die
vernunfttheoretische Problematik sich alsbald über die theoretische Sphäre
hinaus erstrecken musste, also bedenken, dass eine Wissenschaft der Ver-
nunft auch die Quellen der Geltung der ethischen, religiösen und so aller
die Menschheit leitenden praktischen Normen umfasst, so ist die skeptische
Gefahr einer verworren verbleibenden Vernunftwissenschaft begreiflich.
Es ist zu verstehen, dass der Wille zur radikalsten und universalsten
Kritik, der sich in der Vernunftwissenschaft aussprach, obschon er aus dem
Willen zur radikalsten Begründung aller logischen, ethischen, metaphysisch-
religiösen Geltung entsprungen ist, schließlich durch das Versagen der Ver-
nunftwissenschaft in einen Skeptizismus umschlagen konnte. Daran liegt
es also, dass jener alles zersetzende und die neue Kultur in den innersten
Wurzeln zerstörende Skeptizismus erwachsen konnte, der die Gegenwart
innerlich lähmt, und dass er entspringen konnte aus einer schrankenlosen
und vermeintlich vernunfttheoretischen fundierten Kritik der Vernunft, de-
ren Resultat eben allgemeine Entwertung aller Werte war. Leider hat dieser
Geist in der Tat Epoche gemacht. Das aus den reinsten Quellen entsprungene
philosophische Streben hat der Menschheit, statt ihr mit der Wissenschaft
eine Gabe höchsten Segens darzubieten, mit ihr, so scheint es fast, den
größten Fluch gebracht. Diese schicksalsvolle Entwicklung ist aber die Folge
der Halbheiten und Unklarheiten, in denen die Vernunftkritik allzu lange
und trotz allen leidenschaftlichen Mühens großer Geister stehen geblieben
ist. Doch die Halbheiten lassen sich in Ganzheiten, die Unklarheiten in
Klarheiten verwandeln, und wir haben in der Tat keinen Grund, von je-
nem Optimismus eine Linie abzuweichen, von dem unsere philosophischen
Unterhaltungen bisher getragen waren.
Der1 Empirismus ist wie historisch eine Fortwirkung des antiken Skep-
tizismus, so auch innerlich, nach seinem eigenen Wesen, ein nur mehr oder
minder verhüllter Skeptizismus. Mag er sich dessen – wie das so oft der Fall

1 Gestrichene Randbemerkung Empiristische Erkenntnistheorie.


rationalismus und empirismus 243

war – selbst nicht bewusst sein, sowie er konsequent zu Ende gedacht wird,
tritt der Skeptizismus zu Tage. Locke, der Begründer der modernen empiris-
tischen Erkenntnistheorie, glaubte die objektive Geltung der Wissenschaft
und auch diejenige der ethischen Normen gerechtfertigt zu haben. Aber
in seinen Nachfolgern werden seine Inkonsequenzen ausgeglichen, und das
Resultat der Entwicklung ist bei David Hume der nackte Skeptizismus, der
die Vernunft in ein Vermögen der Fiktion verwandelt und sein Resultat darin
hat, dass nicht nur die supranaturale Metaphysik, sondern schon die exakte
Naturwissenschaft als ein zufälliges psychologisches Gebilde der Assoziation
und Gewohnheit jeder vernünftigen Rechtfertigung entbehre und für immer
entbehren muss. Und der Moral geht es bei ihm nicht wesentlich besser.
Unsere angekündigte optimistische, also anti-skeptische Stellungnahme
beschließt also von vornherein eine Stellungnahme gegen jeden Empirismus
und Positivismus, und damit ist gesagt, dass wir die wahre positive Philoso-
phie, die ein wertvolles Menschenleben allein vor der Vernunft rechtfertigen
kann, in einer Erneuerung eines Rationalismus suchen müssen, wobei freilich
der Begriff des Rationalismus, der von uns selbst festgestellte bleiben muss.
So große Irrtümer den historisch überlieferten rationalistischen Philosophien
auch anhaften mögen – und es sind oft, wie bei Spinoza, prinzipielle Verkehrt-
heiten abschreckendster Gestalt –, wir werden doch urteilen müssen, dass
die rationalistischen Philosophien, die des Altertums und die der Neuzeit,
Vorstufen zu einer künftigen wissenschaftlichen Philosophie sind. Das zeigt
sich nicht nur darin, dass in ihnen allein, mehr oder minder fortgebildet, ein
Erbstück des platonischen Apriori erhalten geblieben ist, ohne das sozusagen
Vernunft niemals zur Vernunft kommen kann. Die Unklarheiten, die daran
haften blieben, und die Ausartungen des mathematisierenden Rationalismus
haben den Empirismus gar schnell dahin gebracht, alle und jede Wesenser-
kenntnis zu leugnen und sie psychologistisch umzudeuten.
Aber als Vorstufe echter Philosophie zeigt sich der Rationalismus auch
darin, dass er zuerst das reine Bewusstsein entdeckt hat, das dazu berufen
ist, das Feld der echten Erkenntnistheorie und der echten Vernunftwissen-
schaft überhaupt zu bilden. Der Entdecker aber ist – wie ich in der letzten
Vorlesung schon sagte – Descartes (1596–1650), eben damit der Erzvater
der neuen Philosophie überhaupt. Die Entdeckung liegt beschlossen in den
Meditationes (1641). Freilich ihren eigentlichen Sinn und ihre Tragweite hat
Descartes selbst nicht gesehen. Damit wollen wir uns nun beschäftigen. Die
Größe Descartes’ zeigt sich in dem Radikalismus, mit dem er eine absolute
Erkenntnisgründung fordert und einen Boden sucht, auf den alle Erkenntnis,
wenn sie letztberechtigt sein soll, zurückzuführen ist.
244 einleitung in die philosophie

Descartes’ Innenwendung

Der Optimismus, der unsere Vorlesungen durchweht, ist kein anderer als
der Glaube an die Wissenschaft und an eine letztgültige Wissenschaft und an
das Recht der Evidenz, das sie als echte Wissenschaft in allen ihren Schritten
durchleuchtet. Und es ist der Glaube an das ursprüngliche Recht der Kor-
relation von Wissenschaft und wahrhaft seiender Gegenständlichkeit, die
nur ist und nur die wahren Beschaffenheiten hat, die eine entsprechend weit
gediehene Wissenschaft in ihrer gültigen Weise in logischer Gestalt bestimmt.
(Und es ist der Glaube, dass, wie viel zwischen Himmel und Erde auch sein
möge, von dem unsere Schulweisheit sich nichts träumen lässt, doch alles,
was ist, Thema vernünftiger Fragen ist. Und jede vernünftige Frage lässt
eine und nur eine vernünftige Antwort zu in Form der Wissenschaft. Jede
Unklarheit lässt sich in Klarheit, jede Ahnung in Gewissheit verwandeln, jede
einseitige und vorläufige Erkenntnis in eine endgültige. Zuhöchst glauben wir
an das Recht einer obersten Zielidee, der Idee einer universalen Philosophie
als einer unendlichen und doch stufen- und stückweise lösbaren Aufgabe.
Dieser Glaube ist aber nicht ein blinder Glaube, trotz aller Skeptizismen,
die es behaupten. Er ist es nicht, schon insofern, als wir schon in der ersten
und rohesten Reflexion es sehen, dass zwischen Sätzen, die ihre Quelle in
bloßer Konvention oder in überlieferter Autorität haben, und Sätzen, die
wissenschaftlich in sogenannten einsichtigen Beweisen ihre Quelle haben,
ein Unterschied des Rechtes, der Geltungsdignität besteht. Nun bestehen
freilich ebensolche Unterschiede zwischen prätendierten wissenschaftlichen
Begründungen, und es kommt vor, dass der eine für einsichtig begründet
erklärt, was der andere gar nicht einsichtig findet, und dass wir selbst, was
uns einmal mächtig „einleuchtet“, das andere Mal selbst als einleuchtend
falsch erkennen. Und doch dürfen wir guten Mutes sein, wenn wir auf die
Mathematik und etwa die Arithmetik hinblicken, zunächst auf die primi-
tivsten Sätze wie „2 + 1 = 1 + 2“ oder die primitivsten Schlussgesetze wie
„a > b also b < a“ oder den Satz der dritten Gleichheit. Ebenso, wenn wir
primitive Beweise uns ansehen und sie in Zerlegung ihrer kleinsten Schritte
in absolut einsichtige Selbstverständlichkeiten sich auflösen sehen und wei-
ter beobachten, dass die ganze Arithmetik, so weit sie als Wissenschaft
reicht, aus solchen Selbstverständlichkeiten gebaut ist, deren jede absolut
feststeht.1

1 Am Rande eine Null.


descartes’ innenwendung 245

Jede anfangende Erkenntnistheorie wird hiermit beginnen, wird den Be-


griff echter Evidenz gegenüber jenem unechten Einleuchten, das der Evi-
denz nur unterschoben wird, an solchen Beispielen abnehmen und so dem
extremen Skeptizismus Paroli bieten, der Evidenz als ein bloß subjektiv be-
stimmendes Motiv und als ein gänzlich relatives aufgrund der besprochenen
bekannten Vorkommnisse hinstellen möchte. Sie wird auch durch Analyse
von Scheinevidenzen nachmessen, wie unvermerkt sachfremde, etwa un-
seren Leidenschaften und Gewohnheiten entgegenkommende Motive uns
bestochen haben. Sie wird auch darauf hinweisen können, dass der extreme
Subjektivismus sich selbst aufhebt etc. Aber solche Vorpostengefechte ver-
scheuchen nur die leichte Kavallerie des Skeptizismus.)
Den extremen Subjektivismus und Skeptizismus werden wir nicht mehr
ernst nehmen. Der wirklich gefährliche Skeptizismus ist der in unserem
jetzigen Zusammenhang besprochene Empirismus und Positivismus; er ist
so recht der Wolf im Schafspelz, der für die Freiheit des Denkens, für die
völlige Vorurteilslosigkeit wissenschaftlicher Stellungnahmen und für das
Recht echter Wissenschaft zu kämpfen vorgibt, ja in ernster persönlicher
Überzeugung dafür eintritt, während er bei tieferer Betrachtung sie, wenn
auch unverständig und unwissentlich, verrät. Und dasselbe betrifft die Par-
allelen des theoretischen Empirismus in Moral und Religion (wobei ich aber
nicht Religion und Konfusion verwechselt wissen möchte).
Die Rechtfertigung der Erkenntnis oder Vernunft, die notwendig wird,
wenn dieser Empirismus überwunden werden soll, aber auch, wenn der rich-
tige Rationalismus, der Rationalismus des absolut guten Gewissens, begrün-
det werden soll, bedarf eines schweren Geschützes, er bedarf einer ganzen
Wissenschaft. Paradoxerweise einer Wissenschaft1. (Diese Wissenschaft soll
einsichtige Normen für die Möglichkeit objektiver Triftigkeit von Erkennt-
nistätigkeiten aller Wissenschaften geben, also müsste sie in ihren eigenen
Erkenntnistätigkeiten unter ihren eigenen Normen stehen.)
Wie ist eine solche Wissenschaft möglich? Sicher ist: Solange wir sie nicht
haben, nützt uns unser immer noch naiver Optimismus wenig. Unser Glaube
mag gut sein, aber er hält sich noch in der Höhe vager Allgemeinheit, und in
dieser Allgemeinheit ergibt sich uns höchstens, dass zum Beispiel im Hinblick
auf die Arithmetik, Physik usw. manche „Wissenschaft“ ihr Recht hat; aber
sie gibt uns kein Wissen von der besonderen Erkenntnisleistung der jeweils

1 Gestrichen da doch schließlich die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt ihrer Erkennt-

nisweise nach zum Problem wird.


246 einleitung in die philosophie

vollzogenen Erkenntnistätigkeiten und lässt uns daher ratlos gegenüber den


streitenden Erkenntnisinterpretationen des Empirismus und Rationalismus,
wie wenn der eine sagt „Alle echte Wissenschaft ist rational im Sinne geo-
metrischer Rationalität“ und der andere „Alle Wissenschaft ist rational im
Sinne einer Erfahrungswissenschaft“.
Doch wir werden bald noch schlimmere und rein aus Motiven der Er-
kenntnisinterpretation herstammende Gegensätze kennenlernen, wie wenn
die einen der Natur absolute Wirklichkeit zumessen und andere die Natur
nur als eine im Bewusstsein sich herausbildende Fiktion und wieder andere
sie wieder anders deuten. Ist es nicht von vornherein klar, dass hier nur
weiterzukommen ist, wenn man sich reflektiv mit dem Erkennen in seinem
eigentümlichen Leisten, zuhöchst dem wissenschaftlichen Leisten, systema-
tisch beschäftigt, alle hier aufweisbaren Tätigkeiten zum wissenschaftlichen
Thema macht und sie so auf die Stufe der höchsten Klarheit und der sicheren
wissenschaftlichen Begriffsfassung erhebt?
Aber nun stoßen wir bei der Frage, was für eine Erkenntnissphäre die
Sphäre möglicher Erkenntnis selbst ist, in welche Region sie gehöre, auf
ein großes Paradoxon. Erkennen ist eine psychische Tätigkeit, gehört also in
die Psychologie, die empirische Wissenschaft vom menschlichen Seelenleben
überhaupt; so sagt der Empirismus, und er heißt, sofern er in dieser beste-
chenden Weise argumentiert, „Psychologismus“. Das klassische Grundwerk
dieser Richtung ist das große Locke’sche Werk über den menschlichen
Verstand. Merkwürdig genug aber wird diese Position bestritten, nicht nur
als faktisch falsch, sondern als a priori widersinnig; und das rationalisti-
sche Grundwerk, welches den Boden herausstellt, auf dem im Voraus die
Möglichkeit einer nicht-psychologischen Erkenntnisforschung gegeben ist,
sind Descartes’ Meditationes. Auf diesem Boden wachsen die echten tran-
szendentalen Probleme, die allein eine sinngemäße Erkenntnistheorie und
demgemäß eine echte und endgültige Philosophie ermöglichen. Mit diesem
Werk wollen wir beginnen, wie Sie es längst erwarten.
Meditationes de prima philosophia lautet der Titel. In der Tat ist es eine in
Form von Meditationen gekleidete allgemeine Einleitung in eine rationalis-
tische Metaphysik, und es ist andererseits doch ein erkenntnistheoretisches
Werk, obschon nichts weniger als eine systematische Wissenschaft von den
verschiedenen Erkenntnistätigkeiten und ihren einzelnen oder in den ver-
schiedenen Verbindungen vollzogenen Erkenntnisleistungen. In der einen
Hinsicht finden wir zum Beispiel Beweise für das Dasein Gottes, die Lehre
von physischen und geistigen Existenzen als zweier Grundarten endlicher
Substanzen, in der anderen Hinsicht Ausführungen über Imagination und
descartes’ innenwendung 247

Intellektion, über den Erkenntniswert der äußeren Erfahrung, über das Er-
kenntniskriterium der Evidenz, über den Geltungswert der mathematischen
Wissenschaften. Und beides hängt nahe zusammen. Erkenntnistheoretische
Betrachtungen dienen dazu, metaphysische Behauptungen zu begründen.
Was in dem Werk für die Geschichte der Philosophie für immer, solange die
historische Kontinuität dieser Menschheit noch reichen mag, unvergesslich
sein wird, das reduziert sich auf die wenigen Seiten der ersten und zweiten
Meditation, Seiten von einer schlichten Einfalt, in ihrem tiefen, nicht so
leicht zugänglichen Sinne von einer unvergleichlichen Genialität. Nur diese
Seiten sollen uns beschäftigen. Es sind die Ausführungen, für die Examens-
kandidaten eine besondere Vorliebe zu haben pflegen, da sich das zu Tod
gehetzte cogito mit ein Paar armen Sätzen so schnell anlernen lässt.
In den Meditationes und schon in dem Discours, Schriften, die Ihnen
zumindest in den Übersetzungen bei Reclam ohne weiteres zugänglich sind,
bekundet sich ein großartiger Radikalismus, der Radikalismus, der allein
eine echte Philosophie ermöglicht. Anschaulich und lebendig erzählt uns
Descartes, wie er in seiner Jugend (auf der sicherlich vortrefflichen Jesui-
tenschule in La Flèche) alle Wissenschaften seiner Zeit kennengelernt hat,
wie sie ihn aber alle mit Ausnahme der Mathematik unbefriedigt gelassen
hatten. Sie waren höchstens dazu gut, über alle Dinge plausible Urteile
abzugeben und allenfalls auch sich anderen gegenüber groß zu wähnen. Die
Mathematik, die durch ihre Exaktheit und Evidenz absolut feste Wahrheiten
darbietet, erfüllt ihn mit Bewunderung, und zugleich fasst er, bestimmt durch
dieses Vorbild, den Gedanken einer universalen Reform der Philosophie,
aller Wissenschaft überhaupt. Eine Neubegründung des gesamten Baus der
Erkenntnis auf absolut festem Grunde. Die Wissenschaften sind historisch
erwachsene Konglomerate von Meinungen, unsystematisch, ohne rechte
Begründung; es bedarf eines völligen Umsturzes und dann eines völligen
Neubaus.
Diesen völligen Umsturz muss jeder Einzelne, der echter Philosoph sein
will, in sich vollziehen; einmal in seinem Leben muss jeder alles in Frage
stellen und sich des festen Bodens für sein Wissen versichern und es darauf
sicher gründen. Versuchen wir also diesen völligen Umsturz. Versuchen, wir,
genauer gesprochen, alles, was wir bisher, und sei es noch so fest, geglaubt,
was wir vermeintlich noch so sicher erwiesen hatten, in Zweifel zu ziehen, und
machen wir es uns jetzt zum Prinzip, alles, was den leisesten Grund zu einem
Zweifel bieten könnte, was mit ihm den leisesten Hauch von Ungewissheit
mit sich führt, auszuscheiden, ihm unsere Zustimmung zu versagen, es
zurückzuweisen.
248 einleitung in die philosophie

Genauer überlegt, ist damit nicht gesagt, dass wir ernstlich bezweifeln und
gar das „Zweifelhafte“ ernstlich negieren sollen. Denn das unterliegt beides
nicht unserer Willkür. Es gibt gar vieles, wovon wir in Gewissheit überzeugt
sind, während wir doch wohl wissen, dass ein Zweifel daran wohl möglich
ist und das Nichtsein also nicht absolut ausgeschlossen ist, wie zum Beispiel,
ob der gute Freund, den wir deutlich hereinkommen sehen, wirklich dieser
Freund, oder nicht ein anderer ist. Was für das Nichtsein spricht, kann aber
bedeutungslos sein: Wir sind dann nicht in Zweifel und können auch nicht
willkürlich zweifeln, geschweige denn, dass wir willkürlich urteilen können,
es sei nicht. Aber uns der Zustimmung enthalten und vorläufig kein Urteil
darüber abgeben, unsere innere Überzeugung sozusagen jetzt außer Aktion
setzen, das können wir, das untersteht durchaus unserer Willkür.
Unsere Methode besteht also darin, dass wir aus unserem bisherigen und
mit so vielen wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Überzeugungen
besetzten Urteilsfeld jedes Urteil ausscheiden, an dem auch nur die leiseste
Möglichkeit haftet, dass der geurteilte Sachverhalt nicht sei. Und nicht nur
wissenschaftliche und irgend formulierte Urteile nehmen wir, sondern auch
alle Erkenntnisakte, die wie die Wahrnehmungen eine Überzeugung von
einem wirklichen Sein in sich schließen, und behandeln sie in derselben
Weise. Wir bilden also ein neues Urteilsfeld, welches zunächst völlig leer
ist und schrittweise besetzt werden soll mit solchen Überzeugungen, die
jeden erdenklichen Zweifelsgrund absolut ausschließen. Nun brauchen wir
nicht aus der vagen Endlosigkeit unserer bisherigen Überzeugungen jede
einzelne hervornehmen; wir können gleich unendliche Klassen mit einem
Schlag erledigen. Wir folgen den Erkenntnisvermögen.
Zunächst die Sinnlichkeit. Jede sinnliche Wahrnehmung und somit jede
Erfahrung bietet Zweifelsmöglichkeiten. Täuschungen kommen, wie wir alle
wissen, vor. Denkt man hier genauer nach, so merkt man, dass jede noch so
klare Wahrnehmung möglicherweise eine Trugwahrnehmung ist. Descartes
zeigt das mit zwei Worten durch Heranziehung des Traumes und offenbar
können wir auch Fieberhalluzinationen und dergleichen anomale Zustände
heranziehen. Es ist immer doch eine Möglichkeit, wenn auch vielleicht eine
wenig wahrscheinliche Möglichkeit, dass ich, auf den gesehenen Gegenstand
zugehend, und nach ihm greifend ins Leere greife oder dass ich gar, nachdem
die Wahrnehmungen ganz einstimmig zu verlaufen schienen, plötzlich jenes
Erlebnis habe, das wir „Erwachen“ nennen, wobei alles vor dem wahrge-
nommenen Jetzt „Traum“ heißt.
Hat man erkannt, dass keine Wahrnehmung denkbar ist, bei der nicht
diese Möglichkeiten offen bleiben, bei denen also die vollständige Gewissheit
descartes’ innenwendung 249

für das Sein des Wahrgenommenen niemals ausschließt, dass es in Wirklich-


keit doch nicht sei, so haben wir also nach unserer Methode das Gesamtreich
äußerer Wahrnehmung auszuschalten. In unserem Urteilsfeld kommt also
die gesamte Natur nicht vor. Kein Urteil über sie ist gestattet. In diesem
Radikalismus geht Descartes weiter, so weit, dass er selbst in der Sphäre
der wissenschaftlichen Vernunft nichts übrig lässt, sogar bei der Mathematik
nicht Halt macht und auch für sie gewisse Zweifelsmöglichkeiten findet.
Es scheint also, dass unser Urteilsfeld völlig leer bleibt. Und das sagt: Es
scheint, dass wir auf eine absolut gegründete Erkenntnis verzichten müssen.
Wie können wir hoffen, zweifellos zu wissen, dass etwas in wahrem Sinne
sei, und zu wissen, wie es wahrhaft sei, wenn wir keine absolut zweifellose
Erkenntnis, keine, die jeden auch nur möglichen Zweifel ausschließt, ge-
winnen könnten, wenn wir keinen absoluten Seinsboden haben, auf den wir
weiter bauen können und nach Prinzipien, die selbst absolut sind? Wo ist
der archimedische Punkt, von dem aus wir die Erkenntniswelt in Bewegung
setzen können?
Nun, es gibt doch einen solchen. Wenn ich an allem zweifle, so kann ich an
dem Zweifeln selbst und damit auch an mir, der ich zweifle, nicht zweifeln.
Indem ich einen Akt des Zweifelns vollziehe, bin ich mir seiner bewusst, kann
ihn in der inneren Aufmerksamkeit in seiner absoluten Selbstheit erfassen,
ihn wahrnehmen. Dass dieses Wahrnehmen täusche, dass es die Möglichkeit
noch offen lässt, dass der soeben erlebte Zweifel nicht sei, das ist absolut
undenkbar. Und was von einem Zweifeln gilt, das gilt von allem Bewusstsein
(cogitare, cogitationes), z. B. von dem der äußeren Wahrnehmung und Er-
fahrung, von irgendeinem soeben vollzogenen wissenschaftlichen Denken,
vom Fühlen, Wollen. Ego cogito – ego sum.
In unserem absolut gesicherten Erkenntnisfeld verbleibt also als die ein-
zige Seinssphäre das Ich und unser dahinströmendes Bewusstsein mit all
seinen Akten des Wahrnehmens, Vorstellens, Urteilens usw., so wie sie
der innere Blick der Reflexion jederzeit ganz unmittelbar und in absolu-
ter Originalität erfasst.1 Für das Ego, das hier absolut festgestellt ist, setzt

1 Gestrichen Damit ist das Reich der reinen Immanenz gegenüber dem Reich des tran-

szendenten Seins abgeschieden. (Allerdings Augustin war im Altertum fast ebenso weit und
doch nicht ganz so weit.) Es wird sich nun darum handeln, was hier geleistet ist, wirklich
klarzustellen. Aber auch schon im Altertum tritt diese Scheidung dem philosophischen Be-
wusstsein nahe. Ich erinnere Sie an die höchst merkwürdige Interpretation des Gorgias, die
wir am Anfang dieser Vorlesung besprochen haben, wo in flüchtiger Weise Bewusstsein und
Bewusstseinsgegenstand gegenübergestellt und dann leichtfertig die Unerkennbarkeit jedes be-
wusstseinsäußeren Seins behauptet wird. Ernsthafter nähert sich Augustin der Ausscheidung
250 einleitung in die philosophie

Descartes auch ein mens sive animus sive intellectus und sagt: Ich bin mir
meiner absolut gewiss als denkende Substanz, während die gesamte Natur,
das Reich ausgedehnter Substanzen dem möglichen Zweifel verfällt.
Mit Staunen werde ich dessen inne, dass ich von allem, was als Nicht-Ich,
als dem Ich Fremdes, mir gegeben und wie in der äußeren Wahrnehmung,
wie es scheint, ganz unmittelbar gegeben ist, nur dadurch weiß, dass ich von
mir weiß, näher, dass ich in meinem Bewusstseinsfeld cogitationes, genannt
„äußere Wahrnehmungen“, und sonstiges transzendierendes Bewusstsein
habe. Gewisse meiner Erlebnisse sind nicht nur, sondern sie meinen über sich
hinaus oder besser etwas „Äußeres“. Sie kündigen sich als „Wahrnehmung“
und „Wissen“ von etwas an, was sie nicht selbst sind. Aber nun ist es ein
Problem, wie es mit dem Recht dieses Hinausmeinens, Hinauswahrnehmens
steht. So ergibt sich sofort mit der Scheidung des reinen Geistes und sei-
nes reinen Bewusstseinsreichs für Descartes das Problem: das sogenannte
Problem der Existenz der realen Außenwelt.1
Im Zusammenhang mit dieser Frage (nach dem Recht, mit dem das Ich,
die geistige Substanz, eine ihrem Bewusstseinsstrom transzendente Welt
annimmt, statt seine cogitationes allein als wirklich seiende gelten zu lassen)

des Feldes reiner Immanenz, ja er hat es schon, aber er geht doch im Radikalismus nicht so weit
wie Descartes. Besprechen wir zunächst, wie die Sachen sich für ihn und dann wieder für die
Folgezeit darstellen, schließlich aber, was für die Scheidung in tieferer Erwägung gewonnen ist
und welche Forschungsmöglichkeiten durch sie vorgezeichnet sind. Absolut sicher bin ich, der
die methodische Zweifelsbetrachtung Vollziehende, nur meines Ich und meiner cogitationes.
1 Gestrichen Die gewöhnlichen Leser der Meditationes fassten ihren hauptsächlichen Sinn

so: Jeder Mensch hat eine innere Wahrnehmung, durch welche er unmittelbar und in absolu-
ter Sicherheit sich selbst nach seiner aktuellen Geistigkeit erfasst, alles andere nur mittelbar
durch Schlüsse, deren Recht wissenschaftlich bestimmt werden muss. Im Zusammenhang mit
der Frage nach dem Recht der Transzendenz steht die Frage nach dem Recht der Evidenz.
Warum trauen wir vor aller Erkenntnistheorie einer objektiven Wissenschaft, die doch nach
allen Erkenntnisschritten in unserer Immanenz verläuft? Weil diese Erkenntnisschritte in ihrer
methodischen Ordnung und Formung von Evidenz durchleuchtet sind. Wir sehen ein: Stellen
wir die objektive Wissenschaft in Frage, so wird sie uns zum immanenten Phänomen und
ebenso ihre Evidenz. Descartes geht daran nicht vorüber, dass diese Evidenz doch selbst wieder
eine Immanenz, ein Bewusstseinscharakter an den betreffenden Erkenntnisakten ist. Er soll der
Recht gebende Charakter sein. Aber wie kommt dieses subjektive Erlebnis dazu, etwas über sich
hinaus zu verbürgen, das Sein eines im Bewusstsein vermeinten Äußeren? Hier weiß Descartes
in der Tat nicht weiter. Könnte nicht ein allmächtiger Lügengeist unsere Seele gemacht und
sie so eingerichtet haben, dass nichts von dem Äußeren, von dem wir evidente Erkenntnis
haben, existiert? Ist eine Welt bewusstseinstranszendenter Dinge, so ist sie doch an sich und
geht ihren Lauf. Unser Bewusstsein ist an sich und hat seinen Lauf. Warum muss, wenn unser
Bewusstseinslauf in einer Evidenz terminiert, nun das entsprechende Äußere wirklich eintreten?
Ja, warum muss Äußeres überhaupt sein? Vielleicht ist es gar nicht. Descartes weiß sich nur mit
einem mehr als fraglichen Gottesbeweis zu helfen und mit der göttlichen veracitas.
descartes’ innenwendung 251

steht das cartesianische Problem des Rechtes der Evidenz. „Warum“, fragt
er zunächst, „bin ich denn so sicher, dass ich zweifle, dass ich denke, dass ich
bin? Weil ich eine clara etc. habe. Das heißt: Ich habe absolute Evidenz, wie
der jetzt übliche Ausdruck lautet. Aber habe ich nicht auch sonst Evidenz,
so in der mathematischen Naturwissenschaft? Kann ich nicht sagen „Wo
immer ich diese völlig klare Evidenz, Einsicht habe, da habe ich die gleiche
Sicherheit“? – Aber nun ist es merkwürdig, dass Descartes vor dieser Ent-
scheidung zurückschreckt und in seiner eben nicht sehr durchsichtigen und
sehr anstößigen Darstellung einen Beweis dafür sucht, dass die Evidenz in
der Tat die ihr zugemutete Geltung hat. Sieht man in die Tiefe, so merkt
man, dass das, was dem Descartes eigentlich anstößig erscheint, eben die
Erlaubnis ist, welche die Evidenz geben soll, eine bewusstseinstranszendente
Objektivität zu setzen und zu bestimmen.1
Was ihn (leider ohne dass er es sich und dem Leser völlig deutlich ge-
macht hätte) bewegt, ist der Gedanke: Das Ego cogito ist absolut zwei-
fellos und darum, weil ich es absolut klar sehe. Dass dieses Sehen wirk-
lich absolut verbürgend ist, ist außer Frage und ganz verständlich. Anders
aber, wenn eine Evidenz ins Transzendente hinausmeinenden cogitationes
anhaftet, nämlich den Erkenntnisakten, die ich in mir als mathematischer
Naturforscher vollziehe; sie sollen das Recht geben, eine bewusstseinstran-
szendente „objektive“ Natur zu erkennen. Unter allen Umständen ist doch
Evidenz selbst ein in die Bewusstseinssphäre hineinfallender Charakter, eine
immanente Eigenheit an cogitationes. Wie kann eine rein zur Subjektivität
gehörige cogitatio bloß dadurch, dass sie einen eigentümlichen reinen sub-
jektiven Charakter annimmt, ein außer-subjektives Sein verbürgen? Besteht
hier nicht, fragt sich Descartes, die Möglichkeit, dass alles Ich-Äußere trotz
der Evidenz der betreffenden, noch so strengen Wissenschaft nicht sei?
Könnte nicht ein mächtiger Lügengeist meinen Geist so geschaffen haben,
dass keine meiner noch so evidenten Erkenntnisse der mathematischen
Naturwissenschaft, sofern sie äußeres Dasein begründen wollen, wahr ist:
Könnte er mich nicht so geschaffen haben, dass ich gerade da überall irren
muss, wo ich transzendente Einsicht habe? Da baue ich in meiner Innerlich-
keit die herrlichsten Wissenschaften, ich füge Erkenntnis an Erkenntnis und
folge streng dem Prinzip einsichtiger Begriffs- und Urteilsbildung, ich baue
aufeinander evidente Beweise zu evidenten Theorien, aber wie sehr mich
das innerlich befriedigt, ist das nicht ein subjektives Spiel, dem objektiv am
Ende gar nichts entspricht?

1 Randbemerkung In der ausgezeichneten Gestalt der rationalen wissenschaftlichen Evidenz.


252 einleitung in die philosophie

Descartes hilft sich nun in einer Weise, die zeigt, dass er die Größe der
Entdeckungen, die er eigentlich schon im Besitz hat, nicht ahnt; denn er
lässt sie in einer großen Irrung fahren, um sie nie wieder zu gewinnen. Er
hilft sich nämlich durch einen Gottesbeweis, der, obschon er vermeintlich
rein auf dem Boden des reinen Bewusstseins geführt ist, durch und durch
verkehrt ist. Er sucht dann zu zeigen, dass zum Wesen Gottes die veracitas
gehört und dass es dieser widersprechen würde, wenn das Kriterium der
Objektivität, das er uns in der Evidenz gegeben hat, ein täuschendes wäre.
Ein wahrhafter Gott kann uns nicht täuschen wollen. Also hat die objektive
Naturwissenschaft wirklich Geltung, demnach existiert auch die physische
Natur selbst und nicht nur das Naturphänomen und das wissenschaftliche
Denken aufgrund dieses Phänomens.
Überlegen wir jetzt etwas sorgsamer, was in der cartesianischen Funda-
mentalbetrachtung an Ewigkeitswert liegt, möchte es auch ihrem Entde-
cker verborgen geblieben sein. Seine merkwürdige Methode de omnibus
dubitandum besteht, sagten wir, darin, dass er nicht etwa wirklich alles in
Zweifel zieht, sondern einen universellen Zweifelsversuch vollzieht und ihn
von jedem die Methode Gebrauchenden zu vollziehen fordert. Genauer noch
verfahre ich so, dass ich bei jeder Erkenntnis den Ansatz versuche, wie gewiss
ich ihrer auch sei, sie gelte vielleicht nicht oder, was einerlei, ihr jeweili-
ges Objekt sei in Wahrheit nicht. Nur wo dieser Ansatz durch Widersinn
zerschellt, nur wo das Nichtsein undenkbar ist, nehme ich die betreffende
Erkenntnis in mein Urteilsfeld, das der absoluten Zweifellosigkeit, auf.
So ergibt sich hinsichtlich des individuellen Seins der Kontrast zwischen
immanentem und transzendentem Sein, bestimmt durch den Kontrast der
auf sie bezüglichen Erkenntnisweisen und vor allem schon der Wahrneh-
mungen. Nehmen wir auf der einen Seite Dinge der Natur, z. B. Häuser,
Bäume, Menschen. Während wir sie wahrnehmen, sind wir völlig ihres Da-
seins gewiss; Wahrnehmen ist ja in sich selbst das gewisse Bewusstsein der
unmittelbaren leibhaften Wirklichkeit des Wahrgenommenen. Wie sollten
wir auf den Einfall kommen, Zweifelsmöglichkeiten zu erwägen? Aber
siehe da, wenn wir die cartesianische Methode anwenden, so kommt es
uns zum Bewusstsein, dass wir uns in jedem Fall einer Wahrnehmung doch
sehr wohl denken können, dass das Wahrgenommene nicht sei, obschon wir
es wahrnehmen, obschon es uns in seinem leibhaften äußeren Dasein ganz
gewiss ist. Dieses Denken ist von allem Widersinn frei. Wir können das
Nichtsein zur klaren Vorstellung bringen, ohne die jeweilige Wahrnehmung
im Geringsten wegdenken zu müssen. Wir können uns klar vorstellen, wie
sich, ihr zu trotz, das Nichtsein oder Nichtsosein des Gesehenen ausweisen
descartes’ innenwendung 253

würde: Zum Beispiel: Wir sahen soeben einen Menschen. Wir können uns
denken, dass wir, näher tretend und von unserer Ausgangswahrnehmung in
neue und neue Wahrnehmungen übergehend, zu dem Bewusstsein kämen:
Das ist ja gar kein Mensch, das ist eine mechanische Puppe. Freilich ist das
ein Ausnahmefall. Im Allgemeinen bestätigt sich die erste Wahrnehmung
im Fortgang zu immer neuen Wahrnehmungen; sie stimmen zusammen im
klaren Bewusstsein des einen und selben Wahrnehmungsdinges. Aber das
ist eben das Wichtige, dass prinzipiell die Gegenmöglichkeit besteht, also
für jede Erfahrung und unter allen Umständen besteht. Wie reich die Be-
stätigungen auch schon gewesen sein mögen, nie ist es ausgeschlossen, dass
das äußerlich Erfahrene in Wahrheit nicht sei oder anders sei, als wie es
bisher wahrgenommen wurde. Also: Der Rechtsanspruch jeder einzelnen
Erfahrung und jeder noch so weit geführten einstimmigen Erfahrungsreihe
ist nur ein vorbehaltlicher – vorbehaltlich des einstimmigen Ganges der
weiteren Erfahrung.1
Nun ist aber die ganze Welt mit Sonne, Mond und Sternen, mit die-
ser Erde und allen ihren Dingen für den Erkennenden, für mich, nur da
durch Erfahrung. Mag Wissenschaft wie immer das wahre Sein der Natur
bestimmen, sie könnte nicht anfangen, wenn Erfahrung uns nicht schon
Gewissheit vom Dasein äußerer Dinge gäbe. Also kommen wir zum Re-
sultat: Es besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass diese ganze Dingwelt
möglicherweise nicht existiert trotz meiner gegenwärtigen und bisherigen
einstimmigen Erfahrung. Und dasselbe sagt: Ein Zweifel an ihrer Existenz
mag zwar töricht sein, da ich ja keinen positiven Grund habe, der gegen die
Existenz der Welt spricht; aber möglich ist solch ein Zweifel beständig, eben
sofern es immerfort möglich ist, dass der weitere Erfahrungsverlauf positiven
Zweifelsanlass beibringen wird und mich schließlich gar zur Negation zwingt.
Demgegenüber haben wir eine andere Wahrnehmung und Erfahrung, die
in diesen Beziehungen ganz anders steht. An allem äußeren Sein kann ich
wohl, obschon ich es wahrnehme, zweifeln. Aber am Zweifeln selbst und

1 Randbemerkung Ich sage, der Rechtsanspruch sei vorbehaltlich. „Vorbehaltlich“ dürfte man

nicht sagen für den Erfahrungsglauben. Denn der ist gewiss, und mache ich ihn klar und deutlich,
das heißt, erzeuge ich mir die antizipierend-erfüllenden „Vorerinnerungen“, so verlaufen sie
kontinuierlich im Sinne durchgängiger Einstimmigkeit. Diese Vorerinnerungen sind prinzipiell
nicht völlig bestimmt und können im Rahmen der Vorzeichnung beliebig näher bestimmt
werden, in Reihen der Einstimmigkeit von Vor-Erinnerungen. Aber ich habe offene, ebenfalls
anschaulich zu machende „Möglichkeiten des Andersseins und Nichtseins“, also solche der
Aufhebung des Erfahrungsglaubens. Insofern ist das Recht vorbehaltlich, nämlich dass diese
Möglichkeiten nicht eintreten. Auch das ist nicht leere Phantasie.
254 einleitung in die philosophie

am jeweiligen aktuellen Bewusstsein kann ich nicht zweifeln. Zum inneren


Bewusstsein von meinen cogitationes gehört eine erfassende Wahrnehmung,
die jede Möglichkeit des Zweifels, jede Möglichkeit des Nichtseins des Wahr-
genommenen ausschließt. Was diese Wahrnehmung als wirklich setzt, ist
ein für alle Mal gesetzt; künftige Wahrnehmung kann hier überhaupt nicht
mitreden. Es ist schlechthin undenkbar, dass das lebendige Erlebnis, dessen
ich in mir soeben inne bin, sich noch als eine Täuschung, ein Traum u. dgl.
herausstellen könnte, dass hinterher noch Gegengründe gegen das Sein sich
ergeben und ausgewiesen werden könnten. Mit anderen Worten: Jedes Ich-
Bewusstsein, jedes cogito, ist in der immanenten Wahrnehmung seinem Ich
absolut gegeben, während jedes äußere Sein zwar auch wahrnehmungsmäßig
gegeben ist, aber prinzipiell nur in Form einer offenen Präsumtion.
Denkt man diese Sachlage so differenziert und konsequent aus, wie wir
es hier tun, so ist es alsbald klar, dass der Sinn des ego cogito, ego sum,
der das Reich des reinen Bewusstseins als absolut zweifellose Gegebenheit
bezeichnen will, unter dem Titel „Ego“, „Ich“, nicht das Ich im Sinne
der gewöhnlichen Rede meinen darf. Dass ich, dieser Mensch, bin, das ist
keineswegs absolut zweifellos im Sinne der cartesianischen Methode. Ich,
der Mensch, habe diesen Leib, der durch äußere Wahrnehmung gegeben
ist wie alle Dinge der Raumwelt. Die Wahrnehmung vom eigenen Leib hat
in der Art ihrer Geltung keinen besseren Anspruch als jede andere äußere
Wahrnehmung. Der Amputierte hat Schmerz am Fuß, in demselben (nach
seiner klaren Wahrnehmung), der ihm abgenommen worden ist. Allgemein
ist es denkmöglich, dass dieser ganze, mir wahrnehmungsmäßig gegenwärtige
Leib nicht sei, während ich doch bin und die betreffende Wahrnehmung
ist, die ich eben im Moment des Wahrnehmens nicht leugnen kann. Dieses
letztere Ich ist das Subjekt, für das sein Leib Phänomen ist und das in seinem
absoluten Urteilsfeld seinen äußeren Leib nicht setzen darf.
Ebenso steht es aber auch mit dem menschlichen, rein seelischen Ich.
Mit dem Leib habe ich, diese Person, die diese seelischen Akte vollzieht,
diese Charakteranlagen hat, diese Fähigkeiten, Fertigkeiten hat, Stellung
in der raumzeitlichen realen Welt, in der Allnatur. Sowie wir methodisch
die Natur aus unserem Feld absoluter Zweifellosigkeit ausschließen und
uns auf das Feld absolut gewissen Seins beschränken, haben wir mit dem
Leib den psychophysischen Menschen ausgeschieden, den Menschen, dessen
Seelenleben in dem psychophysischen Kausalzusammenhang steht, dessen
Sinnesempfindungen abhängig sind von Reizen, die seine leiblichen Sinnes-
organe erfahren usw. Gewiss kommen in der menschlichen Seele, in dem
jeweiligen Bewusstsein des betreffenden Menschen, die und die cogitatio-
descartes’ innenwendung 255

nes (Wahrnehmungserlebnisse, Urteilsakte, Gefühls-, Willensakte) vor und


bilden miteinander die und die Bewusstseinsverflechtungen; aber wenn ich
so spreche, so tue ich es aufgrund der Weltwahrnehmung, ich nehme die
wahrgenommene und erfahrene Natur als Wirklichkeit hin. Für mich seiende
Wirklichkeiten sind diese Dinge, darunter diese Leiber, denen ich Bewusst-
sein einlege, aufgrund ihres Mienenspiels, ihres sinnlichen Ausdrucks jeder
Art. Sowie ich aber in der cartesianischen Methode alles transzendente Sein,
alle Natur ausschalte, sind auch alle menschlichen Bewusstseinserlebnisse
ausgeschaltet.
Nun kann ich auch wie die fremden meine eigenen Bewusstseinserlebnisse
als menschlich-animalische auffassen: Ich fasse meinen Eigenleib als Ding
der phänomenalen Natur und meine eigenen cogitationes als ihm empirisch
anhängend und durch ihn in der Raumwelt lokalisiert, ich denke sie als Be-
stimmungen eines gewissen psychophysischen Realen, genannt „Ich, dieser
Mensch“. Aber dann finde ich in der strengen cartesianischen Methode den
Unterschied zwischen meinen reinen cogitationes, wie sie in sich sind, und
nachkommenden objektiven Auffassungen, welche den cogitationes eben
die Deutung von seelischen Daten eines Menschen verleihen,1 sie nämlich
als etwas mit dem äußeren wahrgenommenen Menschenleib real Einiges
auffassen und damit in dem äußeren Raum lokalisieren.
Das Reich der absoluten Gegebenheiten, das des reinen Bewusstseins,
enthält also nie etwas vom Menschlich-Realen, sowenig wie von einer Natur
sonst. Die cogitationes, die es enthält, lassen zwar jederzeit die Auffassung
als menschliche zu; aber sowie diese Auffassung eintritt, muss sie nach der
cartesianischen Methode als bloßes Phänomen genommen werden, vom
wirklichen Sein der Natur und in ihr von psychischen Phänomenen darf
kein Gebrauch gemacht werden. Das Menschlich-Seelische kommt in der
Natur vor, wenn wir in natürlich-naiver Einstellung Naturwahrnehmung und
Naturwissenschaft ohne Weiteres gelten lassen, nicht aber im Feld der reinen
cogitationes, das ja erwächst, wenn alles Natürliche ausgeschaltet wird.
Die fundamentale Entdeckung, die durch die cartesianische Zweifelsme-
thode, wenn wir sie streng durchführen und zu Ende denken, gewonnen ist,
können wir danach bezeichnen durch die folgende prinzipiellste aller Unter-
scheidungen: 1) das Menschensubjekt, das Ich, die Person als Gegenstand in
der räumlich-zeitlichen Welt, ist zu unterscheiden von dem reinen Ich (oder

1 Gestrichen diese hinzukommenden Auffassungen sind nichts anderes als cogitationes, die

als Gegebenheiten des inneren Bewusstseins im reinen Bewusstseinsfeld ihre Stelle haben.
256 einleitung in die philosophie

auch transzendentalen Ich), das im reinen cogito als Subjekt fungiert. 2) Es


muss dementsprechend unterschieden werden zwischen a) dem naturalisier-
ten Akterlebnis des cogito, des „Ich nehme wahr“, „Ich fühle“, „Ich will“,
also dem in der natürlichen Selbstauffassung „Ich bin ein Mensch“ dem
Raumleib Zugedeuteten, dessen Subjekt der oder jeder Mensch ist, und b)
dem cogito als reines Bewusstsein, dessen Ich das reine Ich ist. Oder auch:
Es ist zu scheiden Bewusstsein als Zustand und Akt der menschlichen Seele
und das reine oder auch transzendentale Bewusstsein. Die cartesianische
Evidenz der absoluten Zweifellosigkeit bezieht sich nur auf das reine, in
keiner Weise aber auf das empirische Ich und Ich-Bewusstsein.
Doch obliegt es mir jetzt, zur Klarheit zu bringen, warum diese Unter-
scheidung eine der größten Entdeckungen ist und inwiefern sich mit ihr,
wie ich es wiederholt angedeutet habe, das Feld zu einer neuen und in einem
ausgezeichneten Sinne philosophischen Wissenschaft eröffnet, einer Wissen-
schaft, die auf alle möglichen Wissenschaften bezogen ist und die berufen
ist, allen Wissenschaften zur letzten Einheit und zur letzten Wahrheit zu
verhelfen. Zu diesem Zweck wollen wir zunächst das Ziel, um dessentwillen
Descartes seine Meditationes entworfen und jene fundamentale Betrachtung
ausgeführt hat, beiseite setzen. Es soll also jetzt nicht unser Interesse sein,
eine Begründung aller Wissenschaften auf absolute Gründe anzustreben;
wir wollen nicht erwägen, inwiefern dieses Ziel ein notwendiges und auf
seinem Wege erreichbares ist. Vielleicht dass in dieser Zielstellung und ihrer
Methode der cartesianische Genius von oben her wohlgeleitet war, aber es
soll uns das jetzt nicht beschäftigen. Vielmehr genüge uns folgende leicht
zu vollziehende Wendung der cartesianischen Methode; am deutlichsten
vollzieht sie jeder in der Ich-Rede.
Also eine Mannigfaltigkeit von Gegenständlichkeiten sind mir erkennt-
nismäßig gegeben, darunter die als in sich abgeschlossen vorstellige, von
dem einen Raum und der einen objektiven Zeit umspannte Allnatur, das
Weltall im natürlichen Sinne.1 Diese ganze Welt ist für mich beständig da-
seiende Wirklichkeit dank meinen äußeren Wahrnehmungen. (All meine
Naturerkenntnis, also auch alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die
ich vollziehe, beruhen auf Wahrnehmungen derart, dass, wenn ich mei-
nen äußeren Wahrnehmungen die Zustimmung versagen müsste, also das

1 Gestrichen Ihm ordnen wir uns selbst ein wie alle unsere Nebenmenschen und die Tiere;

sowie wir in natürlicher Weise von Erfahrungsvorstellungen von Menschen oder Dingen zu
Erfahrungsvorstellungen von uns selbst und von uns selbst zu Menschen und Dingen übergehen.
descartes’ innenwendung 257

Wahrgenommene durchaus als nichtig ansetzen müsste, ich keine Substrate


für naturwissenschaftliche Bestimmungen mehr übrig behielte und für Na-
turerkenntnis überhaupt. In der natürlichen, ungebrochenen Wahrnehmung
finde ich vor, und zwar in Gewissheit meinen Leib und finde den Leib
als Zentrum einer sich von ihm aus in den Raum hinaus erstreckenden
Dingumgebung, die in Gewissheit als ihm original daseiende gegeben ist. Ist
diese unmittelbar wahrgenommene Dingwirklichkeit nichts, so ist überhaupt
nichts, nämlich auch nichts in der Welt oder Natur überhaupt. Denn die ferner
und endlos sich forterstreckende Natur ist für mich nur Wirklichkeit als die
in leiblicher Fortbewegung und durch Aktion der Sinnesorgane wahrneh-
mungsmäßig erreichbare Wirklichkeit. Gälte meine direkte Umgebung für
mich als nichts, so verlöre auch das sich sehend und tastend Fortbewegen-
Wollen und -Können seinen Sinn. Ebenso setzt all mein theoretisches Ex-
perimentieren die Wahrnehmung meiner unmittelbaren Umgebung voraus
und setzt voraus, dass ich sie als daseiend hinnehme.)1
Ich überzeuge mich nun und erkenne es als eine völlig evidente Wesens-
einsicht, dass jede äußere Wahrnehmung die Möglichkeit offen lässt, dass
das wahrgenommene Ding nicht sei (sofern nämlich an jede Wahrnehmung
sich weitere Wahrnehmungen so anschließen können, dass die Kontinuität
der Erfahrung von demselben sich als Wirklichkeit immerfort bestätigenden
Ding plötzlich einen Bruch erfährt und nun das in der Wahrnehmung be-
schlossene Bewusstsein vom gewissen Dasein umschlägt in das Bewusstsein
des Nichtseins). Ich erkenne schließlich, dass die Denkmöglichkeit besteht,
es sei wie eine beliebig einzelne dingliche Erfahrung so die gesamte Na-
turerfahrung nur bisher in einstimmiger Kontinuität geblieben und verliefe
von nun ab so, dass ich urteilen müsste, die Natur sei nicht. Folglich ist für
mich der Ansatz, es sei überhaupt diese Natur nicht, obschon ich sie erfahre,
eine klare Denkmöglichkeit. Andererseits ist es aber evident, dass unter
Voraussetzung des Nichtseins der Natur nicht etwa alles individuelle Sein
aufgehoben wäre. Ich selbst bin doch, der ich diese Voraussetzung mache,
und meine Erfahrungen sind. Es ist offenbar: Mag es mit dem Fortgang
der Wahrnehmungen und ihrer Zusammenstimmung mit dem bisherigen
Erfahrungsgang sich wie immer verhalten, das Sein jeder Wahrnehmung
und ihres Zusammenhangs und weiterhin das Sein meiner – gleichgültig,
ob richtigen oder falschen – Urteilsakte, das Sein meiner Gefühle, meiner
Begehrungen, meiner Willenserlebnisse wird durch den Ansatz, es existiere

1 Am Rande eine Null.


258 einleitung in die philosophie

die Natur, das gesamte Weltall nicht, keineswegs betroffen. Ich finde also in
mir ein Reich notwendigen Seins, eines Seins, das nicht Natur ist, das durch
die denkmögliche Verwandlung der Wirklichkeit der Natur in Nichtigkeit
nicht selbst zu nichts würde. Dieses Reich des durch eine Weltvernichtung
unvernichteten Seins ist das Reich der reinen Subjektivität, das Reich des
reinen Bewusstseins, dessen Subjekt ich selbst bin.1
(Denke ich mir die Natur ausgeschaltet, d. i. methodisch als nichtseiend
gesetzt, so ist damit der Ausschaltung verfallen mein Leib und wie alle
anderen Menschen so auch ich, der Mensch selbst, nämlich, als Mensch, als
ein Naturwesen, das diesen wirklichen Naturleib hat, mit dem ein Seelen-
und Bewusstseinsleben real verbunden ist in den und den psychophysischen
Regelungen. Aber wenn ich mit der Natur mich selbst als Menschen in der
Natur ausgeschaltet habe, so bin ich selbst doch, ich der Ausschaltende,
der Erfahrende, der Denkende, absolut und durch diese Ausschaltung nicht
betroffen. Und als dieses Ich, dieses leiblose und naturlose Ich, für das alle
Natur Objekt ist und ich selbst als Natur Objekt bin, ist das reine Ich.
Ebenso scheiden sich reines Bewusstsein und Bewusstsein in der Natur, real
angeknüpft gedacht an einen Naturleib.)
In dieser methodischen Fundamentalbetrachtung ist keine Rede von ei-
nem methodischen Zweifel, der ein absolut sicheres Fundament für eine
universale Begründung aller Wissenschaften liefern soll. Es ist jetzt daraus
eine Methode geworden, zwei aufeinander in merkwürdiger Weise bezo-
gene Seinssphären scharf zu sondern: die Seinssphäre der Welt und die
Seinssphäre des reinen Ich und seines Bewusstseins (und speziell des rei-
nen Erkenntnisbewusstseins). Eine Methode ist es geworden, uns einer für
alle echte Philosophie entscheidenden Erkenntnis absolut zu vergewissern,
nämlich dass das, was wir das Weltall nennen und in natürlicher Weise
in der Tat für das All des individuellen Seins überhaupt halten, noch auf
ein anderes Seinsreich uns verweist, das durch Nichtsein des Weltalls nicht
aufgehoben ist.
(Ohne Beziehung zueinander sind sie darum nicht, das sehen wir von
vornherein. Denn für mich, das reine Ich mannigfaltiger Erkenntnisakte,
ist das Weltall als erfahrenes gegeben, als wahrgenommenes, als erinnertes,
erwartetes, weiterhin als gedachtes, als naturwissenschaftlich erforschtes; und
die wahre Existenz des Weltalls spricht sich in diesem reinen Bewusstsein aus

1 Randbemerkung Aber als reines, leibloses, nicht der Raumwelt einlokalisiertes Ich, als das

Ich, für das alle Natur Objekt ist.


descartes’ innenwendung 259

in einer gewissen Regelung in dem Strom der fortlaufenden Wahrnehmun-


gen, nämlich in dem Stil einer gewissen zusammenstimmenden Synthesis der-
selben, während das immerfort mögliche Nichtsein der Welt sich ausspricht
in Gestalt der nicht vereinzelten und versöhnbaren, sondern in der gesamten
und unversöhnlichen Unstimmigkeit der Erfahrungszusammenhänge. Das
nähere Studium dieser Zusammenhänge mag eine große Aufgabe für sich
sein. Jedenfalls aber ist eine scharfe Sonderung dieser aufeinander bezoge-
nen Seinsreiche vollzogen, die korrelativ zu gesonderten Erkenntnisreichen
werden können.)
Es eröffnet sich also die Aussicht auf eine Wissenschaft vom reinen Ich
und seinem Bewusstsein als eine völlig neue Wissenschaft gegenüber den
Wissenschaften vom Weltall. Diese prinzipiell unterschiedenen Wissenschaf-
ten beruhen auf einer grundverschiedenen Einstellung. Die Natur ist für
uns da durch äußere Erfahrung. Wir erkennen die Natur und theoretisie-
ren Natur aufgrund der Erfahrung. Das sagt: Wir leben in der Erfahrung
und wir vollziehen die in ihr und zunächst in der Wahrnehmung liegende
Wirklichkeitssetzung, wir nehmen, was sich unbestritten als wirklich gibt,
auch als wirklich hin1. In dieser Einstellung urteilen wir in natürlicher Weise
vorwissenschaftlich und wissenschaftlich über die erfahrene Natur. Auch das
Bewusstsein selbst kann naturwissenschaftliches Thema sein, sofern es als
äußerlich erfahrenes, d. i. als menschliches, zu einem Leib real zugehöriges
gemeint ist und in seiner räumlichen Gegebenheit hingenommenes.
Einer völligen Änderung der natürlichen Einstellung bedarf es, wenn
das reine Ich und Ich-Bewusstsein zur Erfassung und zur wissenschaftlichen
Forschung kommen soll: Es bedarf dann der eigentümlichen, im Vorhin-
ein beschriebenen, vorgezeichneten Methode, die ich „die Methode der
phänomenologischen Reduktion“ nenne. Durch die universale Möglichkeit
des Nichtseins aller Gegebenheiten äußerer Erfahrung hebt sich das reine
Ich ab und seine Bestände. Wir gewinnen sie aber auch, wenn wir statt
des universalen Ansatzes des Nichtseins die universale Urteilsenthaltung

1 Gestrichen ohne zu reflektieren, ohne das Wahrnehmungserlebnis selbst zum Thema zu

machen. Die Kontinuität der auf den einen und selben Erfahrungsgegenstand bezogenen
Wahrnehmungen läuft ab, ohne dass wir auf sie achten; für sie ist nur eines da: Der eine
Wahrnehmungsgegenstand und sein Gehalt. Ein ganz anderes ist die Reflexion auf die Wahr-
nehmung. In der Tat, es bedarf der Reflexion, der Ablenkung des Blickes von dem Gegenstand,
der da ist, auf das Wahrnehmungserlebnis und auch auf die Erscheinungsweisen, in denen der
Gegenstand sich gibt. Die naturwissenschaftliche, die weltwissenschaftliche Einstellung ist die
naiv natürliche auf den äußeren Gegenstand gerichtete im natürlichen Vollzug der äußeren
Erfahrung.
260 einleitung in die philosophie

hinsichtlich des Seins der Natur fordern oder wenn wir uns die strenge
Regel geben, eine Urteilssphäre zu bilden, in der keine mit Präsumtion
behaftete Erfahrung benutzt werden darf, also keine äußere Wahrnehmung,
die ja das Nichtsein ihres Objekts offen lässt. Zunächst ist die ganze physische
Natur und mit ihr dann das objektive Weltall überhaupt ausgeschaltet; übrig
bleibt die Urteilssphäre der neuen Wissenschaft, die wir „Phänomenologie“
nennen.

Phänomenologie als apriorische Wissenschaft

Es genügt für uns, die Frage der Möglichkeit einer Phänomenologie als
apriorischer Wissenschaft vom reinen Ich einleuchtend zu machen und später
zu zeigen, dass sie eben im strengsten Sinne fundamentale philosophische
Wissenschaft ist, von der alle anderen Wissenschaften ihre endgültige Aus-
wertung zu gewinnen haben. Zunächst ist es an sich klar, dass wir in der
phänomenologischen Einstellung, also unter Abweisung aller Auffassungen,
welche die Bewusstseinserlebnisse als Bestandstücke der Natur auffassen,
die verschiedenen Akte, die uns da auffallen, der platonischen Methode
unterziehen und sie zu Exempeln für eidetische Allgemeinheiten, für die
Bildung reiner Ideen oder Wesen nehmen können. Wir erheben uns über
das zufällige Einzeldatum, wir heben etwa aus äußeren Wahrnehmungen
den Wesenstypus der äußeren Wahrnehmungen überhaupt heraus, ebenso
den Wesenstypus der Erinnerung, der fingierenden Phantasie, des Bewusst-
seins der Abbildung, den der Bezeichnung, der Symbolisierung oder auch
des sprachlichen Ausdrucks, der Aussage, der behauptenden Aussage usw.,
ebenso für Gemüts- und Willensakte. Wir studieren dann, welche Wesens-
zusammenhänge durch diese Wesenstypen als apriorische Notwendigkeiten,
Möglichkeiten, Unmöglichkeiten vorgezeichnet sind. So z. B. studieren wir
die in freier Phantasie zu vollziehenden Abwandlungen äußerer Wahrneh-
mungen, wie solche Wahrnehmungen in einer gewissen bestimmten Typik
zur Einheit der Einstimmigkeit sich verknüpfen und dabei das Bewusstsein
vom selben, sich bestätigenden Gegenstand ergeben, wie im Falle einer
Trugwahrnehmung der Bruch der Einstimmigkeit aussieht und wie er mit
Notwendigkeit gewisse Vorkommnisse des Zweifels oder der Negation des
Seins motiviert. Eine Unendlichkeit von Forschungen eröffnet sich hier,
sowie man ernstlich zusieht und die sachangemessene Methode übt.
Es ergeben sich phänomenologische Wahrnehmungs- und Erfahrungs-
theorien, Urteilstheorien, Willenstheorien, auch eine Phänomenologie der
phänomenologie als apriorische wissenschaft 261

Erfahrungs- und Urteilsevidenz, der praktischen Einsichtigkeit usw. Dabei


ist aber sogleich auf das allgemein Charakteristische jedes Bewusstseins,
jedes cogito im cartesianischen Sinne, zu achten. Jedes Bewusstsein ist Be-
wusstsein von etwas: in jeder Wahrnehmung sind wir uns bewusst eines
Wahrgenommenen, in jeder Erinnerung eines Erinnerten, in der Erwartung
eines Erwarteten, im Denken eines Gedachten, im Werten eines Bewerte-
ten usw. Eine Unzahl von Differenzen finden wir hier und erkennen dabei
alsbald, dass nicht nur jedes Bewusstsein überhaupt Bewusstsein von etwas
ist, sondern dass jeder Wandel im Wesenscharakter des Bewusstseins für das
in ihm bewusste Was eine verschiedene Modalität bedeutet. Verschieden
charakterisierte Akte des Bewusstseins können bald auf denselben, bald
auf verschiedene Gegenstände gehen, und wenn sie denselben Gegenstand
bewusst machen, können sie phänomenologisch sehr verschieden sein. Der-
selbe Gegenstand ist dann aber selbst in verschiedenen Modalitäten bewusst,
z. B. ein und derselbe Gegenstand kann nämlich anschaulich oder unanschau-
lich, kann wahrnehmungsmäßig oder in der Weise einer Bildvorstellung
oder in der Weise einer Anzeige durch Zeichen vorstellig sein. Er kann,
statt bloß vorstellig zu sein, etwa zugleich auch prädikativ durch Begriffe
gedacht sein, zudem auch gewertet usw. Aber wie dürfen wir hier davon
sprechen, dass ein Gegenstand bewusst sei und dass er sich dem Bewusstsein
in verschiedenen Modi gebe? Müssen wir in der Phänomenologie nicht alle
Gegenstände, vor allem die Naturgegenstände außer Spiel lassen?
Indessen, das ist gerade das Bedeutsame der Phänomenologie, dass sie
zwar alle transzendente Objektivität „als Wirklichkeit außer Spiel lässt“,
nicht schlechthin über sie urteilt, sie nicht schlechthin erfährt, und doch alle
mögliche Objektivität in gewisser Weise in sich befasst. Nämlich, wenn wir es
unterlassen, Dinge schlechthin zu erfahren, über wirkliche Dinge schlecht-
hin zu urteilen usw. und demnach von der ganzen Weltwissenschaft keinen
Gebrauch zu machen, so können wir doch nimmer das ausschalten, was im Ei-
genwesen des Bewusstseins beschlossen ist. Nehmen wir eine äußere Wahr-
nehmung, z. B. die von diesem Tisch hier, so ändert die Urteilsenthaltung über
die Existenz des Tisches und die Eigenschaften des wirklichen Tisches nichts
daran, dass diese Wahrnehmung in sich selbst Wahrnehmung von einem
sich so und so darstellenden Gegenstand ist, von einem für wirklich gehal-
tenen Tisch, von dem solche und solche Merkmale wahrnehmungsmäßig er-
scheinen.1 Und wenn es heißt „mehrere Bewusstseinsakte sind Bewusstsein

1 Gestrichen Wie ja auch dasselbe von einer nachweisbaren Halluzination und Illusion gilt.
262 einleitung in die philosophie

vom selben Ding“, so ist das keine transzendente Behauptung, sondern


besagt in der Phänomenologie, dass diese Akte in sich selbst und ihrem
Wesen nach ein Bewusstsein der Identitätseinheit hinsichtlich des in ihnen
bewussten Gegenstandes begründen.
Das Transzendente, deutlicher gesprochen, das im Bewusstsein als äußere
Wirklichkeit, als räumliche Realität Gesetzte, wird nicht geradehin als sei-
ende Wirklichkeit gesetzt und theoretisch bestimmt wie in den objektiven
Wissenschaften, sondern Sache der Phänomenologie ist unter anderem Be-
wusstsein das jenige, das in sich Bewusstsein von einem vermeinten Äußeren,
von einer vermeinten Welt ist; und jederlei Vermeintheit gehört in ihre
Sphäre, alle Gegebenheitsmodi, in denen äußeres Sein und Sein jeder Art
sich bewusstseinsmäßig darstellt.1 In unserer früheren Redeweise können wir
sagen: In der Phänomenologie studieren wir systematisch das gesamte, zum
transzendental reinen Wesen des Bewusstseins gehörige Apriori nach Noesis
und Noema; und im Noema gibt sich der jeweilige Gegenstand als das in den
oder jenen Modi Bewusste, und nur in dieser Immanenz im Bewusstsein ist
er hier wissenschaftliches Thema.
Wir sind reflektiv auf das Erkennen im reinen Bewusstsein gerichtet und
auf das, was in ihm selbst liegt2. Stellt sich heraus, dass wir geirrt haben, so
ändert das nichts daran, dass der Erkenntnisgegenstand in der Erkenntnis als
wirklich daseiender gemeint war. Aber nicht nur das. Als Phänomenologen
studieren wir wie andere Erkenntnisprozesse so auch den, der da heißt „Es
stellt sich heraus, dass der Gegenstand, der soeben als wirklich da erschien,
gar nicht existiert“, „die Erkenntnis war keine wahre, sondern eine irrige Er-
kenntnis“. Machen wir unter anderem einen Unterschied zwischen evidenter

Im trügenden Schein, etwa im Falle eines Geisterspukes auf einem Theater, erscheint doch ein
Geist, und im eigenen Bewusstseinswesen liegt eben solche Gegenständlichkeit und so, wie sie
darin bewusste ist; das ist eine mit in die Domäne der Phänomenologie gehörige Sache.
1 Gestrichen Beschränken wir uns auf die Erkenntnissphäre, so ist jetzt klar, wie eine rein phä-

nomenologische Erkenntnistheorie möglich ist und wie sie aussieht. Wir studieren da alle in der
allgemeinen Idee der Erkenntnis beschlossenen Bewusstseinsmodi und korrelativ, wie sich ihnen
gemäß der Erkenntnisgegenstand darstellt. Wir studieren, wie die Erkenntniszusammenhänge
aussehen, die dem allgemeinen Wesen nach Prozesse der Begründung sind, der unmittelbaren
und mittelbaren Evidenz, in denen sich also das betreffende Gegenständliche als wahrhaft
seiend herausstellt. Wir studieren da, was das heißt, ein Gegenstand sei dem Bewusstseinsubjekt
zweifellos gegeben, als unmittelbar daseiend gegeben oder zweifellos gegeben vermöge einer
mittelbaren Begründung. Wir studieren, was das heißt, er sei nur vorbehaltlich gegeben, mit
Wahrscheinlichkeit gegeben etc., oder was das heißt, er sei fälschlich gegeben, die Gründe für
ihn seien nur Scheingründe usw.
2 Gestrichen darunter der erkannte Gegenstand als solcher, so wie er da erkannt ist.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 263

Erkenntnis und nicht evidenter – Einsicht gebende, des wahren Seins in


sich selbst absolut vergewissernde oder in Abstufungen der Gewissheit, aber
doch rechtmäßig versichernde Erkenntnis gegenüber Erkenntnisakten, die
keinen ersichtlichen Rechtsgrund beibringen, die ohne Einsicht sind –, so
machen wir als Phänomenologen auch diesen Unterschied natürlich zum
Thema. Wir fragen: Wie sieht Erkenntnis vom Typus der Einsicht aus ge-
genüber der uneinsichtigen, und zwar eventuell bei gleichem noematischem
Erkenntnisobjekt? Was ist das „rechtgebendes Bewusstsein“ und am Objekt
der Charakter der rechtmäßigen Begründung? Das alles in apriorischer, also
genereller Betrachtungsweise.
Hiermit werden wir darauf aufmerksam, dass in der Phänomenologie
als einer generellen Wesenslehre möglichen reinen Bewusstseins überhaupt
eine Wesenslehre der Erkenntnis beschlossen ist und somit auch eine We-
senslehre der erkennenden Vernunft. Denn „Vernunft“ ist ein Titel für die
Gestaltungen des rechtmäßig erkennenden Bewusstseins, in dem sich also
das erkennende Ich des wahrhaften Seins des Erkannten vergewissert. Was
seinem Wesen gemäß Rechtmäßigkeit ist, worin ein Bewusstsein in sich
selbst sich hierbei auszeichnet, was es an ihm macht, dass das Erkenntnis-
objekt den korrelativen auszeichnenden Charakter des wahrhaften Seins
gewinnt und in seiner Wahrhaftigkeit nun selbst gegeben ist, das alles ist
hier Sache des Studiums. Nicht als ob die Objektivität schon vorausgesetzt
wird, etwa die Natur als selbstverständlich seiend, wie jedermann sich in
der Erfahrung überzeugen kann, und als ob nun nach einer Übereinstim-
mung meiner Erfahrung mit dem objektiv Seienden gefragt würde. Dann
wäre ja nicht mein Erfahren als es selbst und sein eventuelles Sich-in-sich-
selbst-Bestätigen befragt, sondern vorausgesetzt wären andere Menschen
und vorausgestetzt wäre, dass andere ihre Methode der Überzeugung
durch Erfahrung haben, die ich selbst im Voraus anerkenne, und als ob
nur die Frage wäre, wie das, was in jener „objektiven“ Methode heraus-
gestellt ist und von mir und jedermann zugestanden ist, meine Erfahrung
bestätigt oder nicht. Vielmehr ist die Frage, wie Erfahrung in sich selbst
als bestätigende Erfahrung aussieht, durch die ja erst andere für mich sein
können.
Natürlich gilt dann aber dasselbe für die Gemüts- und Willenssphäre.
Wie die betreffenden Bewusstseinsarten in der Mannigfaltigkeit ihrer ty-
pischen Gestaltungen einer Wesensanalyse unterworfen werden können,
so auch die darin beschlossenen ausgezeichneten Gestaltungen der axio-
logischen und praktischen Vernunft, nach Seiten der Noesis wie nach Sei-
ten des Noema (d. h. nach den Wesenscharakteren, die dem Gegenstand,
264 einleitung in die philosophie

wie er im Bewusstsein selbst bewusster ist, modal zuwachsen, eben als Kor-
relat der Verhaltungsweisen des reinen Ich selbst).1
Wir erinnern uns jetzt aber auch der früheren Untersuchungen über die
mehrschichtigen universalen Wissenschaftslehren. So hatten wir in der Logik
im weitesten Sinne beschlossen: 1) eine Wissenschaft von Gegenständen
überhaupt in formaler Allgemeinheit, zu der alle formalen mathematischen
Disziplinen gehörten. 2) Dann hatten wir, wenn wir Gegenstände über-
haupt als Themen eines möglichen Erkennens dachten, in noematischer
Hinsicht Gegenstände als Subjekte von Prädikationen, als Satzsubjekte oder
Satzobjekte, eingesponnen also in Sätzen, die selbst zum Thema und speziell
zum Thema unter dem Gesichtspunkt möglicher Wahrheit und Falschheit
gemacht werden können. Da kamen wir also auf die Logik der Sätze, auf
das Gebiet, das im Wesentlichen Aristoteles als Analytik im Auge hatte,
auf die Lehre von den Schlüssen und Schlusssätzen, Beweisen und Be-
weisgesetzen. 3) Wir gingen dann von der Betrachtung des noematischen
Erkenntnisgehalts auf die Erkenntnis selbst über und fanden als Korrelat
dieser noematischen Logik der Sätze die noetische Logik, das ist die Rechts-
lehre vom erkennenden Bewusstsein, die offenbar eingebettet ist in eine
allgemeinere Lehre vom Erkennen überhaupt. Diese noetische Logik, die
früher im Halbdunkel geblieben war, tritt jetzt ins Licht. Denn wir können
uns jetzt zur Einsicht bringen, dass die Erkenntnis- und Vernunftlehre, die
als Parallele zur formalen mathesis und zur Logik der Sätze zu fordern ist,
hineingehören muss in die phänomenologische Erkenntnislehre, dass sie,
mit anderen Worten, nur gemeint sein kann als Wesenslehre der allgemeinen
Formen des transzendental-reinen Erkenntnisbewusstseins und nicht als eine
wissenschaftliche Disziplin vom menschlichen Erkennen, als eine empirische
oder rationale Psychologie der Erkenntnis.
Gefordert war eine wissenschaftstheoretische Noetik doch aus folgen-
dem Grund. A priori sind Gegenstände überhaupt undenkbar, ohne dass
sie Gegenstände von Sätzen wären, von möglichen Aussagen, die über sie,
dass und wie sie sind, aussagten und, sind es mögliche oder wirklich seiende
Gegenstände, die über ihre Möglichkeit und Wirklichkeit in Wahrheit aus-
sagen. Und ebenso sind Gegenstände undenkbar, die nicht Gegenstände
eines mannigfaltig gearteten möglichen Erkennens sind und eben damit
eines Erkennens, in dem sie auch bewusst sind als Termini von verschieden
gebauten Sätzen als Bedeutungsgehalten des aussagenden Tuns. (Das ist eine

1 Randbemerkung Noetik.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 265

dreifache apriorische Korrelation, die die Notwendigkeit für drei parallele


Disziplinen vorschreibt.) Und alle drei bewegen sich in der Allgemeinheit,
die wir „formale“ nannten.1 Uns kommt es speziell darauf an, dass, wie es
Wahrheiten über Gegenstände überhaupt gibt, so Wahrheiten über die a
priori möglichen Erkenntnisgestaltungen, in denen Gegenstände als solche
zu erkannten Gegenständen werden können.
Nun ist es doch klar, dass zunächst alle formal-ontologischen Wahrheiten,
alle a priori und rein über Gegenstände als solche geltenden, wie die arithme-
tischen Wahrheiten, in ihrem eigenen Sinne gar nichts von dem Menschen,
von der gegebenen Natur aussagen, ja von der Existenz einer sachhaltig
bestimmten Natur und Welt überhaupt nichts aussagen.2 Von Gegenständen
überhaupt, von 2, 3, von einer Anzahl von Gegenständen überhaupt und
dergleichen ist die Rede, von sonst nichts.3 Freilich, haben wir nicht in einer
eigenen phänomenologischen Reduktion die Existenz der gegebenen Welt
ausgeschaltet und uns vorgenommen, darüber nichts aussagen zu wollen?
Aber ohne solche Vornahme liegt es eben im Sinne der formalen Mathema-
tik, dass sie, wenn sie wahr ist, eben in dem Sinne wahr ist, der in ihren
Aussagen liegt. Und dieser Sinn enthält nichts, auch nichts in verborgener
Weise, über die Welt. Dasselbe gilt natürlich auch von der formalen Satzlogik.
Wenn wir nun die korrelative Erkenntnislehre erwägen, so will sie in
formaler Allgemeinheit von Erkenntnisweisen handeln (d. i. nicht von den
Erkenntnisweisen, die in Sonderheit gerade und auszeichnend zur Erkennt-
nis dieses Tisches oder allgemein gerade zur Erkenntnis von Steinen oder
Pflanzen, Himmelskörpern gehören, sondern), die so allgemein gedacht,
von so allgemeiner Verwendbarkeit, dass, wenn überhaupt Gegenstände
gedacht sind, solche Erkenntnisweisen in Spiel treten könnten. Nun wird
man doch sagen müssen: Gelten die formal-ontologischen Wahrheiten sinn-
gemäß schlechthin, mag es nun diese Welt geben oder nicht geben, und ist es
eine apriorische Korrelation, dass Gegenstände undenkbar sind ohne mög-
liche Erkenntnis von ihnen, so kann die mögliche Erkenntnis, die hier (als
formal-ontologisches Korrelat wie gesagt) gefordert ist, nicht gefordert sein

1 Randbemerkung Muss nicht das Grammatische und die Intersubjektivität mit herangezogen

werden?
2 Randbemerkung Diese Erkenntnisgestaltungen können in der einzelnen Subjektivität be-

trachtet werden und ihre Synthesen in ihr, andererseits in der Intersubjektivität und nach den
intersubjektiv verlaufenden Synthesen.
3 Randbemerkung Es wäre ja auch ein Widersinn, dass Wahrheiten, die a priori aussprechen,

was für Gegenstände überhaupt gilt, abhängig wären von Wahrheiten für individuelle oder
materiell allgemein bestimmte Gegenstände.
266 einleitung in die philosophie

als menschliche Erkenntnis und als eine natürliche, in animalischer Weise


empirisch besonderte Erkenntnis überhaupt. Das ist zweifellos.1 Anderer-
seits bedurfte es erst der durch die cartesianische Fundamentalbetrachtung
ermöglichten phänomenologischen Methode, um die Einsicht zu erwecken,
dass Bewusstsein in seiner Reinheit erfassbar und von allem Urteil über Sein
oder Nichtsein der Welt unabhängig denkbar ist und dass es bei willkürlicher
Enthaltung von allem empirisch natürlichem Urteilen Feld einer eigenen
Wissenschaft sein könne.

1 Beilage Die formale Logik handelt vom wahrhaften Sein und der Wahrheit überhaupt,

korrelativ vom Erkennen, vom theoretischen Bewusstsein überhaupt in formaler Allgemeinheit;


also ist das Subjekt dieses Erkennens nicht als menschliches, sondern eben als denkbares Subjekt
überhaupt gedacht bzw. als denkbare miteinander in Verständigungszusammenhang stehende
Subjekte überhaupt. Ebenso ist das Subjekt des Wertens und der ethischen Praxis, wie es die
formale Axiologie und Ethik mit sich führt und in ihren noetischen Disziplinen behandelt, ein
Subjekt überhaupt und nicht ein menschliches, ein irdisches oder Mars-Subjekt usw.
Eine systematische Erwägung aller möglichen Gestaltungen, die die Idee des Subjekts,
des einzelnen und einer Mehrheit oder Allheit, in dieser formalen Allgemeinheit erfahren
kann, würde also auf eine Disziplin verweisen, die über den Wissenschaftslehren liegt und
sie andererseits hinsichtlich ihrer noetischen Gebiete miteinander verknüpft. Randbemerkung
Die Beziehung auf eine Intersubjektivität liegt zwar nicht von vornherein notwendig in der
formalen Ontologie (mathesis), aber sowie wir sie als objektiv gültig ansehen, ist das der Fall.
Bei der Ethik ist die Beziehung näher. Aber vorausgesetzt ist damit nicht im Sinne dieser
Wissenschaften unmittelbar eine Natur. Was eine Vielheit von Subjekten ihrerseits und die
Möglichkeit ihrer intersubjektiven Erkenntnis fordert, das ist eine nachkommende eventuelle
Frage des Apriori.
Ein Subjekt ist sicher undenkbar, es sei denn als Subjekt von Bewusstseinsakten; und
Bewusstsein weist uns notwendig hin auf ein Bewusstes, bewusst als seiend, als wert seiend,
als gut und mögliches praktisches Ziel seiend. Letztlich also weist ein Subjekt, in formaler
Allgemeinheit erwogen, hin auf eine Natur als einen Bereich außerwertlichen, wenn auch
wertbaren Seins, außerpraktischen, wenn auch praktisch eventuell zugänglichen Seins. „Natur“
besagt dann nicht äußere Natur, sondern ist der Inbegriff des in formaler Allgemeinheit als
außerwertlich charakterisierten Seins. Randbemerkung Natürlich übersehe ich nicht, dass ein
Unterschied zwischen Immanenz und Transzendenz besteht, dass „Natur“ ein arg erweiterter
Titel ist, der z. B. immanent die hyletischen Daten und Datenfelder umspannen müsste als
„immanente physische Natur“, dass es ein Problem ist, ob zum Wesen eines Ich die Beziehung
auf eine transzendente Objektivität gehört, ob überhaupt Logik, Axiologie, Praktik einen
Sinn haben, wenn nicht bezogen auf Objektivität, womit dann doch Natur von vornherein
transzendenten Sinn hätte.
Einen ähnlichen Begriff gewinnen wir dann für die Kultur. Wenn wir die formale Idee der
Subjektivität erwägen und nach Herausstellung ihrer unabtrennbaren allgemeinen Strukturen –
wie eben die ihrer Beziehung auf Natur und Kultur durch entsprechende allgemeinste Aktarten –
die Möglichkeiten von Subjekten erwägen, so liegt darin von selbst, dass wir korrelativ die
formalen Möglichkeiten von Naturen und Kulturen erwägen, auf die solche Subjekte bezogen
gedacht sind, und die Gestaltungen der Gegebenheitsweisen erwägen, in denen Naturen und
Kulturen für die Subjekte da sind.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 267

Erst jetzt sind wir also in der Lage, die eigentümliche Abgeschiedenheit
der als parallel zu den noematischen und ontologischen Wissenschaftslehren
geforderten noetischen Wissenschaftslehren zu verstehen, nämlich zu ver-
stehen, dass das Reich möglichen Bewusstseins, auf das sie sich beziehen,
nicht menschliches oder tierisches Bewusstsein, sondern reines Bewusstsein
ist.1 Offenbar erschöpfen aber jene noetischen Disziplinen nicht die gesamte
Phänomenologie, sondern beziehen sich nur auf diejenigen allgemeinsten
Bewusstseinsgestaltungen, welche in formaler Allgemeinheit auf Gegen-
stände überhaupt, dann auf Gegenstände als bloße Sachen, auf Wertgegen-
ständlichkeiten, auf praktische Gegenständlichkeiten als solche Beziehung
haben.
Es wäre leicht einzusehen, dass es auch für materiale apriorische Wis-
senschaften noetische Parallelen geben muss. Vermöge der Wesenskorrela-
tion zwischen Sein und Bewusstsein müssen doch, wir sehen dies voraus,
z. B. auch den geometrischen Wahrheiten parallel laufen Gestaltungen der
geometrischen Erkenntnis, also diejenigen Gestaltungen des erkennenden
Bewusstseins, in denen geometrische Sachverhalte als wahrhaft bestehende
eingesehen, geometrische Wahrheiten einsichtig begründet werden können.
Und so für jede material-apriorische Wissenschaft.
In der Einheit einer systematischen Phänomenologie und näher einer Phä-
nomenologie der Vernunft müssen alle auf das Wesen der Vernunft bezügli-
chen Forschungen, die formal-allgemeinen und die sachhaltig-besonderten,
ihre systematische Stelle haben. Alle aus apriorischen Prinzipien geforderten
Sonderungen von Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen bzw. von Wis-
senschaftsgebieten müssen ihr Gegenbild haben in a priori vorgezeichneten
Sonderungen in der reinen Phänomenologie.2 Jede solche Wissenschaft muss
nicht nur ihre apriorische Form haben (wenn sie empirische Wissenschaft ist)
in einer apriorischen Wissenschaft mit ihrem apriorischen Begriffs- und Satz-
system, sondern auch ihre apriorische Form in den möglichen Formen von

1 Randbemerkung Aus dem weggeworfenen Beiblatt: Es deutet sich damit zugleich innerhalb

der Phänomenologie eine allgemeine Strukturscheidung an bzw. eine Strukturscheidung in der


Einheit a priori möglichen Vernunftbewusstseins: die Scheidung zwischen 1) Bewusstseinsge-
staltungen, die zur Idee einer reinen Subjektivität überhaupt gehörig sind, und 2) möglichen
sachhaltigen Beständen, die nicht zum Wesen einer reinen Subjektivität a priori gehören. In 1)
wieder wäre zu scheiden: a) was jedes reine Subjekt als solches immerfort an Strukturscheidun-
gen haben muss; b) was nur ihm eingeborene Möglichkeit ist. Diese Unterscheidung tritt hier
aber zunächst nur hervor als Abscheidung der formal-allgemeinen Erkenntnisgestaltungen.
2 Randbemerkung Alle auch als empirische Wissenschaften.
268 einleitung in die philosophie

Erkenntnisgestaltungen, in denen jene Sätze sich „konstituieren“, bzw. in


möglichen Begriffs- und Satzsystemen, die ihrerseits über diese Bewusst-
seinsgestalten Aussagen machen.
Aus den bisherigen Betrachtungen ist noch nicht ersichtlich, warum die
reine Phänomenologie eine so ausgezeichnete Stellung gegenüber allen an-
deren Wissenschaften einnehmen soll, die wir im Voraus angekündigt haben;
warum von den Erkenntnissen, die sie gewinnt, die Erkenntnisse aller ande-
ren Wissenschaften in gewisser Weise abhängig sein, von ihnen eine letzte
Auswertung gewinnen sollen. Es ist, um das klar zu machen, jetzt an der
Zeit, den Gegensatz von dogmatischen und vernunftkritisch ausgewerteten
Wissenschaften heranzuziehen. Der Unterschied hängt mit der Korrelation
zwischen Gegenstand und Erkenntnis zusammen; und aus Missverständnis-
sen dieser Korrelation entspringt aller Skeptizismus und alle verkehrte Tran-
szendentalphilosophie. Was man seit Kant „Transzendentalphilosophie“ zu
nennen pflegt, ist nichts anderes, als eine Wissenschaft, die es verständlich
machen soll, wie der Erkennende rechtmäßig dazu kommen soll, ausschließ-
lich lebend in seinen cogitationes und den in ihnen auftretenden mannig-
faltigen Erkenntniserlebnissen, eine objektive Welt zu setzen, und wie er
sich anmaßen kann, durch theoretische Denkarbeit, die sich in seinem Be-
wusstsein bewegt, zu Bestimmungen, zu echten Wissenschaften zu kommen,
die für die an sich seiende Welt doch gelten sollen. Die Fragestellung setzt
von vornherein den Skeptizismus und die ihn ermöglichende Einstellung
voraus, über die wir uns alsbald unsere Gedanken werden machen kön-
nen.
Überlegen wir: Für jedes Subjekt sind reale Gegenstände und schließ-
lich eine ganze reale Welt (und sind nicht minder übrigens auch ideale
Gegenständlichkeiten wie die Anzahlenreihe, die reinen Gesetze u. dgl.)
nur als Wirklichkeiten vorhanden, soweit es von ihnen ein Bewusstsein, eine
Erkenntnis hat. Sind seine Erkenntnisse uneinsichtig, so sind die für es vor-
handenen Gegenstände nur vermeintlich vorhanden; wahrhaft seiend sind
die Gegenstände und wahrhaft objektiv gültig die auf sie bezogenen theo-
retischen Bestimmungen, soweit die subjektiven Meinungen sich in aktuelle
Einsichten verwandeln lassen. Wir sind darin auch sicher, dass hier genauer
zwei Möglichkeiten bestehen: Entweder der Rückgang zur klaren Einsicht
führt darauf, dass das Gegenständliche nach Sein und So-Beschaffensein
wirklich ist, oder darauf, dass es nicht ist: Die blinde Meinung bestätigt
sich durch Überführung in eine sich nach dem Gemeinten mit ihr deckenden
Einsicht, oder sie widerlegt sich an einer ihr gegenübergestellten Einsicht,
derart, dass das als wahrhaft Eingesehene unverträglich ist mit dem blind
phänomenologie als apriorische wissenschaft 269

Vermeinten. Einsicht gibt Wahrheit, vollkommene Einsicht gibt gewisse


Wahrheit schlechthin, unvollkommene Einsicht gibt mindestens ein Recht
auf Präsumtion, auf eine modalisierte Seinssetzung, die die entsprechenden
Vorbehalte hat. Das Wort „Einsicht“ wollen wir hier ganz weit nehmen, der-
art, dass es schon das schlichte Sehen der Wahrnehmung befasst. Jedermann
erkennt es an, dass eine Berufung auf wirkliche Erfahrung ein Vernunftgrund
ist. Wer sagt, was er wirklich gesehen und nur getreu ausgedrückt hat, hat
nicht ins Blaue hin geredet; er hat mit Grund geredet, obschon er sich doch
trotzdem getäuscht haben kann. Ebenso: Wer einen mathematischen Satz
nicht bloß nachredet, sondern in einsichtiger Begründung sich innerlich
gestaltet, der sagt, was er in diesem andersartigen innerlichen Sehen gegeben
hat.
Von all dem lassen wir uns beständig leiten, ohne daran zu denken, das
Erkenntnisbewusstsein, das uneinsichtige und einsichtige, zu studieren, am
vollkommensten in der Praxis der Wissenschaften. Einsichtige Gegebenheit
von Gegenständen und ihren logischen Bestimmungen ist das Ziel des rein
theoretischen Strebens. Die Einstellung ist dabei die natürliche objektive,
die auf die Erkenntnisgegenstände, z. B. auf die in der Wahrnehmung wahr-
genommene, in Erfahrung erfahrene Natur, die nicht nur gesehen, sondern
theoretisch bestimmt sein soll; und gesucht ist dabei die einsichtige Begriffen-
heit, der eingesehene Logos der Natur.1 (Die erfahrungswissenschaftlichen
Erkenntnisse sind zwar vorbehaltlich, bleiben aber doch in Relation zu
den tragenden Erfahrungsgründen, die vollkommenste Einsicht darbieten.)
Das ist das dogmatische Verfahren aller natürlich gewordenen und werden-
den Wissenschaften; und alle Wissenschaften müssen zunächst natürlich in
dieser Art dogmatisch sein. Es spricht sich also damit kein Tadel aus. Es
herrscht in aller wissenschaftlichen Arbeit die praktische Vernünftigkeit: In
dem methodischen Vollzug der Denkleistungen findet der Wissenschaftler,
so wie der Künstler im Vollzug seiner künstlerischen Leistungen, in jedem
Schritt einen intendierten Wert realisiert und hier einen Erkenntniswert, der
zu dem durchgehend intendierten Gesamtwert Zug um Zug beiträgt. Er hat
zunächst erfahrenes Sein und sucht den Besitz des theoretisch wahren Seins,

1 Gestrichen Die betreffenden Erkenntnisakte, werden einfach vollzogen, die gesehenen Ge-

genstände als wirklich hingenommen. Wo vom Gegebenen oder schon Gedachten etwas unklar
gegeben ist, geht die Intention auf Klarheit, auf Heranbringung von Erfahrungsgegebenheiten
zur Näherbestimmung, zur Bestätigung usw. Die Niederschläge dieser Bewegung sind die hoch
bewerteten wissenschaftlichen Bestimmungen, von denen die apriorischen absolut einsichtig
sind.
270 einleitung in die philosophie

desselben im Charakter des in einsichtiger und begrifflicher Bestimmtheit


gegebenen Seins; was er erreicht hat, drückt er dann in den Grundsätzen und
Lehrsätzen aus.
Während er aber so erfährt und denkt, fließen in seinem reinen Be-
wusstsein mannigfaltige Erkenntniserlebnisse ab, die sein Erkenntnisleben
ausmachen; von ihnen hat er kein Wissen, denn sie sind eben sein Leben.
Während des Wissens von einem Gegenstand ist das Wissen nicht selbst
gewusster Gegenstand. Um das Wissen selbst, um das Erkenntnisleben selbst
zu erkennen, bedarf es einer Rückwendung des Blickes und einer auf dieser
„Reflexion“ gegründeten theoretischen Arbeit höherer Stufe. Und so gehört
zu jeder möglichen Wissenschaft eine neue mögliche Wissenschaft. Während
die Wissenschaft schlechthin ihr Ergebnis hat in ihren Theorien, im System
ihrer Grundsätze und Lehrsätze, und darin ihren objektiven Geltungsgehalt
hat, hat die Wissenschaft zweiter Stufe, die Wissenschaft vom wissenschaft-
lichen Erkennen, von den Gestaltungen des erkennenden Lebens, in dem die
wundersame Ich-Leistung der objektiv geltenden Theorien zustande kom-
men soll, ihr Ziel und Ergebnis eben in theoretischen Wahrheiten über diese
Leistungen.
Welche Funktion haben nun diese wissenschaftlichen Forschungen zwei-
ter Stufe und, in Allgemeinheit auf alle Wissenschaften bezogen, die For-
schungen über das Wesen der Erkenntnis und speziell das Wesen des in
ihren verschiedenen Vernunftgestaltungen sich vollziehenden objektiven
Leistens? Was kann es dazu beitragen, die Wissenschaften erster Stufe
irgend zu bewähren? Die Antwort gibt uns der Hinblick auf die Skepti-
zismen. Schon der extreme Gorgias’sche Skeptizismus hatte das zunächst
erschreckende Paradoxon formuliert: Jeder von uns muss doch anerkennen,
dass er von einer Welt nur durch seine Erkenntnis, nur durch seine Erfah-
rungsvorstellungen weiß. Dass diese sind, ist unbestreitbar, sie sind als unser
Bewusstseinserlebnis. Wie soll ich aber je wissen können, dass das, was ich
den Vorstellungen als Wirklichkeit gegenübersetze, in der Tat sei? Kann ich
denn meine Vorstellungen und die Wirklichkeit vergleichen? Aber doch nur
so, dass ich Vorstellung mit Vorstellung zur Deckung bringe. Die Vorstellung
von dem angeblich äußeren Ding habe ich schon und eventuell noch eine
zweite und dritte Vorstellung. Dass diese zusammenstimmen, mag ich wohl
erkennen; aber wie soll ich je ein Bewusstseinsfremdes, ein außerhalb der
Vorstellung seiendes An-sich als gleich oder auch ungleich dem im Bewusst-
sein Gegebenen erkennen? Und wie überhaupt wissen, dass es ist?
Solche Argumente sollten die Möglichkeit objektiver Wissenschaft über-
haupt treffen; damals gab es noch keine völlig strenge evidente Wissenschaft.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 271

Der neuzeitliche Skeptizismus hat ungleich dem der Sophistik sich gegenüber
reich ausgestattete echte Wissenschaften, also Systeme von Erkenntnissen,
die in der Tat jeder Verständige in sich einsichtig begründen kann. Die
Sachlage ist demnach hier die: Vollziehen wir die vorgeschriebenen metho-
dischen Schritte der objektiven Wissenschaft in der geforderten Einstellung,
so erleben wir Schritt für Schritt Einsicht, wir sehen „So ist es“. Es ist kein
ernstzunehmender Zweifel möglich, dass diese Welt ist und dass sie nach
dem Bestand der bisherigen Erfahrung und Erfahrungserkenntnis nach den
und den Theorien zu bestimmen ist. Und doch, wenn die Reflexion sich
dem Bewusstsein zuwendet und wenn nur einmal das erkannt ist, dass
alles Erkennen, alles uneinsichtige, aber auch alles einsichtige, rein in der
Immanenz des subjektiven Bewusstseins verläuft, gerät alles in gewisser
Hinsicht ins Schwanken. Die Theorien selbst freilich werden von niemand
bestritten, aber der ganze Bau der Theorien wird in seiner objektiven Bedeu-
tung zweifelhaft. Die ganze Wissenschaft gerät ins Schwanken; sie scheint
nicht mehr schlechthin und absolut gegründete Wahrheit zu sein, sondern
sie scheint nach weiterer Rechtfertigung zu verlangen. Und auch der Sinn
seiender Realitäten, von denen in ihr die Rede ist und die sie objektiv gültig
zu bestimmen prätendiert, wird fraglich. In diese Skepsis hineingezwungen
sieht sich in gewisser Weise die ganze neuzeitliche Philosophie. Aber die
Verlegenheit, in die sie gerät, schlägt in einzelnen Erscheinungen auch in
wirklichen Skeptizismus aus. Doch nicht auf diesen, sondern auf die Frage-
stellungen kommt es uns an.
Schon Descartes sah sich mit der Herausstellung der absolut und schlecht-
hin unmittelbaren Evidenz des ego cogito in eine Verlegenheit versetzt.
Das gesamte Weltall mit allen Realitäten scheint für mich, der ich die
fundamentierende Zweifelsbetrachtung vollziehe, auf mich selbst als reines
Ich zusammenzuschrumpfen. „Reines Ich“ besagte bei Descartes nicht das
jeweilige aktuell vollzogene cogito und das darin beschlossene Ich, so wie es
sich darin unmittelbar findet, sondern besagt mens sive animus sive intellectus,
die eigene Seele, können wir sagen, rein erhalten von der Leiblichkeit, die
selbst äußeres Phänomen sei, oder auch ich als rein geistiges Wesen. Im
Selbstbewusstsein meines Geistes stellt sich in sinnlichen Phänomenen die
übrige Welt getrübt und verworren dar. Nur dieser Phänomene bin ich in
unmittelbarer Evidenz absolut sicher, der erscheinenden Welt aber nicht, sie
ist ja prinzipiell bezweifelbar.
Als unphilosophischer Mensch nehme ich das Dasein der sinnlichen Welt
ohne Skrupel hin. Bin ich Naturforscher, so folge ich meiner mathemati-
sierenden Vernunft und lasse nun nicht mehr die sinnlichen Qualitäten der
272 einleitung in die philosophie

Dinge als wahre gelten, sondern die mathematisch-exakten Bestimmungen


der Physik. Aber als kritischer Philosoph muss ich mir nun sagen: Die ma-
thematisierende Vernunft, derer ich gewiss bin, ist meine Vernunft, meine,
des solus ipse, der sich als pures geistiges Wesen in Zweifellosigkeit vor-
findet. Absolut gewiss bin ich der ablaufenden eigenen Vernunfttätigkei-
ten. Aber haben sie ein Recht, über sich hinaus die mir fremde äußere
Welt zu setzen und gültig zu bestimmen? Im nächsten Zusammenhang da-
mit steht für Descartes das Evidenzproblem. Die Vernunfttätigkeiten sind
ausgezeichnet durch das lumen naturale; alles, was sie an Erkenntnissen
ergeben, hat den Charakter der clara et distincta perceptio. Warum soll
dieses innere Licht mehr leisten, als das Innere in seinem eigenen seeli-
schen Sein zu erleuchten? Wie soll es etwas verbürgen, was es nicht selbst
ist? Wie Sie wissen, glaubte Descartes, diese beiden Probleme in einem
Beweiszug gelöst zu haben. Als ein erstes, dem absolut gegebenen Ich
transzendentes Sein glaubte er, erweisen zu können das Sein des unendlich
vollkommenen Gottes, aus dessen Wahrhaftigkeit die universale Gültigkeit
der Evidenz und daraus die objektive Evidenz der objektiven exakten Wis-
senschaften und somit die Existenz der physikalischen Natur als der allein
wahren.
Die Beweisführung selbst hat außer in der cartesianischen Schule bald
ihre Geltung verloren, und doch hat Descartes mit ihr und ihrem Pro-
blemgehalt Epoche gemacht, mit dem Problem der Existenz der Außenwelt
allerdings erst so recht in unserer Zeit, die so eifrig, vielleicht gar zu eifrig
an Beweisführungen ist. Mit dem Evidenzproblem insofern nicht für unsere
Zeit, als man jetzt allgemein einen Beweis für die objektive Geltung der
Evidenz mit der Lotze’schen Begründung ablehnt, dass doch jeder solche
Beweis widersinnig sei, da er in jedem Schritt die Geltung der Evidenz
voraussetze. Er muss doch evident sein, um rechtmäßiger Beweis zu sein;
ist aber Evidenz selbst als Quelle der Rechtmäßigkeit fraglich, dann kann
man überhaupt keinen Beweis führen. Die Geltung der Evidenz (oder wie
man auch sagt: des Gefühls der Denknotwendigkeit) sei ein allgemeines
Postulat der Erkenntnis. Was freilich zu sagen scheint: Die Evidenz ist ein
wunderbares Rätsel, nämlich ein solches, von dem sich einsehen lässt, dass
es absolut unlösbar ist. Aber ein an sich unlösbares Rätsel, ist das nicht der
nackte Widersinn? In diesem Widersinn bleibt ein großer Teil der modernen,
von Lotze missleiteten Denker stehen. Wie peinlich er selbst das empfin-
det, das zeigt seine wiederholte Rede von der Wunderbarkeit der Über-
einstimmung der im Innerlichen des Geistes sich abspielenden logischen
Tätigkeiten und ihres Gerüsts logischer Formen mit dem objektiven Sein.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 273

Die ihnen zugehörige Evidenz ist unsere Rechtfertigung für den Glauben an
die Transzendenz, und doch, dass sie wirklich rechtfertigt, ist ein „Abgrund
der Wunderbarkeit“.
Im Allgemeinen begnügt man sich damit, die Unvermeidlichkeit der
Rechtfertigung der Erkenntnis durch Evidenz anzuerkennen und damit auch
die Anwendung aller Vernunftformen (aller in der Logik und Mathematik
auftretenden geistigen Gestaltungen) auf eine anderwärts schon gegebene
objektive Wirklichkeit für berechtigt zu erachten, aber nun die Frage nach
der Existenz der Außenwelt bestimmter zu stellen als Descartes, der noch
reine Mathematik und mathematische Naturwissenschaft hatte ineinander
fließen lassen. Die Evidenz als vollkommen einsichtige Gewissheit des rein
Logischen und Mathematischen könne nicht für die Annahme einer Außen-
welt zureichen. Denn damit verbleiben wir, sagte man sich, nur im Kreis un-
serer eigenen freien „Vorstellungsgebilde“. Erst in den Naturwissenschaften
transzendieren wir das Bewusstsein, sofern wir unseren subjektiven Wahr-
nehmungen und den aus ihnen mit logisch-mathematischen Mitteln erzeug-
ten theoretischen Gebilden die Bedeutung und Geltung von transzendenter
Erkenntnis geben. Da ein absolutes Evidenzerkennen hier nicht möglich
ist, eine absolute Gewissheit wie in der Logik und Mathematik, so bleibt
uns nur der Weg der Erfahrung und Wahrscheinlichkeit. Absolut gegeben
sind mir, dem denkenden Subjekt, durch innere Erfahrung als Tatsachen
meine eigenen Erlebnisse und andererseits die absolut evidente Logik und
Mathematik mit ihren prinzipiellen methodischen Einsichten (die übrigens
von vielen der Neueren wieder auf Erfahrung und Induktion zurückgeführt
werden).
Nun sucht man in langen Ausführungen zu zeigen: An sich ist es zwar
beständig eine Denkmöglichkeit, dass ich, das erkennende Ich, als solus
ipse bin und außer mir nichts ist; aber, dass es so sei, ist unendlich unwahr-
scheinlich. Betrachte ich die Verläufe der mir absolut gegebenen Empfin-
dungserlebnisse, der Erlebnisse „äußerer“ Erfahrung, so legen sie mir den
Gedanken einer transzendenten Realität, in der ihre Ursachen liegen und die
diese Verläufe zu erklären gestattet, nahe. Schon als natürlicher Mensch lege
ich meinen Empfindungen, vor aller Wissenschaft, eine räumlich-zeitliche
physische und psychophysische Welt unter, und in der Naturwissenschaft
baue ich diese Welt theoretisch aus. Die Hypothese bestätigt sich in immer
neuen Voraussagen und im ganzen praktischen Leben. Die exakte Erwä-
gung der Wahrscheinlichkeit, die der supponierten Welt und den naturwis-
senschaftlichen Bestimmungen derselben zukommt, führt zur Erkenntnis,
dass es eine geradezu überschwängliche Unwahrscheinlichkeit wäre, eine
274 einleitung in die philosophie

Außenwelt zu leugnen. Eine Außenwelt ist also eine zunächst natürliche,


instinktiv dargebotene und dann wissenschaftlich gestaltete Hypothese zur
kausalen Erklärung des Verlaufs der unmittelbaren und zweifellosen Tat-
sachen des Bewusstseins, eine Hypothese, die nie in eine absolute Evidenz
verwandelt werden kann, die aber unendlich wahrscheinlich ist, so dass jeder
verrückt wäre, der ihr nicht traute. So wird also der Solipsismus überwun-
den.
Indessen, was uns hier schon stutzig machen kann, ist, dass Kant in seiner
Kritik der reinen Vernunft (in der heftigen Kritik des „Idealismus“) mit
äußerster Entschiedenheit sich gegen jede Lehre wendet, „dass die einzige
unmittelbare Erfahrung die innere sei und dass auf die äußere nur geschlos-
sen wird“, und dass er zugleich betont, dass wir von der Außenwelt Erfahrung
und damit ist auch gesagt unmittelbare Wahrnehmung haben. Und in der Tat,
so anmutend Beweise des vorhin charakterisierten Stils im ersten Augenblick
sind, genauer besehen, sind sie widersinnig, wie ein Zu-Ende-Denken des
kantischen Motivs in Verbindung mit unserer Idee des reinen Bewusstseins
zeigt. Schuldig an der ganzen Verwirrung ist Descartes selbst, der zwar in
gewisser Weise, wie wir es nannten, der Entdecker des reinen Ich und Ich-
Bewussteins war, aber doch wieder nicht der Entdecker, da er das Neuland,
kaum geschaut, auch schon missdeutet, so ähnlich wie Columbus, den Boden
Amerikas entdeckend, den indischen Boden zu betreten vermeinte. Aus
dem reinen Ich wurde ihm die vom Körper unabhängig erfasste substantia
cogitans, die pure Seele. Aus der naiven Wahrnehmung der Welt wurde durch
die Skepsis an der äußeren Erfahrung die außerseelische Welt weggestrichen,
sodass sich die Weltwahrnehmung auf ein einziges Stück der Welt, auf das
Ich, auf den reinen animus reduziert. Die reflektive Wahrnehmung, in der
das reine Ich sein reines Bewusstsein erfasst, wurde zur psychologischen
Selbstwahrnehmung oder „inneren“ Wahrnehmung.1 Aber das reine Ich
mit der Seele zu identifizieren, die vielmehr, ganz ähnlich wie irgendein
äußeres Ding, ein transzendentes Objekt für das reine Ich ist, ein in reinen
cogitationes empirisch gesetztes Objekt, ist verkehrt und führt alsbald zu
Verwirrungen.
Reale Objekte sind ihrem Sinn nach im reinen Ich-Bewusstsein als tran-
szendent erfahrene oder erfahrbare Objekte Einheiten mannigfaltiger Wahr-
nehmungserscheinungen. Zum Wesen realer Objekte gehört Kausalität, und

1 Randbemerkung (Man verwechselt immer wieder die absolute Gegebenheit des Immanen-

ten, die darin besteht, dass es nicht transzendent durch abschattende Erscheinung gegeben ist,
mit der Unmittelbarkeit, die ihren Gegensatz in der Mittelbarkeit der Erfahrungsanzeige hat.)
phänomenologie als apriorische wissenschaft 275

nur zu solchen gehört sinngemäß Kausalität. Im phänomenalen Naturzusam-


menhang steht Reales mit Realem in Verhältnissen der Abhängigkeit nach
Dasein und Sosein. Naturgesetze sind Gesetze solcher Abhängigkeiten. Das
reine Ich aber ist kein Ding, und die Bewusstseinsakte, die sein Denken,
Fühlen usw. ausmachen, sind keine realen Zustände des reinen Ich. Es gibt
danach keinen Sinn, das Strömen der reinen Bewusstseinsakte oder ihrer
sinnlichen Inhalte kausal erklären zu wollen durch eine Welt, die im reinen
Bewusstsein erscheinende und gesetzte Welt ist. Es ist ein Widersinn, die
reale Welt dem reinen Bewusstsein gegenüber „Außenwelt“ zu nennen. Nur
wo Natur gegeben ist, also in der natürlichen Weltbetrachtung, die auf dem
Boden der Erfahrung steht, da kann und muss man für jedes gegebene Reale
reale Umstände annehmen, von denen es abhängt. Da besteht die Aufgabe
des Rückgangs auf die bestimmenden Umstände als Ursachen, die die
im Gegebenen vorfindlichen Eigenschaften als Wirkungen zu erklären. Da
kann man auch Rückschlüsse machen aus bekannten Wirklichkeiten auf
unbekannte, wie etwa aus gegebenen Planetenstörungen auf einen neuen
Planeten.
Derartige prinzipielle Irrungen bestimmen nachher aber die ganze Welt-
anschauung, sie bestimmen wesentlich die Interpretation des wahren Seins
der Natur selbst und schließlich die ganze letzte Weltinterpretation, die das
Thema der Metaphysik ist. Philosophen, die wie Berkeley die Unmöglichkeit
eines Schlusses von der reinen Immanenz in das Transzendente erkannten
oder die wie Leibniz merkten, dass kausale Verhältnisse zwischen Imma-
nentem und Transzendentem nicht stattfinden können, interpretierten die
physische Natur als ein Gebilde bloßer Phänomene in Geistern.1 Es gibt nur
geistige Wesen und Gott, der selbst Geist ist und der die endlichen Geister
ausgestattet hat mit sinnlichen Phänomenen, die in fest geordneten Regel-
mäßigkeiten auftreten. Die Naturgesetze drücken nur die festen Regeln der
Ordnung der Phänomene aus, die das jeweilige Subjekt herauserkennen kann
und deren Erkenntnis ihm dann dazu dienen kann, die kommenden Phäno-
mene vorauszusehen und danach sein praktisches Verhalten zu richten. Alle
Äußerlichkeit, das Raumding und der Raum selbst, sind nur apperzeptive
Gebilde im Geist selbst. Ein materielles Sein als eine Sorte eigener, absolut
für sich seiender Realitäten, gleichberechtigt den geistigen Realitäten, gibt es

1 Randbemerkung Leibniz (und Berkeley?) sind aber wohl in Schutz zu nehmen gegen den

Vorwurf, als ob sie die realen Geister in der Welt verabsolutiert hätten. Leibniz prägt ja den
neuen Substanzbegriff des absoluten Seins, das nur Subjekt der Tätigkeiten, der Intentionalität
ist. Aber freilich Klarheiten finden wir bei ihm nicht.
276 einleitung in die philosophie

nicht. Während also der Materialismus das geistige Sein in physisches Sein,
das nach ihm absolut und an sich ist, umgedeutet hat, deutet der sogenannte
Idealismus alles materielle Sein um in ein psychologisches Gebilde in den
allein absolut seienden Geistern.
Der von Descartes begründete Dualismus aber hatte physisches und geis-
tiges Sein seiner absoluten Existenz nach gleichgestellt und dem Geistigen
nur den erkenntnistheoretischen Vorzug zuerteilt, dass es Selbstbewusst-
sein hat und sich darin in absoluter Gewissheit erkennen könne. Der mo-
derne Realismus aber, dessen Gedankengang ich vorhin geschildert habe,
pflegt, indem er die Außenwelt als unendliche wahrscheinliche Hypothese
(in der Art naturwissenschaftlich begründeter Hypothesen) zu erweisen
sucht, die dualistische Welt zu erweisen, die Welt der Physik und die der
Psychologie und Psychophysik, nach der Körper und Seelen in der Ein-
heit der Welt auftreten und dann auftreten in der psychophysisch gere-
gelten Verbindung von organischen Leibern und psychischen Erlebnissen.
Alle solche Auffassungen sind bestimmt durch den großen cartesianischen
Anstoß, der immerfort in dem beschriebenen entwerteten Sinn fortwirkt,
dass es nur eine Sphäre unmittelbarer Erfahrung gäbe, die der inneren,
der Selbsterfahrung, und dass somit die äußere Erfahrung zum Problem
wird. Sinn und Rechtsquelle objektiver Wissenschaft und aller Wissenschaft
überhaupt wird nun problematisch; erkenntnis-theoretische Analysen und
realistische und idealistische Weltinterpretationen gehen beständig Hand in
Hand. Diese bestimmen dann weiter die Behandlung der Metaphysik im
prägnanten Sinne, der Wissenschaft von den supranaturalen Fragen, wofern
man diese nicht etwa, wie es der extreme positivistische Empirismus tut, ganz
preisgibt und alle mögliche Wissenschaft auf Naturwissenschaft einschränkt.
Andererseits war schon die Rationalität der objektiven Wissenschaften ein
Problem, mit dem man gar nicht befriedigend zu Rande kommen konnte.
Wie viel mehr musste die Metaphysik zum Problem werden, für die man
doch nicht über einen Bestand fester Theorien verfügte, Theorien, die
von jedem wissenschaftlich Denkfähigen als erwiesen anerkannt werden
mussten.
Die1 Menge der Verlegenheiten war noch vermehrt dadurch, dass die
Geisteswissenschaften immer zu Schwierigkeiten Anlass gaben. Die neue
Naturwissenschaft fixierte methodisch und sachlich das Interesse auf bloße
Natur im Sinne der bloßen Sachenwelt, in der das Seelische als bloß real-

1 Randbemerkung Geisteswissenschaft als Problem gegenüber Naturwissenschaft.


phänomenologie als apriorische wissenschaft 277

kausale Tatsache eingeordnet wurde. Alle Geisteswissenschaft erschien bloß


als besondere Naturwissenschaft und erscheint sehr vielen auch heute so.
Alle Erklärung ist kausale Erklärung in der Einheit der kausalgesetzlich
geordneten Natur. Angefangen von der materialistischen Psychologie und
Geisteswissenschaft bei Hobbes bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, ja außer
in Deutschland auch bis ins 19. Jahrhundert, geht ein Strom naturalistischer
Geisteswissenschaft und Philosophie, die dann mit einem Mal in Deutschland
abgelöst wird durch eine ganz andersartige Philosophie, die selbst spezifisch
geisteswissenschaftlich ist und die Geisteswissenschaften, die Jurisprudenz,
die Staatslehre, die Wissenschaftswissenschaft, Sprachwissenschaft usw. in
völlig neuem Licht erscheinen lässt. Und doch, nach dem Verfall der he-
gelischen Philosophie lebt der Naturalismus als Positivismus wieder auf
und überschattet die Nachwirkungen des deutschen Idealismus. Wir stehen
noch inmitten der Kämpfe; die Frage nach dem Wesen der Geisteswissen-
schaften, nach dem eigentümlichen Sinn ihrer Gegenständlichkeiten und
ihrer Methode gegenüber denjenigen der Naturwissenschaften ist eine der
brennendsten Fragen unserer Gegenwart.1,2

1 Randbemerkung Die Frage der Geisteswissenschaften wird fallen gelassen.


2 Beilage Der Sinn unserer Kritik der realistischen Begründung der Existenz einer Außenwelt
war der: Es ist grundverkehrt aus den absolut evidenten Gegebenheiten des reinen Bewusstseins
und speziell aus den Empfindungsgegebenheiten auf die äußere Welt als Ursache zu schließen.
Was durch die cartesianische Zweifelsmethode in ihrer echten Handhabung gewonnen wird als
absolut evidentes Residuum, ist nicht eine geistige Realität, wie sie sonst nur als mit dem
Leib verbunden angenommen wird in der natürlichen Weltbetrachtung, nicht die Person mit
ihren Charakteranlagen, ihren ursprünglichen und ihren erworbenen geistigen Eigenschaften,
Kenntnissen, Fähigkeiten usw. All dergleichen ist doch nicht in absoluter Evidenz gegeben. Was
absolut gegeben ist, ist das jeweilige cogito und das Ich als das der dahinströmenden cogitationes
beständig bewusste und eventuell auf sie aufmerkend gerichtete. Ich, die Person, finde mich (die
objektive Erfahrung vollziehend) als transzendente Gegebenheit vor, bin (für mich als reines
Ich) das Objekt von Wahrnehmungen und Erfahrungen, so wie die äußeren Dinge. Und in
der Erfahrung sie vollziehend, finde ich mich als real abhängig von den Dingen und finde die
Dinge auch als real abhängig von mir, sofern ich als handelnde Person in die Natur eingreife.
Die Welt, die durch die phänomenologische Reduktion ausgeschaltet wird, enthält ebenso-
wohl die physischen Dinge und fremde Personen, so auch meine Person; all diese Realitäten
sind nur Erscheinungen, die in meinen reinen cogitationes vermeinte, erfahrene, transzendent
gesetzte sind. Ursache und Wirkung, das sind Begriffe, die nur Sinn haben für Realitäten,
für solche transzendent gesetzten Einheiten von Erscheinungen. Das reine Bewusstsein als
Wirkung von äußeren Dinglichkeiten erklären wollen, ist ein Widersinn; nur Vorkommnisse
an Dingen kann man wieder aus Vorkommnissen an Dingen erklären, und das setzt eben
voraus eine Welt, die gegeben ist. Die Welterfahrung muss mir aktuell gelten, muss von mir
naiv vollzogen sein. Man hat aber keine Welt „gegeben“, wenn man sie phänomenologisch
„außer Spiel“ gesetzt hat. Man hat also keine Realität, die erklärende Ursache sein kann.
278 einleitung in die philosophie

Alle diese durch die Jahrhunderte hindurchgehenden Geisteskämpfe ha-


ben (wie verschiedene Sphären sie auch betreffen) dieselbe Doppelseitigkeit:
1) Auf der einen Seite gehen sie auf das erkennende Bewusstsein und seine
Kraft objektivierender Leistung: auf Gründe, Quellen der über das imma-
nente Bewusstsein selbst in seiner Aktualität des Lebens hinausreichenden
Leistung; auf das Verständnis der Art, wie das erkennende Bewusstsein in
sich selbst in niederer und höherer Stufe seine Vorstellungen von der Welt,
aber auch von seinen ideellen Normen schafft, nach denen es diese Vor-
stellungen logisch gestaltet zu wissenschaftlichen Bestimmungen und nach
denen es aufgrund seiner vorlogisch oder logisch-wissenschaftlich gestalteten
Vorstellungen sich seine Kulturwelt schafft und so der Welt nicht nur über-
haupt, sondern objektiv wertvolle Bedeutung aufzuprägen bestrebt ist. Auf
dieser Seite stehen also Bewusstsein und objektive Geltung prätendierende
Wissenschaft mit allen ihren Formen und Methoden, ebenso schließlich
aber auch Bewusstsein von den objektive Geltung prätendierenden Kul-
turgestaltungen, die aber als das selbst wieder zu thematischen Gehalten
von Wissenschaften werden. 2) Auf der anderen Seite aber steht der Sinn
der dem Bewusstsein als Korrelat seiner Vernunfterkenntnis, der objektiv
gültigen, gegenüberstehenden Objektivitäten selbst, der Sinn der physischen
Natur als Thema der strengen Naturwissenschaften, der animalischen Natur
als Thema der psychophysischen Biologie und Anthropologie, der Sinn der
verschiedenen Personalitäten niederer und höherer Stufe, wie Staat und
Volk, Kirche, Recht, mit personalen Kulturleistungen entsprechender Stufe,
welche Themen der spezifischen sogenannten Geisteswissenschaften sind.
Und schließlich der Sinn der Gottheit und der über alle Welten gespannten
Teleologie, also der Sinn der metaphysischen Wirklichkeit, die alle Objek-
tivität nach ihrem absoluten und letzten Sein in sich fasst: das Thema der
Metaphysik.
Die Doppelseitigkeit besagt eine untrennbare Verflochtenheit, die erst
in der neuzeitlichen Philosophie sich herausstellt und ihr bei aller sie be-
drängenden Unklarheit den eigentümlichen Charakter aufgeprägt hat. Aber
genauer besehen, ist es eine Dreiseitigkeit und eine uns aus unseren frü-
heren Studien schon wohlbekannte. Vom Standpunkt der Erkenntnis: 1)
das Bewusstsein in seinen verschiedenen Erlebnisgestaltungen (und ebenso
das mannigfaltig gestaltete rein praktische Bewusstsein, die mannigfaltigen

Und selbst hypothetisch hat man keine, da die echte phänomenologische Reduktion auch alle
transzendenten Möglichkeiten ausschaltet: In der Tat, hypothetisch erklären kann man auch
nur in einer hypothetischen transzendenten Welt.
phänomenologie als apriorische wissenschaft 279

Gestaltungen des Wertens und schöpferischen Wollens) ist das Eine. 2)
Das Zweite sind die Wissenschaften als Systeme von begründeten Wahrhei-
ten und theoretischen Wahrheitszusammenhängen; und 3) das Dritte ist
die Welt, auf welche sich die Wissenschaften beziehen, eventuell auch die
möglichen Welten, die möglichen Objektivitäten jeder Art, die die Gegen-
standssphäre der apriorischen Wissenschaften sind.
Dem natürlich-naiven Menschen ist eine Welt sinnlich gegeben, in sie
lebt und denkt und handelt er hinein. Sie ist ihm die wahre Welt. Dann
kommt die Wissenschaft und schafft als Korrelat ihrer Theorien eine theo-
retisch bestimmte Welt aufgrund der durch Erfahrung gegebenen Welt;
und nun heißt es, das sei allein die wahre Welt. Im ersten Falle greift über
die Einzelerkenntnis der sinnlichen Welterfahrung hinaus eine mehr oder
minder mythische Weltanschauung, welche dem Vereinzelten und Unbe-
stimmten einen letzten Abschluss zu verleihen und eine Gesamtvorstellung
vom absolut Seienden sich zu gestalten sucht. Im anderen Falle knüpfen sich
solche Versuche an die in den einzelnen Gebieten wissenschaftlich erkannte
Wirklichkeit, und eine Metaphysik erwächst, die zu den Überlieferungen
der Religion Anschluss zu behalten und doch dem wissenschaftlich wahren
Sein für eine absolute und allumspannende Erkenntnis Rechnung zu tra-
gen sucht. Aber alle so erwachsene Erkenntnis ist dogmatisch; dogmatisch
sind also auch die noch so exakten Wissenschaften und die über sie hin-
ausgreifende, aber sie voraussetzende Metaphysik.1 Denn sowie durch die
cartesianischen Meditationes das reine Bewusstsein in den Gesichtskreis der
Menschheit getreten war, erscheint die objektive Wissenschaft nicht mehr
als wahre und endgültige Wissenschaft. In der ersten Begeisterung wurde
zwar die mathematische Naturwissenschaft vermöge der früher ungekann-
ten Strenge und Universalität ihrer Leistungen dafür gehalten, aber sowie
die Bewusstseinsprobleme tiefer durchdacht wurden, erhielt sie selbst und
jede noch so strenge, rein objektiv gerichtete Wissenschaft einen fraglichen
Charakter. Sie konnte als letzte Wissenschaft nicht gelten. Wissenschaft
überhaupt ist Gebilde in der Erkenntnis. Solange Erkenntnis nach Wesen,
nach Leistung nicht erforscht ist und so überhaupt das Bewusstsein nicht
erforscht ist, in dem Objektivität jeder Art sich als intentional für das
Subjekt in mannigfaltigen Erscheinungsweisen konstituiert und so konsti-
tuiert, dass sie ihm mit dem Sinn an sich seiender Wirklichkeit gegeben
ist, solange nicht aufgeklärt ist, in welchem Sinne dann Objektivität ihre
Denkgestaltung erfährt und damit ihre wahren Bestimmungen gewinnt,

1 Randbemerkung Fortsetzung Bl. 237 = S. 281 f..


280 einleitung in die philosophie

so lange ist der Sinn der erkannten Objektivität selbst unverständlich, so


lange erscheinen grundverschiedene „Interpretationen“ der natürlich dog-
matisch erkannten und bestimmten Welt nebeneinander möglich.
Es stellte sich zunächst als Faktum heraus, dass dieselbe Welt, als Substrat
derselben allgemein als streng gültig anerkannten Wissenschaft gedacht,
noch verschiedene Interpretationen zulässt und dass diese abhängig seien
von den Auffassungen, die man sich über das Wesen und die Leistung der
Vernunfttätigkeiten des Erkennens gemacht hatte.1 Somit haftet aller dog-
matischen Wissenschaft ein Mangel an, eine ganze Dimension ungelöster
Fragen, die beantwortet werden mussten, wenn die exakte objektive Wis-
senschaft zu einer absoluten Erkenntnis werden sollte. Nicht als ob die Er-
gebnisse der objektiven Wissenschaften irgend angefochten werden sollten:
In ihrer Wahrheit war man ja einig. Nur was in der Linie der dogmatischen
Wissenschaften liegt, konnte in der Methode der dogmatischen Wissenschaft
erforscht werden. Aber alles und jedes war in dieser Linie mit einem Rätsel
behaftet. Die Naturwissenschaft konnte nur über das aussagen, was sie als
erfahrene Gegenständlichkeit gegeben hatte und studierte. Dass die Natur im
Bewusstsein als Einheit mannigfaltiger Erscheinungen gesetzt war und dass
von daher völlig neue Probleme kamen, das konnte der Naturforscher nicht
wissen. Er konnte nichts wissen von Problemen, die den Sinn einer im erken-
nenden Bewusstsein sich konstituierenden und sich in diesem Bewusstsein in
theoretischen Gestaltungen bestimmenden Wirklichkeit betreffen, von Pro-
blemen, die den Inhalt der naturwissenschaftlichen Theorien nicht änderten,
aber für das Verständnis des Sinnes einer Natur und einer Welt überhaupt
entscheidend waren. Davon konnte der Naturforscher nichts wissen. Denn er
studierte eben in gerader Einstellung die Sachen und nicht das Bewusstsein
von den Sachen.
Sehr lange dauerte es, bis der Auftrieb der Bewusstseinsprobleme stark
genug war, um die Notwendigkeit einer eigenen Wissenschaft von der Er-
kenntnis und vom reinen Bewusstsein überhaupt als einer philosophischen
Fundamentalwissenschaft kenntlich zu machen. Zwar spricht Descartes in
den nachgelassenen Regulae schon den Gedanken einer Wissenschaft von
der Vernunft aus, aber er hatte nichts dazu getan, ihn zu realisieren. In
der Folgezeit bestimmte der beständig gewaltige Eindruck der theoreti-
schen und praktischen Leistungen der wunderbar anwachsenden objektiven

1 Randbemerkung Die weiteren Seiten sind wohl nicht mehr gelesen. Vgl. die neue Anknüp-

fung, Anfang der nächsten Vorlesung Bl. 237  Statt 237 im Ms. 236 = S. 281 f..
phänomenologie als apriorische wissenschaft 281

Wissenschaften die Philosophen. Erfüllt von der Evidenz der hier sich darbie-
tenden Füllen von Wahrheiten, war man immerfort genötigt, sie als absolute
Wahrheiten zu behandeln; und so blühte denn auch weiter eine dogmati-
sche Metaphysik. Die unbehaglichen Schwierigkeiten des Bewusstseinspro-
blems suchte man nebenher durch erkenntnistheoretische Untersuchungen
zu überwinden, wobei man weit davon entfernt war, den radikalsten Gehalt
der cartesianischen Fundamentalbetrachtung herauszuarbeiten, den schon
Descartes selbst sich hatte aus den Händen gleiten lassen. So wurden in
naiver Weise dogmatische Voraussetzungen in die Erkenntnisbetrachtungen
eingeflochten und selbst dann noch, als man die Erkenntnistheorie und die
Vernunftwissenschaft überhaupt zu einer eigenen Wissenschaft verselbstän-
digt hatte. Zwei Grundfehler finden wir in der neuen Erkenntnistheorie: den
Metaphysizismus und den Psychologismus.
Bei folgender Feststellung waren wir zuletzt stehengeblieben. Die auf-
blühende objektive Wissenschaft der Neuzeit schien das Ideal absoluter,
endgültiger Erkenntnis vermöge ihrer methodischen Exaktheit zu realisie-
ren. Letzte Wahrheit über die reale Welt meinte man durch sie gewonnen
zu haben. Aber die, wenn auch unfertige Entdeckung des reinen Bewusst-
seins durch Descartes machte es immer empfindlich, dass die objektive Welt
für das erkennende Subjekt nur durch seine Erfahrungserlebnisse und in
höherer Stufe durch sein theoretisches Denken in den Formen der Wis-
senschaft gegeben ist. Sinn und Recht einer nur in subjektiven cogitationes
sich darstellenden und bestimmenden Welt werden problematisch. Die hier
entspringenden Probleme üben einen eigentümlichen Einfluss nicht nur auf
die Wertung der Erkenntnis der neuen Wissenschaften, sondern auch auf
die Deutung der Welt, die in ihnen zur Erkenntnis kommt. Ohne dass diese
Wissenschaften im mindesten bestritten werden, ohne dass sie nach ihren
theoretischen Ergebnissen und Methoden im mindesten alteriert werden,
verlieren sie doch den Rang absoluter Erkenntnis, nämlich der Sinn der
in ihnen erkannten Welt erfährt verschiedene Interpretationen. Vor allem
trifft das die physische Natur. Die einen nehmen sie, so wie die exakte
Naturwissenschaft sie bestimmt, als absolute Wirklichkeit an und glauben,
sie als das philosophisch rechtfertigen zu können. So Descartes und seine
Schule. Demgegenüber treten immer neue idealistische Theorien auf, welche
die physische Welt, unter vollster Anerkennung der Naturwissenschaft, aus
philosophischen Gründen glauben, als ein bloß irreales Phänomen in den
allein realen Geistern interpretieren zu müssen.
Wir können auch sagen: Naturwissenschaft und Philosophie der Natur
treten in Kontrast. Es stellt sich in der Neuzeit heraus, dass die noch so
282 einleitung in die philosophie

vollkommene und exakte Naturwissenschaft keine absolute, endgültige Er-


kenntnis von der Natur gibt, dass es vielmehr einer auf sie bezogenen
weiteren Wissenschaft bedarf, einer Wissenschaft von der Natur als inten-
tionales Objekt der Naturerkenntnis. Nur aufgrund eines systematischen
Studiums des erkennenden Bewusstseins, aus dem der erkannte Gegen-
stand ausschließlich seinen Sinn schöpft, kann die rechtmäßige Sinnesin-
terpretation der Natur vollzogen und können überhaupt alle vernünftigen,
an die Natur und Naturwissenschaft von Seiten des Bewusstseins her zu
stellenden Fragen beantwortet werden. Ähnliches gilt für alle objektiven
Wissenschaften (und schließlich für alle Wissenschaften sonst, schon mit
Rücksicht darauf, dass sie auf die natürlich vorgegebene Objektivität An-
wendung finden). Es tritt eben erst in der Neuzeit jene, wie wir erkannt
haben, wesensmäßige Korrelation mit dem vollen Gewicht und der vollen
Universalität in das wissenschaftliche Bewusstsein der Menschheit: die Kor-
relation zwischen 1) Erkenntnisgebiet, 2) Wissenschaft als System von
Sätzen, verbunden in der logischen Einheit der Theorie, und 3) erken-
nendem Ich und Ich-Bewusstsein, in dem sich all die wissenschaftlichen
Erkenntnistätigkeiten, die anschaulichen und logisch theoretisierenden in
der Weise der Vernunfteinsicht vollziehen. In dieser Weise scheiden sich nicht
nur Naturwissenschaft und Philosophie der Natur, sondern auch Psychologie
und Philosophie des Psychischen, Geisteswissenschaft und Philosophie des
Geistes, spezieller Staatswissenschaft und Philosophie des Staats, Rechtswis-
senschaft und Philosophie des Rechtes, Kunstwissenschaft und Philosophie
der Kunst usw. Aber auch hinsichtlich der apriorischen Wissenschaften jeder
Art, so Arithmetik und Philosophie der Zahl, Geometrie und Philosophie
des Raumes.
Nun könnten Sie einwenden: All diese Philosophien sind hier doch ge-
dacht als wissenschaftliche Untersuchungen, die auf das Vernunftbewusst-
sein gehen und alle Fragen beantworten, die an jeweilige Gegenstandsgebiete
und an ihre Theorien mit Rücksicht darauf zu stellen sind, dass sie eben in
diesem Erkenntnisbewusstsein sich ihrem Sinn nach konstituieren. Muss
nicht, was von jeder Wissenschaft gilt, auch von diesen Philosophien gelten
und so in infinitum? Es muss doch jedenfalls auch für jede Disziplin vom
Bewusstsein eine Philosophie des Bewusstseins geben. Indessen, das führt
zu keinem unendlichen Regressus. Zunächst ist es klar, dass wir zu scheiden
haben Wissenschaften, die noch nicht Wissenschaften vom Bewusstsein,
und zwar vom reinen Vernunftbewusstsein sind, und Wissenschaften, die
das sind. Naturwissenschaft ist Wissenschaft von der Natur, aber nicht von
dem Bewusstsein von der Natur. Es ist auch zu erkennen, dass wesens-
phänomenologie als apriorische wissenschaft 283

mäßig eine natürliche Ordnung hier vorgezeichnet ist. Das Erkennen ist
an sich zuerst natürlich-naiv auf den vorgegebenen Gegenstand gerichtet,
es geht in direkter Theoretisierung an seine wissenschaftliche Bestimmung
heran. Die so erwachsenden Wissenschaften sind die dogmatischen. Erst
ein Zweites ist die Reflexion auf die reinen Bewusstseinsweisen, in denen
die Gegenstände erfahrungsmäßig vorgestellt und theoretisch gedacht sind.
Wird nun aufgrund dieser Reflexion das Erkenntnisbewusstsein zum Thema
einer Wissenschaft der höheren Stufe, so ist freilich das Bewusstsein, in dem
dieses Erkenntnisbewusstsein zur wissenschaftlichen Erkenntnis kommt, ein
neues Bewusstsein, aber eben doch Bewusstsein, und wir sehen voraus,
dass all die Philosophien, dass all diese erkenntnis- und sinnestheoretischen
Untersuchungen auf das eine Bewusstsein überhaupt zurückführen, auf die
Einheit, die a priori alle möglichen Bewusstseinsweisen verbindet, kurz auf
die Einheit des Bodens der reinen Phänomenologie.
Nehmen wir den Begriff „Philosophie“ im ältesten und im Grunde ge-
nommen nie preisgegebenen Sinne einer universalen und absoluten Er-
kenntnis und gehen wir mit diesem Begriff sozusagen konsequent bis ans
Ende, so sehen wir, dass er in einer Beziehung Unendlichkeiten einschließt,
also nicht als ein erreichbares praktisches Ideal gelten kann: Das Reich
des erkennbaren Seins überhaupt und jedes besondere Erkenntnisgebiet in
seiner begrifflich-regionalen Umgrenzung ist unendlich. Andererseits aber
kann sehr wohl das Ziel gestellt werden, als ein zum Wesen erkennender
Vernunft überhaupt Gehöriges, die Allheit möglicher Wissenschaften zu
entwerfen und für jede Seinssphäre alle Dimensionen vernünftig zu stel-
lender Probleme in Arbeit zu nehmen. Da aber zeigt es sich uns schon bei
apriorischer Erwägung, dass jedes mögliche Sein eingespannt ist in den von
uns so oft erwogenen Korrelationen und dass für jede Seinsart dogmatische
Wissenschaft die erste, aber nicht absolute Wissenschaft ist, weil sie eben
eine ganze Dimension von Problemen noch nicht behandelt, die an jedes
Sein von Seiten des Bewusstseins, für das es sich konstituiert, gestellt werden
müssen. So sind die vernunfttheoretischen Disziplinen im spezifischen Sinne
philosophisch darum, weil sie die dogmatische Erkenntnisleistung nach einer
wesentlichen Seite ergänzen, indem sie eben die unverstanden gebliebene
Objektivität der Wahrheit und des Seins erkennen lassen als Erkenntnisleis-
tung und indem sie von da her ihren geistigen Sinn enthüllen und verständlich
machen.
Rückblickend auf den Gang unserer früheren Vorlesungen, erkennen
wir, dass Philosophie im universalen Sinne zunächst das Ziel universaler
Tatsachenwissenschaft von dem natürlich gegebenen Weltall stellen muss.
284 einleitung in die philosophie

Aber dieses Ziel ist als streng wissenschaftliches nur nach apriorischen
Prinzipien realisierbar. Das führt notwendig auf den Entwurf eines Systems
der Gesamtheit wissenschaftstheoretischer Disziplinen, zunächst der onto-
logischen und noematischen Disziplinen, welche in formaler Allgemeinheit
von möglichen Gegenständlichkeiten überhaupt, dann, herabsteigend von
möglichen individuellen Gegenständlichkeiten und Welten, von möglichen
Naturen und Kulturen handeln, wie wir das ausführlich dargelegt haben.
Weiter ist erfordert ein sich diesem formalen Rahmen durch materiale
Bestimmung einfügendes System der material-apriorischen Disziplinen wie
der Geometrie, der apriorischen Mechanik. Alles zusammen ergibt sich
nach dem Leitfaden des Systems der Wissenschaftslehren ein universales
System apriorischer und empirischer Wissenschaften natürlicher Blickrich-
tung. Diese ergeben sich offenbar nicht als bloß geordnetes Nebeneinan-
der, sondern es sind dem Erkenntnisrang nach übergeordnet die apriori-
schen Wissenschaften als Wissenschaften von den prinzipiellen Allgemein-
heiten gegenüber den Tatsachenwissenschaften, deren Faktizitäten unter
den Prinzipien stehen. Ferner gründen sich die letzteren, die Tatsachen-
wissenschaften, auf die ersteren (die Wesensgesetze möglicher Wirklichkei-
ten gelten natürlich auch für die faktischen Wirklichkeiten und dienen
dann zu ihrer theoretischen Bestimmung). Methodisch enthalten die aprio-
rischen Wissenschaften die Prinzipien aller Methode der Wissenschaft von
der faktischen Wirklichkeit: So ist die Geometrie, aber auch die formale
Mathematik, das große methodische Instrument der Naturwissenschaften.
Innerhalb der apriorischen Wissenschaften wieder haben die formalen die
höhere Dignität, sie umspannen das Prinzipielle im höchsten Sinne. In ihrer
formalen Universalität der Geltung bilden sie einen Mutterboden prinzipi-
eller Erkenntnis, auf den alle Tatsachenwissenschaften, wie verschiedenen
Regionen sie angehören mögen, zurückbezogen und durch den sie formal
vereinheitlicht sind. Danach können wir auch sagen: Eine Wissenschaft ist
umso philosophischer, je größer die prinzipielle Verarbeitung in ihr ist, sie
ist umso mehr exakte Wissenschaft. Und an sich philosophischer ist die
reine Geometrie als die Physik, und die formale Mathematik gegenüber
der Geometrie.
Aber all diese Wissenschaften einer ersten, sozusagen gerade auf Ge-
genstände gerichteten Erkenntnisstufe sind dogmatisch. Sie alle bedürfen
der Rückbeziehung auf das reine Bewusstsein, genauer gesprochen: auf
das reine Vernunftbewusstsein. Hier bedarf es zunächst einer universalen
Phänomenologie als einer apriorischen Wissenschaft vom möglichen reinen
Bewusstsein überhaupt nach all seinen a priori vorgezeichneten Formen
phänomenologie als apriorische wissenschaft 285

von Bewusstseinsgestaltungen. Darin beschlossen sind dann die möglichen


Systeme des Vernunftbewusstseins, also Disziplinen von der erkennenden,
wertenden, praktischen Vernunft nach ihren allgemeinsten Allgemeinheiten,
aber auch nach den a priori vorgezeichneten Besonderheiten. Als intentio-
nale Korrelate der erkennenden Vernunft ergeben sich hier die möglichen
Grundarten von Gegenständlichkeiten und Wissenschaften. Umgekehrt die-
nen die Grundbegriffe und Grundsätze aller apriorischen Wissenschaften
als Leitfäden für die erkenntnistheoretische Reflexion und für das Stu-
dium der Bewusstseinsweisen, in denen die entsprechenden Gegenstände
zu möglicher Erkenntnis kommen. Ist in dieser Universalität genereller
Wesenserkenntnis der apriorischen Wissenschaften alles ideal mögliche Ge-
genständliche auf das reine Bewusstsein zurückbezogen und als Bewusst-
seinsgestaltung seinem letzten Sinne nach bestimmt, so kann nun auch jede
auf jede Tatsachenwissenschaft, also jede auf die faktische Welt bezogene
Wissenschaft erkenntnistheoretisch aufgeklärt und somit der geistige Sinn
der gegebenen Welt bestimmt werden. Eben dadurch wird nun auch die
teleologisch-metaphysische Weltbetrachtung, die als dogmatische beginnt,
auf ein völlig neues Niveau erhoben; ja erst nachdem die Vernunfttheorie
ins Spiel getreten ist, gewinnt man den wahren Boden für die höchsten
und echtesten teleologischen Probleme. Erst wenn wir die Universalität, mit
der das reine Bewusstsein in seinen a priori vorgezeichneten Möglichkeiten
der Erkenntnisgestaltung alle Möglichkeiten wahren Seins in sich fasst, als
konstitutives Korrelat erkannt und durchforscht haben, gewinnen wir Mög-
lichkeiten für wahrhaft wissenschaftlich gegründete Weltanschauung. Erst
damit gewinnen wir Möglichkeiten, auch wissenschaftlich und nicht bloß in
Form religiöser Erhebung, von Gott etwas aussagen zu können, von Gott als
Überrealität, als der Quelle aller Realitäten, als der Quelle aller ihnen wert-
gebenden Kräfte und ihrer werthaften Entwicklungen. Erst dann können wir
verstehen, wie eine höchste Synthese aller absoluten Ideale zu der Einheit
eines absoluten Ideals, zu der Einheit der platonischen Idee des Guten,
zum ens realissimum werden, als schöpferisches Prinzip der gegebenen Welt
gedacht werden kann.
Der einzig mögliche Weg aber, um so hohe Ziele, die höchsten unserer Er-
kenntnis überhaupt gesteckten, wenn nicht erreichen, so doch vernünftig an-
streben zu können, ist uns vorgezeichnet durch den tiefsten Sinn der großen
Geistesbewegungen seit Descartes, ja schon durch den tiefsten Sinn der
cartesianischen Meditationes, die ihnen den ersten Impuls gegeben haben.
In dem unklaren Ringen dieser Epoche arbeitet sich der menschliche Geist
immer weiter hervor zur Einsicht, dass alle Erkenntnis auf das Bewusstsein
286 einleitung in die philosophie

zurückbezogen werden muss und dass eine Theorie der Vernunft die Vor-
aussetzung ist für eine durchaus notwendige wissenschaftliche Erkenntnis
von einer höheren Stufe, als welche die natürlich-dogmatisch gewachsenen
Wissenschaften sie darbieten. Die immer neuen Verwirrungen, in die die
Menschheit hineingerät durch die vernunfttheoretische Reflexion, und die
immer neu gewendeten Skeptizismen, welche die Menschheit beirren und
zeitweise innerlich lähmen, haben ihre Quelle in der Unvollkommenheit,
mit der die Problematik der neuen Dimension erfasst, in dem Mangel an
Radikalismus, mit der die Idee des reinen Bewusstseins verfehlt und ihm
immer wieder das empirische Bewusstsein untergeschoben wird.
Begreiflicherweise nimmt man die durch so strenge Wissenschaften, wie es
die Naturwissenschaften sind, erkannte Welt für die absolute Welt hin, selbst
nachdem man die Notwendigkeit von vernunfttheoretischen Forschungen er-
kannt hat. Begreiflicherweise sieht man bei diesen zunächst Vernunft als ein
Vermögen des menschlichen Geistes an und gerät so in eine bald empirisch-
naturwissenschaftlich behandelte, bald metaphysisch konstruierende Psy-
chologie. Locke, mit dessen Versuch über den menschlichen Verstand die
Erkenntnistheorie zum ersten Mal als eine eigene wissenschaftliche Disziplin
auftritt, gibt eine Psychologie der Erkenntnis und glaubt doch durch sie eine
Theorie der Vernunft, eine Aufklärung über Sinn und Leistung der Erkennt-
nis geben zu können. Und dieser Psychologismus ist noch bis zum heutigen
Tag in der Welt vorherrschend (obschon in verschiedenen Gestaltungen,
selbst solchen, die heftige Angriffe gegen das, was man Psychologismus
dann zu nennen beliebt, nicht ausschließen). Aber man muss sich nur diesen
Widersinn klar machen: Ist die Möglichkeit einer objektiv gültigen Erkennt-
nis überhaupt problematisch, versteht man nicht, wie Erkenntnis über sich
hinaus Bedeutung haben und was der Sinn eines in der Immanenz der Er-
kenntnis angeblich erkannten Transzendenten sein kann, so ist es doch ein
widersinniger Zirkel, irgendwelche transzendente Objektivität als gegeben,
als seiend vorauszusetzen, also die Welt, den Menschen, den menschlichen
Geist als Realität vorauszusetzen, da doch auch all das selbst problematisch
geworden ist. Erst die Herausarbeitung des reinen Sinnes der cartesianischen
Zweifelsbetrachtung und die Methode der phänomenologischen Reduktion
macht die Eigenheit und das Wesen des reinen Bewusstseins klar, eröffnet
die Pforte für eine Wissenschaft von den Wesensgestaltungen des reinen
Bewusstseins, damit aber auch die Pforte zu einer reinen Erkenntnistheorie,
die nicht von menschlicher Erkenntnis spricht, sondern vom reinen Wesen
möglicher Erkenntnis und möglichen Bewusstseins überhaupt nach Noesis,
Noema und noematisch gefasstem Sein. So ist die reine Phänomenolo-
phänomenologie als apriorische wissenschaft 287

gie mit ihrer unendlichen Fülle selbsteigener Erkenntnisse und mit ihrem
System von Sonderdisziplinen die Grundwissenschaft für alle Philosophie
im prägnanten Sinne und der Boden, auf den alle Probleme einer letzten
Welterkenntnis zurückbezogen sind.
Aus den Vorlesungen
„Einleitung in die Philosophie“ von 1916 und 1918

Descartes

Descartes’1 Meditationen gaben uns schon durch mehrere Vorlesungen


hindurch den Stoff für unsere historischen und systematischen Überlegun-
gen. In der Tat steht dieses Werk sozusagen als eine Ouvertüre am Eingang
der neueren Philosophie. In ihm liegen die bedeutsamsten Motive für die
ferneren geistigen Bewegungen und gerade für diejenigen, die uns so sehr
interessieren, in denen nämlich die Idee einer reinen Vernunftkritik und
damit einer neuartigen Philosophie zu Tage drängt. Darin liegt aber, dass
bis dahin in ihrer methodischen Grundart verborgene Probleme, solche, die
nicht in der Ebene des natürlichen Denkens und zunächst auch noch nicht in
derjenigen des naturwissenschaftlichen Denkens liegen, sich bei Descartes so
zwingend fühlbar machen, dass sie zu Triebkräften der Entwicklung werden.
Freilich kommen sie erst am Ende langer historischer Entwicklung zu reiner
Formulierung und werden zum Thema einer echten Wissenschaft. Um nun
diese Probleme, wie es ihre voraussetzungsreiche Art erfordert, stufenweise
zum Verständnis zu bringen, vertiefen wir uns in den Geistesgehalt der
„cartesianischen Zweifelsmethode“ und des durch sie als absolut zweifellos
herausgestellten „cogito“.
In einer sorgsamen Überlegung erkannten wir die von Descartes selbst
nicht erschaute Möglichkeit einer Wissenschaft im Feld des reinen Bewusst-
seins, die es sich zur Aufgabe stellen würde, alle idealiter möglichen reinen
Bewusstseinsgestaltungen zu erforschen. In ihren Rahmen fallen die idealen
Möglichkeiten des erkennenden Bewusstseins nach allen seinen möglichen
Arten und Formen, also das, was wir vordem als Erkenntnistheorie oder
Erkenntniskritik bezeichnet hatten. Dann knüpften wir von Neuem und an
einer neuen Seite der cartesianischen Lehre an. Wir sprachen von seiner
Lehre von den eingeborenen Ideen und von seiner Theorie vom Ursprung

1 Randbemerkung Aus Späterem: Rückblick, wichtig als Leitfaden der ganzen Behandlung

des Descartes. Scheidung der Probleme. Evidenzprobleme, Transzendenzprobleme etc.

H. Jacobs (ed.), Einleitung in die Philosophie Vorlesungen 1916–1920, 288


Husserliana: Edmund Husserl – Materialien IX, DOI 10.1007/978-94-007-4659-6_2,
© Springer Science+Business Media Dordrecht 2012
descartes 289

der objektiven Geltung der Evidenz, die in seinen Meditationes auch sonst
eine große Rolle spielt. Dadurch gewann nun die erkenntnistheoretische
Problematik eine neue Note. Das Problem der Transzendenz, an das wir
weder bei der Erörterung einer reinen Bewusstseinswissenschaft, noch bei
der ersten Erwägung einer Erkenntnistheorie gedacht hatten, kam uns,
und recht peinlich, zum Bewusstsein. Hatten wir früher unter dem Titel
„Erkenntnistheorie“ an eine systematische und bis zu den letzten Wurzeln
vordringende Methodologie gedacht, also alles auf die Evidenz bezogen,
deren Geltung dabei gar nicht in Frage gestellt war, verhält es sich jetzt
anders. Peinlicherweise wurde nun gerade sie zum Rätsel. Die Folge davon
ist: Die gesamte Möglichkeit einer über das reine Bewusstsein hinausrei-
chenden Erkenntnis schien in Frage gestellt, und das drohende Gespenst des
Solipsismus tauchte auf.
Meiner reinen Bewusstseinserlebnisse bin ich, der Erkennende, mir in
absoluter Zweifellosigkeit bewusst: also in meinem Wahrnehmen, dass ich
wahrnehme und dabei die und die „Wahrnehmungsbilder“ habe; wenn ich
mich erinnere, dass ich die und die Erinnerungsbilder habe; wenn ich urteile,
dass ich das und das meine; wenn ich physikalische Theorien durchdenke,
dass ich eben sie denke usw. Aber wie steht es mit dem Wirklichsein der
Welt, die ich in solchen Bewusstseinserlebnissen zu erfassen und wissen-
schaftlich zu erkennen vermeine? Der naive Mensch glaubt, sie sei in der
Erfahrung unmittelbar gegeben. Aber sind nicht in Wahrheit bloß Bilder
von ihr gegeben? Das Ding, etwa ein Haus, ist das, worauf sich die man-
nigfaltigen fließenden Wahrnehmungsbilder von diesem Haus beziehen, und
nicht das Haus selbst. Sonst hätte ich ja bei jeder Blick- und Kopfwen-
dung einen anderen Gegenstand. Die Wahrnehmungsbilder sind ja immer
neue.
Dabei ist zu beachten, dass mein Leib, den ich ohne weiteres zu meinem
Ich rechne, auch nur ein Transzendentes ist, wahrgenommen durch Wahrneh-
mungserscheinungen, so wie ein anderes Ding. Die Berufung auf die exakte
Wissenschaft nützt nichts. Denn die Einsichtigkeit ihrer Begründungen ist
selbst etwas im Bewusstsein selbst sich Einstellendes, ein Bewusstseinscha-
rakter der Erkenntniserlebnisse. Descartes hat aber die transzendente Trif-
tigkeit des Evidenzcharakters in Frage gestellt. In der Tat ist doch (wird man
sagen) denkbar, dass im Bewusstsein alles so läuft, wie es läuft, mitsamt den
Erlebnischarakteren, die da „einsichtige Begründung“ machen, während in
wirklicher Wirklichkeit gar nichts ist. Kann uns nun die Berufung auf die
göttliche veracitas nichts nützen, da Gott selbst für mich, den Erkennenden,
nur ein transzendent Gedachtes ist, so ist die Verlegenheit groß.
290 einleitung in die philosophie

Die Stellung zu dieser Frage bedingt fundamentale Unterschiede in der


ganzen Weltauffassung. Lassen wir zu, dass Bewusstsein eine an sich seiende
Welt erkennen kann, so sind wir Realisten. Sagen wir, es gibt nur Bewusstsein
und Bewusstseinsgebilde, so sind wir Idealisten. Das ist ein Begriff von
Idealismus, der mit dem gewöhnlichen Sinne der Rede nichts zu tun hat;
er stammt her von dem Gebrauch des Wortes idea, das jede Vorstellung,
jedes Bewusstseinserlebnis bezeichnet, also mit Ideen im Sinn von Idealen
nichts zu tun hat. Aber wie diese Fragen nun entscheiden?
Descartes sucht absolute Erkenntnisbegründung auf dem Wege eines uni-
versellen Zweifels vorzubereiten. Ich versuche (und als absolute Erkenntnis
Anstrebender muss ich das versuchen), alles und jedes, was ich für wahr hielt,
alles und jedes, was sich mir irgend als seiend anbietet, zu bezweifeln, noch
besser, ich versuche, es zu negieren. Was irgendeinen „leisesten Grund
des Zweifels“ darbietet, will ich als „zweifelhaft“ ausschalten, besser und
deutlicher: was ich mir als nicht seiend anschaulich vorstellen kann, was
prinzipiell denkbar ist als nicht seiend.1 Auf diese Weise muss ich als
absolute Grenze eines möglichen Zweifels das finden, dessen Negation und
Bezweiflung prinzipiell widersinnig ist. Nun natürlich, beschlossen ist im „Ich
zweifle“ das „Ich bin“, und zwar eben in der Form: „Ich zweifle“. Das ist eine
Tautologie. Aber sie macht mich darauf aufmerksam, dass, auch wenn das
Bezweifelte und Negierte in der Tat nicht ist, jedenfalls doch das Zweifeln
und Negieren selbst, mit seinem Subjekt, etwas ist, wofern ich es nur genau
so nehme, wie es da zweifellos ist. Nehmen wir, um das noch deutlicher zu
machen, als Unterlage des „Ich zweifle“ ein Wahrgenommenes.
Häuser, Bäume, Menschen sehe ich, auch meinen Leib sehe ich. Es fällt
mir im Allgemeinen nicht ein, zu bezweifeln, dass all das sei; es gibt sich
als wirklich und so nehme ich es hin. Ich kann mir aber sehr wohl denken,
dass es nicht sei, während ich es doch wahrnehme. Dieses Denken ist von
allem Widersinn frei; ich kann mir ja zu vollkommen klarer Vorstellung
bringen, wie es sich berechtigen könnte, nämlich wenn ich mir vorstelle, dass
ich hinginge und die Wahrnehmungen so sich aneinanderreihen würden,

1 Gestrichen Jeder Seinsprätention, möge sie auch als Aussage der Wissenschaft mir gegeben

sein, setze ich gegenüber den Ansatz „Es ist nicht“, und diesen Ansatz suche ich durchzuführen.
Das heißt, ich suche, mir diesen Gegenfall des Nichtseins zu vollkommener Klarheit zu bringen.
Gelingt das, so gewinne ich damit die Evidenz der Möglichkeit des Nichtseins. Was gegenüber
meinem, sei es auch wissenschaftlichen Überzeugtsein, so sich herausstellt als möglicherweise
nicht seiend, schließe ich aus. Bleibt nun aber ein Bestand übrig von solchem, was zur Evidenz
führt, dass ein Nicht-Sein unmöglich, undenkbar sei, was also notwendig als seiend gesetzt sein
und bleiben muss?
descartes 291

dass ich sagen müsste: „Ich nehme das für einen Menschen, und es ist eine
Puppe“, „Ich nehme das für ein Buch, und es ist eine Schokoladenbüchse“
usw. Ein Mensch, ein Buch: Das fordert einen bestimmten Übergang meiner
ersten Wahrnehmung, die etwa bloß Gesichtswahrnehmung war, in weitere
und weitere Wahrnehmungen und nicht bloß visuelle, sondern taktuelle
Wahrnehmungen, und so für Wahrnehmungen jeder Art, die in einem
bestimmten Stil sich zur einstimmigen Erfahrungseinheit verbinden müssen.
Ob nun aber der wirkliche weitere Verlauf meiner Erfahrung diesem Stil
entspricht, ist nicht absolut sicher; jedenfalls ist ein anderer Verlauf eine
anschauliche Möglichkeit. Mit anderen Worten, immer kann ich mir, und
das ist ganz evident, statt eines bestätigenden, einen widerlegenden, einen
das „wirklich sein“ aufhebenden Wahrnehmungsverlauf imaginieren; es ist
also das Wirklich-Sein jedes in einer gegebenen Wahrnehmung Wahrge-
nommenen nicht jedem möglichen Zweifel entzogen. Jedes, wie sehr es in
der Erfahrung als leibhaftig greifbare Wirklichkeit vor mir dasteht, könnte
trotz dieser Greifbarkeit nicht sein. Immerfort bleibt es offen, dass der
Rechtsanspruch der Erfahrung wirklich im Gang weiterer Erfahrung zur
Aufhebung, zur Entrechtung kommt.
Ist somit prinzipiell die ganze Welt der Dinge, der menschlichen Leiber
und damit der Menschen überhaupt und so die ganze reale Welt meiner
Erfahrung möglicherweise nicht seiend, trotz meiner jeweiligen aktuellen
Erfahrung, so setzt diese universell evidente Nichtseins-Möglichkeit etwas
doch als seiend voraus: das Faktum des Bewusstseins, in dem ich diese Zwei-
felsbetrachtung anstelle. Offenbar unberührt bleibt durch einen prinzipiellen
Zweifelsversuch der gesamten äußeren Erfahrungswirklichkeit das gesamte
„Bewusstsein“. Das „Bewusstsein“, das aktuelle cogito, das umfasst all die
Erlebnisse, die ich mit den Worten bezeichne: Ich nehme das und das wahr,
ich sehe, höre, fühle das, ich erinnere mich an das, ich erwarte das, ich denke
das, ich urteile, schließe, beweise, ich erwäge, zweifle, aber auch ich halte
das für schön, ich fühle das als unangenehm oder angenehm, nützlich oder
unzweckmäßig, ich begehre, ich will usw.1 Wo immer ein solches Ich-Erleben
im reflektiven Blick des „Ich nehme es wahr“ steht, schließt eben dieses
Wahrnehmen die Möglichkeit aus, dass sein Objekt, nämlich das Erleben

1 Gestrichen Das kann ich, der Erwägende, jeweils Reflektierende, Zweifelnde usw. sagen.

Ob das in diesen Bewusstseinsakten, den Akten des lebendigen cogito Bewusste wirklich sei,
ob Dinge, Menschen, Himmelskörper, ob Erlebnisse eines Menschen sind, ob das, was ich für
schön halte, schön ist, ob es gut, wert ist usw., das kann ich in weitem Umfang als nicht seiend
ansetzen und mir auch vorstellen, dass das Setzen des Nichtseins ein Recht haben könnte.
292 einleitung in die philosophie

nicht sei. Dieses Erleben ist seinerseits selbst Bewusstsein von dem oder
jenem, Vorstellen eines vorgestellten Dinges, Erinnern eines Erinnerten,
Denken irgendeines Sachverhalts usw.1
Also da habe ich einmal einen absoluten Seinsboden: dieser Strom meines
Bewusstseins, soweit ich ihn im reflektierenden Blick fixiere und in seiner
reinen Immanenz bleibe. Und da habe ich eine absolute Erkenntnis, wenn
auch zunächst nur in einer niedersten Form, die der immanenten Wahrneh-
mung. Jede Wahrnehmung hingegen von räumlichem Sein, der materiel-
len raum-zeitlichen Wirklichkeit, ist offenbar in prinzipieller Allgemeinheit
„bezweifelbar“, ein Wort, das aber nur sagt und sagen darf: Ein Zweifel,
eine Negation ist nicht absolut ausgeschlossen, trotz wahrnehmungsmäßiger
Gegebenheit. Völlig ohne Anlass und Grund ist der Zweifel allerdings in
jedem Fall, wenn ich eben keinen Erfahrungsgrund habe, der gegen meine
aktuelle Wahrnehmung, zum Beispiel von diesem Hörsaal mit diesen Her-
ren etc. spricht. Nur, dass eben immer die Möglichkeit offen ist, dass im
Fortgang der Erfahrung hinterher die Gegengründe kommen, während ich
für das Sein des „Ich nehme wahr“ und jedes reine Ich-Erlebnisses, das
ich im reflektierenden Blick als Erlebnisfaktum vorfinde, keine erdenklichen
Gegengründe finden kann, es ist absolut gegeben.
Also diesen höchst merkwürdigen Kontrast gilt es in den Brennpunkt
der Aufmerksamkeit zu stellen: Von der Ding- und Menschenwelt, kurzum
von der ganzen Welt, die im Raum sich ausbreitet, habe ich „äußere“
Erfahrungen und daraufhin Erfahrungserkenntnis. Jede solche Erfahrung,
während ich sie mache (darunter jede unmittelbare Wahrnehmung), lässt
die Möglichkeit des Nichtseins des Erfahrenen offen. Das betrifft natürlich
auch die Erfahrung von meinem Leib, diesem räumlichen Ding. Anderer-
seits kann ich meinen Blick auf mein Erlebnis des Erfahrens, auf mein
Wahrnehmen von all diesen Dingen, auf mein Erinnern, kurzum überhaupt
auf mein Bewusstsein richten (und somit von ihm Wahrnehmungen und
Erfahrungen haben). Stelle ich hier bei diesen „immanenten“ Wahrneh-
mungen den Negationsversuch an, so ist es evident: Während ich mein
Bewusstsein wahrnehme, bleibt das Nichtsein des Bewusstseins nicht offen.
Es ist, während ich mein Bewusstsein erlebe und es im wahrnehmenden
Blick habe, schlechthin unmöglich, dass es nicht sei. Das ist also der Sinn der

1 Gestrichen Im Voraus kann ich dabei offenbar sagen, auch ohne mich in Erwägung des Seins

und der Seinsmöglichkeit dieses im Bewusstsein Bewussten einzulassen, wie immer es sich
mit diesem Sein verhalten mag, Bewusstsein selbst ist, absolut und unzweifelhaft.
descartes 293

prinzipiellen Unbezweifelbarkeit, der prinzipiellen Unmöglichkeit der Ne-


gation des „cogito“. Und dabei ist von vornherein zu beachten, dass der
Sinn dieses cogito nicht ausgesprochen werden darf mit den Worten: Ich,
dieser Mensch, diese menschliche Person, die so und so heißt, da und da
geboren und erzogen ist usw., nehme wahr, urteile, fühle, will. Ist die ganze
räumlich-reale Welt durch die Methode der Ausschaltung des prinzipiell
Bezweifelbaren ausgeschaltet, also auch mein Leib ausgeschaltet, so betrifft
das auch offenbar die menschliche Person.
Der Mensch als beseelter Leib, der Mensch, der Auge und Ohr und
sonstige Sinne hat, der durch seine leiblichen Äußerungen sich mit anderen
Menschensubjekten verständigt usw., ist von der Ausschaltung betroffen. Ich,
als Mensch, brauche nicht zu sein, während doch eben mein Infragestellen,
mein Versuchen zu bezweifeln und so jedes cogito, das ich aktuell vollziehe,
prinzipiell unbezweifelbar ist. Also das cogito ist nicht das cogito meines Ich,
des Menschensubjekts; mein Erlebnis ist hier nicht gesetzt als Menschener-
lebnis, das mit der Leiblichkeit und der Raumwelt ein prinzipiell Bezweifel-
bares und somit ein möglicherweise Nichtseiendes ist. Denken wir die ganze
räumlich-reale Welt und somit uns selbst als nicht seiend, so bleibt nicht
schlechthin nichts übrig; es bleibt vielmehr das reine Ich und Ich-Bewusstsein
übrig als Voraussetzung des Ansatzes der möglich nicht seienden Welt. Die
genauere Erwägung des Sinnes der absoluten Gegebenheit des cogito führt
also zu dem fundamentalen Ergebnis, das uns noch beschäftigen wird. Es
ist prinzipiell zu scheiden: 1) das Ich-Subjekt als Menschensubjekt, die Ich-
Person als Gegenstand der realen Welt, die räumlich-zeitlich kausale Welt ist,
von dem reinen Ich des cogito. 2) Es ist dementsprechend zu unterscheiden
das psychologische Erlebnis des „Ich nehme wahr“, „Ich fühle“, des cogito
als Erlebniszuständlichkeit des Menschen und andererseits das cartesiani-
sche cogito. Mit anderen Worten, es ist zu unterscheiden das Bewusstsein als
Zustand der Menschenseele und das reine oder absolute Bewusstsein, auf
das sich die cartesianische Evidenz bezieht.
Machen wir nun folgenden Versuch: Denken wir uns das immanente
Feld, das Feld der dahinströmenden Erlebnisse, die Descartes unter dem
Titel cogito befasst, rein für sich und behandeln wir alle dem Bewusstsein
transzendenten Gegenstände (die in ihm bewussten, aber nicht selbst als
Bewusstsein zu charakterisierenden) als existierten sie in Wirklichkeit nicht.
Eine offene, von allem Widersinn freie Möglichkeit ist das ja sicher. Oder
auch in einer leichten Wendung: Statt den Ansatz der Nichtexistenz zu
machen, versteifen wir uns darauf, von ihrer Existenz gar keinen Gebrauch
zu machen, keinerlei gutes oder schlechtes, wirkliches oder prätendiertes
294 einleitung in die philosophie

Wissen von ihnen als Prämisse zu gebrauchen, als geltend hinzunehmen.


Was bleibt dann für ein Erkenntnisfeld übrig? Da in der Tat mein, des Den-
kenden, Bewusstsein vermöge seiner Absolutheit in der Gegebenheitsweise
in sich rein abgeschlossen ist, warum sollte ich es nicht als Feld einer rein
darauf bezogenen Erkenntnis benützen können? Und gibt es sonst nicht nur
wissenschaftliche Erforschungen von Wirklichkeiten, sondern auch wissen-
schaftliche Erforschungen von Möglichkeiten, nämlich von Vorstellbarkei-
ten, Denkbarkeiten und andererseits Undenkbarkeiten, Unmöglichkeiten,
warum sollten wir nicht auch hier in der immanenten Sphäre Möglichkeiten
und Unmöglichkeiten des reinen Bewusstseins erwägen können?
Es1 leuchtet uns also die Möglichkeit auf, dass dieses reine Bewusstsein
zur Domäne einer reinen Bewusstseinswissenschaft und einer eidetischen
Bewusstseinswissenschaft werden könnte. Und nicht nur das. Es drängt sich
uns der Gedanke auf, dass in ihren Rahmen jene radikale Erkenntnistheorie,
eine noetische Wissenschaftslehre, fallen müsste, auf die wir früher gestoßen
waren. Zunächst ist es klar, dass wir innerhalb des strengen Ausschlusses aller
bewusstseinstranszendenten Annahmen zum Beispiel die Wahrnehmungen
einem systematischen Studium unterwerfen könnten, nämlich nach allen ih-
ren möglichen Gestaltungen und ihren immanent wesentlichen Zusammen-
hängen. Ebenso die anschaulichen Erinnerungen und sonstigen Anschau-
ungen. Wir könnten dann, immer in der Einstellung der Ausschaltung al-
ler Transzendenz, die eigentümlichen Erfahrungszusammenhänge studieren,
die den Titel tragen „einstimmige Erfahrung von demselben Gegenstand“
und demgegenüber „unstimmige Erfahrung, Illusion“. Ebenso lassen sich
offenbar, sagten wir, die reinen Gestaltungen des Denkens systematisch
erforschen und die möglichen Arten, wie sie auf Anschauungen zu bauen
wären. Dahin gehört das, was man „Urteilstheorie“ nennt, als eine syste-
matische Erforschung aller ideal-möglichen Arten und Formen von Urteilen
und Urteilsgebilden, darunter auch die evidenten Urteile, die gültigen und
evidenten Schlüsse. Also dann auch das Studium der möglichen Denk- und
Erkenntnisprozesse, die in systematischem Aufbau Theorien und Wissen-
schaften konstituieren. Und so scheint alles einer reinen und radikalen
Erkenntnistheorie zuzustreben.
Nun könnte man aber einwenden: Bewegen wir uns da wirklich in der
puren Bewusstseinssphäre? Erkenntnis, Theorien, Wissenschaften gehen
doch auf Gegenstände. Sie sind Methoden, Gegenstände zu erkennen, die

1 Randbemerkung Möglichkeit der Wissenschaft vom reinen Bewusstsein.


descartes 295

nicht selbst die Erkenntniserlebnisse sind, vielmehr diesen transzendent sind.


Transzendieren wir also nicht das Bewusstsein in allen auf das Wesen der ob-
jektiven Beziehung und Geltung gerichteten Studien über Erkenntnis, über
Theoriengebilde usw.? Unser Entschluss war aber doch der, ausschließlich im
Feld der cogitationes zu verbleiben und schlechthin nichts von Transzendenz
vorauszusetzen.1
Demgegenüber müssen wir uns Folgendes klar machen: Die „äußere“,
„transzendente“ Welt haben wir ausgeschlossen. Aber in welchem Sinne?
Nun, doch in dem, dass Bewusstsein selbst und von sich aus etwas als seiend
vermeint, was seinerseits nicht wieder Bewusstsein ist. Die Wahrnehmung,
ein Bewusstsein, ist Wahrnehmung etwa von diesem Tisch. Der aber ist
selbst nicht Bewusstsein, und das nenne ich eben „Transzendenz“. Ja, woher
weiß ich das aber, dass dieser Tisch, den ich wahrnehme, kein Bewusstsein

1 Gestrichen Sollte ich da nicht eine Reihe wertvoller und vielleicht absolut gültiger For-

schungen anstellen können? Da auch all die Erlebnisse, die der allgemeinste Titel „Erkenntnis“
umspannt, und darunter natürlich auch die mit dem Bewusstseinscharakter der Evidenz aus-
gestatteten in diesen Rahmen fallen, sollte da nicht eine Durchforschung des erkennenden
Bewusstseins nach seinen möglichen Gestaltungen, seinen Arten, Formen, möglichen Abwand-
lungen, Vereinheitlichungen und Evidenzmodi möglich sein? In Freiheit können wir doch Ab-
wandlungen der Erkenntniserlebnisse in Form reiner und immanenter Imagination vollziehen
und die idealen Möglichkeiten und Verträglichkeiten, andererseits Unmöglichkeiten und Un-
verträglichkeiten erfassen. Zum Beispiel, eine wirklich erlebte Wahrnehmung können wir uns
modifiziert vorstellen, sie übergeführt denken in verschiedene mögliche Wahrnehmungsreihen,
unter den Titeln etwa „Ich denke mir, ich ginge auf das Ding zu, ich berührte es, ich ginge herum“
usw. Auf diese Weise können wir den allgemeinen Stil der Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten
studieren, die zur Einheit eines und desselben Dinges gehören. Das können wir doch tun, ohne
die wirkliche Existenz irgendeines Dinges zu verwenden. Oder wir können einen Satz, der uns
vorschwebt, negiert denken, in hypothetischer Form verwandelt oder in disjunktiver Verknüp-
fung mit einem beliebigen anderen Satz usw. Das alles hält sich, wenn wir in Konsequenz un-
seres Entschlusses, von keiner Transzendenz Gebrauch zu machen, wirklich in der immanenten
Sphäre, obschon in einer Sphäre einer Phantasie-Immanenz, einer Immanenz von Möglichkeiten
immanenten Seins. Aber wenn uns eben die Möglichkeiten interessieren, so ist das der rechte
Boden. Genauso wie ja der Geometer kein Phantast ist, wenn er in seiner geometrischen
Phantasie Linien zieht und Figuren sich abwandeln lässt. Als reiner Geometer will er ja nichts
anderes als die Gesetzmäßigkeiten, die alle im reinen Raum möglichen Figuren beherrschen,
erforschen. Auf Denkmöglichkeiten ist er gerichtet. Können wir dann zum Beispiel nicht, rein
in dieser Sphäre verbleibend, erforschen, was zum Beispiel in der Idee der „Wahrnehmung“
als Typus für eine geschlossene Gruppe ideal-möglicher Bewusstseinsgestaltungen beschlossen
ist, welche möglichen Differenzierungen sich ergeben? Oder die Frage aufwerfen: Was macht
den eigentümlichen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Einbildung, von Wahrnehmung
und Erinnerung, Erinnerung und Erwartung usw.? All diese Unterschiede, so festgestellt, wie
sie aus dem eigenen Wesen solcher Akte selbst hervorgehen. Und so für alle Wesensartungen
von Erkenntniserlebnissen. Denn Erkenntnis ist weiter eine wunderbare Sache, die auch
umfassende Forschungsmöglichkeiten zu eröffnen scheint.
296 einleitung in die philosophie

ist? Benütze ich da nicht das Transzendente, das ausgeschlossen werden


sollte? Die Antwort lautet: Ein cogito, das ich jetzt unter dem Titel „Ich
nehme wahr“ vollziehe, ist nicht nur überhaupt ein „Ich nehme wahr“,
sondern „Ich nehme diesen Tisch wahr“. Genau ebenso, wie wenn ich einen
Zentauren phantasiere, ich nicht nur überhaupt diese absolute Gegebenheit
habe, dass ich phantasiere, sondern dass ich diesen so und so aussehenden
Zentauren phantasiere. Und diese immanente Objektbeziehung gehört zum
Wesen dieser Erlebnisse, die da „Bewusstsein“ heißen, ob die Gegenstände
wirklich sind oder nicht sind, und weiter, ob ich in Bezug auf die Wahrneh-
mung mich auf den Standpunkt stelle „Ich will von meiner Seinsüberzeugung
hinsichtlich des Tisches keinen Gebrauch machen“ oder ob ich mich wie in
der natürlichen Lebenshaltung nicht auf diesen Standpunkt stelle. Und nicht
nur Objektbeziehung gehört zum Wesen der Bewusstseinserlebnisse selbst,
sondern für Gruppen derselben gehört dazu das „Es-ist-wirklich“ oder
„Nicht-wirklich“, mit dem sich das bewusste Objekt im Bewusstsein selbst
gibt oder ausgibt. Zum Beispiel, die Wahrnehmung nimmt wahr und darin
liegt: Ihr Was, das Vorgestellte, gibt sich ihr als Wirklichkeit und sie nimmt
es so hin. Und woher weiß ich das? Natürlich, ich finde es in der Wahrneh-
mung selbst und finde es, auch wenn ich es unterlasse, diesen Seinsglauben
mitzumachen und in meinen jetzigen Studien als Prämisse zu verwerten.
Genau ebenso liegt im überzeugten Denken eines mathematischen Satzes,
dass der gedachte Sachverhalt im Charakter des „wahrhaft so“ bewusst
ist, und wieder in einer ganz anderen Richtung, dass im Schön-Werten das
Bewertete sachlich bewusst ist im Charakter des „schön“ usw. Nur in dieser
Art schließen wir das Transzendente aus: Keine Seinsüberzeugung, kein
transzendente Existenz voraussetzendes oder einschließendes Wissen, mag
es sogar evident sein, und ebenso dann auch keine ästhetische oder ethische
Überzeugung verwerten wir als Prämisse, keine machen wir mit. Dagegen
machen wir sie zum Thema und fragen, was in ihrem Wesen liegt.
Somit haben wir in unserer Bewusstseinssphäre alle wirklichen und alle
möglichen „Welten“ und Wirklichkeiten, nämlich als im Bewusstsein (recht
oder schlecht, vernünftig oder unvernünftig) vermeinte, erfahrene, gedachte,
erdachte usw. Es fixiert sich uns damit die wunderbare Tatsache, die gewöhn-
lich ganz übersehen und die doch so selbstverständlich ist, dass eben Bewusst-
sein in sich selbst Bewusstsein von etwas, und zwar bald von so und so An-
geschautem oder begrifflich Bestimmtem, bald von Unbestimmtem, Halb-
bestimmten usw. ist. Bewusstsein hat in sich seinen Sinn und durch seinen
Sinn mannigfache Beziehung auf Gegenständliches. Und weiter: Bewusstsein
in sich selbst setzt Gegenständliches als wirklich, als möglich, zweifelhaft,
descartes 297

aber auch als wert, als gut, als schön etc. Also ist der Titel „Bewusstsein“
allumspannend. Wenn wir von keiner Wissenschaft jetzt Gebrauch machen
dürfen, keine uns schlechthin gilt und gelten soll, so haben wir andererseits
alle Wissenschaften mit all ihren Erkenntnisakten in unserer immanenten
Sphäre; aber die Wissenschaften sind in ihr nur als Phänomene, genauer,
als Gebilde des Bewusstseins, als wirkliche und mögliche Zusammenhänge
von Erkenntniserlebnissen, die wir in der Reflexion studieren, und zwar in
sich selbst, als was sie sind und was sie über sich in der Weise des Meinens
hinausgehend meinen. Das „Über-sich-hinaus“ gehört zum Wesensbestand
des Bewusstseins selbst.
Wenn, ideal gesprochen, Wissenschaften aus einsichtig begründenden
Akten hervorgehen und durch und durch Einsehbares aussagen und wenn
sie dadurch ihr Gegenstandsgebiet als seiend und soseiend erkennen (wie
es in Wahrheit ist), so drücken diese Worte doch Zusammenhänge von
Phänomenen der Erkenntnis aus mit Beziehungen auf Erkanntes, das in
den Erkenntnissen selbst Gemeintes, eventuell im Charakter der Einsicht
als wahrhaft seiend Gegebenes ist. Also rein auf die immanenten Erlebnisse
selbst und auf den ihnen einwohnenden Sinn hinblickend und das Wesen
der Bewusstseinsbeziehungen von Bewusstsein und Bewusstem studierend,
können wir, scheint es, sehr wohl erkenntnistheoretische Studien treiben und
absolut voraussetzungslos, insofern als wir keinen Schritt über die absolute
Evidenz des (passend erweiterten) cogito hinaus zu machen haben.
Das wird wohl genügen, um Ihnen zunächst ganz allgemein den Gedan-
ken nahezubringen, dass hier vielerlei zu sehen, im Verhältnis von Meinen
und Gemeintem, Bewusstsein und Bewusstseinsgegenständlichkeit, vieler-
lei immanent zu studieren sein muss und in einer Weise, die keine der
gewöhnlichen, auf transzendente Sachen bezogenen Wissenschaften irgend
voraussetzt.
Wie ist da nun die Stellung von Descartes, der doch der Entdecker des
reinen Bewusstseins ist? War er der Schöpfer einer reinen Bewusstseins-
wissenschaft und speziell einer reinen Erkenntnistheorie? Nein. Dass sich
hier ein Feld der Wesensforschung eröffnet, das sieht er nicht. Er sieht
nicht, dass die von ihm selbst so lebhaft geforderte Vernunftforschung,
die vor allen Wissenschaften Wesen und Leistungsfähigkeit der Vernunft
klarstellt, sich auf diesem Feld zu bewegen hätte und im Rahmen einer
universellen transzendental-reinen Bewusstseinsforschung zu vollziehen sei.
Wie ihm auch nicht einen Augenblick auch nur der Gedanke beifällt, dass es
sich hier überhaupt um ein Forschungsfeld, um eine Domäne einer eigenen
Wissenschaft handeln könnte. Für ihn ist die ganze Zweifelsbetrachtung nur
298 einleitung in die philosophie

ein methodisches Mittel, um die Zweifellosigkeit der Existenz des Ich mit sei-
nen cogitationes herauszustellen, und dabei kommt es ihm vor allem auf die
Ich-Existenz an, der er sogleich unterschiebt die vermeintliche Feststellung
einer substantia cogitans. Wie viel Metaphysisch-Dunkles und jedenfalls die
reine Immanenz Transzendierendes mit dem traditionellen Substanzbegriff
einströmt, merkt er nicht.1 Er verfällt überhaupt, nachdem er auf wenigen
Seiten den absoluten Boden erreicht, in immer neue metaphysische Präsup-
positionen und immer aus demselben Grund, nämlich durch Verwendung
von ihm vermeintlich klar und deutlich erfassten Begriffen, wobei er eben
nicht sieht, dass alle letzten Begriffsklärungen und insbesondere die von fun-
damentalen Begriffen der Realität (wie Realität selbst, Substanz, Kausalität,
Raum, Zeit usw.) durchaus auf dem absoluten Feld geleistet werden müssen,
das durch ihn sichtlich geworden ist.
So wenig Descartes, und mit ihm die Folgezeit, die Nutzbarkeit des reinen
Bewusstseinsfeldes erkannt hat, so war seine Arbeit nicht umsonst getan. Die
bloße Tatsache, dass die Meditationes von ihrem Erscheinen an zu den gele-
sensten Werken der philosophischen Weltliteratur gehörten, lässt vermuten,
dass die Wendung zur Bewusstseinsanalyse und auch zum Idealismus, die in
steigendem Maß die Entwicklung der Philosophie bestimmt (mag sie auch
lange in psychologistische Abwege geraten), auf Descartes zurückzuführen
ist. Was ihn selbst anbelangt, so schließt, was wir gegen ihn mit Recht einzu-
wenden hätten, doch nicht aus, dass er in vielen gelegentlichen Reflexionen
vernunftkritisch höchst Wertvolles gesehen hat; nur, dass er vermöge seiner
prinzipiellen Unklarheit das Gesehene nicht rein zu erhalten und auf den
Boden jenes reinen Bewusstseins zu stellen vermag und dann in seinen
erkenntnistheoretischen Reflexionen auf folgenreiche metaphysische und
psychologistische Abwege gerät. Dem Führer von überwältigender Größe
folgt dann aber die Zeit. Und auch wo sie gegen ihn streitet, ist sie in ihren
Voraussetzungen, in ihrem ganzen Stil von ihm abhängig.
Unter den einflussreichen Lehren des Descartes bzw. unter jenen Abwe-
gen, die in der Linie unserer Betrachtungen liegen (die ja die Entwicklungs-
motive einer Philosophie neuen Sinnes, nämlich einer vernunftkritischen
Philosophie klarstellen wollen), kommt für uns jetzt besonders in Betracht
seine berühmte Lehre von den ideae innatae, in welcher über die letzten

1 Randbemerkung Die Hauptsache ist aber: Mit der substantia cogitans glaubt Descartes,

ein Stück der Welt absolut gesichert zu haben, und nun hält er es für seine Aufgabe, die
bewusstseinstranszendente Ergänzung zu erweisen: Vater des Realismus und Dualismus.
descartes 299

Ursprünge der Geltung rationaler Erkenntnis angebliche Auskunft gewon-


nen wird. Es schließt sich also, was wir jetzt erörtern, zugleich an die früheren
Diskussionen zwischen Rationalismus und Empirismus über den Ursprung
der Erkenntnis an, wie es selbst ein Hauptthema des Streites darstellt. Es
handelt sich um Folgendes. Der Ausgangspunkt ist bekannt: Nach dem
Rationalismus knüpft sich das lumen naturale, das reine und vollkommene
Evidenzbewusstsein, in dem objektive gültige Wahrheiten unbedingt gewiss
werden, nicht an empirische Anschauungen und auf sie gegründete Urteile
an, sondern ausschließlich an die rein rationalen Begriffe und Sätze, wie
sie die Mathematik darbietet. Das Ziel echter Wissenschaft ist es nach dem
Rationalismus, diese Rationalität herzustellen und nach ihm ist sie überall
auch herstellbar. Nach dem Vorbild der Geometrie meint der Rationalismus,
dass alle Rationalität entweder eine mittelbar entspringende ist, wie im ma-
thematischen Beweis, oder eine unmittelbare. Die Ursprungsfrage führt uns
also zurück auf unmittelbare, als völlig gewisse Wahrheiten einleuchtende
Grundsätze, und diese bauen sich auf aus gewissen Grundbegriffen, welche
die letzten begrifflichen Träger der Rationalität sind.1 Wie steht es nun mit
dem Ursprung dieser letzten Träger, wie klärt sich die Vorzugsstellung der
Grundsätze und Grundbegriffe im Reich der echten rationalen Erkenntnis
aus letzten Gründen auf? So fragt sich der Rationalist und antwortet: Sie sind
ideae bzw. veritates innatae: eingeborene Vorstellungen und Wahrheiten. Es
handelt sich hier übrigens um eine Abwandlung der platonischen Lehre von
der anamnesis.
(Den rationalen Wahrheiten entsprechen bei Platon die reinen Ideen-
wahrheiten und die sind für ihn auch und alle in gewisser Weise eingeboren.
Im Dialog Meno wird das in folgendem Stil ausgeführt. In der dialektischen
Gesprächsführung wird der Jüngere (sc. der Sklave) vom Meister so geleitet,
dass er sich in seinem Geist Schritt für Schritt die Wahrheit selbst zur Einsicht
erarbeitet, bis er das mathematische Wissen (pythagoräischer Lehrsatz) hat
mit den zugehörigen mathematischen Begriffen, das er vorher nicht gehabt
hat – bewusst –; es wird herausgefragt, lag also in ihm. Es wird die Wahrheit
nicht in seinen Geist hineingesetzt, sondern, zum Selbstdenken angeregt,
findet er sie selbst; es wird durch diese Anregung nur etwas in ihm geweckt,
was ähnlich wie eine dunkle Erinnerung im verborgenen Grund seiner Seele
lag. Es ist also das originäre Lernen eine Art Wiedererinnerung.2 Mythisch

1 Randbemerkung Alle Sätze führen zurück auf Grundsätze. Alle Begriffe auf Grundbegriffe;

die ihrerseits die „Termini“ in Grundsätzen sind.


2 Randbemerkung Die Hauptsache ist doch: Jeder normal vernünftige Mensch kann die
300 einleitung in die philosophie

gesprochen: Die Seele erinnert sich der Ideen wieder, die sie dereinst in
ihrem vor-sinnlichen Leben, als sie noch auf geflügelten Gespannen im
Gefolge der Götter in der idealen Welt dahinflog, geschaut. Doch lassen
wir den schönen Mythus beiseite und lassen wir hier auch die Fragen der
historischen Umbildung der platonischen Lehre im Altertum und ihre Nach-
wirkung im Mittelalter beiseite, desgleichen die Art, wie sie in der Re-
naissance, hauptsächlich durch Ciceros Schriften vermittelt, in der Prägung
des Stoizismus von Neuem Wurzel gefasst hat und überlegen wir den Sinn
der cartesianischen Lehre von den eingeborenen Begriffen und Sätzen. Was
macht eigentlich ihren Vorzug gegenüber jener anderen Art unmittelbarer
Erkenntniselemente, nämlich der sinnlichen Erfahrungsgegebenheiten aus,
die da unter dem Titel „verworrene Sinnlichkeit“ vom Rationalismus degra-
diert werden?)
Da1 liegt ein uraltes Gedankenmotiv zugrunde. In der sinnlichen Erfah-
rung werden wir von außen bestimmt. Die sinnlichen Daten (Farben, Töne
etc.), mit denen bekleidet wir vermeintlich die Dinge gegeben haben, stam-
men von den Einwirkungen, die Dinge an sich selbst auf unsere Sinnesorgane
bzw. Sinnesvermögen haben. Aber wie sehr sie sich als vermeintliche Bilder
von Dingqualitäten ausgeben, sie für das zu halten besteht kein Grund. Die
Wirkung braucht der Ursache nicht ähnlich zu sein. Und zudem: Die neue
Naturphysik zeigt ja das wahre Sein als unsinnlich bestimmt. Jedenfalls:
Sinnlichkeit ist kein Prinzip der Geltung. Sie bezeichnet eine Ursprungs-
art von Erkenntnistätigkeiten, die prinzipielle Wahrheiten nicht verbürgen.
Ganz anders die rationale Erkenntnis, und zwar, um gleich die Grundstufe zu
nehmen, die Erkenntnis der Grundbegriffe und Grundsätze. Diese entspringt
nicht von außen her, sondern in uns selbst. Nun aber kommt der Zweifel:
Warum soll der Ursprung in der seelischen Innerlichkeit objektive Gültig-
keit verbürgen? Könnte nicht ein mächtiger Lügengeist solche rationalen
Vorstellungen und Urteile in unsere Seele hineinerzeugt haben und sogar
sie ausgestattet haben mit dem Licht der Evidenz, während ihnen doch
in Wahrheit, in der Objektivität selbst nichts entspricht? Nun endet die
Sache theologisch. Gott, der schöpferische Urquell aller Wirklichkeit und
seinem Wesen nach ein wahrhaftiger Gott, hat unsere Seelen geschaffen
und kann uns nicht täuschen wollen wie ein Lügengeist. Er hat unsere

rationale Erkenntnis finden und trägt ihre Grundbegriffe und Grundsätze in sich. Aber das
Empirisch-Sinnliche ist bloß subjektiv-relativ. Das liegt nicht in ewiger Identität in ihm, sondern
wechselt zufällig, „von außen her“.
1 Randbemerkung Das passt hier in dieser Form nicht gut.
descartes 301

Seelen mit dem ursprünglichen Vermögen, aus uns selbst diese Begriffe
und Sätze zu entwickeln, ausgestattet, und sie zu entwickeln mit dem Licht
der Evidenz. Dieses Licht hat uns Gott als Kennzeichen ihrer Triftigkeit
geschenkt.
In solchen Theorien bekundet sich sozusagen ein Sündenfall der echten
transzendentalen Erkenntnistheorie in die Theologie und in gewisser Weise
auch in die Psychologie: sofern der Ursprung der Geltung psychologisch
gefasst wird, als ein kausales Hervorgehen der realen Erkenntnisakte aus
der seelischen Innerlichkeit und mittelbar dann aus Gott, dem realen Prinzip
alles, auch des seelischen Seins. Natürlich liegt es hier nahe einzuwenden:
Vorausgesetzt ist in solchen Theorien das Dasein der Seele und ihr kau-
sales Verflochtensein in den Weltzusammenhang und in die Beziehungen
des göttlichen Schaffens. Wissen wir wirklich von all dem etwas, so sagt
das: Wir haben darauf bezüglich strenge Erkenntnisse, und diese sind doch
selbst wieder Erkenntnisse. Wie weisen sich diese strengen Erkenntnisse
als solche aus? Doch nur durch ihre Evidenz in unmittelbaren oder mittel-
baren Begründungen. Aber stellt nicht die vorliegende Theorie und jede
des bezeichneten Stils alle Evidenz hinsichtlich ihrer objektiven Geltung in
Frage? Fasst sie das natürliche Licht nicht als einen Erlebnischarakter auf,
der ebenso gut mit objektiver Triftigkeit als mit Untriftigkeit verbunden
sein könnte? Erst der Erweis des göttlichen Daseins und seiner Wesens-
beschaffenheiten stürzt angeblich die Hypothese des Lügengeistes, gibt der
Evidenz objektiven Wert; und so drehen wir uns offenbar im Zirkel. Auch
so kann man sagen: Erst wird da die Evidenz als das gefasst, was echte
Erkenntnis vom blinden Meinen unterscheidet, und dann wird sie doch selbst
wieder ganz wie ein blindes Meinen behandelt, das noch der Rechtfertigung
bedarf, einer Rechtfertigung, die doch selbst wieder nur durch ihre Evidenz
sich unterscheiden könnte von einer Scheinrechtfertigung und von vagem
Meinen.1
Wir sehen hier also an einem ersten Beispiel, wie peinlicher Widersinn
sich sofort herausstellt, sobald man im Bemühen, die Geltung der Erkenntnis
aufzuklären, darauf gerät, die Idee vom „Ursprung der Erkenntnis“ real-
kausal zu denken. Es ist von vornherein klar, dass derartige Fragen nicht bloß
die Natur und die Naturwissenschaft, sondern alle Wissenschaft überhaupt

1 Gestrichen Descartes gibt den ihn jedenfalls wie seine Zeitgenossen bestimmenden Ge-

dankengang nicht selbst in der beschriebenen Weise; er sucht erst den objektiven Wert der
Evidenz.
302 einleitung in die philosophie

angehen. Selbst die reine Arithmetik, obschon sie nicht auf Realität geht,
geht doch, wie es scheint, auf eine Objektivität, die der Erkenntnis und dem
Bewusstsein überhaupt transzendent ist. Sind doch Zahlen, was sie sind, ob
wir sie erkennend erfassen oder nicht erfassen, ihre Eigenschaften, ihre Ge-
setze im Erkennen treffen oder verfehlen. Also auch hier haben wir (scheint
es) eine Objektivität „an sich“, „an sich“ gegenüber der Subjektivität des
Bewusstseins.1 Doch in dieser Hinsicht wird das Problem in der Neuzeit nicht
gestellt, wie ich sogleich beifügen muss.
Also die Ursprungsfrage ist zu verstehen als Frage nach dem kausa-
len Ursprung der Erkenntnisse, die dabei gefasst sind als Erlebnisse der
menschlichen Seele, die ihrerseits im Naturzusammenhang, Weltzusammen-
hang, göttlichen Zusammenhang steht. Wir fühlen es: Ein Widersinn muss

1 Gestrichen Die hier sich aufrollende Problemsphäre führt offenbar vom Problem möglicher

objektiver Triftigkeit zu den Problemen vom Sinn einer in der Erkenntnis erkennbaren Gegen-
ständlichkeit, und das ist ein Problem, das sich nach den Grundtypen von Gegenständlichkeiten
spaltet. Nämlich findet man es problematisch, wie Natur an sich, Zahlen an sich usw. im Rahmen
der Erkenntnis, der bloßen Subjektivität nach Sein und So-Beschaffensein getroffen werden soll,
so ist es doch die Erkenntnis in sich selbst, welche die Forderung „an sich seiender“ Natur usw.
aufstellt. Deutlicher gesprochen: Der Ausgang ist offenbar der, dass in den Bewusstseinsakten
der Naturerkenntnis, von den niedersten bis zu den höchsten, von den schlichten Erfahrungen
an bis zu den Theorien der Naturwissenschaft, immerfort eine an sich seiende Natur vermeint
ist. Zum Beispiel, die Wahrnehmung ist mein Erlebnis, aber in diesem Erlebnis meine ich, ein
Ding zu erfassen. Und lege ich urteilend den Sinn dieser Meinung auseinander, befrage ich
sozusagen die Wahrnehmung, als was sie selbst das Ding meint, so muss ich sagen: Was da unter
dem Titel „Ding“ gemeint ist, ist etwas, was ist, auch wenn ich es gerade nicht wahrnehme.
Und so für alle auf Erfahrung sich gründende Erkenntnis, welch höherer Denkstufe immer. So
mache ich mir also überall klar, dass die Erkenntnis in sich selbst Gegenständlichkeit vermeint
und Gegenständlichkeit setzt und dass sie es ist, die ihr den Sinn vorschreibt: den Sinn, mit dem
diese Gegenständlichkeit in allen fortlaufenden und insbesondere in den wissenschaftlichen
Denkprozessen zur Bestimmung kommt. „Gegenstand“ ist für das Erkenntnissubjekt prinzipiell
nichts anderes und kann gar nichts anderes sein als das im Erkennen erkannte Etwas, als das
Etwas, das in vielerlei Erkenntnisakten, vielerlei Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteilen etc.
als Identisches und Seiendes bewusst ist und bewusst ist mit einem bestimmten Inhalt, gemeint
ist mit einem gewissen Sinn. Aller Fortgang der Erkenntnis ist Fortgang von dem mit dem Inhalt
oder Sinn Gemeinten und als wirklich Gesetzten zu demselben mit dem und dem bereicherten
Sinn Gesetzten. Dass im Bewusstsein selbst Gesetzte bestimmt sich und bestimmt sich immer
neu; und ist es als „Äußeres“, Ich-Fremdes gesetzt, so ist es das Bewusstsein selbst, das das
„außen“ bestimmt. Ist das dann aber so, dann ergibt sich die Frage: Wie ist diese Sinngebung
völlig klarzulegen, wie ist jenes „an sich“ der Gegenständlichkeit der Erkenntnis gegenüber zu
verstehen und für jede Grundgattung von Gegenständlichkeiten und demgemäß die Skepsis zu
überwinden, die vielleicht an diesem immanenten Erkenntnissinn sich versündigt? Wie können
wir also durch Studium der Erkenntnis, sei es überhaupt, sei es nach ihren besonderen Formen,
das in ihr selbst liegende Spiel von Erkennen und Erkanntem, von Meinen und Gemeintem,
von wahrem und falschem Meinen etc. aufklären?
descartes 303

hervorgehen, wenn und in welcher Weise immer das Gelten der Erkenntnis
als reales Vorkommnis in der Welt gefasst und aus realen, und darin liegt,
bewusstseinstranszendenten Tatsachen abgeleitet wird. Ist doch alle Realität
für unsere Erkenntnis nur Realität eben dadurch, dass sie erkannte ist. Hätte
Erkenntnis nicht schon im Bewusstsein ihre eigene Wertausweisung, so wäre
uns Realität ein Nichts. Ist aber Realität wirklich geltend für uns durch die
Ausweisung, so kann der Wert einer solchen Ausweisung nicht abgeleitet
werden von dem, was sie allererst leistet: von den durch sie herausgestellten
Tatsachen.1
Die Schwierigkeiten, in die Descartes in seiner Ursprungslehre und zuletzt
in seiner Lehre vom Ursprung der Geltung der Evidenz gerät, erinnern uns
an den Komplex von Bedenken und sonderlichen Fragen, die der antike
Skeptizismus entdeckt und in negationistischem Sinne erarbeitet hat.2 Sie
mussten jetzt wieder zu Tage drängen, nachdem durch Descartes’ geniale
Fundamentalbetrachtung eine gewisse Immanenz der Erkenntnis für alle
Philosophen eindringlich vor Augen stand: Die gesamte außerbewusst exis-
tierende Welt ist für uns da vermöge des Bewusstseins von ihr, vermöge der
Erfahrungen in denen sie erfahren ist, vermöge des Denkens (und sei es
auch rein rationalen Denkens), in dem sie gedacht ist. Nie und nimmer ist sie
für uns neben unserem Bewusstsein gegeben. „Gegeben“ besagt ja selbst:
uns, den Erkennenden, gegeben, gegeben durch unser Bewusstsein. Nichts
erscheint da selbstverständlicher, als das so zu fassen (und vermutlich werden
Sie da so wenig eine Wendung bemerken als die neuzeitlichen Philosophen):
Unmittelbar gegeben sind dem Erkennenden prinzipiell nur seine Bewusst-
seinserlebnisse. Also mir, der ich jetzt denke, die meinen. Und nun ist sofort
der große Zweifel da: Wie komme ich darüber hinaus und kann dessen je
sicher sein, dass meine Erkenntnisse, und mögen sie noch so exakt, in noch
so guter Methode entwickelt sein, der objektiven Wirklichkeit entsprechen?
Es ist die Art der Wissenschaft (diese Prätention liegt in ihrem Sinn), eine
an sich seiende Objektivität zu erforschen. Die Naturwissenschaft geht auf

1 Gestrichen Aber das nur zur Andeutung. Sie müssen, das ist für Sie die Hauptsache, lebendig

fühlen, dass hier Schwierigkeiten, aber auch Versuchungen sind. Gleiten Sie ja nicht über die
peinliche Unklarheit, die Sie befällt, leicht hinweg! Diese Unklarheit muss sich Ihnen in die
Frage kleiden: Wie kann man anders denn Erkenntnis als seelisches Erlebnis ansehen? Und
doch, warum gerät man dann in Widersinn? Die Betrachtung, die wir jetzt anknüpfen, wird und
soll Ihr intellektuelles Unbehagen noch verstärken. Wer nicht den Stachel solchen Unbehagens
als Pein erlebt, kann nicht die prinzipiellen Probleme sehen; und wer sie nicht sieht, kann
allenfalls philosophischer Literat oder Professor der Philosophie, aber nie Philosoph werden.
2 Randbemerkung Ich erinnere an Gorgias.
304 einleitung in die philosophie

die Natur, die Natur ist an sich, ob ich sie erkennen mag oder nicht.1 Sage
ich „Ich erkenne sie zunächst durch Erfahrung und dann durch darauf
gebautes Denken“, so ist dieses Erkennen, welche Formen es auch haben
mag, und sei es selbst die Formen exaktester neuzeitlicher Physik, doch
ein bloßer Ablauf meines Bewusstseins. Freilich, wenn ich naiv bin wie der
Alltagsmensch, meine ich, im Sehen die äußere Natur zu haben, und ich
meine zu wissen, was das heißt „Eine Aussage über die Natur stimmt zur
Natur selbst“. Ganz selbstverständlich erscheint mir daher die scholastische
Definition der Wahrheit als adaequatio rei ad intellectum. Nämlich, finde
ich, was die Aussage aussagt, in der Erfahrung selbst vor und so vor, wie
sie es aussagt, zum Beispiel sagt sie „Das ist rot“ und sehe ich dann „Es
ist rot“, nun, dann ist die Aussage objektiv wahr und ich finde darin kein
Rätsel. Überlege ich aber, dass das „Ich sehe die Dinge“ nicht ein Haben der
Dinge selbst ist, sondern das Haben eines Phänomens, das bloß Sache meiner
Subjektivität ist (überlege ich, dass mit jeder Augen- oder Kopfbewegung
das subjektive Bild sich modifiziert, dass ich mit dem Wahrnehmen in einem
grenzenlosen Fluss subjektiver Phänomen stehe; überlege ich, dass ich dabei
zwar immer sage „Ich sehe das Ding selbst“, aber dabei nie über diesen Fluss
hinauskomme), dann ist es klar, dass ich bei jenem „Ausweisen“ der Aussage
durch Erfahrung nicht mein Denken mit der Natur selbst zusammengebracht,
sondern es nur in bestimmter Weise mit meinen Wahrnehmungserlebnissen
zur Harmonie gebracht habe. Ich verbleibe hier und so in aller Erkenntnis
nur in meiner Subjektivität.
Damit stimmt ja, dass ich und jedermann zugesteht, dass lebendigste
Wahrnehmung nicht das Sein der Wirklichkeit verbürgt, dass sie Halluzina-
tion sein kann usw. (Wenn ich nun jene Ursprungsforschungen, von denen
wir unter dem Titel „Erkenntnistheorie“ sprechen, die Struktur „echter“
wissenschaftlicher Erkenntnis und Erkenntnismethoden kennenlerne, ge-
mäß der Scheidung, die ich zwischen vermeinter und einsichtig-zwingender
Erkenntnis mache, so nützen sie, wie es scheint, für den jetzigen Zweifel
gar nichts.) Es ist klar: Dieser Unterschied zwischen „Einsicht“ und Ein-
sichtslosigkeit, zwischen Klarheit, Deutlichkeit und Verworrenheit, zwischen
echter Erkenntnis und willkürlicher Meinung, ist ein solcher, der ganz in die
Subjektivität hineinfällt. Wie soll ein subjektiver Evidenzcharakter, der bei
gewissen Erkenntniserlebnissen sich einstellt und sich dort (wie wir zu er-

1 Gestrichen Und selbst die Mathematik, wenn sie als Arithmetik auf die Zahlenreihe geht,

geht doch auf etwas, das Bestand haben soll, ob ich es denke oder nicht.
descartes 305

kennen vermeinen) aufgrund gewisser methodischen Formen als Bedingun-


gen einstellt, eine übersubjektive Bedeutung besitzen? Wie kann ich, da mir
nur mein Bewusstsein gegeben ist, da ich nur der jeweilig erlebten cogitatio-
nes unmittelbar und absolut gewiss bin, je wissen, dass Evidenz übersubjektiv
bedeutsam ist? Wie komme ich also über den Solipsismus hinaus?
Sie sehen, dass hier das Problem gleich so radikal gefasst ist, dass man nicht
sagen kann, wie es noch heutzutage der stolz sich so nennende „kritische Rea-
lismus“ sagt: Von dem allein unmittelbar gegebenen Bewusstsein schließe
ich eben auf das Außerbewusste, und es kommt nur darauf an, diesen Schluss
nicht leichtsinnig zu tun und naiv, wie der sogenannte „naive Realismus“ des
vorwissenschaftlichen Menschen, sondern kritisch, mit gehöriger Abwägung
der Wahrscheinlichkeiten. Denn freilich über Wahrscheinlichkeiten komme
ich nicht hinaus, da doch in meinem Bewusstsein alle Phänomene genau
so ablaufen könnten, wie sie es tun, während außerhalb des Bewusstseins
gleichwohl nichts wäre. Die Möglichkeit des Solipsismus, des sogenannten
extremen Idealismus (was mit Idealismus im gewöhnlichen Sinne gar nichts
zu tun hat), ist freilich nicht zu bestreiten; aber dem steht eine ungeheure
Unwahrscheinlichkeit entgegen, und die muss man vernunftgemäß begrün-
den.
Ich sage: Das radikale Problem unserer Fassung schließt solche Lösungs-
typen aus; denn der Weg des Schließens und Wahrscheinlichkeitsbeweisens
fällt ja ganz in das Bewusstsein, und seine Vernünftigkeit liegt in der Evidenz,
die nichts ist als ein dem Bewusstsein immanenter Charakter. Und nun
ist eben die Frage gestellt, wie dieser Charakter dazu kommen soll, über
das Bewusstsein hinaus etwas zu bedeuten, wie also mein Schließen mehr
sein soll als mein subjektives Erleben. Auch Descartes, der zuerst dieses
Problem sah, bietet keine Lösung desselben in Form des kritischen Realis-
mus; und das müsste ihm ja fern liegen, da er, die Evidenz als immanenten
Bewusstseinscharakter betrachtend, zuerst das Problem der Geltung des
Wahrheitskriteriums, der Evidenz aufgeworfen hatte. Da nun seine Lösung
nur darin besteht, dass an die göttliche veracitas appelliert wird, so ist sie
mit demselben Widersinn behaftet, und es bleibt ihm nur die bedeutsame
Stellung, das Problem in die Philosophie eingeführt zu haben. Andererseits
ist er in gewisser Weise doch der Vater aller Realismen; denn in der substantia
cogitans glaubte er ein erstes Stück der Welt festgestellt zu haben und suchte
doch einen Schluss. Man lehnte nur seinen verkehrten Rekurs auf Gott etc.
ab. Etc.
Wir schlossen in der letzten Vorlesung damit, dass das Problem der
Möglichkeit transzendenter Erkenntnis alsbald eine Wendung nahm zum
306 einleitung in die philosophie

Problem des Sinnes transzendenter Gegenständlichkeit, d. i. des Sinnes der


Transzendenz, die in der Erkenntnis unter dem Titel „äußeres Sein“ getrof-
fen werden soll. Das wollen wir uns jetzt klarmachen.
Jenes Problem von der Möglichkeit einer transzendenten Erkenntnis (das
wir uns an der Hand der cartesianischen Lehre von der Evidenz nahe-
gebracht hatten) versetzte uns in eine peinliche Verlegenheit: Wie soll, da
alle Erkenntnis ein Bewusstsein ist, da nur in Gestaltungen unseres Be-
wusstseins die angebliche äußere Gegenständlichkeit gegeben und gedacht
ist, die objektive Triftigkeit der Erkenntnis gesichert sein? Woher können
wir auch nur die Sicherheit gewinnen, dass eine äußere Natur überhaupt
ist? Ist das Problem nicht ein hoffnungsloses? Ein solches, dessen Lösung
ganz undenkbar ist? Wie sollen wir, um ein hier beliebtes Bild zu ver-
wenden, je aus unserer Haut hinauskommen? Um das Zusammenstimmen
meiner Erkenntnis mit dem ihr realiter Äußeren zu erkennen, müsste ich
aus meiner Bewusstseinshaut hinaus und von einem Standpunkt außer
mir das, was in mir ist und was draußen ist, vergleichend zusammenhal-
ten.
Indessen, eben diese Undenkbarkeit einer Lösung macht uns stutzig. Sie
betrifft ja nicht bloß uns zufällige, soeben reflektierende „Subjekte“, sondern
in unbedingter Allgemeinheit den Erkennenden überhaupt, sofern er in
seinen Erkenntnissen ein ihm transzendentes Sein soll erkennen können.
Prinzipiell ist Erkenntnis ein dem Erkennenden Immanentes, auch wo sie
eine ihm angeblich äußere Natur erkennt. Prinzipiell ist es also, wenn für uns,
so für jedermann unverständlich und undenkbar, wie der Erkennende, über
die Zusammenhänge seiner Erkenntniserlebnisse hinaus, die Übereinstim-
mung derselben mit den transzendenten Sachen sollte konstituieren können.
Aber nun sagen wir uns: Ein Problem, dessen Lösung undenkbar ist, wie kann
das ein vernünftiges Problem sein?1 Jedes vernünftig gestellte Problem führt
die prinzipielle Möglichkeit einer Lösung notwendig mit sich, mag auch aus
praktischen Gründen mir, dem zufällig Erkennenden, die Lösung dauernd
verborgen bleiben.2

1 Randbemerkung Notabene.
2 Gestrichen Jede Vernunftfrage geht auf eine disjunktiv zu fassende Möglichkeit. Frage ich
„Ist A B?“, „Wird noch dieses Jahr den Frieden bringen?“, so gehört dazu als Möglich-
keit: Entweder der Frieden wird kommen, oder er wird nicht kommen. Jede Möglichkeit ist
aber eine Denkbarkeit, eine Vorstellbarkeit. Eine Frage, deren Antwort von vornherein als
schlechthin undenkbar dasteht, somit als widersinnig, muss selbst eine widersinnige sein. So zum
Beispiel die Frage: „Ist ein Quadrat elliptisch?“ Jedes Vernunftproblem geht zum mindesten
descartes 307

Eine prinzipielle Undenkbarkeit der Lösung ist selbstverständlich äqui-


valent mit der Widersinnigkeit der Frage. Zum Beispiel, die Frage nach der
Ausmessung der Hypotenuse eines rechteckigen Dreiecks durch die Kathe-
ten, und zwar in Form einer geschlossenen Zahl, erweist sich als prinzipiell
unbeantwortbar; damit erweist sich das Problem selbst als widersinnig. Die
Hypotenuse ist notwendig irrational, also kann ich nicht nach ihrer rationa-
len Größe fragen. Widersinnige Probleme können nur dadurch einen Wert
haben, dass der in den Versuchen zu ihrer Lösung hervortretende Wider-
sinn (nämlich von Voraussetzungen, die in der Problemstellung enthalten
waren) eine wesentliche Bereicherung unserer Erkenntnis mit sich führt.
Insbesondere kann dies so geschehen, dass sich vermöge der bestimmten
Klarlegung der inneren Gründe des Widersinnes sehr wertvolle Problem-
horizonte eröffnen und damit neue Felder für fruchtbare wissenschaftliche
Arbeit. Wenden wir das auf unseren Fall an. Man vergleicht das Bewusstsein
mit einer Haut, aus der der Erkennende nie hinauskann. Darin liegt aber, dass
man im Grunde das Hinauskönnen doch als eine vorstellbare Möglichkeit
behandelt, die uns nur faktisch versagt ist. Die sich häutende Schlange kann
ja aus ihrer Haut hinaus; nur wir können es nicht.
Doch lassen wir das schlechte Bild und zeigen wir direkt die inneren
Gründe des Widersinns für das verkehrt gestellte Erkenntnisproblem auf,
und überzeugen wir uns, dass es andererseits doch, sowie wir den Widersinn
erkennen, in eine vernünftige und höchst fruchtbare Problemsphäre überlei-
tet. Und überzeugen wir uns dann weiter davon, dass die dann sich eröffnen-
den Probleme mit den früher unter dem Titel „Erkenntnistheorie“ bespro-
chenen methodologischen Problemen untrennbar eins und ausschließlich auf
dem Boden des reinen Bewusstseins zu behandeln sind. Erinnern wir uns
also nochmals an das Problem: In allem Erkennen, von den niedersten bis
zu den höchsten Gestaltungen, bis zu denen wissenschaftlichen Begründens,
verbleibe ich, sagt man, im Rahmen meines Bewusstseins. Die Evidenz, die
ich als auszeichnenden Charakter der strengen, objektiv gültigen Erkenntnis
ansah, gehört auch nur in diesen Rahmen hinein.
Woher kann ich dann die Sicherheit nehmen, dass die äußere Natur
an sich selbst mit meinen – sagen wir gleich – evidenten Erkenntnissen
zusammenstimmt? Das nächste Schema, um sich das Verhältnis zwischen

doch auf eine Möglichkeit. Ich kann nicht als Problem hinstellen: „Wie überzeuge ich mich,
ob ein Quadrat elliptische oder hyperbolische Form hat?“ Denn im Problem ist ein Widersinn
eingeschlossen und daher ist es unlösbar.
308 einleitung in die philosophie

erkennendem Bewusstsein und äußerer Gegenständlichkeit verständlich zu


machen, ist das Verhältnis von Bild und Original. So sprechen schon unter
den älteren Philosophen die Atomisten von ε)δωλα, Bildchen, die sich von
den äußeren Dingen ablösen und sich in unsere Sinnesorgane fortpflanzen.
Diese Art, die Erkenntnis zu behandeln, ist natürlich kindlich, wie wir ohne
weiteres verstehen. Einerseits brauchen wir nur auf die Erkenntnisarbeit ech-
ter Wissenschaft von der Natur hinzublicken, in der doch die theoretischen
Urteilstätigkeiten, in denen uns die physikalische Wahrheit erwächst, nicht
in einem Erzeugen von Bildern besteht. (Selbst wenn wir die unmittelba-
ren Sinneswahrnehmungen als, wenn auch unvollkommene, Bilder ansehen
könnten, so besteht das naturwissenschaftliche Verfahren doch nicht darin,
diese „Bilder“ in neue und aus wer weiß welchen Gründen bessere Bilder zu
verwandeln.) Wie immer die Funktionen des logischen Denkens aufzuklären
sind, so viel ist evident, dass es keine sinnlichen Bildereien und Schildereien
sind.
Aber davon abgesehen, die Bilder-Hypothese ist widersinnig, da sie die
Erkenntnislage verständlich zu machen sucht durch eine prinzipielle Un-
verständlichkeit. Die an und für sich ganz vernünftige Frage „Wie versteht
sich die transzendente Triftigkeit der Erkenntnis, da doch Erkenntnis ein
Spiel im reinen Bewusstsein ist?“ stellt ja gerade die Möglichkeit jeder
Naturerkenntnis in Frage und damit auch das Sein der Natur selbst in
Frage. Die Bildertheorie aber, so wie sie selbst gemeint ist, setzt das Sein
der Natur voraus und erfindet nun innerhalb des reinen Bewusstseins einen
Apparat von Abbildern der Natur. Der Widersinn zeigt sich offenbar darin,
dass gefragt werden müsste: Woher soll der Erkennende als Erkenntnis-
theoretiker denn wissen, dass die Bilder, die er bewusstseinsmäßig hat,
wirkliche Bilder von etwas sind, Bilder von einem Bewusstseinsfremden?
Nur dadurch, dass er es im Voraus wüsste, könnte er doch ein Recht haben,
jene Voraussetzung vom Dasein der Natur zu machen, ja selbst von ihrem
möglichen Sein. Sollte irgendein Bildcharakter und sogar eine zugehörige
Evidenz hierfür aufzukommen haben, so sind doch auch diese Charaktere
Bewusstseinsimmanenzen und so rückt das Problem natürlich nicht von der
Stelle.
Wir sehen aber auch bald ein, dass der Krebsschaden nicht im Spezifischen
der Bildertheorie liegt, dass also nichts damit geholfen ist, wenn man die
Kindlichkeit der Bildertheorie verspottet und ihr gegenüber auf die uns allen
wohlbekannten Leistungen des begreifenden und urteilenden Denkens hin-
weist. Gewiss: Erkennen ist nicht Abbilden. Aber der Widersinn kehrt, wie
wir uns überzeugen werden, wenig modifiziert zurück, sobald wir die Frage in
descartes 309

der Form stellen: Wie sollen wir die Sicherheit gewinnen, dass der immerfort
immanente Erkenntniszusammenhang mitsamt seinen Wissenschaftlichkeit
konstituierenden Evidenzen wirklich eine Natur sich gegenüber hat und
dass das, was er in sich herausstellt, ihr wirklich entspricht? Hier ist von
Entsprechen und nicht von Abbilden die Rede; und wie weit man es vom
Abbilden entfernen möge, der Widersinn ist unvermeidlich. Es würde auch
nichts helfen, wenn jetzt das Sein der Natur nicht vorausgesetzt würde. Was
in der Tat nicht notwendig ist, wie auch das Spezifische der Bildertheorie
nicht in dieser Voraussetzung gesucht werden müsste, wie sich im Weiteren
auch noch herausstellen wird.
Nun die nähere Erwägung. Zunächst: Beachten Sie von Neuem, dass
das Problem nicht ein mich, den zufällig erkennenden Menschen, sondern
ein die transzendente Erkenntnis überhaupt und als solche betreffendes ist.
Es ist dasselbe, wie immer wir uns das erkennende Ich ausgestalten und
selbst wenn wir ein absolut vollkommenes Erkenntnissubjekt, ein solches,
das die denkbar höchste Vollkommenheit der Erkenntnis hat, imaginieren.
Aber auch dieses steht unter dem selbstverständlichen Gesetz, dass sein
Erkennen, sein durch und durch evidentes Erkennen, ein Zusammenhang
seines immanenten Bewusstseins ist. So hätten wir auch für die göttliche
Erkenntnis zu fragen: Wie steht es mit dem Sich-Entsprechen oder Nicht-
Entsprechen des immanent Erkannten auf der einen Seite und dem An-
sich-Sein der äußeren Natur auf der anderen Seite? Offenbar setzt die
Fraglichkeit des Entsprechens, die selbst bei durch und durch einsichtiger
Erkenntnis eine Fraglichkeit sein soll, voraus, dass hier immer zwei Möglich-
keiten bestehen, genauso wie beim uneinsichtigen und vagen Meinen auch
bei wissenschaftlich-einsichtiger Erkenntnis: nämlich das Entsprechen und
Nicht-Entsprechen. Im Gedanken appellieren wir dabei an einen zweiten
Erkennenden, der den Bewusstseinsverlauf und seine subjektiven Urteile
vergleicht mit der Natur selbst und nun je nachdem das Sich-Entsprechen
oder Nicht-Entsprechen konstatieren kann. Aber nun geraten wir auf die
schiefe Bahn eines unendlichen Regresses. Der neu Erkennende stand ja im
Bann derselben Schwierigkeit: Die beiden Vergleichsglieder waren ja beide
für ihn transzendent und das Vergleichen selbst spielte sich mit all seinen
Unterlagen in seinem eigenen Bewusstsein ab. Also müssten wir wieder zwei
Möglichkeiten zulassen, nämlich die beiden Möglichkeiten des Entsprechens
und Nicht-Entsprechens, wofür wir wieder an einen möglichen Erkennenden
zu appellieren hätten usw.
Das alles kommt daher, dass das, was da als prinzipielle Möglichkeit
überall behandelt und dem Transzendenzproblem als Voraussetzung beige-
310 einleitung in die philosophie

geben wird, eine Undenkbarkeit, ein Widersinn ist. Ist Erkenntnis wirklich
einsichtige Erkenntnis und ist sie Erkenntnis äußerer Natur, dann ist eben
damit, dass Natur nicht sei und nicht so sei, wie die Erkenntnis es feststellt,
einsichtig ausgeschlossen. Es ist dann keine Möglichkeit, sondern Unmög-
lichkeit. Das sagt also, dass das Problem selbst, so wie es zunächst hingestellt
ist, ein durchaus widersinniges ist. Auch wenn man nicht, wie die naive Bil-
dertheorie es tut, die Existenz einer Außenwelt schon voraussetzt, setzt man
doch die Möglichkeit einer Außenwelt voraus, und zwar als einer solchen,
die sich sozusagen um die Erkenntnis und ihre Evidenz nicht zu kümmern
hat. Und man setzt umgekehrt als Möglichkeit voraus, dass auch einsichtige
Erkenntniszusammenhänge ein Spiel der bloßen Subjektivität wären, die
vernunftgemäß noch beides offen lassen könnten: dass die Natur sei und so
sei, aber auch, dass sie nicht sei und nicht so sei, wie die Erkenntnis es will.
Diese Voraussetzung ist aber der Gipfel der Verkehrtheit. Denn einsichtige
Erkenntnis ist vernünftige, und vernünftige ist einsichtige. Dass vernünftiges
Erkennen aussagt „Natur ist so“ und zugleich vernünftiges Erkennen aussagt
„Natur braucht nicht so zu sein, wie vernünftiges Erkennen sie erkennt“,
ist ein vollkommener Unsinn, wie es eben ein Unsinn ist, dass Einsicht
mit Einsicht streiten kann. Es ist also nicht nur das eine Verkehrtheit (in
allen Fällen, wo man die Möglichkeit der Erkenntnis in Frage stellt), eine
äußere Natur als existierende vorauszusetzen, sondern eine noch größere
Verkehrtheit, die äußere Natur für möglich zu halten, deren Sein und Sosein
mit Erkenntnis und Einsicht nichts zu tun hätte: Als ob Erkenntnis und
Sein nur zufällig zusammenkämen und ihr Stimmen oder Nichtstimmen wie
ein bloßes faktisches Verhältnis zweier Naturtatsachen angesehen werden
könnte.
Danach ist es also klar: Nur eine immanente Betrachtung der Erkenntnis
kann zu einem sinnvollen Erkenntnisproblem führen, nur eine Betrachtung
der Erkenntnis, die nicht in widersinniger Weise die im eigenen immanenten
Wesen der Erkenntnis liegende Beziehung zwischen Erkenntnis und Erkann-
tem in eine zufällige umdeutet und damit die Einsichtigkeit der Erkenntnis
in einen Zufallscharakter verwandelt, der in seinem Wesen mit dem tran-
szendenten Sein selbst eigentlich nichts zu tun hätte. Nur die immanente
Einstellung kann zu einem vernünftigen Problem der Erkenntnis führen
und das Vernunftproblem kann dann seine Lösung finden. Das Vernunft-
problem kann aber in nichts anderem liegen, als zu voller und allseitiger
Klarheit zu bringen, was das Wesen der Erkenntnis selbst ausmacht und was
zum Sinn der Transzendenz gehört, die in ihr selbst gemeinte und gesetzte
ist. So müssen alle widersinnigen Missdeutungen verschwinden, zu denen
descartes 311

begreiflicherweise die Reflexion über Erkenntnis und ihre Beziehung zur


Wirklichkeit Anlass gibt, Missdeutungen, die von verhängnisvollem Einfluss
auf die Weltauffassung geworden sind und werden mussten. Wie nahe solche
Missdeutungen liegen, das haben wir alle darin erfahren, dass wir die erste
Formulierung des Transzendenzproblems, das mit der In-Frage-Stellung der
objektiven Gültigkeit der Evidenz durch Descartes gegeben war, hinnahmen
und damit das Problem in dieser Fassung für ein vernünftiges hielten. Darin
lag eine gewisse, vermeintlich selbstverständliche Auffassung über den Sinn
an sich seiender Natur, die sich schon durch eine vorläufige Überlegung als
verkehrt herausstellte.
Danach nimmt das Problem der Möglichkeit transzendent-gültiger Er-
kenntnis vernunftgemäß die Wendung zum Problem des Sinnes erkennbarer
Gegenständlichkeit als solcher, ein Problem, das sich eo ipso einreiht in die
Zusammenhänge der reinen Wesenserforschung der Erkenntnis. Denn zum
Wesen der Erkenntnis selbst gehört als ein ihr Immanentes die Beziehung
auf Gegenständlichkeit. Im Rahmen der Erforschung der verschiedenen
Arten und Formen der Erkenntnis muss man stoßen auf die verschiedenen
Gegenständlichkeiten, die sie von sich aus vermeint und eventuell von sich
aus in einsichtiger und dann gültiger Weise triftig vermeint. Dahin gehören
also auch alle Arten transzendenter Gegenständlichkeiten und die auf sie
bezügliche Erkenntnis. Findet man es also problematisch, wie Natur an sich
innerhalb der Erkenntnis getroffen werden soll, so kann das zunächst nur
heißen: Man ist sich unklar, und vielleicht ist man da schon in Gefahr, in
Widersinn zu verfallen.
Das Erste, was nun aber durch Reflexion auf das Wesen der Erkenntnis
festgestellt werden muss, ist nun offenbar dies: Dass es doch Erkenntnis in
sich selbst ist, welche die Forderung „an sich seiender“ Natur und damit
den Sinn dieser Forderung aufstellt. Deutlicher gesprochen: Nehmen wir
welche Bewusstseinserlebnisse immer, in denen die Naturerkenntnis besteht,
und verfolgen wir dabei ihre Zusammenhänge von den niedersten bis zu
den höchsten, also von den schlichten Erfahrungen bis zu den exakten
Begründungen der mathematischen Physik, so ist offenbar in all diesen
Erlebnissen eine an sich seiende Natur vermeint und mit einem gewissen
Sinn gemeint. Also zum Beispiel, die schlichte Erfahrung ist mein Erlebnis,
und ein Erlebnis, in dem ein dingliches Sein als unmittelbar Daseiendes
vermeint ist. Ein „dingliches Sein“: Das wahrnehmende Meinen hat eben
einen eigenen Sinn, den dieses Wort ausdrückt. Ich kann die Wahrnehmung
sozusagen selbst befragen, was sie da meint und als was sie das Wahrgenom-
mene ansieht. Dieses „als was“ seinem allgemeinen Typus nach zergliedere
312 einleitung in die philosophie

ich, wenn ich den Begriff des Wahrnehmungsgegenstandes auseinanderlege.


Natürlich, dahin gehört auch das „An-sich-Sein“, das Bestehen, ob ich es
wahrnehme oder nicht. Analoges gilt für jede höhere Erkenntnisstufe: Das
urteilende Bewusstsein hat, obschon in neuer Weise, den Charakter eines
Vermeinens und hat einen immanenten Sinn, mit dem eben das Gedachte
vermeint und gesetzt ist.1 Nun kann dieses Vermeinen freilich bald unklar,
bald klar, bald widersinnig, bald einstimmig sein, bald uneinsichtig, bald ein-
sichtig; im klaren und einsichtigen Bewusstsein liegt aber offenbar die Norm
für den Sinn möglicher Gegenständlichkeit überhaupt. Daraus ergibt sich:
„Gegenstand“ ist also für das erkennende Subjekt prinzipiell nichts anderes
und kann nichts anderes sein als das im klaren, einsichtigen Erkennen mit
dem und dem Sinn vermeinte Etwas, als Identisches vermeint und gesetzt
durch die mannigfaltigen Wahrnehmungen, Urteile, Schlüsse hindurch, in
immer neuen, in der Evidenz der Begründung zusammenhängenden Sinn-
gebungen.
Ist also unter dem Titel „räumlich-zeitliche Realität“, unter dem Titel
„materielles Ding“ und „Dingwelt“ u. dgl. sogenannte Außenwelt gesetzt,
ein „ichfremdes“ Sein, „äußeres“ Sein, so ist es das dieses „Äußerliche“
erfahrende und theoretisch bestimmende Bewusstsein selbst, das in sich
dieses „Außen“, diese „Ich-Fremdheit“, durch seine Sinngebung für den
Erkennenden konstituiert. Und was vom Allgemeinsten gilt, gilt von al-
lem Besonderen, das in der Idee des materiellen Dinges, des Raumes, der
dinglichen Kausalität usw. beschlossen ist, und so für alle Grundarten be-
wusstseinstranszendenten Seins. Wird also, wie schon in der alten Skep-
sis, das Verhältnis des erkennenden Bewusstseins zum An-sich-Seienden
der transzendenten Welt problematisch, so wird offenbar alles darauf an-
kommen, die im Bewusstsein selbst vollzogene Sinngebung des An-sich-
Seins klarzulegen bzw. für alle Grundarten von transzendenten Gegen-
ständen, wie materielle Natur, mir gegenüberstehende Menschen und so-
ziale Gemeinschaften usw., den ihnen durch das Bewusstsein vorgezeich-
neten Sinn zu klären, als den einzigen, den sie haben und haben kön-
nen, wenn ich über sie vernünftig soll sprechen können. Vielleicht dass
alle Verkehrtheiten und Widersprüche, die skeptische Theorien mit sich
führen, daraus entspringen, dass sie sich am Sinn der Erkenntnisgegen-
ständlichkeiten versündigen. Jedenfalls, nur im Studium des Bewusstseins

1 Gestrichen Also Erkenntnis in sich selbst setzt Gegenständlichkeit und verleiht ihr den Sinn,

mit dem sie in den fortlaufenden und sich erhöhenden Denkprozessen zur Bestimmung kommt.
descartes 313

selbst, nach dem, was es in sich selbst ist und in sich selbst sinngebend
vermeint, können die echten transzendentalen Probleme gelöst werden1.2
Schon die Art, wie ich diese Probleme dargelegt habe, zeigt, dass sie,
dass alle Probleme dieses selben Typus prinzipiell nur auf dem phäno-
menologischen Boden zu lösen sind, d. i. auf dem aus der cartesianischen
Zweifelsbetrachtung sich ergebenden Boden des reinen Bewusstseins. Streng
muss dabei offenbar jener scheinbar eigensinnige Ausschluss aller Prämissen,
die von der Existenz bewusstseinstranszendenter Gegenständlichkeiten Ge-
brauch machen, gehandhabt werden. Ich sagte (und es bestätigt sich in der
ausführenden Einzelkritik), dass der Widersinn aller Skeptizismen darauf
zurückführt, dass sie, weil sie unsere Problemklarheit entbehren, sich am
eigenen Wesen der Erkenntnis, an dem was ihr immanenter Sinn fordert,
versündigen; das geschieht zumeist dadurch, dass sie mit transzendenten
Voraussetzungen als scheinbaren Selbstverständlichkeiten operieren und
dabei eo ipso dem Erkenntnisproblem Deutungen unterschieben, die nicht
nur falsch, sondern unsinnig sind. Das ist daher der Grundsatz jedes Anfangs
echter Philosophie: Transzendentale Probleme, d. h. Fragen, die gerichtet
sind auf Klärung des Wesens oder Sinnes des Sich-selbst-Transzendierens
des Bewusstseins in der Erkenntnis (auf die der Möglichkeit transzendenter
Erkenntnis), können und dürfen prinzipiell keine Voraussetzungen aus dem
Gebiet der Transzendenz des außerbewussten Seins machen. Ist der Sinn der
Transzendenz das Fragliche, ganz allgemein und radikal, so gehört jedwede,
besondere oder allgemeine, transzendente Behauptung, und möge sie sonst
noch so gut begründet sein, in den Rahmen des Fraglichen. Irgendeine tran-
szendente Wahrheit benützen, sie als geltend hinnehmen und zur Prämisse

1 Gestrichen eben als solche, die in diesen reinen Bewusstseinsrahmen hineingehören, nämlich

alle Probleme, die die prinzipielle Möglichkeit der Triftigkeit der Erkenntnis hinsichtlich der
Transzendenz angehen.
2 Gestrichen Sowie man die richtige Einstellung hat, sieht man sofort, dass schon in den

Problemfassungen, die da fragen „Wie ist, da mir nur mein Bewusstsein gegeben ist, Erkenntnis
der Außenwelt, sei es auch nur hinsichtlich ihrer Existenz, möglich?“, – dass, sage ich, schon in
diesen Problemfassungen Momente des Widersinnes stecken; und wieder, dass alle gewöhnli-
chen Auffassungen, die wie von einer Selbstverständlichkeit davon reden, dass Bewusstsein als
erfahrendes und naturwissenschaftlich denkendes von sich und seinem Gegebenen auf Äußeres
schließe, durch und durch verkehrt sind, weil nämlich gegen den Sinn verstoßend, den das
Bewusstsein in sich selbst der Gegenständlichkeit verliehen hatte. Doch uns Anfängern muss es
genug sein, dass wir die Problemmotive mitempfunden haben, die mit Descartes auftauchen, und
dass wir so die Probleme selbst verstehen, sei es auch in der allgemeinsten Fassung verstehen, die
da, die Erkenntnismöglichkeit bedrohend, den Entwicklungsgang der neuzeitlichen Philosophie
bestimmen.
314 einleitung in die philosophie

meiner Untersuchung machen, das hieße, zur Lösung unserer allgemeinen


Frage ein darunterfallendes besonderes Fragliches als unfraglich behandeln,
und das ist natürlich nur möglich, wenn wir den Sinn unserer Frage nicht
klar gehalten haben. Es ist hierbei nicht so wie in der Mathematik bei
Fragen, ob allgemeine Sätze gelten, während darunterliegende besondere
Sätze darum doch durch besondere Beweise schon unfraglich sind. Aber
hier umspannt das allgemeine Transzendentalproblem in der Tat jedwedes
besondere transzendente Sein; das Problem betrifft überhaupt die Tran-
szendenz, wo immer sie auftreten mag. Sie betrifft eben, und das macht
sie so radikal, den Sinn der Transzendenz; und die Sinnesfrage aufgrund
von Tatsachenfeststellungen lösen wollen und dazu Tatsachen des fraglich
gewordenen Sinnes selbst zu benützen, das ist grundverkehrt, das ist Un-
sinn.
Es ist also immer wieder klar zu halten: Das Bewusstsein in sich selbst ist
es, das außerbewusstes Sein meint; außerbewusstes Sein ist ein Begriff, dessen
Sinn das Bewusstsein selbst sozusagen schafft. Und das ist das Erste, was man
erkennen muss. Ist das geschehen, so sieht man, dass die Klarlegung dieses
Sinnes selbstverständlich nur durch Vertiefung in das Bewusstsein selbst, in
den zugehörigen Gestaltungen, zu leisten ist und dass es notwendig ist, um
die echte Frage rein zu erhalten, vollbewusst die Methode „transzendentaler
Reduktion“ zu üben, die nicht nur in der allgemeinen Forderung besteht,
ein für alle Mal Existenz von allem Transzendenten und damit Prämissen
von allen Realitätswissenschaften außer Spiel zu setzen, sondern in dem
methodischen Habitus, bei jedem Schritt erkenntnistheoretischer Erörterung
sich davon zu überzeugen, ob man dieser allgemeinen Forderung genügt
hat. (Man kann sagen: Das ist der echte Sinn der von der transzendentalen
Erkenntnistheorie geforderten „Vorurteilslosigkeit“.)
Was wir da gelernt haben, wird sich in den weiteren, am historischen
Leitfaden bzw. an der Kritik der historischen Entwicklungen fortgehenden
Überlegungen immer mehr bereichern und vertiefen. Immer klarer und be-
stimmter wird die Idee einer neuen philosophischen Wissenschaft erwachsen,
immer mehr werden sich die Nebel lichten, die ihren Ausblick bisher trüben
und notwendig trüben mussten.
(Wie weit sind wir nun aber über die historischen Gegebenheiten hin-
ausgekommen? Denn ein Descartes, geschweige denn ein Spinoza, ja selbst
ein Leibniz waren von den Problemhorizonten, die wir gewonnen haben,
und von den wichtigen Erkenntnissen, die schon in die Formulierung der
Probleme eingegangen sind, sehr weit entfernt. Und doch wieder, wie nahe
waren sie ihnen: vor allem aber Descartes durch jene fundamentale Erörte-
descartes 315

rung, in der er von der leitenden Idee einer absoluten Erkenntnis aus auf
die Methode des universellen Zweifels und damit auf die Absonderung des
reinen Bewusstseins als eines Feldes absoluten Seins gerät. Er gleicht dem
Moses, der das heiß ersehnte gelobte Land von ferne sieht, und gleicht wie-
derum dem Moses nicht: da er nicht weiß, dass er es sieht. Denn er weiß nicht,
dass dieses absolute Bewusstsein (freilich nach Erbauung gewisser Dämme,
die es vor Überflutungen schützen, und in einer gewissen Einstellung der
Wesensbetrachtung) das Feld aller vorbedingenden Erkenntnisse ist, von
denen die Möglichkeit einer absoluten Erkenntnis, soweit sie irgend Sinn
und Recht hat, abhängt.)1
Die2 Betrachtungen, die wir hiermit abgeschlossen haben, waren nicht nur
reich an wertvollen Erkenntnissen, die uns für unsere weiteren gemeinsamen
Überlegungen als Leitung dienen werden, sondern sie bringen uns eindring-
lich eine eigentümliche Tatsache zum Bewusstsein, die für sich herausgeho-
ben zu werden verdient. Das Sprichwort sagt „Ein Kind kann mehr fragen,
als sieben Weise zu beantworten vermöchten“. Wir sehen, dass andererseits
ein Weiser fragen kann, was kein Gott beantworten könnte. Nämlich selbst
die Weisheit eines Descartes war nicht vor seinen unweisen, vor seinen
widersinnigen Fragen behütet. Ja, fast möchte man sagen: Zu jeder Stufe der
Weisheit gehört eine notwendige Torheit. Widersinnige Probleme gewisser
Art können nur Weise stellen, und ihre Weisheit liegt darin, dass auf der
Stufe menschlicher Erkenntnis, die sie repräsentieren, solche widersinnigen
Probleme gestellt werden müssen. In ihnen liegen die wesentlichen Motive
des Fortschrittes. Das Kind, das nicht fällt, lernt nicht das Gehen; und in
Relation zu Gott sind wir immerfort Kinder und lernen immer in neuer
Weise gehen. Und nun was unsere Studien anlangt, so war aller Fortschritt,
den wir selbst in unseren Überlegungen gemacht haben, ein Fortschritt in
der Problematik; von unklaren und von widersinnigen Problemen gingen wir
durch Klärung oder durch Auflösung ihres Widersinnes zu den sinnvollen
Problemen empor, die, wenn wir Anfänger uns zur Philosophie erheben soll-
ten, formuliert werden mussten. Was aber für uns gilt, gilt für die Entwicklung
der Philosophie selbst in ihrer Geschichte. Das Eigene der Philosophie ist,
dass es der Arbeit von Jahrtausenden bedurfte, um zu ihrer reinen und
echten Problematik zu gelangen. Ihre Geschichte ist in der Hauptsache eine
Problemgeschichte, weil es in der Natur der menschlichen Erkenntnis selbst

1 Am Rande eine Null.


2 Am Rande eine Null.
316 einleitung in die philosophie

liegt, nicht im Voraus das philosophische Arbeitsfeld zu haben, sondern zu


ihm erst in unklaren, schiefen, ja oft widersinnigen Fragen durchdringen zu
müssen.1
Wir hatten uns von den historischen Gegebenheiten der Philosophie zu
Anfang der Neuzeit zu selbständigen Überlegungen anregen lassen, in de-
nen wir uns den echten Sinn der erkenntnistheoretischen Problematik und
der durch sie geforderten Methoden dem Allgemeinsten nach zur Klarheit
brachten. Speziell knüpften unsere letzten und besonders förderlichen Über-
legungen an Descartes an, den Begründer des neuzeitlichen Rationalismus.
Seine, bei der damaligen wissenschaftlichen Situation wohlbegreifliche Art,
die erkenntnistheoretischen Probleme im Sinne eines theologischen Psy-
chologismus zu missdeuten, bestimmte die ganze weitere Entwicklung des
Rationalismus bis Leibniz und Wolff; ja auch bis zu Kant hin, der insofern
hierher gehört, als er in seiner ersten Entwicklungsperiode noch im Leibniz-
Wolff’schen Rationalismus erzogen war und dadurch immerfort bestimmt
blieb. Was von dieser historisch so bedeutsamen Entwicklung für uns An-
fänger nützlich ist (obschon wir im Voraus dessen schon sicher sind, dass
diese Entwicklung von Anfang an mit unheilbaren Verkehrtheiten behaftet
ist), werden wir später besprechen. Ebenso wollen wir jetzt nicht eingehen
in den Gehalt der großen metaphysischen Systeme, in denen sich der Ratio-
nalismus in einer für die Folgezeiten höchst eindrucksvollen Art auslebt.
Dass er das tut, dass in ihm der Trieb nach metaphysischer Erkenntnis
sich so üppig entfalten kann, dass jeder Systembegründer (ein Descartes,
Spinoza, Leibniz, Wolff) meint, in seinem System den Entwurf einer völlig
strengen Wissenschaft von den höchsten Dingen dargeboten zu haben, ist
wohl verständlich. So ernst die Rationalisten die erkenntnistheoretischen
Probleme nahmen, dieselben verbleiben doch bei ihnen auf einer primitiven
Stufe vager und missdeutlicher Allgemeinheiten, und gerade die Wendungen
in theologisch-psychologische Missdeutungen befördern den Schein, dass es
sich um begrenzte und nicht zu schwer lösliche Probleme handle.2
Denken Sie nur an die schnelle Art, wie Descartes durch Appell an
den lieben Gott und die göttliche veracitas sein erkenntnistheoretisches

1 Gestrichen In diesen Fragen kommt ein dunkles theoretisches Unbehagen mit der natür-

lichen Erkenntnis zum Ausdruck. Erst nachdem es sich ausgewirkt und nachdem es in
immer neuen Stufen Kritik, sei es auch in Form skeptischer Negation, sein Werk getan hat,
erwachsen die reinen, sinnvollen, notwendigen Probleme, bezogen auf den reinen Boden, der
in der Klarheit sichtlich wird.
2 Am Rande eine Null.
descartes 317

Gewissen beruhigt. Im vermeintlichen Besitz der wahren Methode ging man


schnell fort zu kühnen metaphysischen Konstruktionen. Im Lauf der wei-
teren Entwicklung werden die Gewissensmahnungen zwar immer stärker,
die empiristische Kritik wird immer wirksamer, das Bewusstsein, dass es
sich um vielfältig differenzierte und schwierige Probleme handle, immer
stärker, aber immerfort glaubt man auf rationalistischer Seite, diese Pro-
bleme nebenher erledigen zu können; man entschließt sich nicht dazu, alle
Metaphysik zunächst beiseitezustellen1 und die Erkenntnistheorie als eine
eigene Wissenschaft zu behandeln.
Da nun der Entwicklung dieser Wissenschaft und der durch sie bedingten
erkenntniskritischen Philosophie als einer Philosophie völlig neuen Typus
unser besonderes Interesse gelten soll, so werden wir gut tun, jetzt unse-
ren Blick dem Empirismus, und zwar dem Empirismus der Locke’schen
Richtung zuzuwenden. Seine besondere Größe liegt darin, dass er zuerst
die Erkenntnis zum Thema einer eigenen Wissenschaft macht und damit
herausstellt, dass es in Hinsicht auf sie nicht mit gelegentlichen Reflexionen
sein Bewenden haben kann, sondern dass die Fülle der Gestaltungen, die sie
umspannt, und die Fülle differenzierter und höchst schwieriger Fragen, die
sich hier ergeben, nur in einer systematischen Forschung wissenschaftliche
Erledigung finden können. Die Erkenntnistheorie verschlingt in dieser Ent-
wicklung die Metaphysik. Nicht nur, dass der Empirismus sie bloß zurück-
stellt in der Überzeugung, dass die erkenntnistheoretische Wissenschaft aller
Metaphysik vorangehen müsste, nämlich, dass sie es sei, die allererst über
Möglichkeit, Grenzen, Tragweite metaphysischer Erkenntnis und schließlich
jedweder Erkenntnis überhaupt zu entscheiden hätte. Sondern so sind seine
Ergebnisse der Erkenntnisforschung, dass er dahin geführt wird, eine Meta-
physik schließlich ganz abzulehnen. So bietet der Empirismus seit Locke ein
ganz besonderes Bild: Kein metaphysisches System tritt da auf.
Zur allgemeinen Charakteristik des Typus dieser Erkenntnistheorie sei
von vornherein gesagt, dass dieser Empirismus sich scharf gegen die ra-
tionalistische Lehre von den ideae innatae und gegen den theologischen
Psychologismus wendet, der mit dieser Lehre eins war. Andererseits cha-
rakterisiert er selbst sich als Psychologismus eines neuen Typus, der sich
damit bezeichnet, dass die Erkenntnistheorie auf die empirische Psychologie

1 Gestrichen um eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie zu begründen. Daran aber wird

man gehindert, weil man durch Missdeutung von vornherein Metaphysisches in die erkenntnis-
theoretische Problematik hineingemengt hat. Und es nicht sieht, dass Erkenntnistheorie eine
eigene, auf dem Boden des reinen Bewusstseins zu etablierende Wissenschaft ist.
318 einleitung in die philosophie

gegründet, wo nicht gar in Psychologie der Erkenntnis aufgelöst wird. Als


einen zweiten Grundcharakter des englischen Empirismus werden wir den
Sensualismus kennen und verstehen lernen. In rascher Entwicklung führt
dieser sensualistische Psychologismus schon im 18. Jahrhundert bei David
Hume zu einem Skeptizismus, der alle transzendente Erkenntnis in Fiktion
verwandelt. So erscheint nicht nur die Möglichkeit einer objektiv-gültigen
Metaphysik, sondern schon die Möglichkeit aller exakten Naturwissenschaf-
ten in Frage gestellt. Die Bedeutung dieses Hume’schen Skeptizismus besteht
nicht nur darin, dass er es war, der Kant aus dem dogmatischen Schlummer
erweckte und somit in bestimmender Weise die kantische vernunftkritische
Philosophie motiviert hat. Vielmehr wirkt dieser Positivismus, ja in hohem
Maß auch der vorangegangene Empirismus Lockes und Berkeleys, durch
seinen eigenen Inhalt und direkt auf die neuzeitliche Philosophie bis in
unsere Tage hinein, so dass die Beschäftigung mit ihm die alleraktuellste
Bedeutung hat.

Locke

Mit John Lockes zweibändigem Werk An Essay Concerning Human Un-


derstanding (1690) beginnt eine eigene, zunächst ausschließlich in England
verlaufende Entwicklungsreihe. Empiristen waren schon vorher Bacon und
Thomas Hobbes. Aber Locke ist in Hinsicht auf diese Philosophen nicht
bloß Fortsetzer oder gar Schüler. Dass er mit ihnen den „Empirismus“ teilt,
besagt wenig. Denn mit diesem Wort ist nur eine sehr allgemeine erkenntnis-
theoretische Überzeugung, freilich eine die ganze Forschungsart wesentlich
bestimmende, angezeigt. Alle Erkenntnis beruht letztlich auf Erfahrung. Das
bezieht sich vor allem auf die Erkenntnis der Realität: Alles, was wir über
sie wissen können, beruht letztlich auf Gründen, die wir aus der Erfahrung
schöpfen. Darin liegt, bei der beständigen polemischen Attitüde gegen den
Rationalismus: Denken ist eine Erkenntnisfunktion, die nur in der Gründung
auf Erfahrung objektiv gültige Erkenntnis zu liefern vermag. Soweit man
reines Denken überhaupt gelten lassen darf, liefert es eine bloße Erkenntnis
von Möglichkeiten. So in der Geometrie. Sie hat es nicht mit der wirklichen
Welt zu tun, sondern mit Gebilden, die wir uns in unserer eigenen geometri-
schen Phantasie selbst erzeugt haben und die hinsichtlich der Wirklichkeit
nur den Charakter von Möglichkeiten haben. (Übrigens, sofern Phantasie es
ist, die dabei die Möglichkeiten uns vor Augen stellen muss, und Phantasie
nur Abwandlungen von Reproduktionen früherer Erfahrungen liefern kann,
locke 319

werden wir auch hier in gewisser Weise auf Erfahrung zurückgewiesen. Je-
denfalls, wo Denken als reines nicht aktuelle Wahrnehmung und Erfahrung
benützt, kommen wir nicht von den bloßen Möglichkeiten zur Wirklichkeit.
Erst durch Verbindung solchen reinen Denkens und seiner reinen Erkennt-
nis mit Erfahrungen, also zum Beispiel in Form angewandter Mathematik,
gewinnen wir Realitätserkenntnis.)
Mit solchen Lehren macht der Empirismus Front gegen die spekulierende
Metaphysik, die aus reinen Begriffen, in einem reinen Denken über Gott und
Natur, über geistige und körperliche Substanzen, kurzum über alle Realität,
glaubte Erkenntnis, ja absolute Erkenntnis gewinnen zu können. (Dafür war
uns Spinozas Ethica das klassische Exempel.) Mit dem eben Ausgeführten
sind gemeinsame Züge alles Empirismus beschrieben, gegen welche rationa-
listischen Gegnerschaften er sich auch wenden mag. In dieser Hinsicht wen-
det sich Bacon noch gegen den scholastischen Rationalismus, Hobbes schon1
mit gegen Descartes, Locke zugleich gegen den Cartesianismus und gegen
die platonisierende Cambridger Schule.2 Diese Gemeinsamkeiten schließen
aber nicht gewaltige Differenzen aus, und sie bezeichnen nichts von dem, was
als völlig Neues in der Locke’schen Richtung gegenüber dem Empirismus
eines Bacon und Hobbes zur Entwicklung kommt. Versuchen wir dies Neue
zu bestimmen.
Man nennt Locke einen Begründer, wo nicht gar den Hauptbegründer
der neuzeitlichen Psychologie. Wohl ist auch Hobbes in dieser Hinsicht zu
nennen. Aber die Kontrastierung der beiden großen Philosophen wird uns
eine erste bedeutsame Eigenheit des Locke’schen Werkes sichtbar machen.
Hobbes in seinem Streben, die Geisteswissenschaften nach dem Vorbild
der neuen Mechanik als strenge Wissenschaft zu begründen, richtet dieses
Absehen natürlich auch und vor allem auf die Psychologie. Aber geblendet
durch sein Vorbild, die mechanistische Physik, die es ausschließlich mit der
kausalen Erforschung von Körpern und körperlicher Bewegungen zu tun
hat, deutet er alles Geistige materialistisch. Hobbes meint: Nur scheinbar
ist das Geistige ganz anders geartet als das Körperliche, aber in Wahrheit
handelt es auch da nur um Körper und körperliche Vorgänge. In objektiver
Wahrheit ist zum Beispiel die Empfindung nur ein Physisches, eine gewisse

1 Im Manuskript folgt mit auf schon.


2 Gestrichen Mit den bezeichneten allgemeinen Charakteristiken des Empirismus hängt auch
seine allgemeine Tendenz zum Positivismus zusammen, schon bei Hobbes, also schon vor Locke
hervortretend. Das heißt, die Tendenz, Realitätserkenntnis und Naturerkenntnis zu identifizie-
ren und eine Metaphysik als eine über die erfahrene Natur und das erfahrene Geistesleben
hinausgehende Wissenschaft zu leugnen.
320 einleitung in die philosophie

Bewegung in den Sinnesorganen, in den Nervenfibern. Hobbes gerät also


auf die Bahn einer freilich widersinnigen materialistischen Psychologie (sie
war nicht ohne positive Bedeutung, sofern sie der Psychophysik der Neuzeit
in einigem vorarbeitet).
Aber diese Psychophysik setzte ihrerseits eine andere Psychologie schon
voraus. Eine „andere Psychologie“, sagte ich. Es ist eine Psychologie, die
zunächst und vor allem in die seelische Innerlichkeit, so wie sie sich in den
immanenten Bewusstseinsgestaltungen darbietet, hineinblickt. Nun, der Be-
gründer derselben ist Locke. Dem Eindruck der in Descartes’ Meditationes
vollzogenen Innenwendung, der Wendung auf die eigenen Bewusstseinser-
lebnisse, kann er sich nicht entziehen. Andererseits, das naturwissenschaftli-
che Vorbild kann ihn nicht blenden, da er von mathematischer Physik nicht
sehr viel versteht. Also er erkennt die Notwendigkeit einer Psychologie auf
dem Grund der inneren Erfahrung, er sieht, dass das dem Psychologen un-
mittelbar gegebene Psychische nur die Bewusstseinserlebnisse sind und dass
somit deren Beschreibung und Analyse in der immanenten Erfahrung das
Fundament aller psychologischen Forschung bilden muss. Was für Theorien
hinterher für die Seinsart des Psychischen und sein Verhältnis zum Materi-
ellen der Natur (die in der psychischen Sphäre erscheinende ist) entwickelt
werden mögen: Jedenfalls das Psychische ist unmittelbar erfahren, und un-
mittelbar erfahren ist es ausschließlich in Form der inneren Erfahrung. Das
liegt vor aller Theorie, und darauf muss erst Theorie sich stützen. Psychologie
muss also mit Deskriptionen aufgrund innerer Erfahrung beginnen.
Gesehen ist das nun freilich schon vor ihm längst gewesen. So schon
durch den mittelalterlichen Nominalismus und in der Renaissance durch
Johannes Ludwig Vives, der in seiner Schrift De anima et vita (1539)
schon eine Erforschung des Seelischen in innerer Erfahrung fordert und ein
wenig auch übt. Aber solche Anregungen hatten keine nachhaltigen Folgen.
Locke ist der erste, der im großen Stil Erfahrungsanalysen des unmittelbaren
seelischen Lebens, so wie es sich in den cogitationes ausströmt, vollzieht. Man
stellt ihn daher mit Recht an die Spitze der neueren Psychologie.
Doch damit ist zur Charakteristik der Locke’schen Philosophie immer
noch sehr wenig gewonnen, so wichtig das Gesagte auch in der weiteren
Folge sein wird. Wäre Locke nichts weiter als Mitbegründer der neueren
Psychologie als einer den Naturwissenschaften gleichgeordneten Spezial-
wissenschaft, so wäre nicht abzusehen, warum er in der Geschichte der
Philosophie eine andere Stellung zu beanspruchen hätte als ein Kepler
oder Galilei und so überhaupt als irgendeiner der Begründer der neueren
Naturwissenschaft. Ich habe es früher als eine leitende Aufgabe unserer
locke 321

historischen Analysen bezeichnet, zu verstehen, wie sich in der Entwicklung


der neuzeitlichen Wissenschaften eine Scheidung zwischen philosophischen
Disziplinen im spezifischen Sinne und nicht-philosophischen Wissenschaften
ausbilden musste. Obschon wir diese Aufgabe noch lange nicht gelöst haben,
so ist die Scheidung selbst, wenn auch ohne inneres Verständnis, uns doch ver-
traut. Die Physik und die gesamten Naturwissenschaften rechnen wir nicht
zur Philosophie. Andererseits aber auch nicht die Sprachwissenschaften und
sonstige Geisteswissenschaften. Nur hinsichtlich der Psychologie verhalten
wir uns anders. Aber an und für sich ist doch nicht abzusehen, warum sie nicht
mit den Naturwissenschaften auf gleicher Linie stehen sollte. Die All-Natur
umspannt doch beides: materielle Körper, die bloß physische Eigenschaften
haben, und animalische Wesen, die in Verknüpfung mit dem materiellen
Leib noch sogenannte seelische Vorkommnisse aufweisen. Die Zoologie,
die Anthropologie beschäftigen sich mit beidem, und beides gehört doch
in der Natur gesetzmäßig zusammen. Wenn die Psychologie sich in ihren
Interessen auf das Seelische konzentriert, so ist dieses darum doch nur Glied
im verknüpften psychophysischen Ganzen; seine vollständige Erforschung
muss also im Zusammenhang der psychophysischen Gesamtnatur erfolgen.
Wir sehen daher keinen Grund, warum Psychologie philosophischer sein soll
als Naturwissenschaft.
Dass heutzutage die Psychologie an den Universitäten von Professoren
der Philosophie vorgetragen wird, das hat vielleicht nur historische Gründe;
ähnlich wie es historische Gründe hatte, wenn am Ende des 18. Jahrhunderts
der Philosophieprofessor auch Mathematik und Physik las, wie unter anderen
auch Kant. Und ist heutzutage die Psychologie nicht auf dem Wege, sich auch
in dieser äußerlichen Hinsicht von der Philosophie abzulösen? Jedenfalls
könnte uns Locke hier nicht besonders interessieren, wenn er Begründer
einer der großen nicht-philosophischen Wissenschaften wäre. Aber die Sache
liegt hier doch anders und schon darum, weil eben diese Gleichordnung
lebhaft bestritten wird.
Wie wenig es uns zunächst einleuchten mag, es ist ein merkwürdiges
Faktum, dass die Psychologie von nicht wenigen Forschern als eine philo-
sophische Wissenschaft angesehen wird. Also die Stellung der Psychologie
und Philosophie ist sehr strittig, und wir werden gerade bei Locke Anlass
haben, die prinzipiellen Gründe des Streits kennenzulernen. Andererseits ist
aber zur Geltung zu bringen, dass, wie immer man da Stellung nehmen mag,
Locke selbst von vornherein gar nicht daran dachte, sich eine Begründung
der Psychologie zum Ziel zu stellen. Sein epochemachendes Werk nennt sich
Ein Versuch über den menschlichen Verstand. Diesem Titel nach kann es
322 einleitung in die philosophie

angenommen werden als Entwurf eines großen Kapitels der Psychologie,


nämlich einer Psychologie des Verstandes. Aber obschon das auch zutrifft, so
erschöpft es doch mitnichten den Sinn des Werkes und bezeichnet es durch-
aus nicht seinen eigentlichen Charakter und seine ursprüngliche Intention.
„Den Verstand erforschen“ das kann zweierlei besagen: 1) Erkenntnispsy-
chologie, 2) Erkenntnistheorie. Ad 1) Das Wort „Verstand“ kann als Titel
dienen für die mannigfaltigen Seelentätigkeiten und seelischen Dispositio-
nen, in denen sich der Mensch (oder das Tier) als Erkennender im weitesten
Sinne bietet.1
Wir standen inmitten der Erörterung der eigentlichen Intention des Lo-
cke’schen Werkes. Es will seinem Titel nach eine Erforschung des menschli-
chen Verstandes sein. Das kann aber, sagten wir, doppelt verstanden werden.
In psychologischem Sinn und in erkenntnistheoretischem. Wir sind in der
letzten Vorlesung zur Klarheit darüber gekommen, was das heißt, den Ver-
stand im psychologischen Sinne erforschen, was das heißt, Psychologie des
Verstandes (oder, wie man auch sagt, Psychologie des Intellekts) treiben.
Erkenntniserlebnisse sind eine Gattung psychischer Akte bzw. Zustände, es
sind tatsächliche Vorkommnisse im Zusammenhang der räumlich-zeitlichen
Welt; und wie alle anderen räumlich-zeitlichen Tatsachen so sind auch die
hierhergehörigen nach ihrem faktischen Bestand und Verlauf und ihren Ge-
setzen, den Naturgesetzen, zu erforschen. Im realen Zusammenhang ist jedes
Ereignis kausal bestimmt, jede Veränderung steht unter festen Gesetzen.
Diese Überzeugung gibt aller wissenschaftlichen Forschung, die den Titel
„naturwissenschaftlich“ hat, ihr bestimmtes Ziel. Es gilt, überall die im

1 Gestrichen Wir Menschen haben seelische Erlebnisse, die da „Erfahrungen“, zunächst

„Wahrnehmungen“ heißen, in denen wir uns auf präsentes Dasein beziehen; andere seelische
Erlebnisse, genannt „Erinnerungen“, beziehen sich auf vergangenes Sein, in der Erwartung
auf Zukünftiges. Im urteilenden und aussagenden Denken, im Schließen, im Deduzieren und
Induzieren leuchten neue Serien von seelischen Erlebnissen auf, von denen es heißt, dass sie
objektives Sein zur Erkenntnis bringen. Alle solche Erlebnisse treten im seelischen Zusam-
menhang als Fakta auf, so wie in ihm auch mancherlei Gefühle, Begehrungen, Wollungen
auftreten, die nicht „Erkenntniserlebnisse“ heißen. Als Fakta können sie erforscht werden
genau in dem Sinne, in dem die Physik Fakta der physischen Natur erforscht. Sie treten
in bestimmten Zusammenhängen auf. Die Zusammenhänge sind teils im Bewusstsein selbst
zu verfolgende, teils sind es psychophysische Zusammenhänge; zum Beispiel Empfindungen
treten auf im Zusammenhang mit Reizvorgängen, die selbst materielle Vorgänge sind. Wie in
der bloß physischen Natur die Zusammenhänge unter Regeln stehen, wie jedes rein physische
Ereignis mit Beziehung auf seine raum-zeitlichen Umstände nach festen Gesetzen auftritt, so
ist Ähnliches auch für die psychische und psychophysische Tatsachensphäre zu erwarten und
somit danach zu forschen. Ein Urteil, das ich fälle, gleichgültig, ob es ein Vorurteil ist oder ein
Recht hat, eine Begründung, die ich Text bricht ab.
locke 323

Voraus zunächst unbekannten Naturgesetze zu entdecken. Sind sie entdeckt,


so kann für das betreffende Realitätsgebiet jedes konkrete Ereignis erklärt,
das heißt, nicht bloß als seiend, sondern als notwendig soseiend, als unter den
gegebenen Umständen notwendig eintretend verständlich gemacht werden.
Demgemäß, es kann die Zukunft bestimmt vorausgesagt, vorausberechnet
werden usw. Damit ist also auch der Psychologie als Naturwissenschaft ihr
Ziel vorgezeichnet und speziell der Erkenntnispsychologie. Sie erforscht,
können wir auch sagen, Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der Natur, der
real-kausalen Tatsache.
Die zweite Bedeutung der Rede von einer Verstandesforschung ist, sagten
wir, die erkenntnistheoretische. Nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Rea-
lität bzw. Kausalität, sondern auch unter dem der Gültigkeit oder Ungültig-
keit lässt sich Erkenntnis erforschen.1 Der Gegensatz ist leicht verständlich
zu machen. Angenommen, wir vollziehen eine Rechnung, so läuft unter dem
Titel „Rechnen“ in unserem Bewusstsein ein gewisser Prozess ab, der unter
die Gattung „Erkenntnis“ fällt. Statt als Psychologe nach dieser Tatsache
als Tatsache, als Bestandstück des realen und naturgesetzlich geregelten
Weltzusammenhangs, zu fragen, frage ich jetzt danach, ob da richtig oder
unrichtig gerechnet worden ist. Sie werden vielleicht sagen: Die Frage betrifft
doch auch diese Rechnung, diese subjektive Tatsache der bestimmten Person.
Gewiss. Aber kommt diese Tatsache als Tatsache in Betracht? Beispielsweise,
während des Rechnens sagte ich, sei es laut oder im innerlichen stillen
Sprechen, „2 × 2 = 4“; ich vollzog ein arithmetisches Urteil. Kommt bei der
Geltungsfrage, der Frage, ob da „verständig“, „vernünftig“ geurteilt worden
ist, das Faktum als Faktum wesentlich in Betracht? Kommt es auf den realen,
sei es psychischen oder psychophysischen Kausalzusammenhang an, der das
Objekt psychologischer Forschung wäre?
Überlegen wir doch Folgendes: Ob wir heute oder morgen unter den oder
jenen räumlich-zeitlichen Umständen urteilen, es sei 2 × 2 = 4, so haben wir
richtig geurteilt und hätten wir geurteilt, es sei = 5, so wäre es falsch. Und
es kommt auch gar nicht auf uns an. Wer immer, und sei es ein Engel oder
Teufel, so urteilte und ob er in dieser Welt mit diesen Naturgesetzen oder in
einer möglichen anderen Welt mit anderen urteilte, er urteilte richtig, wenn
er sagte, „2 × 2 = 4“. Ein solches Urteilen, wie immer es sonst beschaffen

1 Randbemerkung Im Kolleg habe ich, was hier fehlt, die jetzige Erörterung über Erkennt-

nistheorie in Kontrastierung zur Psychologie natürlich in Bezug gesetzt zu den früheren Be-
handlungen und dabei nicht vergessen, Geltung und gegenständliche Beziehung der Erkenntnis
zusammenzubringen.
324 einleitung in die philosophie

ist und in welchen tatsächlichen Zusammenhängen es auftreten mag, ist


überhaupt richtig, vernünftig, gültig. Nur das geurteilte Was, der Satz, ist
ganz in Frage, der Inhalt „2 × 2 = 4“ oder ein sonstiger Inhalt, der unter
den mathematischen Wahrheiten figuriert1. Also wenn mich Erkenntnisse
hinsichtlich ihrer Gültigkeit, Triftigkeit interessieren, so habe ich, wenigstens
soweit es sich um mathematische Beispiele handelt, nach keiner Tatsache zu
fragen. Die Geltungsfrage kann sich an ein hic et nunc vollzogenes Urteilen
anknüpfen. Aber nicht weil ich und gerade hier und jetzt so urteile, ist mein
Urteilen richtig, sondern es ist richtig, weil überhaupt zum Wesen eines
Urteilens von diesem Inhalt die Richtigkeit gehört.
Ähnliches wird aber doch wohl nicht bloß in der Sphäre des mathe-
matischen Erkennens gelten und nicht bloß für Urteile, sondern für alle
Erkenntnisakte. Also, wie steht es mit den Forschungen, die sich auf die Er-
kenntnisgestaltungen rein in der Hinsicht beziehen, inwiefern sie gleichsam
auf Wahrheit gerichtet sind oder inwiefern wirklich ist, was sie als seiend oder
soseiend vermeinen, bzw. inwiefern es nicht ist? Sind das psychologische For-
schungen? Eröffnet sich nicht die Einsicht, dass ganz im Gegenteil alle sol-
chen Forschungen der Psychologie, wie jeder Naturwissenschaft, voranliegen
müssen? Sie betreffen doch die Erkenntnis nicht als Tatsachen, sondern nach
einem Wesen, das durch keine Änderung in der Tatsachenwelt je betroffen
werden kann. Es mag wunderbar genug sein, dass Erkenntnis ein sozusa-
gen übertatsächliches Wesen hat, dass sie unter einem Gesichtspunkt der
Betrachtung steht, für die alle Tatsächlichkeit irrelevant ist. Aber liegt nicht
die Unterscheidung als zweifellose Gegebenheit vor? Gehört es nicht zum
eigenen Sinn der korrelativen Reden von Wahrheit und Richtigkeit, dass sie
auf Wesensvorkommnisse zurückweisen, welche den zufälligen Menschen,
seine zufälligen Erlebnisse und die zufälligen Tatsächlichkeiten, unter denen
sie auftreten, ja, die ganz zufällige Welt hinter sich lassen?
Ziehen wir sogleich eine wichtige Konsequenz: Machen wir die wunder-
bare Eigentümlichkeit der Erkenntnis, unter dem Gegensatz der Geltung
oder Nichtgeltung zu stehen, allseitig zum Thema von Forschungen, so wer-
den wir, da alle Tatsächlichkeit in dieser Hinsicht irrelevant ist, uns von
dieser methodisch befreien müssen. Wir geraten sonst in die Gefahr, Tat-
sachenforschung und Geltungsforschung, die wir geschieden hatten, wieder

1 Gestrichen ist wahr, schlechthin wahr, ist von Zeit und Raum, Person und Umständen, von

Gott und Welt unabhängig. Für Wahrheit oder Falschheit kommt der Satz in sich selbst auf
und für Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit nur das Urteilen in sich selbst und der Satz, der sein
geurteiltes Was ist.
locke 325

zu vermengen. Wie diese Befreiung möglich ist, kann leicht verständlich


gemacht werden, wenn wir den Sinn dessen, was vorhin schon gesagt worden
ist, richtig erwägen: Eine faktische Überzeugung, die ich jetzt mit dem und
dem Aussageinhalt habe, hat ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit; aber, wie
wir feststellten, nicht darum, weil gerade ich es bin, der sie hat, oder weil
sie gerade als dieses Erlebnisfaktum unter den gegebenen psychophysischen
Umständen auftritt; vielmehr, sie ist richtig, wenn sie richtig ist, weil ein
Urteilen überhaupt als Urteilen dieses Aussageinhalts richtig ist. Dieses
Überhaupt aber hat nicht den Sinn einer naturwissenschaftlichen Allgemein-
heit, die immer Faktizität mit einschließt. Ich bin mit diesem Überhaupt
nicht etwa gebunden an einen urteilenden Menschen überhaupt, also an
die naturhistorische Menschenspezies, die in dieser Welt faktisch existiert;
ich bin an die faktische Welt auch sonst und in keiner Weise gebunden; in
schrankenloser Allgemeinheit kann ich alle Tatsächlichkeit variabel denken
und somit für mein Denken ausschalten. Mit anderen Worten, ich denke
mir in reiner, sozusagen in mathematischer Allgemeinheit ein Urteilen des
betreffenden Aussageinhalts überhaupt.
(Eine Analogie macht das klar. Auch in der reinen Geometrie mache
ich mich von der faktischen Welt frei, sofern ich in ihr nicht von Geraden
und Kreisen handeln will, die in der faktischen Welt vorkommen, von deren
Vorkommen ich also vorher durch Beobachtung und Experiment mich über-
zeugt haben müsste; vielmehr in reiner Allgemeinheit denke ich mir Geraden
und Kreise überhaupt und frage, was zu ihrem unaufhebbaren Wesen gehört,
ohne was ich sie also schlechthin und ohne Frage nach realem Vorkommen
nicht denken kann. Genau in dieser Weise betrachten wir also Urteile und
nicht nur Urteile, sondern Erkenntnisgestaltungen jeder Art und Form; die
von uns wirklich vollzogenen oder wirklich von uns in der Phantasie imagi-
nierten nehmen wir dann nur als exemplarische ideelle Vereinzelungen.)
Von aller Individualität und Faktizität absehend, nehmen wir sie nur
als Exempel für die reinen Allgemeinheiten, die uns allein interessieren.
Und in dieser Sphäre reiner Allgemeinheiten fragen wir nun nach Geltung
oder Nicht-Geltung, bzw. wir fragen, welche Gesetzmäßigkeiten zum reinen
Wesen der Erkenntnis gehören, sofern wir sie unter diesem Gesichtspunkt
der Geltung betrachten. Zum Beispiel, ein arithmetisches Urteilen ist, sagten
wir, seiner Richtigkeit nach bestimmt ausschließlich durch den Aussagein-
halt, durch „den Satz“, der da das geurteilte Was ist. Aber Richtigkeit
ist offenbar nicht ohne weiteres ein zum Urteilserlebnis selbst gehöriger
Charakter. Freilich, in manchem Urteilen ist die Richtigkeit in ihm selbst
unmittelbar bewusst und wirklich gegeben, sei es, dass es sozusagen frei
326 einleitung in die philosophie

für sich stehend einsichtig ist, sei es, dass es Endglied eines beweisenden
Zusammenhangs ist, aus dem ihm die einsichtige Notwendigkeit zuteil wird.
Für das erstere sind die axiomatischen Einsichten Beispiele, für das letztere
die mathematischen Beweise, die wir einsichtig vollziehen und in denen
der Schlusssatz uns in urteilender Einsicht zuwächst. Aber Einsicht ist eine
Ausnahme. Wenn ich rechnend urteile „9 × 8 = 72“, geschweige denn, wenn
es sich um ein Urteilen handelt, in dem ein Satz der höheren Mathematik
ohne Erneuerung des Beweises behauptet wird, ist die Richtigkeit nicht ein
unmittelbar im Erlebnis gegebener Charakter. Ich meine, es sei so, aber nur
wenn ich die Einsicht habe, kann ich die Richtigkeit des Urteilens an ihm
selbst erfassen. In unzähligen Fällen urteile ich, bin ganz fest überzeugt, und
doch ist das Urteil sogar unrichtig.
Die Betrachtung der Urteile unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeit
führt also auf die Frage: Wie kommt den Urteilen (als möglichen Erleb-
nissen und ihrem Wesen nach) die Richtigkeit an sich zu, und zwar auch,
wenn sie nicht einen Richtigkeitscharakter an sich haben? Antwortet man:
Urteilsakte, die nicht einsichtig sind, lassen sich prinzipiell in einsichtige
verwandeln, in denen entweder die Richtigkeit oder Unrichtigkeit selbst
zu Tage tritt, so erwächst das Problem, diese Verhältnisse von Urteilen
überhaupt und einsichtigen Urteilen zur Klarheit zu bringen und die We-
sensverhältnisse, die da bestehen, in gesetzmäßiger Reinheit herauszustel-
len.
Was geht mit Urteilen vor, wenn sie sich in einsichtige verwandeln? Wie
sind die Wesensumgestaltungen zu charakterisieren, die sie dabei notwendig
erfahren? Und was sagt das „Es tritt nun an ihnen die Richtigkeit bzw.
Unrichtigkeit zu Tage“? Die Fragen differenzieren sich, wenn wir auf die ver-
schiedenartigen Erkenntnisfundierungen Rücksicht nehmen, zum Beispiel
uns an die Streitigkeiten über das Verhältnis von Anschauen und Denken
erinnern. Was für eine notwendige Rolle spielt für die Ermöglichung der
Evidenz bei geometrischen Urteilen die Raumanschauung oder bei Urteilen
vom Typus der auf materielle Dinge bezüglichen Tatsachenurteile die äußere
Erfahrung? Von da wird man bald zur Frage geführt: Welche möglichen
Strukturen der Urteile spielen für die Fragen der Richtigkeit und Evidenz
die bestimmende Rolle? Urteile haben doch einen verschiedenen Bau, so-
wohl nach Seiten des in ihnen geurteilten Was als auch nach Seiten ihrer
Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit, ihrer modalen Abstufungen als Ge-
wissheit, als Für-wahrscheinlich-Halten usw. Spielen vielleicht alle irgendeine
Rolle? Haben im Zusammenhang der begründenden Erlebnisse, in denen
(und in verschiedenen Formen) unmittelbare oder mittelbare Einsichtigkeit
locke 327

erwächst, schließlich alle Erkenntnisstrukturen irgendeine Funktion? Das


führt auf ein universelles Studium der überhaupt möglichen Erkenntnisarten,
auf die Analyse ihrer Wesensstrukturen, die dann zu den Gesichtspunkten
der Richtigkeit und Evidenz in Bezug zu setzen sind.
(Eine solche ganz allgemeine Struktur ist es schon, wenn wir in leicht
verständlicher Weise unterscheiden zwischen dem Urteilen als dem mehr
oder minder festen Glauben (dem vermeintlichen u. dgl.) und andererseits
dem Urteilsinhalt, dem, was da geglaubt ist, also bei dem Aussagen dem
Aussagesatz selbst. Derselbe Inhalt, wir sagen etwa oft „derselbe Satz“, kann
einmal uns „sicher“ sein, das andere Mal bloß wahrscheinlich, das dritte Mal
zweifelhaft, eventuell nur möglich usw. Je nachdem ist die Bewusstseins-
weise eine verschiedene, und so sind hier Themen für Charakteristiken und
Analysen. Dasselbe, was vom Urteilen im gewöhnlichen Sinne, in dem des
aussagenden Denkens, gilt, gilt von anderen Erkenntnisgestaltungen (wie
den Wahrnehmungen, Erinnerungen u. dgl.). Überall bedarf es struktureller
Analysen, und überall sind die Ergebnisse solcher Analysen vorbedingend
für ein Studium der Geltungsfragen.)
Von alters her pflegt man kausale und teleologische Betrachtungen ein-
ander gegenüberzustellen, und gewöhnlich hat man dabei im Auge einer-
seits die Erforschung der Natur als Tatsache in Hinsicht auf real-kausale
Zusammenhänge und andererseits die Erforschung der in der Natur sich
bekundenden Zweckmäßigkeit (soweit man eine solche eben anerkennt
und etwa auf Gott zurückführt). Unsere Betrachtungen über die doppelte
Art, wie Erkenntnis zum Forschungsthema werden kann, bringen uns einen
anderen Gegensatz zwischen tatsachenwissenschaftlicher und teleologischer
Forschung zum Bewusstsein.
Erkenntnis als Naturtatsache ist Objekt naturwissenschaftlicher For-
schung. Und ist Natur überhaupt zugleich ein Thema für eine Naturteleolo-
gie, so wäre davon auch die Erkenntnis mit betroffen, Erkenntnis nämlich
als menschliches Faktum, eingeordnet gedacht in den Zusammenhang der
teleologisch interpretierten Natur. Aber Erkenntnis ist noch in einem ande-
ren, alle Tatsächlichkeit übersteigenden Sinn Thema einer „teleologischen“
Forschung. Nämlich alle Gestaltungen, die unter dem Begriff „Erkenntnis“
stehen, haben die Wesenseigentümlichkeit, in einer gewissen, zunächst rät-
selhaften Weise auf Seiendes gerichtet zu sein; und, damit gleichwertig, alle
stehen unter dem Gegensatzpaar der Richtigkeit und Unrichtigkeit; alle
lassen eine Betrachtung zu, in der sie angesehen werden als auf Wahrheit
„gerichtet“, als Intentionen, die gewissermaßen auf Wahrheit hinstrebten,
in ihr ihr Telos hätten.
328 einleitung in die philosophie

Die Erkenntnistheorie als allgemeine Theorie der Erkenntnis unter dem


Gesichtspunkt der Geltung ist also eine Erforschung der im Wesen der
Erkenntnis liegenden Teleologie: Allseitig erforscht sie das Wesen der Er-
kenntnis unter dem Gesichtspunkt ihres Telos, das sie in der Evidenz erzielt.
Daher studiert sie in systematischer und reiner Allgemeinheit alle möglichen
Arten und Formen von Erkenntnissen und Erkenntnisgebilden, die wesens-
mäßig von Evidenz durchleuchtet sind. Sie sucht alle reinen Gesetze zu
entdecken, welche Bedingungen der Möglichkeit der Evidenz und, was nahe
damit zusammenhängt, Bedingungen der Möglichkeit der Richtigkeit und
Unrichtigkeit ausdrücken. Diese Bedingungen liegen einerseits im Sinnes-
gehalt des erkennenden Bewusstseins, zum Beispiel in den reinen Formen
der Sätze und Satzverbindungen. Ein einfaches Beispiel hierfür ist: Dass
jeder Satz, der einen Widerspruch in sich birgt, falsch ist. Oder: Dass von
zwei Sätzen, die wie Ja und Nein zueinander stehen, der eine wahr und
der andere falsch ist. Andererseits betreffen Gesetzmäßigkeiten die ver-
schiedenen Weisen, wie dieser Sinnesgehalt bewusst ist, zum Beispiel, ob
bewusst in der Weise der Gewissheit oder Vermutung, des bloß für möglich
Haltens u. dgl. Natürlich sehr nahe mit solchen Studien hängen die nicht
minder wichtigen Studien der uneinsichtigen, der blinden Erkenntnisweisen
zusammen; doch ihre Bezeichnung als „blind“ weist auf ihr Telos hin, ihr
teleologisches Studium erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Auswertung,
der Rechtsausweisung oder Rechtsabweisung. Es handelt sich also um die
Gesetzmäßigkeiten, welche die mögliche Überführung solcher blinder Er-
kenntnis in entsprechende einsehende regeln, worin dann Richtigkeit und
Unrichtigkeit zu schauender Gegebenheit kommen kann.
Nach dieser Verständigung über den wesentlichen Unterschied zwischen
teleologischer Geltungsforschung der Erkenntnis und psychologischer Tat-
sachenforschung (oder, wie wir kurzweg auch sagten, Erkenntnistheorie und
Erkenntnispsychologie) werfen wir einen Blick zurück auf unsere früheren
Erörterungen über Erkenntnistheorie und über Erkenntnisphänomenolo-
gie. Was zunächst die letztere anlangt, so hatten uns, wie Sie sich erinnern,
Descartes’ Meditationes zur Idee einer allgemeinen reinen Wesenslehre der
cogitationes überhaupt angeregt, einer allgemeinen Phänomenologie des
reinen Bewusstseins. Dies ist erkennendes, fühlendes, begehrendes, wol-
lendes Bewusstsein. Beschränken wir unser Interesse auf das erkennende,
so begrenzt sich uns (wie schon früher ausgeführt worden) die Idee ei-
ner „Erkenntnisphänomenologie“. Auch das ist in gewissem Sinne eine
„Erkenntnistheorie“, eine Wissenschaft von den ideal möglichen Erkennt-
nisgestaltungen überhaupt. Wie steht diese zur Erkenntnistheorie im Sinne
locke 329

unserer letzten Betrachtungen? Bei diesen war die Idee der Richtigkeit, der
Geltung das Leitende. Bei einer Phänomenologie der Erkenntnis hingegen
ist diese Idee nicht vorangestellt, vielmehr ist ihr Ziel allgemein dies, alles,
was im Wesen der Erkenntnis als solcher liegt, zu erforschen. Indessen ist es
klar, dass man bei einer allgemeinen Wesensforschung der Erkenntnis bald
auch auf das der Erkenntnis innewohnende Telos stoßen, also dessen inne-
werden muss, dass Erkenntnis in Bezug auf Richtigkeit und Unrichtigkeit
betrachtet werden kann und muss. So kommt man also von selbst auf all die
Forschungen, die wir als erkenntnisteleologische umgrenzt haben.
Obschon Erkenntnisphänomenologie und Erkenntnisteleologie zunächst
zwei verschiedene Begriffe von Erkenntnistheorie darstellen, so ist doch die
wissenschaftliche Disziplin beiderseits genau dieselbe. Zunächst sieht man
nur, dass eine „Erkenntnisphänomenologie“ all die bezeichneten teleolo-
gischen Forschungen umspannt. Dass sie aber nicht mehr umspannt, dass
also Deckung statthat, sieht man so: Leitet uns bei der Wesenserforschung
der Erkenntnis zunächst nur das Interesse der Richtigkeit, so werden wir
doch bei dem Studium der verschiedenen Evidenzarten und der zugehörigen
Bedingungen der Möglichkeit der Evidenz sowie der Überleitung blinder in
evidente Erkenntnis zu einem allumfassenden Studium aller Erkenntnis-
gestaltungen nach allen Strukturen uns genötigt sehen. Denn an alle geht
ja die Frage der Richtigkeit, eventuell die Frage der Überleitung in Rich-
tigkeit ausweisende, in evidente Erkenntnis. Alle spielen auch irgendeine
hilfreiche Funktion für mittelbare Begründung. Erkenntnisteleologie erweist
sich also nicht als ein bloßer Ausschnitt der Erkenntnisphänomenologie,
sondern in voller Wissenschaftlichkeit durchgeführt decken sich beide ganz
und gar.
Ziehen wir auch die früher besprochenen Fragen heran nach dem Sinn
erkennbarer Gegenständlichkeit als solcher und der Kritik jener skepti-
schen Theorien, die sich in Missdeutungen des Sinnes der Erkenntnisge-
genständlichkeit verlieren und dadurch an der Möglichkeit objektiv gültiger
Erkenntnis verzweifeln. Auch diese Forschungsgruppe ergibt sich von selbst,
ob man ausgeht von dem Ziele, Erkenntnis überhaupt einer universellen
und reinen Wesenforschung zu unterziehen, oder ob man von der Idee der
Richtigkeit und Unrichtigkeit sich leiten lassen und somit der Erkenntnis-
theorie nachgehen will. Denn in sich selbst, durch ihr Wesen, bezieht sich
Erkenntnis auf Gegenständlichkeit, und zwar so, dass sie jeweils einen Sinn
hat, durch den die Idee der gemeinten Gegenständlichkeit umgrenzt ist. Das
gibt eben verschiedene, im Wesen der Erkenntnis vorgezeichnete Blickrich-
tungen, die auf den Bewusstseinscharakter, auf den Sinn oder Inhalt, auf die
330 einleitung in die philosophie

Gegenständlichkeit; sie gehören alle untrennbar zusammen, und von welcher


Seite man kommt, man muss das Wesenszusammengehörige auch schließlich
allseitig und einheitlich studieren. Tut man es nicht, dann gerät man unwei-
gerlich in Unklarheiten und Schwierigkeiten, in denen man wie in einem
Sumpf stecken bleibt: das Schicksal der Skepsis.
Zunächst muss man dies scharf im Auge haben: Die Abwendung von der
physiologischen Erkenntnisforschung und die Innenwendung zur psycho-
logischen Erkenntnisforschung, die Locke vollzieht, darf nicht verwechselt
werden mit der Abwendung von jedweder naturwissenschaftlichen Erkennt-
niserforschung und derjenigen Innenwendung, die die Erkenntnistheorie
fordert, d. i. der Wendung in die Innerlichkeit, die im erkennenden Be-
wusstsein selbst liegt, also der Wendung zur reinen Wesenserforschung
der Erkenntnisse und dazu einer überempirischen Forschung. Überlegen
wir vergleichend die Innenwendung, die Locke vollzieht, gegenüber der von
uns geforderten Innenwendung des Erkenntnistheoretikers.1
Hätte2 Locke, auf empirischem Boden verbleibend, sich darauf konzen-
triert, die ihm in innerer Erfahrung oder Phantasie entgegenkommenden
Erkenntnisarten rein phänomenal, so wie sie da bewusst sind, zu analy-
sieren, ihre wesentlichen inneren Eigentümlichkeiten herauszusuchen, so
wären die Ergebnisse dieser Analysen von unmittelbarer erkenntnistheore-
tischer Bedeutung gewesen. Das Einzige, was dann in prinzipieller Hinsicht

1 Gestrichen Der große Schritt zur reinen Wesensanalyse muss getan werden, d. i. zu einer

Analyse, die in der beschriebenen Weise alle Tatsächlichkeit ausschaltet und ähnlich, wie
es in der Geometrie geschieht, ausschließlich reine Notwendigkeiten, die im rein gefassten
Wesen gründen, herausstellt. Aber freilich: Eben für das, was hier „reines Wesen“ und „reine
Notwendigkeit“ heißt, ist der Empirismus nicht nur Lockes, sondern auch der Folgezeit blind,
und wir werden davon noch ausführlich zu sprechen haben. Doch, ehe ich weitergehe, muss
ich einen Ausdruck näher begrenzen, den ich soeben gebraucht habe. Ich sprach von einer
Innenwendung bei Locke, von einer Seelenanalyse in immanenter Tatsächlichkeit. Andererseits
hörten wir von dem Vorzug Lockes in Bezug auf psychophysische Untersuchungen über
Erkenntnis. Wir forderten, geleitet von der Klarheit über die echten erkenntnistheoretischen
Probleme, also für die Behandlung der Sinnes- und Geltungsfragen, die an die Erkenntnis
zu stellen sind, ein immanentes Studium der Erkenntnis. Das sagte, die verschiedenen Arten
und Formen der Erkenntniserlebnisse sollten unterschieden und einer genauesten Analyse
unterworfen werden: die Erkenntnisakte in sich selbst, zum Beispiel die Wahrnehmungen, die
Erinnerungen, das beziehende Urteilen usw., was für Strukturen in diesen Phänomenen selbst
liegen, zum Beispiel, dass sie etwas meinen und dass die Weise des Meinens bei Wahrnehmung
und Erinnerung eine wesentlich verschiedene ist. In der Wahrnehmung ist etwas als leibhafte
Gegenwart bewusst, in der Erinnerung in ganz anderer Weise, „es schwebt nur vor“, in der
eigentümlichen Weise der „Vergegenwärtigung“, des „Wiederbewusstseins“ u. dgl.
2 Randbemerkung Notabene. Gut.
locke 331

gefehlt hätte, wäre die Einsicht gewesen, dass die erkenntnistheoretischen


Ergebnisse nicht an der menschlichen Empirie hängen, sondern von idealer
Geltung sind. Es wäre dann etwa so gewesen, wie wenn ein Geometer an der
empirischen Figur wichtige Zusammenhänge geometrischer Art entdecken
würde, aber nicht merken würde, dass der Satz nicht bloß für Dreiecke
oder Kreise, die der Mensch auf der Erde zeichnet, Geltung habe, sondern
unbedingt und absolut für Dreiecke überhaupt.
Alle1 transzendente Geltung ist auszuschalten. Wo sie im Erlebnis voll-
zogen war, da wird sie als Erlebniskomponente fixiert, aber sie gehört zum
Thema, zum Problematischen, sie wird „eingeklammert“. Der Psychologe
stellt sich auf den Boden der psychologischen Erfahrung, das ist: Ihm gilt es,
dass die beobachteten Erlebnisse Bekundungen der menschlichen Person
mit menschlich-seelischen Eigenschaften sind, genauso so wie der physische
Naturforscher, äußere Erfahrungen vollziehend, sich auf ihren Boden stellt
und es ihm gilt, dass diese Dinge da wirklich sind, deren erfahrungswissen-
schaftliche Weitererforschung seine Aufgabe ist. Der Erkenntnistheoretiker
darf sich aber auf den Boden all dieser Erfahrungen nicht stellen, er darf sie
nur im reinen Bewusstsein, in Wesenseinstellung als Phänomene ansehen,
als Erlebnisse, in denen eine äußere und seelische Natur „erscheint“ und
so und so erscheint. Auch das Erscheinende, so wie es erscheint, ist sein
Phänomen. Aber sein Thema ist es nicht, Natur in der Erfahrung hinzu-
nehmen und weiter nach ihrem Wie-Beschaffensein zu fixieren, sondern das
Wesen der Naturerfahrung und des auf Naturerfahrung sich gründenden
Denkens zu erforschen und den ihr immanenten Sinn aufzuklären. Mit der
Wesenseinstellung vollzieht er in eins phänomenologische Reduktion, die
ihm gebietet, sich jedes positiven Urteils über Transzendenz zu enthalten
und höchstens Urteile zu fällen, die aussagen, dass die und die Erlebnisarten
in sich Transzendenz zur Erscheinung bringen, darüber urteilen usw., oder
dass dies und jenes zum Sinn transzendenter Gegenständlichkeit gehöre
usw.
Was der Erkenntnistheoretiker über den Wesensgehalt der rein gefassten
Bewusstseinsarten feststellt, das kann der Psychologe, und muss dieser, so
verwenden, wie der Physiker verwenden kann und muss, was der reine
Geometer über reine Raumgestalten in Wesenseinstellung festgesetzt hat.
Wie der reine Geometer kein Wörtlein darüber zu sagen hat, was für physi-
kalische Eigenschaften von materiellen Körpern sich in Ablaufsformen von

1 Randbemerkung Wegen Zeitersparnis nicht gelesen – aber gut.


332 einleitung in die philosophie

faktischen Bewegungen oder in Veränderungen von Gestalten bekunden,


aber sehr viel darüber zu sagen hat, was die Idee des dreidimensiona-
len euklidischen Raumes allen ideal-möglichen Gestalten und Bewegungen
vorzeichnet und wie all das für den Physiker natürlich von größtem An-
wendungswert ist, genauso verhält es sich hinsichtlich der Phänomenologie
im Verhältnis zur Psychologie. Doch wäre noch zu sehen, dass, wenn der
Wesenslehre des Raumes sich anreihen würde eine Wesenslehre der Natur
überhaupt, der Kreis der für den Physiker anwendbaren Wesenssätze sich
noch mehr erweitern, also auch die a priori möglichen Bekundungen des
Materiellen umfassen würde. Die phänomenologische Bewusstseinslehre
konstituiert sich ihrerseits von vornherein als universelle Wesenslehre des
reinen Bewusstseins, nach allen Gestaltungen und nach allen in ihm voll-
zogenen Bekundungsarten, und in entsprechender Begrenzung betrifft das
die universelle Idee einer Wesenslehre des erkennenden Bewusstseins. Sie
geht also der psychologischen Empirie vorher und macht exakte Psychologie
erst möglich, so wie reine Mathematik exakte Naturwissenschaft allererst
möglich macht.
Sie werden nun fragen: Wie ist denn Locke zu dieser in ihren Folgen
höchst verhängnisvollen Vermengung von empirischer Psychologie des Intel-
lekts und Erkenntnistheorie gekommen? Und fragen, wie es möglich war,
dass er, doch immerfort mit erkenntnistheoretischen Problemen beschäftigt,
gar nicht merkte, dass er ihren reinen Sinn verfehlte. Wie konnte es ihm
verborgen bleiben, dass seine psychologischen Untersuchungen auf dem
Grund innerer Erfahrung gar nicht leisteten und leisten konnten, was er
ihnen zumutet? Darauf ist zunächst Folgendes zu antworten: Es liegt in der
Natur der Problemmotive, die nach einem Ringen von Jahrtausenden in
einer reinen Erkenntnistheorie ihre Auswirkung und Erfüllung finden, dass
sie Problemverwechslungen der beschriebenen Art nicht nur ermöglichten,
sondern auch nahelegten. Und weiter, es lag in der Natur der Sachlagen
auf der Stufe dieser Verwechslungen, dass wirklich erkenntnistheoretische
Gedankenreihen, ja bleibend wertvolle Resultate sich in psychologische
Gewänder kleiden und die scheinbare Fruchtbarkeit der psychologischen
Methode vortäuschen konnten.
Lehrreich ist in dieser Hinsicht wieder der Parallelfall der Mathematik.
Die Geometrie begann als Feldmesskunst. Also ganz empirisch und dabei
praktisch. Gewisse rein geometrische Sätze wurden zuerst in einem empiri-
schen geodätischen Gewand gefunden, oder besser: in der beschränkenden
Bindung auf Ausmessung irdischer Flächen. Man machte sich nicht klar, dass
das Empirische der gegebenen Fälle eine außerwesentliche Beschränkung
locke 333

herbeibringt, man erhob sich nicht zur reinen und unbedingten Allgemein-
heit. Erst die platonische Ideenlehre entdeckt vollbewusst die reine Er-
kenntnis und ihre Freiheit von aller Erfahrungsbegründung. Die ungeheure
Bedeutung dieses Fortschritts liegt auch darin, dass nun erst, mit diesem
Bewusstsein der vollen Freiheit vom Empirischen, eine unendlich fruchtbare
geometrische Wissenschaft möglich wurde.1 In unvergleichbar größerer Frei-
heit konnte nun das Denken einsichtig walten; seine Grundlage war nicht
die gebundene Raumerfahrung, sondern die frei bewegliche geometrische
Phantasie. Ähnlich hinsichtlich der Erkenntnistheorie. Die erste Einstellung,
in der der Mensch steht und in der auch alle wissenschaftliche Überlegung
beginnt, ist die naturalistische. Der Mensch findet sich in der Natur selbst
als ihr Mitglied; selbstverständlich fasst er zunächst sich eben als Menschen
auf, seine Erlebnisse als seelische Erlebnisse, gebunden an leibliche Vorbe-
dingungen usw. So denkt er gar nicht daran, dass die Erkenntniserlebnisse,
auch nachdem sie ihm Geltungsprobleme gaben, anders betrachtet werden
könnten denn als Naturfakta.
Nach dieser Verständigung über den prinzipiellen Unterschied der Ziele
einer Wesenserforschung der Erkenntnis und insbesondere einer teleolo-
gischen Geltungsforschung gegenüber einer empirisch-naturwissenschaft-
lichen Erforschung der Erkenntnis, mit einem Wort, über den Unterschied
zwischen Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie, gehen wir zu Locke
zurück. Wir sagten schon, dass der Versuch über den menschlichen Verstand
ein Grundwerk der neueren Psychologie sei und dass andererseits doch die
eigentliche Intention des Werkes eine andere sei. In der Tat, nicht eine
systematische Psychologie des Intellekts, sondern vielmehr eine Erkenntnis-
theorie will Locke bieten. Das geht schon aus der Einleitung des Werkes
hervor und bestätigt sich durch Einblick in seinen Inhalt sowie durch seine
historische Wirkung: Es ist ja das Grundwerk der empiristischen Erkennt-
nistheorie und eines der Grundwerke der neueren Erkenntnistheorie über-
haupt. Sein Vorhaben bezeichnet Locke selbst dahin, dass er den Ursprung,
die Sicherheit und Ausdehnung des menschlichen Wissens untersuchen, dass
er die Gründe und Stufen des Glaubens und der Meinung erforschen will,
dass er die Grade der Gewissheit unserer Erkenntnis, die Grenzen zwischen

1 Gestrichen Die Befreiung vom Empirischen war zugleich Befreiung von praktischen, hier

speziell geodätischen Interessen: Man erkannte nun, dass das Reine in rein theoretischer Ein-
stellung und in der Freiheit reiner Anschauung zu erforschen sei und dass eine unendliche Fülle
reiner Universalität auch für die Praxis als ihre Normen höchst bedeutsam sein musste, während
diese von sich aus immer nur am einzelnen Fall hängen blieb.
334 einleitung in die philosophie

Meinen und Wissen ausfindig machen will usw. Das alles zielt offenbar auf
allgemeinste Geltungsprobleme, trotz mancher unklaren Ausdrucksweisen.
Aber freilich müssen wir von vornherein bedenklich sein, wenn wir daran
denken, dass Locke schon im Titel den menschlichen Verstand als sein Thema
bezeichnet und dass er in der Tat in all seinen Ausführungen im Werk nur vom
menschlichen Verstand und von den Eigenheiten menschlicher Erkenntnis-
weisen Auskunft zu geben beansprucht. Er behandelt dabei den Verstand als
ein menschliches Organ, dessen organische Funktionen in Frage seien. Also
die Leistungen des Verstandes als eines sehr vornehmen seelischen Organs
zu erforschen, das steht ihm gleich mit dem Erforschen etwa des Auges und
eines sonstigen Sinnesorgans.
Nun leugnen wir es natürlich nicht, dass der Mensch überhaupt mit
all seinen psychophysischen Vermögen Objekt einer Wissenschaft, dass er
Objekt biologischer Disziplinen ist, der Physiologie und der Psychologie
(gewiss besteht zu Recht die Parallelisierung der naturwissenschaftlichen
Forschungen der menschlichen Leiblichkeit und derjenigen der seelischen
Funktionen, darunter der intellektuellen). Aber die Psychologie des In-
tellekts, auf die wir in diesem Zusammenhang stoßen, oder, was dasselbe,
die Erkenntnis-Psychologie trennten wir mit Grund ganz und gar von der
Erkenntnistheorie; und die Trennung ist eine ganz radikale. Die eine ist als
Naturwissenschaft auf empirische Tatsächlichkeiten der menschlichen Natur
gerichtet, die andere als teleologische Wesenslehre der Erkenntnis aber ge-
richtet auf Erkenntnis als Idee, auf ein überempirisches, also auch nicht an
die zufällige Menschlichkeit gebundenes Wesen mit einem überempirischen
Telos. Deutlicher gesprochen: die eine ist wie alle Naturwissenschaft auf
Erfahrung gegründet (denn von Tatsachen kann nur aktuelle Erfahrung uns
vernünftigerweise kundgeben), die andere ist überempirisch wie die reine
Geometrie, weil sie eben nicht nach Tatsachen, sondern nach Wesensmög-
lichkeiten und Wesensnotwendigkeiten fragt.
Freilich. Die Scheidung, die wir erschaut und in scharfen Begriffen uns
fixiert haben, konnte einem Locke und konnte einem Philosophen des 18.
Jahrhunderts überhaupt nicht schon vertraut und zugänglich sein. Locke
fühlte allerdings, dass hier etwas zu scheiden ist. Es ist interessant, dass er
erklärt, seine Aufgabe fordere es nicht, sich mit einer psychophysischen,
er sagt „physischen“ Betrachtung des Geistes zu befassen und sich Mühe
zu machen, zu untersuchen, worin das psychophysische Wesen des Geistes
bestehe, durch welche Bedingungen unserer Lebensgeister oder durch wel-
che Veränderungen in unserem Körper wir dazu gelangen, etwa mittels der
Sinnesorgane Empfindungen zu gewinnen und „Ideen“ in unserem Bewusst-
locke 335

sein, oder zu untersuchen, in welcher Weise unsere Ideen (unsere Bewusst-


seinserlebnisse) von Materiellem abhängig sind u. dgl. Solche Forschungen
liegen von seinem Weg abseits. Vielmehr will er auf historisch-schlichte Weise
Rechenschaft geben von den Mitteln, durch die unser Verstand dazu kommt,
uns Erkenntnis von Gegenständen zu ermöglichen.
Was für eine Historie kann Locke hier im Auge haben? Klar ist ihm so
viel, dass eine Untersuchung der Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der
Geltung nicht als physiologisch-psychologische Untersuchung zu denken sei.
Hätte er hier tiefer fortgedacht, so hätte er sich nun sagen müssen, dass bei
allen erkenntnistheoretischen Fragen und insbesondere auch bei den auf den
Geltungsursprung der Erkenntnis gerichteten der Blick auf die Erkenntnis
selbst zu richten und alle Belehrung rein aus ihr selbst zu schöpfen sei. Eine
„historische“ Betrachtung, denken Sie nur an die Naturgeschichte, ist auf
anschauliche Gegebenheiten gerichtet, sie ist analysierend, beschreibend,
evtl. klassifizierend.1
Etwas2 dergleichen kommt sicherlich auch für jede echte Erkenntnis-
theorie unseres Sinnes in Betracht. Fassen wir sie unter dem Gesichtspunkt
einer reinen Bewusstseinsphänomenologie, so ist es ja klar, dass eine solche
Phänomenologie mit einer systematischen Analyse und Beschreibung des
Bewusstseins überhaupt beginnen und dessen allgemeinste Wesensstruktu-
ren erforschen muss, um dann überzugehen zur Scheidung der verschiedenen
Grundklassen des reinen Bewusstseins und für jede dieser Grundklassen die
ihr zugehörigen besonderen Strukturen zu erforschen. So sind umfassende
und sich differenzierende Analysen und Wesensdeskriptionen nötig. Welche
theoretischen Zusammenhänge der Gesichtspunkt der Erkenntnisteleologie
mit sich führen und wie er über die Sphäre bloßer Analyse und Deskription
hinausführen muss, das ist ein weiteres Thema.
Jedenfalls muss das reine Bewusstsein und speziell das erkennende Be-
wusstsein ein weites Feld für deskriptive Untersuchungen abgeben. Nur

1 Gestrichen Etwas davon kommt sicher für eine Erkenntnistheorie in Betracht: Sie muss

sich ja in die Erkenntniserlebnisse selbst vertiefen, sie nach ihrem eigenen Wesen und den
durch ihr Wesen vorgezeichneten teleologischen Zusammenhängen studieren. Aber Locke
sieht eben dies durchaus nicht, er fühlt die Notwendigkeit einer Innewendung, aber nicht die
einer ausschließlichen Richtung in das Wesen der Erkenntnisakte selbst; und zudem sieht er
ganz und gar nicht das überempirische Niveau, auf dem sich die Untersuchung bewegen muss,
er sieht nicht, dass jede hierher gehörige Geltungsfrage eine nur außerwesentliche Beziehung
auf den faktischen Menschen und sein faktisches Seelenleben hat und dass sie daher in reiner
Allgemeinheit gestellt werden muss. Alle Ergebnisse gelten, wenn überhaupt, so absolut, sie
gelten nicht nur für den menschlichen Verstand, sondern für jeden Verstand überhaupt.
2 Am Rande zwei Nullen.
336 einleitung in die philosophie

ist uns selbstverständlich, dass es sich dabei nicht um Beschreibung und


Analyse naturhistorischer Art zufälliger Vorkommnisse bei uns Menschen
handelt und um empirische Zufälligkeiten, sondern um Wesensanalysen und
-deskriptionen: Statt uns zum Beispiel für die Eigenheiten zu interessieren,
mit denen bei Menschen und Tieren Wahrnehmungen, Erinnerungen u. dgl.
faktisch auftreten, wobei also erfahrungswissenschaftliche Methoden der
Beobachtung und des Experiments ins Spiel treten würden, studieren wir
den Wesenstypus „Wahrnehmung überhaupt“ oder spezieller „äußere Wahr-
nehmung überhaupt“, „Phantasie überhaupt“, „Erinnerung überhaupt“
und bestimmen die Strukturen, die zu diesem Typus, dieser Idee notwendig
gehören.
All das hat Locke aber nicht als das notwendige Ziel anfangender er-
kenntnistheoretischer Analyse erkannt. Er fühlt wohl die Notwendigkeit
einer gewissen Innenwendung, er sieht, dass es auf die äußeren psychophy-
sischen Zusammenhänge der Erkenntnis nicht ankommt, sondern nur auf
ein Studium der Erkenntnis in sich selbst. Aber es unterschiebt sich, wie wir
ja sagten, der Erkenntnis das Erkenntnisvermögen, der erkenntnistheoreti-
schen Untersuchung die biologische und psychologische. Statt der geforder-
ten Wesensanalysen der reinen Arten und Formen von Erkenntnisakten
mit ihren Sinnesbeständen, ihren Geltungscharakteren usw. gerät Locke
auf eine Psychologie des Verstandesvermögens, und wo er Erkenntnisarten
unterscheidet und analysiert, da sieht er in ihnen Bekundungen menschlicher
oder tierischer Geistesart, Zuständlichkeiten, in denen sich das menschliche
Verstandesvermögen bekundet. Seine Historie ist eine Naturhistorie des
menschlichen Verstandes und, wie wir hören werden, eine naturhistorische
Entwicklungslehre desselben.
Gewiss sind das berechtigte Forschungen. Wie alle naturwissenschaftli-
chen Forschungen. Geht das Interesse auf Erkenntnis der Natur, auf phy-
sische, auf animalische und speziell anthropologische Natur, dann gilt es
natürlich, so wie alle seelischen Vermögensbeschaffenheiten des Menschen
auch den menschlichen Verstand zu erforschen und dann möglichst gründ-
lich, durch umfassende Beobachtungen und Experimente. Berechtigt ist
ferner die Auffassung des Verstandes als eines „Organs“. Also als eine Art
Werkzeug. Das Verstandesvermögen ist ein Komplex habitueller Geistesei-
genschaften, die der Mensch teils in Form angeborener, teils erworbener
Dispositionen hat. Was wir im gewöhnlichen Leben als Mutterwitz, als
Dummheit oder Klarheit, als Scharfsinn, geistige Schwerfälligkeit u. dgl.
bezeichnen, desgleichen als einen logischen Kopf, als einen Mann lebendiger
Phantasie, geistreichen Einfälle, guten Gedächtnisses u. dgl. – all das drückt
locke 337

in vorwissenschaftlicher Weise habituelle Eigenschaften aus, die unter den


Gesamttitel „Intellekt“ gehören; und alle solchen Eigenschaften entwickeln
sich nicht nur aufgrund angeborener Anlagen im Zusammenhang der Le-
benserfahrung von selbst weiter fort, sondern sie unterliegen auch einer
willkürlichen und zielbewussten Beeinflussung. Wir können ihre Entwick-
lung in der Erziehung (Selbsterziehung oder Fremderziehung) regeln, und
sofern wir durch eine gewisse Verstandesform unsere sonstigen praktischen
Lebensziele fördern, betrachten wir den Verstand überhaupt als eine Art
Werkzeug, das je nachdem ein gutes oder schlechtes sei und das in ein
möglichst gutes zu verwandeln, soweit wir da irgend Einfluss haben, ein
wichtiges praktisches Ziel sei.
So großen Wert wir nun aber einer Pädagogik überhaupt und speziell einer
Pädagogik des Intellekts zumessen werden, sie ist nur eine anthropologische,
auf Psychologie des Intellekts beruhende Technik. Völlig die Verhältnisse
klarzulegen, die zwischen der reinen Theorie der Erkenntnis einerseits und
der Psychologie der Erkenntnis und der Erkenntnisvermögen andererseits
bestehen und wiederum die zwischen beiden und der Kunstlehre von der Ver-
vollkommnung des menschlichen Verstandes, von der praktischen Regelung
unserer Erkenntnistätigkeiten und der pädagogischen Höherbildung unserer
Erkenntnisfähigkeiten bestehen, all diese Verhältnisse völlig klarzumachen,
ist eine höchst wichtige Aufgabe. Sicherlich war es eines der größten Hemm-
nisse des Fortschrittes der Philosophie, dass die aus erkenntnistheoretischen
Motiven entsprungene Logik alsbald zur psychologischen und pädagogi-
schen Erkenntniskunst sich umbog und die herrschende Betrachtung des
Verstandes als Organs der Erkenntnis den Blick für die reine Wesensfor-
schung der Erkenntnis trübte und eine durchgreifende Scheidung zwischen
empirischer Psychologie und reiner Wesensbetrachtung verhinderte.
So erging es auch Locke. Er sieht nicht, dass alle Prinzipienfragen, die
sich auf die Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der Richtigkeit und Un-
richtigkeit beziehen, nicht die Erkenntnisse angehen, sofern sie menschliche
Zuständlichkeiten sind, in denen sich menschliche Geistesart des oder jenes
Typus bekundet, sondern dass sie ausschließlich die eigene Wesensartung
der betreffenden Erkenntnisakte selbst angehen, unangesehen aller empiri-
schen Zusammenhänge, in denen sie, wie diese Natur nun faktisch ist, nach
Naturgesetzen geregelt sind. Die psychologische Innenwendung, die Locke
vollzieht, besteht bloß darin, dass er auf physiologisch-psychologische Un-
tersuchungen verzichtet. Als Empiriker fasst er den Menschen als seelisch-
leibliches Naturobjekt, als doppelseitig bestimmt: einerseits hat der Mensch
einen physischen Leib und, damit verbunden, andererseits Seelenleben.
338 einleitung in die philosophie

Freilich muss man ja sagen, dass ohne das methodische Bewusstsein der
unbedingten Allgemeingültigkeit und der Reinheit von allen empirischen
Beschränkungen eine freie Entwicklung solcher Idealwissenschaften nicht
möglich ist. Und so ist es auch mit der Erkenntnistheorie. Immerhin aber
sind alle rein immanenten Analysen der Bewusstseinserlebnisse, wenn sie
sich an den wirklich im Phänomen vorfindlichen Bestand halten, sofort in
das überempirische Niveau zu erheben: etwa so wie der an der Erfahrung
erfasste Zusammenhang, dass zwei Äpfel und drei Äpfel fünf Äpfel sind,
alsbald in den überempirischen Satz übergeht: 2 + 3 = 5. Locke aber gerät
von Anfang an auf eine schiefe Bahn dadurch, dass er zwar sieht, dass eine
Erforschung der zur Geltung der Erkenntnis gehörigen Probleme oder, wie
er sagt, eine Erforschung des Verstandes diesen so, wie er in sich selbst
ist, einem analytischen Studium unterwerfen muss, aber da schiebt sich ihm
von vornherein der Vermögensbegriff der Erkenntnis, das Wort „Verstand“
dazwischen. Also heißt es: den Verstand in sich selbst erforschen mit dem
Kontrast: nicht psychophysisch erforschen, wie äußere materielle Einwir-
kungen in die Seele und ihr verstandesmäßiges Tun hineinwirken.
So bleibt Locke stehen bei dem Gedanken einer reinen Seelenforschung,
einer möglichst reinen, nämlich einer solchen, welche die menschliche Seele
für sich nimmt, nach dem, was ihr selbst eignet, in ihr selbst empirisch
sich wandelt, unter möglichster Abstraktion von den Kausalprozessen, die
zwischen der Seele und den Außendingen verlaufen. Und das insbesondere
für die Verstandessphäre. So wird also angeblich zu Zwecken der Lösung
der Geltungsprobleme eine Erkenntnispsychologie getrieben, die zwar auch
die verschiedenen Arten und Formen der Erkenntniserlebnisse betrachtet,
diese Erlebnisse aber nur als wechselnde Zuständlichkeiten der Seele nimmt,
deren bleibendes Sein in den seelischen Dispositionen, den sogenannten
seelischen Vermögen, seelischen Anlagen, seelischen erworbenen Charak-
tereigenschaften, Kenntnissen, Fertigkeiten etc. liegt.
In der Tat ist es eine ganz andere Sache, zum Beispiel Erkenntniserleb-
nisse nach ihrem inneren Gehalt, nach ihrem Wesen studieren und anderer-
seits in ihnen Bekundungen von seelischen Vermögen zu studieren. Den
Habitus des Gedächtnisses von Menschen studieren oder den moralischen
Habitus eines Menschen studieren ist etwas anderes als das immanente
Wesen der Erinnerungsakte oder der moralischen Erlebnisse studieren. Die
Seelenlehre ist eben eine Lehre von der Seele und von den Erlebnissen,
sofern sie seelische Zuständlichkeiten sind. In der Tat, in erheblichem Maß
kann man das Seelenleben nach der empirischen Entwicklung der seelischen
Dispositionen, die ihrerseits Reglungen für das Kommen und Gehen der Er-
locke 339

lebnisse bezeichnen, studieren, ohne auf psychophysische Zusammenhänge


einzugehen. Locke betrachtet als Psychologe die Seele als an einen materi-
ellen Leib gebunden, dadurch im Zusammenhang der gesamten Natur, will
aber möglichst die Vorkommnisse der Seele, ihr Werden, Sich-Entwickeln
für sich studieren, unter möglichstem Absehen von dem außer ihr liegenden
physischen Prozess.
Wie aber Biologie überhaupt, Psychologie überhaupt so ist Verstandes-
psychologie etwas grundwesentlich anderes als jene Verstandestheorie, die
zur prinzipiellen Formulierung und Lösung der Geltungsprobleme der Er-
kenntnis berufen und allein befähigt ist; und das sind doch nota bene die Pro-
bleme, die Locke lösen will. Zwar sind all jene Fragen, welche die objektive
Triftigkeit der Erkenntnis, den Sinn der Wahrheit, die sie zu besitzen bean-
sprucht, den Sinn der erkennbaren Gegenständlichkeit und ihres An-sich-
Seins der Erkenntnis gegenüber betreffen, auch an die faktische menschliche
Erkenntnis und an unsere eigene individuelle Erkenntnis zu stellen, aber,
wie wir schon festgestellt haben, sie betreffen unsere Erkenntnis, weil sie
Erkenntnis als solche, ihrem Wesen nach, betreffen. Aber davon hat Locke
und der ganze Empirismus keine Ahnung. Er sieht nicht, dass es sich hier um
Wesensprobleme handelt, die in reiner Allgemeinheit gestellt und theore-
tisch behandelt werden müssen. Er sieht nicht, dass Wesensprobleme durch
empirische Untersuchungen beantworten zu wollen ein Widersinn ist und
vor allem in Hinsicht auf die Prinzipien der Erkenntnis ein Widersinn ist. Es
wäre schon verkehrt genug, wenn man etwa arithmetische oder geometrische
Probleme durch Beobachtung und Experiment entscheiden wollte, da diese
Naturfakta und Naturgesetze feststellen, wonach reine Mathematik gar nicht
fragt. Aber wie verkehrt ist das erst in Hinsicht auf die Erkenntnistheorie,
wenn wir dessen gedenken, dass sie dazu berufen sein soll, die Skepsis zu
überwinden, wie sie ja historisch im Kampf gegen die Skepsis entsprungen
ist.
Die Unklarheit über das Wesen der Erkenntnistriftigkeit, die Unklar-
heit darüber, wie Erkenntnis in sich selbst etwas erkennen soll, was ihr
transzendent ist, trieb schon im Altertum zu widersinnigen Negationen der
Möglichkeit jeder Naturerkenntnis und metaphysischen Erkenntnis, wider-
sinnig, weil sie den der Erkenntnis wesensmäßig eigenen Sinn missdeuten.
Das eben soll durch Forschungen, die notwendig Wesensforschungen sein
müssen, klargelegt werden. Ist aber die Möglichkeit der jedem Schritt der
Naturerkenntnis anhaftenden Transzendenz in Frage gestellt, so wäre es doch
ein Zirkel, durch naturwissenschaftliche Forschungen die Frage beantworten
zu wollen. Aber dergleichen Versuch schiebt den erkenntnistheoretischen
340 einleitung in die philosophie

Fragestellungen andere, jene psychologisch-naturwissenschaftlicher Natur


unter; er vermengt beide miteinander und so ergibt sich statt Klarheit nur
Verwirrung, statt Widerlegung nur Förderung des Skeptizismus.
Eben diesen Grundfehler begeht also Locke und der von ihm ausgehende
Empirismus; er ist psychologistischer Empirismus, er gründet Erkenntnis-
theorie auf Psychologie als Erfahrungsseelenlehre. Die Innenwendung, die
er vollzieht, ist eine unechte; statt der Wendung auf das Wesen der reinen
cogitationes und spezieller der reinen Arten und Formen des erkennenden
Bewusstseins, vollzieht er vielmehr die Wendung auf die Seele des Erken-
nenden und spezieller auf die seelischen Eigenschaften, die der psycholo-
gische Titel „Verstand“ bezeichnet. Die Anschauung, aus der der Psycho-
logist schöpft (alle Wissenschaft schöpft ja letztlich aus Anschauungen, in
der ihre Gegenstände vor aller Theorie zur Gegebenheit kommen), ist die
psychologische Erfahrung. Der echte Erkenntnistheoretiker schöpft aber
aus der Wesensintuition, die im Übrigen genau von derselben Art ist wie die
geometrische Anschauung oder die mathematische Intuition überhaupt. Die
Verwechslung dieser Anschauungsarten geht notwendig Hand in Hand mit
der Verwechslung von Erkenntnispsychologie und Erkenntnistheorie.
Locke erkennt richtig die Verkehrtheit der Hobbes’schen Psychologie,
die nur ein Auge hat für die physischen und physiologischen Vorgänge und
alles eigentliche Psychische materialistisch umdeutet. Locke müht sich dem-
gemäß bei seinen Untersuchungen über den menschlichen Verstand um eine
sozusagen psychologische Psychologie des Verstandes, um eine Psychologie
auf dem Grund der sogenannten inneren Erfahrung, der Selbsterfahrung.
Aber, obschon er Erkenntnistheoretiker sein will, sieht er nicht, dass eine
solche Psychologie zwar gut und als Psychologie die einzig vernünftige ist,
aber dass sie für die Erkenntnistheorie irrelevant ist. Er sieht nicht, dass
vom Standpunkt der Erkenntnistheorie das, was wir seelische Innerlichkeit
gegenüber der leiblich-materiellen Äußerlichkeit nennen, selbst ein Tran-
szendentes ist, dessen Sinn und Erkenntnismöglichkeit genauso in Frage
ist wie das Transzendente unter dem Titel „leibliche und überhaupt ma-
terielle Natur“. Man mag, wie es seit dem Auftreten des Empirismus die
allgemeine Tendenz der Psychologie ist, alle metaphysischen Spekulationen
über die seelische Substanz, über Unsterblichkeit, über das Verhältnis der
Seele zu Gott u. dgl. noch so entschieden beiseite schieben und in der
Weise echter Naturwissenschaft das seelische Sein und das Seelenleben rein
als das erforschen, als was es sich in psychologischer Erfahrung gibt, aber
die Ausschaltung solcher metaphysischen Transzendenz besagt noch nicht
Reduktion auf diejenige Immanenz, welche die Erkenntnistheorie fordert.
locke 341

Sie besagt ja nur Reduktion auf die Domäne echter Erfahrungswissen-


schaft. Aber erkenntnistheoretisch ist jede Erfahrungsgegenständlichkeit
dem Erfahrungsbewusstsein gegenüber transzendent. Die psychologische
Erfahrung, zunächst die unmittelbare Selbsterfahrung, ist nicht minder ein
sich selbst transzendierendes Bewusstsein wie die äußere Erfahrung.
(In1 reiner Immanenz gegeben sind die cogitationes und das Ich, das in
jedem cogito als reines Ich zu finden ist. Aber dieses Ich ist nicht Ich, dieser
Mensch, diese Persönlichkeit, diese Seele mit diesen eingeborenen und er-
worbenen Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Kenntnissen, geistigen Ge-
schicklichkeiten, Vermögen. Was die reine cogitatio immanent enthält, was
dem radikalsten Zweifel prinzipiell widerstehen muss, weil der Zweifel wi-
dersinnig ist, was im schauenden Blick der immanenten Intuition so gegeben
ist, dass der Ansatz, es sei nicht, absolut ausgeschlossen ist: Das ist nicht die
Seele, das ist nicht eine habituelle Seeleneigenschaft, nicht ein persönlicher
Charakter, denn über all das können wir uns sehr wohl täuschen, so wie wir
uns über unseren Leib und die äußere Natur täuschen können.
Die2 psychologische Erfahrung fasst die Erlebnisse der Wahrnehmung,
der Erinnerung, des Denkens und so alle Bewusstseinserlebnisse als see-
lische Zuständlichkeiten des Menschen auf, in denen sich seine seelische
Art bekundet; damit ist also keine reine cogitatio erfasst, sondern das im
Blickpunkt der Selbsterfahrung stehende Bewusstseinserlebnis hat einen
Zuwachs empirisch-transzendenter Auffassung, die wir durchaus nicht mit-
machen dürfen, wenn wir reine Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis
treiben wollen. Gewiss bekunden sich in den Verläufen unserer Wahrneh-
mungen von dem und dem Gehalt oder unserer Erinnerungen u. dgl.
relativ dauernde seelische Eigenschaften. Durch Beobachtung und eventuell
Experiment diese Erlebnisreihen der Individuen fixierend und verflechtend,
stellen wir die empirische Eigenart menschlicher Sinnlichkeit, die Eigenarten
menschlichen Gedächtnisses, die verschiedenen Gedächtnistypen bis herab
zu den ganz vereinzelten individuellen Typen fest. Ebenso mögen wir durch
Beobachtung und Experiment in der Denksphäre die empirischen Denkty-
pen des Menschen oder von Menschengruppen feststellen, ganz so, wie wir
schon vor der Psychologie Temperamente unterscheiden, empirische Formen
von moralischen Charaktertypen usw. Aber bei all dem haben wir, obschon
psychologische Erfahrung uns leitet, immerfort Transzendenzen festgelegt

1 Am Rande eine Null.


2 Am Rande eine Null.
342 einleitung in die philosophie

und erforscht, und wir haben es, weil eben psychologische Erfahrung selbst
eine transzendierende ist. Jede Fixierung eines Erlebnisses, das uns dient, ist
mit transzendenten Indizes behaftet, eben darum, weil in ihm und im Verlauf
mitbeobachteter Erlebnisse eine Bekundung von Seelischem gesehen wird.)
Genauso wie es ein erkenntnistheoretisches Problem ist, wesensmäßig zu
verstehen, wie das Bewusstsein, das wir äußere Erfahrung nennen, in seiner
Immanenz ein ihm Transzendentes, nämlich eine materielle Natur bekunden
soll und wie der Sinn dieser Bekundung klarzulegen ist, genauso ist es das
erkenntnistheoretische Problem, die andere Bekundungsart von Transzen-
dentem aufzuklären, die sich unter dem Titel „psychologische Erfahrung“
vollzieht. Die Seele mit allen seelischen Zuständen und Eigenschaften, d. i.
mit Charaktereigenschaften, Dispositionen, Fähigkeiten, Vermögen, wie im-
mer man es nennen möge, ist nie und nirgends ein Wesensmoment der reinen
Bewusstseinssphäre. Sie ist ein darin Gemeintes, Erfahrenes, Gedachtes, aber
nie ein im echten Sinne immanent Gegebenes.1
Freilich2 gehört aller echte immanente Bestand des Bewusstseins auch
mit in die Interessensphäre eines Psychologen. Jedes Erlebnis hat seinen
vielgestaltigen Wesensgehalt, und in die Betrachtung des Erlebnisses mit
dem Auge des Psychologen, der in dem Erlebnis eine Tatsache der seelischen
Natur sieht, geht dieser ganze immanente Bestand auch ein: Er heißt nun
Bestand an Komponenten der psychologischen Zuständlichkeit des betref-
fenden Menschen. Aber es ist etwas prinzipiell anderes, ein Erlebnis mit all
seinen irreellen Erlebniskomponenten als Bekundung von Natur ansehen,
also eine transzendente Auffassung mitzuvollziehen und gelten zu lassen, als
es in der Weise der Phänomenologie und Erkenntnistheorie zu betrachten.
Im Nachdenken über solche Probleme ergeben sich zwar sehr früh Ein-
sichten, die, wie die syllogistischen Schlussregeln des Aristoteles und viele
andere, weniger bestimmt gefasste über Induktion und Wahrscheinlichkeit,
nur außerwesentlich auf das empirische menschliche Denkleben bezogen
waren. Streckenweise bricht da schon ein wirklich reines Denken durch,
wie zum Beispiel in der formalen Logik. Aber man merkt es nicht recht.
Man missdeutet es hinterher bei der Reflexion über das, was da vorlag.3
So gehen durch die ganze Geschichte der Philosophie vielerlei wertvolle

1 Randbemerkung Bis hier.


2 Randbemerkung Nicht gelesen.
3 Gestrichen Das reine Denken wird also hinterher wieder verunreinigt. Man muss auch

beachten, dass Wesenseinsichten sich mit Empirischem außerwesentlich bemengen können,


locke 343

erkenntnistheoretische Ausführungen hindurch, die außerwesentliche empi-


rische Bestände mit sich führen; sie sind es, die dann ihrerseits den Schein
des Psychologischen erhalten und das Verfallen in grundverkehrte psycholo-
gische Theorien ermöglichen. In dieser Art ist auch das Locke’sche Werk
durchsetzt von wertvollen Bemerkungen, die der geschärfte erkenntnis-
theoretische Blick als wesenswissenschaftlich zu fassende erkennen kann,
während Locke selbst im psychologischen Milieu verblieben zu sein glaubt.1
Besonders2 begünstigt war aber das Verfallen Lockes in eine Psychologie
des Intellekts durch seine Anknüpfung an den ihm vorgegebenen Rationa-
lismus, der seinerseits in jene psychologistische Wendung der platonischen
Lehre von der *νμνησις verfallen war, von der früher ausführlich die Rede
war. Sie erinnern sich an den metaphysisch-teleologischen Psychologismus
der ideae innatae bei Descartes und bei den englischen Platonikern. (Die aus-
gezeichnete erkenntnistheoretische Dignität der rationalen Grundbegriffe
und Grundwahrheiten, wie der logischen Grundsätze vom Widerspruch und
vom ausgeschlossenen Dritten, der mathematischen Axiome u. dgl., die
ihnen als Geltungsprinzipien in der menschlichen Erkenntnis zukommt,
wird aus der Art ihres psychologischen Ursprungs, der Art, wie diese Er-
kenntnisse in die Seele hineinkommen, erklärt. Die menschliche Seele ist
von Gott ursprünglich mit eingeborenen Wahrheiten und Wahrheitsanlagen
ausgestattet worden. Auch hier also ein Psychologismus, nur ein theologisch-
metaphysisch gewendeter.)
Gegen diese Lehre, auf welche das 17. und 18. Jahrhundert größten
Wert legt, reagiert Locke. Er bleibt im Bann der Verwechslung von er-
kenntnistheoretischem und psychologischem Ursprung. Die metaphysisch-
theologische Ursprungslehre verwandelt er in eine empirisch-psycholo-
gische, nachdem er an ihr vom Standpunkt der Erfahrungsseelenlehre eine
ausführliche, ja überausführliche Kritik geübt hat. Nichts hat ihm am An-
fang des 18. Jahrhunderts übrigens größeren Ruhm eingebracht als diese,
das ganze erste Buch des Werkes ausfüllende Kritik, so Selbstverständliches,
ja Triviales sie an und für sich betont. Locke sieht also nach dieser Kritik

wie wenn wir etwa einsehen, dass 2 Äpfel + 3 Äpfel = 5 Äpfel sind. Dass es sich um Äpfel
handelt, um empirische Dinge, ist offenbar eine außerwesentliche Komponente. Sieht man das
nicht – und es ist die Art erkenntnistheoretischer Erkenntnisse, dass man das bei ihnen leicht
übersieht – so kann man meinen, es seien solche Wahrheiten, die au fond Wesenswahrheiten
sind, ebenso empirisch, wie es irgendwelche sind.
1 Randbemerkung Bis hier nicht gelesen.
2 Randbemerkung 5.6.1916.
344 einleitung in die philosophie

des ersten Buches seine Aufgabe darin, unter Ausschluss aller metaphysisch-
theologischen Substruktionen, im Geiste echter Erfahrungsseelenlehre, fest-
zustellen, wie die menschliche Seele mit „Vorstellungen“ versehen wird
(ideas). Anders ausgedrückt: Wie das menschliche Seelenleben in Ansehung
seiner intellektuellen Seite sich von den embryonalen Anfängen bis hinauf
zur vollen Reife entwickelt. In dieser Psychologie des Intellekts herrscht also
der biologische Gesichtspunkt der Entwicklung. Insbesondere geht Locke
im ii. Buch darauf aus, den psychologischen Ursprung der Grundvorstel-
lungen aufzuzeigen, durch die uns die gegebene Erfahrungswelt vorstellig
ist und die in den Grundbegriffen aller Wirklichkeitswissenschaften ihren
Ausdruck finden als Wissenschaften von der materiellen und geistigen Na-
tur.1
Also er will zeigen, wie unsere Seele dazu kommt, die Vorstellungen von
sinnlichen Qualitäten, die wir den äußeren Dingen zuschreiben wie Farbe,
Rauhigkeit, Glätte, Geruch usw., zu bilden und ebenso von Zuständen und
Tätigkeiten, die wir unserer eigenen Seele zuschreiben; desgleichen, wie wir
dazu kommen, die Vorstellungen von Dingen selbst, von körperlichen und
geistigen, zu bilden und all die sonstigen Vorstellungen, die auf sie Beziehung
haben, die Vorstellungen von Substanz, Materie, Kraft, Ursache, Wirkung,
Raum, Zeit, Zahl, Größe usw. Es sind das durchaus die Vorstellungen, an
deren Sinn und Erkenntniswert sich die Streitigkeiten der Skeptiker und
Metaphysiker knüpfen. Die Aufklärungen über den Ursprung sollen die
Grundlage abgeben, um für den gültigen Inhalt und Gebrauch der betref-
fenden Begriffe zu entscheiden.
Weiter untersucht Locke, wie das schon zum Teil bei der Darlegung
des Ursprungs dieser Grundvorstellungen von der Objektivität geschehen
ist, die stufenweise von der Seele ins Spiel gesetzten Erkenntnisvermögen:
das Kolligieren, das In-Beziehung-Setzen, Vergleichen, Unterscheiden, das
Abstrahieren; in einem eigenen, im iii. Buch untersucht er den Ursprung
der Sprache. Und obschon bei all dem immer wieder Fragen der Geltung und

1 Gestrichen Also er will zeigen, wie unsere Seele dazu kommt, die Vorstellungen von Raum,

Zeit, körperlichen und geistigen Dingen, Substanz, Eigenschaft, Ausdehnung, Bewegung, Zahl,
Größe, Materie, Kraft, Ursache, Wirkung, Seele, Seelentätigkeit usw. zu bilden, darunter auch
die Begriffe von Körpern, geistigen Substanzen, von Gott, wie solche Begriffe in der indivi-
duellen Entwicklung entspringen. Ebenso für die Begriffe, welche methodisch Grundformen
der wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeiten und ihrer Inhalte ausdrücken, wie Begriff, Urteil,
Schluss, Einsicht, Gewissheit, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit usw. Ausdrücklich sollen diese
Ursprungsuntersuchungen die Mittel liefern für die Lösung der eigentlichen Vernunftprobleme,
der Probleme der Geltung.
locke 345

psychologischen Entstehung durcheinandergegangen waren, widmet er ein


iv. Buch ausschließlich den Fragen der Geltung: Er handelt vom Ursprung
der Begriffe „Wahrheit“ und „Falschheit“ und von den Weisen, wie wir
und in welchem Umfang zu ihrer gültigen Erkenntnis kommen können, er
handelt von der intuitiv demonstrativen, sinnlich-empirischen Erkenntnis,
von der Wahrscheinlichkeitserkenntnis usw. Bei all dem meint Locke auf
seinen psychologischen Untersuchungen die Lösung der Geltungsprobleme
gegründet zu haben.
Es war von einer ungeheuren Bedeutung für die Erkenntnistheorie, dass
Locke, wie aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, nicht an allgemeinen
Reflexionen über die Erkenntnis hängen bleibt, sondern sich bemüht, der
Reihe nach die Grundbegriffe aller Objektivität (also die Begriffe, die in allen
Natur- und Geisteswissenschaften sowie in der Metaphysik, ja auch in der
Ethik die bestimmende Rolle spielen) in Betracht zu ziehen und sie einzeln
der psychologistisch-erkenntnistheoretischen Untersuchung zu unterwerfen.
Ebenso, dass er den Grundarten der Bewusstseinstätigkeiten, die irgend
in der Erkenntnis eine Verstandesfunktion üben, nachgeht und über ihre
psychologische sowie ihre logische Funktion differenziertere Auskunft zu
geben sucht. So unsystematisch er wirklich hervorgeht, er arbeitet einer
systematischen Erkenntnistheorie dadurch vor.
Was1 uns hier aber mehr interessiert, ist ein früher schon flüchtig er-
wähnter Grundcharakter des Locke’schen Psychologismus, den das Wort
„Sensualismus“ bezeichnet: ein Grundcharakter, der von nun ab sich dem
ganzen weiteren positivistischen Empirismus bis in unsere Zeit hinein mit-
teilt. Knüpfen wir an das Locke leitende Gleichnis von der tabula rasa an, das
historisch auf Aristoteles zurückgeht, aber bei Locke einen eigenartigen Sinn
erhält. Die menschliche Seele oder vielmehr das ihr zugehörige Bewusstsein
gleicht ursprünglich, nämlich beim ersten Eintreten in dieses Dasein, ei-
ner unbeschriebenen Schreibtafel. Sie ist nicht von vornherein beschrieben,
etwa mit eingeborenen Ideen; sie ist leer, ist wie in einem völlig traumlo-
sen Schlaf ohne jedwede Vorstellungen. Alle und jede Vorstellungen, alle
sich abhebenden Bewusstseinserlebnisse überhaupt erwachsen erst durch
Erfahrung. Das Wort „Erfahrung“ bezeichnet hier nichts weiter als einen
psychophysischen bzw. psychologischen Bildungsprozess also nicht soviel
wie Wahrnehmung oder eine gleichstehende Erkenntnisart des Anschau-
ens.

1 Randbemerkung Sensualismus.
346 einleitung in die philosophie

Das Gleichnis von der Bewusstseinstafel und den auf sie geschriebenen
Zeichen scheint den Blick auf bloß sinnliche Bewusstseinsdaten zu lenken;
geschriebene Zeichen sind ja sinnliche Zeichen. Aber Locke ist weit ent-
fernt davon, einen Sensualismus des Sinnes zu empfehlen, dass alle Be-
wusstseinserlebnisse sich zuletzt auflösen in sinnliche Daten, dass sie also
bei näherer Analyse sich als bloße Komplexe von Farbendaten, Tondaten,
Geruchsdaten u. dgl. herausstellten. Die sogenannten „Ideen der Reflexion“,
nämlich die Vorstellungen, die in Hinblick auf die Tätigkeiten erwachsen,
welche die Seele an den ersten von außen her entsprungenen Sinnesdaten
übt, und die Gebilde, die sie dadurch erzeugt, bringen nach Locke vielmehr
wesentlich neue Bewusstseinsbestände. Anders ausgedrückt: Was Descartes
mit dem Ausdruck cogito bezeichnet hatte, Erlebnisse wie „Ich urteile“, „Ich
vergleiche“, „Ich zähle“, „Ich billige“, „Ich will“ usw., sind keine sinnlichen
Daten, sie mögen sich an solche anschließen, sich aus solchen Gebilden
erzeugen, die dann zu ihren Inhalten werden, aber selbst diese Gebilde sind
dann mehr als Summen von Sinnesdaten. Also von diesem Sensualismus (zu
dem späterhin Denker hinstrebten) ist Locke fern. Und doch nennen wir ihn
einen Sensualisten und finden einen Sensualismus im schiefen Tafelgleichnis
ausgedrückt; und an der Tendenz zu jenem andersartigen Sensualismus ist
er dadurch selbst mitschuldig geworden.
Eine Tafel ist ein Ding, und die Kreidestriche oder Pinselstriche auf
der Tafel sind wieder Dinge oder dingliche Geschehnisse. Wie der Raum
das Seinsfeld der äußeren Dinge ist, so ist die Seele oder das seelische
Bewusstsein ein Feld innerer Dinglichkeiten. Die Erzieherin der neuzeit-
lichen Philosophie, die physische Naturwissenschaft, beschäftigt sich mit den
Raumdingen, den Dingen der äußeren Erfahrung. Sie gewöhnt uns daran,
Objekte nach ihren Bestandstücken, nach Teilen und Momenten zu zerglie-
dern und dann ihre Zusammenbildungen, ihre Veränderungen, ihre kausalen
Abhängigkeiten in den Veränderungen zu erforschen. Die neue Psychologie
fängt demgemäß damit an, das Gebiet der inneren Erfahrung genau so
anzusehen, und will in ihm genau das leisten, was die Naturwissenschaft
auf dem der äußeren geleistet hat. Sie behandelt also die unmittelbaren
Gegebenheiten der inneren Erfahrung, die Bewusstseinserlebnisse, ganz so
wie Dinge1.

1 Gestrichen deren Teile und Momente analytisch herauszustellen, deren kausale Verände-

rungen und Kausalgesetze im seelischen Zusammenhang und weiterhin im psychophysischen


Zusammenhang zu erforschen seien.
locke 347

„Sensualistisch“ nennen wir diese Auffassung, weil sie Auffassungsweisen


der sinnlichen Erfahrung auf die Bewusstseinserfahrung, auf die immanente
Erfahrung der inneren Erlebnisse überträgt. Vielleicht ein besserer Aus-
druck ist der gelegentlich in einer Abhandlung von mir gebrauchte Ausdruck
„Naturalisierung des Bewusstseins“. Dinge sind. Sie meinen und bedeuten
nichts. Sie sind, was sie sind, als Komplexe von Teilen und Eigenschaften, als
Durchgangspunkte von Kausalitäten. So sieht die neue Psychologie also die
Bewusstseinserlebnisse, die Zeichen auf der Bewusstseinstafel, an, als wären
sie Realitäten wie Dinge. Aber ihr Wesen ist es, zu meinen, zu bedeuten,
und was nicht Meinen und Bedeuten selbst ist, ist in ihm Träger von Meinen
und das in einem Sinne, der in aller Dinglichkeit ohne Analogie ist. Bewusst-
sein ist seinem Wesen nach Bewusstsein von etwas, Vorstellen von etwas,
Erinnern an etwas, Streben nach etwas usw. Bewusstsein motiviert anderes
Bewusstsein, aber das ist etwas ganz anderes wie Kausalität.
Von Locke, wie sehr er selbst noch an der Seelensubstanz festhält, rührt
doch die Tendenz zur Psychologie ohne Seele her, die zum Thema die Be-
wusstseinserlebnisse macht, die dabei eine Art Verdinglichung erfahren. Die
Daten des immanenten Bewusstseins werden so behandelt wie die Daten
der Natur, die in äußerer Erfahrung gegeben ist. Doch inwiefern liegt dann
hier etwas Besonderes vor, werden Sie fragen. Ist das nicht selbstverständ-
lich, was Locke und seine Nachfolger voraussetzen, stehen sich dann nicht
wirklich äußere und innere Erfahrung, letztere verstanden als Erfahrung
von Bewusstseinsvorkommnissen, gleich? Es ist eine Sache von allergrößter
Wichtigkeit, insbesondere für den Anfänger, hier die entscheidenden Diffe-
renzen sehen zu lernen.
Kontrastieren wir äußere Erfahrung und innere oder vielmehr immanente
Erfahrung (das wird erörtert). Studieren wir das Bewusstsein der äußeren
Erfahrung oder immanenten Erfahrung. Versuchen wir zunächst folgenden
Weg: Äußere Erfahrung ist selbst ein Bewusstsein, ein Bewusstsein von
etwas, ein Erlebnis, in dem ein Gegenstand erscheint, der nicht selbst Be-
wusstsein ist. Er erscheint, indem er sich sinnlich und in mannigfacher Weise
darstellt. Das alles finden wir in der immanenten Versenkung in den Gehalt
der äußeren Wahrnehmung. Ein und derselbe Gegenstand stellt sich bald in
diesem, bald in jenem Aspekt dar; und während wir ihn unverändert sehen,
ist die Wahrnehmung von ihm ein Erlebnisfluss, in dem er in immerfort
wechselnden, bald stetig, bald unstetig ineinander übergehenden Aspekten
sich darstellt, wobei aber immerfort ein Bewusstsein hindurchgeht, nämlich
das Bewusstsein von der Einheit und Selbigkeit: das Bewusstsein von demsel-
ben, sich nur bald so, bald so darstellenden Dinges. Was eben beschrieben ist,
348 einleitung in die philosophie

das ist offenbar das aktuelle Erleben mit seinem wirklichen Erlebnisgehalt,
während wir in objektiver Betrachtung aussagen: Derselbe Gegenstand wird
einmal von dieser, dann von jener und von immer neuen Seiten gesehen.1
Achten2 wir auf die fließenden und wechselnden Aspekte, die „Wahrneh-
mungsbilder“ sozusagen, die wir im Wahrnehmen von dem einen Gegen-
stand haben, so finden wir darin Farbendaten, Tastdaten, Geruchsdaten
usw. Wir finden sie als darstellende Daten. Nämlich es ist hier zu beachten,
dass das, was vom konkret vollen Gegenstand gesagt ist, sich auf jedes
wahrgenommene Merkmal des Gegenstandes übertragt. So wie der volle
Gegenstand nicht der Aspekt ist, sondern in ihm erscheint, so ist die gesehene
Farbe des Gegenstandes nicht der Farbenaspekt. Auch die Farbe stellt sich
immer wieder in verschiedener Weise dar; und man kann darauf achten, man
kann es wahrnehmen, dass die eine Gegenstandsfarbe eben das Eine ist, das
in einem ganzen Fluss unterscheidbarer Empfindungsfarben sich darstellt.
Die darstellenden Farbendaten und die erscheinende Farbe des Dinges sind
also zu scheiden. Und so für jedes Merkmal des erfahrenen Gegenstandes.3
Ist alles unter dem Titel „äußere Erfahrung“ Erfahrene, das Ding und jede
Dingqualität, in Bewusstseinserlebnissen erscheinend, sich mittels Bewusst-
seinsdaten darstellend, so ist dabei auch zu beachten, das dieses Sichdar-
stellen selbst etwas im Bewusstsein selbst Liegendes ist. Bewusstseinsmäßig
stellen die Empfindungsdaten dar. Sie sind im Bewusstsein von einem Sinn
umflossen, sie sind Substrate von Charakteren, die den immanenten Farben-
daten, Tondaten und schließlich den ganzen Aspekten eben den Sinn von
Darstellungen geben. Anders ausgedrückt, das Bewusstsein, das wir „äußere
Wahrnehmung“ und überhaupt „äußere Erfahrung“ nennen, ist nicht ein
blindes Durcheinander von Daten, die nichts bedeuten; Wahrnehmungen
sind nicht bloß Sachen, bloße Striche auf einer Bewusstseinstafel. Sie sind
cogitationes, Bewusstseinserlebnisse. Jedes solche ist Bewusstsein-von. Das
wahrnehmende Bewusstsein in sich selbst ist ein Mit-solchen-Daten-ein-so-
und-so-Bestimmtes-Meinen. Es konstituiert in sich einen gegenständlichen
Sinn durch eine gewissen Bewusstseinsdaten (in gewissen Zusammenhän-
gen) erteilte Sinngebung. Nur so ist alles „Äußere“, alle Natur für das
Bewusstsein da.

1 Randbemerkung Immer wieder wird betont, dass wir hierbei die äußere Wahrnehmung in der

immanenten Schauung studieren und aus deren Eigenheit die Eigenheit eines Bewusstseins
klarmachen.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung Vergleiche die nächste Vorlesung, diese vorliegende war eigentlich miss-

raten siehe S. 350–357.


locke 349

Wenn wir in solchen immanenten Reflexionen das Wesen der äußeren


Wahrnehmung betrachten und uns an diesem Beispiel eines Bewusstseins
die Eigenheit des Bewusstseins überhaupt zum ersten Mal klarmachen, so
sehen wir etwas himmelweit von der Art dinglichen Seins Verschiedenes: das
Eigene des Etwas-Meinens, der Intentionalität. Und so werden wir dessen
inne, dass Bewusstsein kein Ding ist, dass Bewusstsein ja nicht selbst wie-
der Erscheinendes, Sich-Darstellendes ist. Das, worin Dinge sich darstellen,
ist nicht selbst dargestellt, das Erscheinen ist nicht selbst erscheinend, das
Sinngebende nicht selbst durch bloße Sinngebung bewusst: All das, was wir
beschrieben haben, all die Momente eines Bewusstseins sind statt erschei-
nend vielmehr in eigener, immanenter Weise bewusst, in einem direkten
Schauen, das grundverschieden von äußerer Erfahrung ist. Das gilt wie
vom äußeren Wahrnehmen so von allem cogito: vom Sich-Erinnern, Füh-
len, Wollen. Dem steht nicht entgegen, dass die eigentliche psychologische
Erfahrung nach unserer früheren Darstellung eine transzendierende ist. Die
Auffassung meiner Erlebnisse als Erlebnisse von mir, mir, diesem Menschen,
verknüpft einen rein immanenten Bestand mit einem Gegenstand transzen-
dierender, also darstellender Erfahrung, nämlich mit meinem Leib. Und dazu
kommt eine transzendente Bekundung seelischen Vermögensbestandes in
den Bewusstseinserlebnissen. Wir sehen aber, dass alle Art Transzendenz
im Bewusstsein sich vollzieht und dass alle transzendenten Gegenstände für
das Bewusstsein nur durch transzendente Sinngebung sind, die uns auf ein
reines, noch nicht verdinglichtes Bewusstsein zurückführt. Dieses aber ist
offenbar nichts anderes als das nach der Methode der transzendentalen Re-
duktion herauszustellende reine Bewusstsein, das der Erkenntnistheoretiker
in Wesensforschung zu nehmen hat. Die transzendentale Reduktion, die alle
transzendente, im Bewusstsein vollzogene Existenzsetzung in dem Sinne aus-
schaltet, dass sie sich nicht auf ihren Boden stellt, ergibt die reine und echte
Bewusstseinsinnerlichkeit und die kommt offenbar für die Erkenntnistheorie
ausschließlich, aber auch für die Psychologie mindestens in erster Linie in
Betracht. Was liegt zunächst im puren Erlebnis in sich selbst, was liegt in ihm
nach darstellenden Beständen und nach sinngebenden Momenten, was liegt
in ihm, sofern es sinngebend das und jenes meint usw.?
Sowie man diese Gegensätze verstanden hat, ist es alsbald klar, dass
Erlebnisse prinzipiell nicht ein Sein haben wie Dinge, dass es bei ihnen
keinen Sinn hat, von realen Verbindungen und Trennungen, von Kausalität,
von Wirken und Bewirktwerden im realen Sinne zu sprechen und danach
zu forschen. Ein Erlebnis ist freilich etwas, auch hat es Teile und Momente.
Aber etwas meinen, in sich etwas darstellen, was es nicht ist, etwas in der
350 einleitung in die philosophie

Weise einer äußeren Anschauung sich gegenüber haben, in der Weise einer
Erinnerung vergegenwärtigt, in der Weise eines Denkens gedacht haben:
das sind Eigenheiten, die bei Dingen suchen zu wollen gar keinen Sinn
gibt. Wir können nun auch sagen: Locke und der Empirismus beschäftigen
sich mit dem Bewusstsein, wollen seinen Entwicklungsgang erforschen und
dazu natürlich vorher auch seinen eigenen Gehalt an Merkmalen deskriptiv
erforschen, aber sie übersehen prinzipiell die Eigenart des Bewusstseins, die
ihm immanente Intentionalität.
Wir waren in der letzten Vorlesung dabei, die Tabula-rasa-Auffassung
des Bewusstseins zu kritisieren, die von Locke auf den ganzen positivisti-
schen Empirismus übergeht und ihm den Charakter eines grundverkehrten
Sensualismus aufprägt. Der Sensualismus naturalisiert das Bewusstsein. Die
Gegebenheiten der äußeren Erfahrung und die der inneren Erfahrung oder
besser der immanenten Erfahrung (reflektiven Erfassung immanenter Erleb-
nisse) gelten ihm ihrer Seinsart nach prinzipiell als gleich.1 Im äußeren Raum
sind Dinge, Komplexe von abstückbaren Elementen, sich zusammenbildend
und wieder auflösend, ihr Sein durchaus ein kausales Sein. (Als Ganze und
nach ihren Teilen sind sie Substrate realer Eigenschaften, die als solche unter
Kausalgesetzen stehen, welche alle Veränderungen in der Raumwelt regeln.)
Das Bewusstsein, der einheitliche Strom meiner reinen Ich-Erlebnisse, soll
nun ebenso eine Art Raumwelt, eine tabula sein, auf der die Erlebnisse so
wie sinnliche Zeichen auf einer Tafel kommen und gehen, sich verbinden zu
Komplexen usw.
Aber das ist grundverkehrt. Erlebnisse sind nicht eine Art Realitäten, ihr
Sein ist von allem dinglichen Sein toto coelo verschieden. Den Grundcha-
rakter des Immanenten bezeichnet das Wort „Bewusstsein“, „cogito“. Jedes
cogito bezieht sich in sich auf ein cogitatum, jedes Bewusstsein ist in sich
selbst – das ist die Grundart seines Seins – bezogen auf ein Etwas, wovon es
Bewusstsein ist. Vorstellen ist Vorstellen von etwas, Erinnerung Erinnerung
an etwas, Aussagen Aussagen über etwas, Begehren begehrt etwas, Werten
hält etwas für wert usw. Alles, was von den Bewusstseinserlebnissen aus-
zusagen ist, alles, was ihnen nach ihrem eigenen Wesensgehalt zukommt,
das geht auf dieses Bewussthaben von etwas, etwas Meinen, sich intentional
auf etwas Beziehen zurück, ist eine Näherbestimmung davon. Speziell was
die Erlebnisse anlangt, die der weite Titel „Erkenntnis“ umspannt, so ist
ihr Sein erkennend Meinen (vorstellend, urteilend, schließend, begründend

1 Randbemerkung zu den beiden letzten Sätzen Nota Bene.


locke 351

Meinen), und alle Zusammenhänge der Erkenntnis als solcher, also auch all
jene teleologischen Eigenschaften, von denen wir gesprochen haben, sind
ausschließlich bestimmt durch Wesenseigentümlichkeiten der erkennenden
Intentionalität. (Alles gründet im erkennenden Ich-Bezogensein auf etwas,
im es Meinen und dann je nach Umständen richtig oder unrichtig Meinen.)
Ein Ding, ein Holzklotz etwa, ist, aber meint nichts. Und was er ist, ist er
als reales Ganzes realer Teile und als Substrat real-kausaler Eigenschaften,
als Glied eines naturgesetzlich verbundenen Weltganzen. Nichts von all dem
gilt aber für das Bewusstsein, wofern wir es rein in sich selbst nehmen.
Vielleicht wird Ihnen der Kontrast und der Grundfehler der Verdinglichung
des Bewusstseins am schnellsten klar, wenn ich zunächst auf Folgendes
hinweise. Nehmen wir einmal die Erlebnisse, wie sie in der immanenten
Erfahrung gegeben sind, ganz im Sinne der Tabula-rasa-Auffassung, wie
Sächelchen auf einer Tafel; übersehen wir ihren Grundcharakter, dass sie
cogitationes sind, Bewusstsein von etwas. So ergibt sich sogleich die Frage:
Wie ist es möglich, dass die Bewusstseinstafel je über diese ihre Zeichen
hinauskommt und von etwas Anderem weiß, als was auf ihr selbst auftritt.
Ich erlebe meine Erlebnisse, sie machen den Strom meines Erlebens aus. Auf
sie kann ich hinblicken und habe sie dann unmittelbar in absoluter Evidenz
gegeben. Von ihnen habe ich die cartesianische Evidenz des cogito. Aber wie
steht es mit dem Sein der Welt außerhalb dieser Bewusstseinstafel? In der
Tat, sagt Locke, unmittelbar sind uns nur gegeben unsere eigenen „Ideen“.
Eben damit war der weiteren Entwicklung des Empirismus die Tendenz
zur positivistisch immanenten Philosophie eingeprägt, die in Berkeley damit
anfängt, die äußere Welt zu leugnen, und in Hume damit endet, alle und jede
Bewusstseinstranszendenz als Bewusstseinsfiktion zu deuten. Unmittelbar
sind uns nur gegeben unsere eigenen Ideen. Aber wie kann uns Transzendenz
nur mittelbar gegeben sein? Wie wollen wir von dem, was nicht auf dieser
Tafel sich vorfindet, auch nur eine Ahnung haben?
Achten Sie darauf wie verkehrt die ganze Fragestellung ist und das
Gleichnis, das hier leitet. Das Bewusstsein ist nicht ein Kommen und Gehen
von Sächelchen in einem Raumfeld, und die immanente Erfahrung nicht ein
schauender Blick, der diese Sächelchen herausschaut und fixiert. Vielmehr,
ich bin in dem Strom meines Bewusstseinslebens, und das Leben entfaltet sich
in Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, Gefühlen der Freude, in
Begierden, Wollungen usw. Jedes davon ist nicht nur, sondern ist Bewusstsein
von etwas.
Darunter vor allem genannt waren Wahrnehmungen. In der Tat, im
Strom unseres Ich-Bewusstseins treten immerfort neue und neue Erlebnisse
352 einleitung in die philosophie

auf, die wir allgemein als äußere Wahrnehmungen bezeichnen. Sie sind
Wahrnehmungen von den und den Dingen, von den und den dinglichen
Bewegungen, Veränderungen, Wirkungen und Gegenwirkungen. Es ist also
grundverkehrt, wenn der Sensualismus sagt, unmittelbar gegeben sind uns
nur unsere Erlebnisse. Nein, unmittelbar gegeben sind uns Dinge, ist uns
eine ganze Umgebungswelt. Ganz unmittelbar steht sie in leibhafter Wirk-
lichkeit vor unseren Blicken: Es ist nur ein anderer Ausdruck, wenn wir
sagen: „Wir nehmen äußerlich wahr“. Daran wird gar nichts geändert, wenn
es mit Grund heißt: „Äußere Wahrnehmung kann täuschen“. Auch in der
trügenden Wahrnehmung steht das (hinterher als Trug bezeichnete) Ding als
gegeben da. Die immanente Reflexion belehrt uns, dass diese unmittelbare
Gegebenheit von Außendingen vorliegt und wie sie sich vollzieht. Direkt
erfassen wir diese Bewusstseinsart „äußere Wahrnehmung“ und was in ihr
liegt: also, dass diese in sich selbst Bewusstsein von dem Ding ist, weiter aber
auch, dass dieses „Bewusstsein-von“ nicht ein leerer Charakter ist, sondern
dass in ihm notwendig jene eigentümlichen Strukturen auftreten müssen,
von denen wir letzthin sprachen.
So geartet ist das wahrnehmende Bewusstsein etwa von unserem Dom,
dass zu scheiden ist zwischen dem Dom selbst als dem im Wahrnehmen
Wahrgenommenen und den Aspekten vom Dom; desgleichen, dass nicht eine
einzelne Wahrnehmung den Gegenstand Dom zur allseitigen Gegebenheit
bringt, dass vielmehr eine Mannigfaltigkeit, ideal gesprochen, eine Unend-
lichkeit von Wahrnehmungen nötig wäre, um den Dom fortschreitend zu voll-
kommener Gegebenheit zu bringen. Und dabei laufen die Wahrnehmungen,
soweit wir sie im vielseitigen Wahrnehmen des Domes aktualisieren, nicht
bloß nebeneinander ab und kumulieren sich nicht. Nicht wie irgendwelche
Striche- oder Pinselkleckse auf einer Tafel, sondern sie einigen sich in der
Weise, wie sich eben Bewusstsein als Bewusstsein von einem Gegenstand
einigt. Eine höhere Bewusstseinseinheit baut sich auf, das Ganze ist ein Be-
wusstsein, von dem einen Dom, während jede Phase selbst schon Bewusstsein
von ihm ist. Jede Phase hat ihre Aspekte, und aus den einzelnen Aspekten
baut sich gleichsam auf der fließende Gesamtaspekt von dem Dom als das
Erscheinungsganze, in dem er, der eine und selbe, erscheint.
Bewusstsein verbindet sich mit Bewusstsein, nicht wie Dinge sich zusam-
menmengen oder zu kausal vereinheitlichten Komplexen sich verbinden;
sondern die Bewusstseinsphasen verbinden sich zur Einheit eines Bewusst-
seins, das als Bewusstsein Einheitliches meint (in unserem Fall: Einheitliches
zur Wahrnehmungsgegebenheit bringt). So nicht nur Wahrnehmungen mit
Wahrnehmungen. Sehe ich den Dom und taucht dann eine Erinnerung daran
locke 353

in mir auf, wie ich gestern vom Dom gesprochen habe und ihn früher einmal
gesehen habe, so haben wir nicht bloß nebeneinander mehrere Erlebnisse,
Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungserlebnisse, Aussageerlebnisse, son-
dern jedes ist ein Bewusstsein, und ein höheres synthetisches Bewusstsein
verknüpft dieses Bewusstsein zu einem Bewusstsein von demselben, jetzt
wahrgenommenen, vordem erinnerten und besprochenen Dom.
Bewusstsein ist nicht bloß, sondern hat in sich bewusst. In-sich-bewusst-
Haben heißt aber nicht: in sich in der Weise einer Realität einen Teil, ein
Stück haben. Der Dom ist kein Stück des Dombewusstseins. Er ist in ihm
gemeinter Gegenstand. Und das „gemeint“ ist ein wesentlich Verschiede-
nes, je nachdem es heißt: wahrnehmungsmäßig gemeint, erinnerungsmäßig,
denkmäßig gemeint usw. Gemeint kann dabei der Gegenstand sein, ob das
Bewusstsein ein fingierendes ist oder in Gewissheit meinendes und ob es in
Richtigkeit, Gültigkeit meint oder nicht. Das Bewusstsein hat in sich selbst,
als ihm immanenten Sinn dieses „sich Beziehen auf“ den so und so gemeinten
Gegenstand als solchen. Und wieder Sinnesverschiedenheiten liegen vor im
Wie der Darstellung des Gegenstandes: ob er von dieser oder jener Seite
gegeben wäre, er, derselbe Gegenstand.
Desgleichen kann verschiedenes Bewusstsein der Art des Denkens einen
und denselben Gegenstand denken und ihn denken als bestimmt durch die
oder jene Begriffe. Den Dom kann ich begrifflich denken als „aus Sandstein
gebaut“, als „Kirche“, als „Dom zu Freiburg“ usw. Ich kann hinterher dazu
kommen, das eine und andere Prädikat als falsch zu verwerfen, aber im Denk-
bewusstsein war es als Sinn vorhanden. Dieses Als-Sinn-Vorhandensein muss
dabei genommen werden, wie das Bewusstsein selbst in seinem Wesensbe-
stand es vorzeichnet: genau so und ohne alle Tabula-rasa-Verkehrtheiten. Es
handelt sich nicht um Stücke einer Sache, wie der Dom Stücke hat, sondern
um ein ideales Enthaltensein im Denkbewusstsein und jene ganz einzige
Art, wie Sinnesgehalt einem Bewusstsein und Momente des Sinnesgehaltes
ihm einwohnen. Bewusstseinsanalyse ist also nicht Sachanalyse, sie ist nicht
Anatomisieren eines dingartigen Seins, sondern eben Auseinanderlegung
eines Bewusstseins, sie ist intentionale Analyse.
Gewiss finden wir in der Einheit eines Bewusstseinserlebnisses Bestand-
stücke, die nicht selbst Bewusstsein sind, aber alles, was im Bewusstsein
auftritt, hat intentionale Funktionen, Bewusstseinsfunktionen. So in der
äußeren Wahrnehmung: Im Aspekt eines Dinges, in irgendeiner der Erschei-
nungen, in denen uns der Dom wahrnehmungsmäßig erscheint, finden wir
zum Beispiel Farbendaten und Gestaltdaten. Aber die Farben- und Gestalt-
daten, die zum Aspekt gehören, sind nicht die Farbe und Gestalt des Doms
354 einleitung in die philosophie

selbst, nicht die Farbe und Gestalt, mit der er selbst in der Wahrnehmung
erscheint. Vielmehr, während uns im Wechsel der Wahrnehmungen (etwa
beim Herumgehen) die Farbe des Domes und seine Gestalt als objektiv
völlig unveränderte vor unseren Augen steht, ändern sich in den Aspekten
die Farben- und Gestaltdaten. Sie sind im reflektierenden Blick in ihrem
Wandel leicht zu erfassen. Sie sind bewusst, aber nicht Bewusstsein. Sie ge-
hören zur Wahrnehmung nicht, wie die Farbe und Gestalt zum Dom gehört,
zu irgendeinem Ding gehört. Vielmehr, sie gehören zu ihm als Träger der
darstellenden Wahrnehmungsfunktionen. In den wechselnden Farbendaten
stellt sich die objektive Farbe dar, in den wechselnden Gestaltabschattungen
die objektiv eine Gestalt. Dass sie es tun, dass sie nicht nur sind, sondern
darstellend sind, das ist keine Theorie, sondern aus dem immanenten Gehalt
und Sinn der Wahrnehmung selbst zu entnehmen, ist darin selbst zu finden.
Von all dem haben Locke und der Sensualismus nicht die entfernteste
Ahnung. Immerfort wird gesprochen von „Ideen“, von Vorstellungen, von
Wahrnehmung, Erinnerung, Vergleichen, Unterscheiden, Denken usw. und
dabei natürlich auch bestimmter von der Wahrnehmung, zum Beispiel als
Wahrnehmung von dem Haus, von dem Vergleichen zwischen den und jenen
Gegenständen usw. Aber die Tabula-rasa-Auffassung lässt nie den Gedan-
ken aufkommen, dass Bewusstsein als Bewusstsein zu erforschen ist. Man
übersieht, dass in solchen Erlebnissen wesensmäßig eine gegenständliche
Beziehung liegt, dass sie Sinnesbestand haben und durch wechselnden Sin-
nesbestand vermittelte Identität des Gemeinten durchhalten können. Man
merkt nicht, dass alle solchen intentionalen Strukturen, in einer Überfülle
von Sondergestaltungen, das eigentliche Thema sowohl der Erkenntnistheo-
rie als auch der Psychologie sind. In beiderlei Hinsicht ist das selbstverständ-
lich. Alle erkenntnistheoretischen Fragen sind ja eo ipso Fragen, welche
die gegenständliche Beziehung der Erkenntniserlebnisse betreffen: Das er-
kennende Bewusstsein als Bewusstsein von etwas soll Gegenständlichkeit
treffen, darauf gehen hier die Fragen. Aber auch für die Psychologie ist das
Gesagte selbstverständlich. Sie will empirische Wissenschaft vom mensch-
lichen Seelenleben sein. Das aktuelle Seelenleben ist Bewusstseinsleben.
Vor allem anderen müssen also die im Wesen des Bewusstseins liegenden
Strukturen erforscht werden.
Da der Empirismus sozusagen blind ist für die Intentionalität, während
er doch das Bewusstsein als Thema hat, wimmelt es bei ihm von den gröbs-
ten Verwechslungen, wie sie ganz unmöglich wären, wenn er auch nur den
Sinn einer Bewusstseinsforschung erfasst hätte. Dahin gehört die beständige,
bis in die neueste Psychologie hineinreichende Verwechslung von Empfin-
locke 355

dungsdaten und gegenständlichen Qualitäten, also zum Beispiel von Far-


bendaten, die dem Wahrnehmungsbewusstsein selbst reell einwohnen, und
der Gegenstandsfarbe, die es wahrnehmungsmäßig als Farbe des gesehenen
Dinges meint. Die sinnlichen Daten erwachsen psychologisch als Folge der
äußeren Reizwirkungen auf der Bewusstseinstafel. Alle Erkenntnis, sagt
Locke, fängt an als sensation. Rein passiv und unverbunden treten durch
sie sinnliche Daten auf. Dann kommt der Geist, die Seele und tut von
innen her das ihre dazu. Sie imaginiert die Daten zu Komplexen und so
entstehen Dingvorstellungen. Als ob bloße Sinnesdaten schon sinnliche
Qualitäten von Gegenständen wären, als ob ein Haufen von Sinnesdaten,
die irgend zusammengeklebt würden, für das Bewusstsein transzendent-
objektive Einheit eines Gegenstandes ergäbe, die identisches Subjekt von
äußeren Qualitäten, von Farbenqualität, Rauhigkeitsqualität usw. wäre. So
bleibt man bei einem Gerede über „Ursprung“ der objektiven Vorstellungen
stehen durch zusammenbildende, unterscheidende, beziehende Seelentätig-
keiten, während es völlig unverständlich bleibt, wie aus sinnlichen Daten auf
der Bewusstseinstafel etwas anderes werden soll eben als sinnliche Daten
auf der Tafel, statt dass auf ihr die Erscheinung eines der Tafel Äußeren
bewusstseinsmäßig erwachsen sollte.
(Mit1 der Realisierung, die in der Tabula-rasa-Auffassung liegt, hängt auch
die Tendenz zum Empfindungsmonismus zusammen, der noch in unserer
Zeit in der Mach’schen Philosophie aufleben und Triumphe feiern konnte.
Natürlich haftet der Blick am Ersten, an dem in der subjektiven Sphäre
sozusagen Greifbaren, an dem Sinnlichen; und wo im Bewusstseinsgang
Gebilde sich finden oder erwachsen, die mehr sind als Farbendaten, Tondaten
u. dgl., da fasst man das Mehr als Empfindungsdaten einer höheren Stufe,
als sogenannte Gestaltqualitäten, als neuartige „Elemente“, die aber nicht
prinzipiell von den „Sinnesqualitäten“ verschieden seien, also Begierde,
Wille, Freude usw. Nur „Elemente“.)2
Begreiflicherweise hat diese Blindheit für das eigentliche Wesen des Be-
wusstseins (diese Unfähigkeit zu sehen, was unmittelbar vorliegt und was
vor aller Theorie, vor allen schiefen Gleichnissen zu beschreiben ist, so wie
es im Bewusstseinswesen liegt) verhängnisvoll gerade in der Erkenntnis-
theorie wirken müssen. Hier liegt die Quelle der skeptischen Wendung,
die der Empirismus sogleich nach Locke nahm. Der Sensualismus musste

1 Am Rande eine Null.


2 Am Rande eine Null.
356 einleitung in die philosophie

zum Eingeständnis führen, dass Erkenntnis überhaupt etwas völlig Sinnloses,


Unverständliches sei. Nachdem man sich Scheuklappen angelegt hatte, die
von vornherein das Wesen des Bewusstseins und den ihm immanenten Sinn
unsichtbar machen, konnte man einen Sinn natürlich nicht mehr finden. Das
Bewusstsein ist ein toter Schauplatz eines Gewühls von „Perzeptionen“,
die nur von Regeln der Ideenassoziation einige Ordnung erfahren. In sinn-
loser Weise entstehen auf der Bewusstseinstafel relativ feste Gebilde, die
wir für Bekundungen einer ihr äußeren Natur mit einer erkennbaren Na-
turgesetzmäßigkeit halten. Aber alles ist bloß Schein, das Bewusstsein ist
eine Veranstaltung zur Bildung leerer Fiktionen, und die Philosophie hat
die mephistophelische Aufgabe, die Sinnlosigkeit der Welt aufzuzeigen. Die
Welt in Wahrheit ist nichts anderes als Empfindung und Komplex von Emp-
findungen. Eine objektive, ins Bewusstseinstranszendente hinausreichende
Vernunft ist ein leerer Wahn! Also der Anfang ist, dass das Bewusstsein
nach dem Vorbild der äußeren Natur als ein bloßes Sein angesehen wird,
in dem dergleichen wie Meinen, wie Sinn eines Meinens, objektives Recht
eines Meinen keine Stelle hat. Und das Ende ist, dass die äußere Welt
selbst zur Fiktion des Bewusstseins wird. Ein unübertrefflicher Widersinn,
da das Fingieren eines Transzendenten selbst ein Meinen ist, das, wenn es
ein falsches Meinen ist, doch wenigstens die Möglichkeit eines entsprechen-
den richtigen Meinens mit sich führt. Aber gerade diese Möglichkeit, die
die Theorie durch ihren Sinn voraussetzt, hebt sie in ihrem Inhalt selbst
auf.
Sie sehen an dem Widersinn, der dem Typus der Hume’schen Philoso-
phie anhängt, dass für die Erkenntnistheorie und damit auch für die rechte
Weltauffassung alles darauf ankommt, den rechten Anfang der Forschung,
die rechte, die einzig mögliche Methode zu gewinnen. Diese aber besteht
darin, dass man den grundverkehrten Naturalismus beseitigt, der uns alle
am Beginn erkenntnistheoretischer Betrachtungen blind macht. Wir alle als
Anfänger sind Naturalisten. Gewohnt, immerfort Natur zu sehen, sind wir
geneigt, wo wir in der Reflexion das Bewusstsein zu unserem Objekt machen,
es zu verdinglichen. Wir sehen daher nicht, was es in sich selbst ist, nämlich
Bewusstsein von etwas, in sich allein Sinn tragend, durch den für uns alles
andere Sein, auch das äußere Sein allererst bewusst wird. (Wir müssen lernen,
Bewusstsein als Bewusstsein zu sehen und, wenn wir es erforschen, es genau
so zu nehmen, wie wir es finden. Und wir finden es eben als durch eigene
Sinngebung jederlei Gegenständlichkeit in sich konstituierend.)
Nur durch Vertiefung in das Bewusstsein und seine Bewusstseinseigen-
heiten können wir den prinzipiellen Sinn aller Welt klären, da alle Welt für
erkenntnistheorie und metaphysik 357

uns ist, was sie ist, durch Bewusstseinserlebnisse, in denen sie gegebene,
vermeinte und schließlich in Vernunftdenken richtig gedachte ist. Ist Meta-
physik die Wissenschaft vom wirklichen Sein und endgültige Wissenschaft
von ihm, also diejenige, die den echten Sinn des Seins aus unseren Meinungen
und Wissenschaften herausschält, so ist eine echte Erkenntnistheorie die
Bedingung der Möglichkeit einer Metaphysik.

Erkenntnistheorie und Metaphysik

Es1 gilt heute zunächst, die durch die Pfingstferien entstandene Pause
in unseren systematischen Gedankengängen durch eine Rekapitulation zu
überbrücken. Eine Einleitung in die Philosophie muss, sagte ich zu Anfang,
aus notwendigen Gründen einen ganz anderen Charakter haben als eine
Einleitung in die positiven Wissenschaften, die uns von der Schule her
mindestens nach ihren ersten Elementen vertraut sind. Die Domäne der
Philosophie liegt nicht in den Dimensionen, die uns durch Erfahrung und
mathematische Intuition eröffnet sind und in denen wir uns natürlich und
frei zu bewegen gelernt haben. Die neuen Dimensionen aber, die der Phi-
losophie eigen sind, gewinnt man nicht durch eine einfache Blickerhebung.
Es bedarf vielmehr mühsamer intellektueller Vorbereitungen, um die pein-
lichen Unklarheiten und Zweifel in sich zu erfahren, die durch eine noch so
vollkommene Entwicklung der positiven Wissenschaften nicht gelöst werden
können, und um die neuartigen Probleme zu reiner Formulierung zu bringen,
die (wie zu vollster Evidenz zu bringen ist) außerhalb der eigentümlichen
Arbeitsrichtungen dieser Wissenschaften gelegen sind.
Um diese intellektuelle Vorbereitung zu schaffen, mit anderen Worten,
um den Anfänger in die Philosophie einzuleiten, wählten wir einen ideen-
geschichtlichen Weg. Denn dieselben intellektuellen Bedürfnisse, die jeder
Anfänger in sich erwecken muss, um die im eigentümlichen Sinne philo-
sophischen Fragestellungen gegenüber denen der sonstigen Wissenschaf-
ten verstehen zu können, erwuchsen im Entwicklungsgang der griechisch-
europäischen Wissenschaft überhaupt und bedingten als ein sehr spätes Ent-
wicklungsresultat die Abgrenzung einer Philosophie im prägnanten Sinne,
deren Realisierung in Form einer strengen Wissenschaft die Aufgabe der Ge-
genwart ist. Nicht eine Geschichte der Philosophie, sondern eine Geschichte

1 Randbemerkung Pfingstpause. Rekapitulation.


358 einleitung in die philosophie

der Idee „Philosophie“ kam für uns in Frage; und eine Geschichte der Idee
„Philosophie“ ist untrennbar eins mit einer Geschichte der Idee der Wissen-
schaft nach ihren notwendigen Differenzierungen. Diese Differenzierungen
sind Produkte einer längeren, in den wesentlichen Zügen notwendigen Ent-
wicklung.
Philosophie im ersten und auch sachlich ursprünglichsten Sinne ist Stre-
ben nach Wissen um des Wissens willens. In der Natur solchen Strebens
liegt die Tendenz auf allumfassende und absolute Erkenntnis. (Das Prädikat
„absolut“ fügen wir vom Aspekt entwickelter Philosophie und Wissenschaft
aus hinzu: Von notwendigen Einseitigkeiten der Erkenntnis, von Relativitä-
ten, denen sie unterliegen könnte, um deren willen eine gewonnene Wissens-
stufe einen bloß relativen Wert haben konnte, weiß man in den Anfängen
natürlich nichts.) Und natürlich hat man in den Anfängen noch nicht reine
Problemscheidungen, noch nicht strenge Methoden, echte wissenschaftliche
Begriffe und Theorien, sondern all das arbeitet sich erst in der Entwicklung
heraus.
Im Altertum gibt es nach unseren Darstellungen, trotzdem es die bei
weitem größte und bewunderungswerteste Vorarbeit für die Ermöglichung
von Wissenschaft und Philosophie geleistet hat, noch keine reinen Scheidun-
gen zwischen sonstiger Wissenschaft und Philosophie, keine Abhebung der
notwendigen Haupttypen der Wissenschaft, auch keine reife Entwicklung
innerhalb irgendeines dieser Haupttypen. Oder vielmehr: Nur ein solcher
Typus kommt zur Reife des echten Anfangs. Nämlich die Mathematik, wie
hoch auch die neuzeitliche Mathematik über der alten steht. Euklidische
Geometrie ist ein ausgereiftes Stück exakter mathematischer Wissenschaft,
ein vollendetes Entwicklungsprodukt, obschon freilich wie jede Vollendung
in echter Wissenschaft, Anfang für immer neue Entwicklungen und neue
Vollendungen. Das Altertum hat eine ungeheure Geistesarbeit an die Er-
kenntnis der Natur und des Geistes gewendet, also Natur- und Geisteswis-
senschaften vorbereitet, es hat erst recht ungeheure Geistesarbeit an die Me-
taphysik gewendet. Und doch, im Altertum gibt es keine reifen Vollendungen
in diesen Beziehungen. Keine Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist
zu einem ausgereiften Anfang gekommen (in dem Sinne wie die Geometrie
bei Euklid) und ebensowenig irgendeine der philosophischen Disziplinen.
Zu einer vollendeten Realisierung kommt nach der Mathematik zuerst
die Idee der Naturwissenschaft, und zwar im Zusammenhang der Geistes-
bewegungen der Renaissance. Sowie diese Stufe erreicht war, wirkte sie
motivierend auf die ganze weitere Entwicklung der Wissenschaft, soweit sie
solcher Vollendung noch entbehrte. Die neue mathematische Naturwissen-
erkenntnistheorie und metaphysik 359

schaft und mit ihr im Bund die reine Mathematik werden zum Vorbild für alle
wissenschaftlichen Bestrebungen, bestimmen umfassende methodologische
Reflexionen und darauf gegründete Reformversuche. Es breiten sich nicht
nur die Naturwissenschaften in immer neuen Theorien und Disziplinen aus,
es erweitern sich nicht nur die rein mathematischen Disziplinen, sondern eine
neue Wissenschaft, eine Wissenschaft von einem völlig neuen Typus, ja einer
neuen Dimension entfaltet einen gewaltigen Auftrieb: die Erkenntnistheorie.
Wir versuchten, uns in die innersten Problemmotive, die hier wirksam
werden und die, zum Teil freilich aus antiken Quellen stammend, hier
eine neue und höchst folgenreiche Entwicklung erfuhren, zu versenken, nun
nicht mehr bloß historisch, sondern philosophisch interessiert. Wir versuch-
ten, uns klar zu machen, was die Gegensätze zwischen Rationalismus und
Empirismus von innen her bestimmte, was für Probleme da zur Formulierung
kamen, was an Unklarem, Unausgewickeltem in den Problemen noch lag,
welche prinzipiellen Scheidungen, Reinigungen, Fortbildungen sie erfahren
mussten. Wir vertieften uns in den Sinn des epochemachenden Anstoßes,
den Descartes durch seinen Versuch, Wissenschaft auf absolut zweifellosen
Grund zu bauen, gegeben hatte. Wir überlegten, was in dem cartesianischen
Reduktionsversuch aller Erkenntnis auf das cogito als absolut zweifellose
Urquelle beschlossen war, was aber bei ihm selbst ohne jede Entfaltung
blieb. Wir erhoben uns zur Idee einer Wissenschaft vom reinen Bewusstsein
nach all den Gestaltungen, die der Titel cogito befassen kann, und allen
Wesenszusammenhängen, die durch den Eigengehalt dieser Gestaltungen
notwendig bestimmt sind.
Wir gingen ferner den zwischen Rationalismus und Empirismus strittigen
Ursprungsproblemen nach, kritisierten die auf beiden Seiten herrschenden
Vermengungen zwischen empirisch-psychologischen Ursprungsproblemen
und Problemen des Geltungsursprungs. Wir machten uns in selbsttätigem
Denken hier die Idee einer universellen und radikalen Wissenschaftstheorie
klar und gewannen die Einsicht, dass die ihr zugehörigen Probleme von
den idealen Grundbedingungen, Grundformen, Grundgesetzen, an die die
Gültigkeit von Wissenschaften gebunden ist, nur gelöst werden können,
wenn jederlei Präsuppositionen aus dem Bestand besonderer Wissenschaf-
ten, insbesondere empirischer, prinzipiell ausgeschieden bleiben.
Wir gingen dann über zur Kritik der verkehrten cartesianischen Evidenz-
theorie und zur Ursprungsquelle der radikalen Transzendenzprobleme, der
Probleme der Möglichkeit transzendenter Erkenntnis überhaupt, auf die
schon der antike Skeptizismus gestoßen war und die er, unfähig, zu einer
reinen Bewusstseinsforschung durchzudringen, negativ entschieden hatte.
360 einleitung in die philosophie

Wir gewannen im Zusammenhang damit eine neue Idee, zunächst die Idee
einer Erkenntnistheorie als Wissenschaft vom Wesen transzendenter Er-
kenntnis und vom Sinn transzendenter Erkenntnisgegenständlichkeit und
dann ganz allgemein einer Wissenschaft von dem möglichen Sinn von Er-
kenntnisgegenständlichkeiten überhaupt, sofern sie im Bewusstsein sollen
gegeben und erkannt werden können. Wir überlegten das Verhältnis einer
solchen Erkenntnistheorie zur Wissenschaftstheorie und dann weiter zur
Bewusstseinsphänomenologie, jener Wesenslehre vom reinen Bewusstsein,
der Descartes so nah gewesen war, ohne sie schon zu entwerfen. Wir machten
uns völlig klar, dass es sich dabei nicht um verschiedene Wissenschaften,
sondern wesentlich um eine einzige Wissenschaft handelt, die prinzipiell
auf dem Boden des reinen Bewusstseins und der in ihm selbst vollzogenen
gegenständlichen Setzungen sich bewegt. Ferner: Da in ihr der geltende
Sinn jeder möglichen Erkenntnisgegenständlichkeit zum Problem wird, darf
sie keine Existenz solcher Gegenständlichkeiten voraussetzen und damit
auch keinerlei wissenschaftliche Feststellungen über existierende Gegen-
stände.
Nachdem wir den Rationalismus lange bevorzugt hatten, gingen wir näher
in den Empirismus ein. Wir knüpften dann unsere weiteren Erörterungen an
das große Werk Lockes über den menschlichen Verstand an, mit dem sich
die Erkenntnistheorie zuerst äußerlich als eine eigene Disziplin dokumen-
tiert, ein Werk aber, dass zugleich Grundwerk der Erkenntnispsychologie
und Erkenntnistheorie ist. Früher hatten wir bei der Kritik der rationalis-
tischen Lehre von den eingeborenen Ideen den theologischen Psychologis-
mus kennengelernt und dabei hatten wir die prinzipielle Widersinnigkeit
jedweder Begründung der Erkenntnistheorie auf theologische und psycho-
logische Vorannahmen eingesehen. Nun lernten wir den die ganze Neuzeit
beherrschenden sensualistischen, naturalistischen Psychologismus kennen.
Im Wesentlichen hatten wir dessen Charakteristik und Kritik abgeschlossen
und für unsere weiteren Studien wichtigste Ergebnisse gewonnen. Es ist
nicht nur ein Grundfehler des von Locke ausgehenden Empirismus, dass
er die Erkenntnistheorie auf Erfahrungsseelenlehre gründen will, sondern
grundirrig ist auch die Tabula-rasa-Interpretation des Bewusstseins, die völlig
darüber hinwegsieht, dass die unübersehbar mannigfaltigen Erlebnisse, die
Descartes dereinst unter dem Titel cogito zusammengefasst und als absolut
zweifellose Gegebenheiten der inneren Reflexion hingestellt hatte, die völ-
lig einzigartige Eigentümlichkeit der Intentionalität haben. Bewusstsein ist
Bewusstsein von etwas, Bewusstsein ist in sich selbst auf Gegenständlichkeit
bezogen. Diese allgemeine Charakteristik aber umfasst unzählige besondere
erkenntnistheorie und metaphysik 361

Modi, die sich übrigens in Klassen sondern, von denen die eine der Titel
„Erkenntnis“ bezeichnet. Es gehören aber zur immanenten Beziehung auf
Gegenständlichkeit eigentümliche Arten der ursprünglichen Anschauun-
gen und eigentümliche Arten von Synthesis von Bewusstseinserlebnissen
mit Bewusstseinserlebnissen. Und alle Probleme der Geltung, der richti-
gen Beziehung auf Gegenständlichkeit oder andererseits der unrichtigen,
beziehen sich auf Bewusstseinsakte, sofern sie gewisse auf ursprüngliche
Anschauung zurückführende Synthesen fundieren können, Synthesen, die
wir „Ausweisungen“, „evident machende Begründungen“ nennen und
„einstimmige Übergänge von Erfahrungen in Erfahrungen“. (Welche Fülle
von Gestaltungen Bewusstsein einer und derselben Gegenständlichkeit, zum
Beispiel in Form einstimmiger Erfahrungsübergänge, annehmen kann und
wie doch all diese streng wissenschaftlich zu beschreibenden Gestaltungen in
Funktionen der Erkenntnis teleologisch zusammengehören, das kann freilich
erst in einer systematischen Erkenntnistheorie allseitig gesehen werden.)
Jede Grundart von Gegenständen, zum Beispiel materielle Dinge, or-
ganische Leiber, Personen, personale Gemeinschaften, hat ihre Art von
intentionalen Erlebnissen, durch die sie allein zu originärer Gegebenheit
kommen können. Die äußere sinnliche Wahrnehmung ist zum Beispiel das
Erlebnis unmittelbarer anschaulicher Gegebenheit von physischen Dingen
und bezeichnet eine Grundart der Wahrnehmung, an der vielerlei immanente
Eigentümlichkeiten, die für die Naturerkenntnis grundlegend, ihren Sinn
mitbestimmend sind, zu unterscheiden und wissenschaftlich zu erforschen
sind. Solche immanenten Wesensmomente hatten wir in kleinen Anfängen
der Analyse berührt: so die wechselnden Empfindungsdaten (Farbendaten,
Gestaltdaten etc.); die einheitlich beseelende Auffassung, wodurch diese Da-
ten als abschattende Darstellung gegenständlicher Merkmale (Farbe, Form
des Gegenstandes) bewusst sind; den Gesamtaspekt des Gegenstandes, in
dem die „eigentlich wahrgenommene Seite“ des Gegenstandes erscheint;
das Mitgemeinte vom Gegenstand, das jede solche Wahrnehmung notwendig
mit sich führt; weiter auch das identisch Gemeinte, der eine Gegenstand,
der im Übergang von Wahrnehmung zu Wahrnehmung bei allem Wechsel
der Empfindungsdaten, der Aspekte, der erscheinenden Merkmalskomplexe
eben als eines und dasselbe Gegebene bewusst ist und als Träger der zur
Darstellung kommenden Merkmale gemeint ist; desgleichen der Charakter
des leibhaftigen gewissen Daseins, der in andere Richtung jede normale
Wahrnehmung charakterisiert usw. Das sind beispielsweise aufweisbare Be-
wusstseinsmomente, jedes Ausgang für weitere und weitere Vorzeichnun-
gen.
362 einleitung in die philosophie

Nur wenn die Dingerfahrung als Erfahrung vom Sinnesding in wirklich


systematischer und rein immanenter Weise durchleuchtet und in festen Be-
griffen deskribiert wird, kann die Leistung der Erfahrung in der theoretischen
Erfahrungserkenntnis beurteilt werden. Die große Aufgabe einer Theorie
der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnis physischer Natur ist zuunterst
Aufklärung aller im Wesen der Erfahrung als Seinsbewusstseins beschlosse-
nen Momente und aller durch solche Eigentümlichkeiten des Erfahrungs-
bewusstseins vorgezeichneten möglichen Synthesen.1 Das ist die Grundlage
aller Erfahrungstheorie. Andererseits aber ist erforderlich Aufklärung der
höheren Bewusstseinsarten, die, auf bloße Erfahrung sich bauend, das Spezi-
fische des Denkens, des Begreifens, begreifenden Urteilens, Schließens usw.
ausmachen.2 Dieses höhere Bewusstsein, das spezifische Denken, das sich
in Form der Aussagen und logischer Aussagegebilde ausdrückt, hebt sich
als eine eigene universelle Schicht möglichen Bewusstseins ab, und es ist
in seiner Erkenntnisfunktion dasselbe, welche Gegenständlichkeiten immer
das Denkthema sind, also welche Arten von Erfahrungen oder sonstigen An-
schauungen als gebende Akte zugrunde liegen mögen. Doch, kontrastieren
wir weiter diese Arten.
Wie die sinnendingliche Erfahrung ihre eigentümlichen Strukturen und
demgemäß ihre eigentümlichen intentionalen Synthesen hat, so hat die Er-
fahrung von Personen ihre andersartigen Eigenheiten. Personen, ihre perso-
nalen Eigenschaften, Tätigkeiten, Passionen sind in ganz anderer Weise,
durch ganz andere Bewusstseinsarten ursprünglich gegeben als sinnliche
Dinge, sinnliche Merkmale, Wirkungen und Gegenwirkungen. Wieder eigen-
artig ist die Gegebenheit eines Kulturobjektes. Ein literarisches Dokument,
ein Gedicht, eine Waffe, ein Becher hat seine sinnliche Seite; aber das
Materielle von Papier und Druckerschwärze, von Schwert und Becher ist
nicht das Kulturobjekt. Schon dass das Papier bewusstseinsmäßig aufgefasst
ist als Schreibpapier, die Schwärze als Druckerschwärze, ist Überschuss über
die bloß sinnliche Erfahrung, die für den Physiker in Frage kommt. Ein
Verstandesauffassen nimmt das sinnlich Erfahrene als zu dem und dem
dienend oder dienlich, und damit konstituiert sich schon eine höherstufige
Objektivität, die ihre eigene Art hat, sich auszuweisen und in der Auswei-
sung zur Gegebenheit zu kommen. Alle hier fraglichen Bewusstseinsarten
müssen systematisch nach ihrem immanenten Gehalt und Sinn analysiert,

1 Randbemerkung Physische Natur.


2 Randbemerkung Geistige Welt.
erkenntnistheorie und metaphysik 363

alle ihre möglichen Modifikationen konstruiert und alle zugehörigen inten-


tionalen Synthesen unterschieden und wissenschaftlich auf Begriffe gebracht
werden. Diese Aufgabe, für jederlei Grundtypen von Gegenständlichkeiten
möglicher Erkenntnis klarzulegen, wie das Bewusstsein von ihnen eigent-
lich aussieht und wie es (in Form des originär gebenden, erfahrenden und
sonstwie wahrnehmenden Bewusstseins und seiner originalen Synthesen)
diejenige Sinngebung vollzieht, an die alles vernünftige, also möglicherweise
gültige Reden über derartige Gegenstände unabänderlich gebunden ist, wird
vom Sensualismus, wie sehr er auch darauf aus ist, auf die innere Erfahrung
zurückzugehen, prinzipiell übersehen. Indem er an dem Eigentümlichen des
Bewusstseins überhaupt vorbeigeht und das Bewusstsein gar so behandelt
wie erfahrene sinnliche Daten, die einfach sind, aber in sich selbst nichts
bedeuten, in sich nichts von Sinn konstituieren, sieht er am spezifisch Er-
kenntnistheoretischen vorbei.
Er redet zwar immerfort von Erkenntnis, zum Beispiel von der Erfah-
rung und ihrem Beruf alle Erkenntnis zu begründen, desgleichen von den
Leistungen des Denkens im Vergleichen, Unterscheiden, Kolligieren, in der
Begriffsbildung, im Schließen usw., aber statt die Erfahrung und das Denken
in ihrem eigenen Wesen und d. i. in der ihnen eigentümlichen Intentionalität
nach all ihren Gestaltungen und dem in ihnen beschlossenen Sinn zu studie-
ren, läuft er dem Problem nach, das sich ihm für das erkenntnistheoretische
unterschiebt: Zu zeigen, wie aus den ersten (freilich nur hypothetisch sup-
ponierten) Bewusstseinsdaten des erwachenden kindlichen Bewusstseins im
Lauf der seelischen Entwicklung die Erfahrungserlebnisse des Erwachsenen
sich herausbilden. Überhaupt, er verfällt in genetisch-psychologische Pro-
bleme, wobei er nicht bemerkt, dass selbst für deren Formulierung und Lö-
sung eine intentionale Analyse des Bewusstseins unerlässlich ist. Wie immer
mein äußeres Erfahren psychologisch-kausal erwachsen ist, zum Beispiel
die Wahrnehmung eines blühenden Baumes, in sich selbst ist sie in ihrem
Abfluss mannigfaltiger Sondergestaltungen (bei meinem Auf- und Abglei-
ten des Blickes, meinen Kopfbewegungen etc.) ein eigenartiges Bewusstsein
von etwas, von dem so und so erscheinenden blühenden Baum, und lässt,
abgesehen von der Existenzfrage und allen naturwissenschaftlichen Fragen,
die für den als wirklich hingenommenen Baum zu stellen wären, in verschie-
dener Hinsicht Beschreibungen zu: sowohl hinsichtlich des Gegenstandes als
Gegenstandes dieser Wahrnehmung und nach dem Wie seiner Gegebenheit,
andererseits hinsichtlich der aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen, ihrer
Empfindungsdaten, Aspekte, ihrer synthetischen Einheitsformen usw. Das
alles ist Eigenheit meines Erlebnisses der Erfahrung, und somit muss der
364 einleitung in die philosophie

Frage der kausal-genetischen Erklärung des Entstehens der Erfahrung in


meiner Seele vorangehen die systematische Analyse des eigenwesentlichen
Bestandes derselben – und so für alle „intentionalen Erlebnisse“, d. i. für
alle Erlebnisse des Typus cogito. Diese müssen dabei in ihrer vollen Kon-
kretion, mit ihrem gesamten Bestand an reellen Daten und an vermeintem
Sinnesgehalt genommen werden.
In einer ganzen Reihe von Vorlesungen haben wir uns mit der Erkennt-
nistheorie beschäftigt, haben wir den Auftrieb der Erkenntnistheorie bis
zur Verselbständigung zu einer eigenen Wissenschaft verfolgt. Die Kritik
der ersten erkenntnistheoretischen Ansätze im 17. Jahrhundert und zuletzt
die Kritik des sensualistischen Psychologismus lieferte uns ein sich immer
mehr vertiefendes Verständnis von der eigentümlichen Problematik dieser
Wissenschaft und insbesondere von ihrem Generalthema, der Intentionalität
des erkennenden Bewusstseins. Die prinzipielle Sonderung der Erkenntnis-
theorie gegenüber der objektiven Wissenschaft und selbst gegenüber der
Psychologie haben wir verstehen gelernt. So vorbereitet, können wir unser
Interesse auf eine neue philosophische Disziplin, auf die Metaphysik wen-
den. So vorbereitet, sagte ich. Denn dass zwischen Erkenntnistheorie und
Metaphysik innigste Zusammenhänge bestehen und so, dass zunächst eine
gründliche Vertiefung in den Sinn der ersteren erforderlich ist, werden wir
alsbald verstehen lernen. Es bedarf nun vorerst einer Übergangsbetrachtung.
Nach unserer Auffassung ist die Wissenschaft vom Transzendentalen und,
darin beschlossen, die „Erkenntnistheorie“ die fundamentale, also die, an
sich betrachtet, im spezifischen Sinne philosophische Grundwissenschaft,
nämlich die erste, die nach der Begründung der strengen Wissenschaften der
natürlichen Blickrichtung in jene prinzipiell neue Dimension vorweist, die
der Philosophie eigentümlich ist. Wissenschaften von der natürlichen Blick-
richtung sind alle Naturwissenschaften, die Psychologie, die empirischen
Kulturwissenschaften, desgleichen die in ihnen methodisch fungierenden
ontologischen Disziplinen; durch sie wird eine erste streng wissenschaft-
liche Weltbetrachtung gewonnen, die als wissenschaftliche eine scheinbar
endgültige, wenn auch unabgeschlossene Welterkenntnis liefert. Aber mit
dem Auftreten der transzendentalen Erkenntnistheorie erweist sich diese
Art Welterkenntnis als eine zwar bleibend wertvolle, aber durchaus unzurei-
chende. Damit zeige ich die Linie an, die in die Metaphysik überführt.
Wer zunächst von der reinen Erkenntnistheorie eine Idee bekommt, wer
hört, dass sie auf dem Boden des reinen Bewusstseins die intentionalen
Probleme der Erkenntnis behandelt (wie das erkennende Bewusstsein sich
in sich selbst auf Gegenständlichkeit beziehe, wie die objektive Geltung der
erkenntnistheorie und metaphysik 365

Erkenntnisbeziehung zu verstehen sei), könnte denken, dass es sich bei all


dem zwar um wichtige Probleme handle, die zwar alle Wissenschaften mit
angehen, sofern alle ja mit Erkenntnissen zu tun haben; dass aber der Sinn
und Wert der in allen natürlichen Wissenschaften nach verschiedenen Seiten
gewonnenen Weltauffassung dadurch radikal betroffen wird, daran wird
man nicht gleich denken. Es wird sich aber in den weiteren Betrachtungen
herausstellen, dass alle radikalen Unterschiede der Weltanschauungen und
gerade der auf strengste Wissenschaftlichkeit bedachten von erkenntnistheo-
retischen Überzeugungen bestimmt sind. Es wird sich zeigen, dass die Er-
kenntnistheorie in ihrer auf alle Erkenntnis, also auch auf alle Wissenschaften
bezogenen Universalität nicht nur überhaupt die Funktion hat, das wissen-
schaftliche Bewusstsein in allen Wissenschaften über seine objektivierenden
und gültige Erkenntnis verbürgenden Leistungen aufzuklären, sondern dass
diese Anwendung die einzigartige Funktion hat, eine eigentümliche Kritik
an allen objektiven Wissenschaften zu vollziehen, eine Kritik, durch welche
allererst der endgültige objektive Sinn und Seinswert des in diesen Wissen-
schaften Erkannten sich bestimmen kann, mit einem Wort: der endgültige
Sinn der in den natürlichen Weltwissenschaften erkannten Welt.
Um dessentwillen heißt die Erkenntnistheorie auch „Erkenntniskritik“
und heißt alle objektive Erkenntnis, die dieser Kritik durch die Erkennt-
nistheorie noch nicht unterworfen worden ist, „dogmatische Wissenschaft“.
Das umspannt also alle noch so exakten mathematischen Disziplinen, phy-
sikalischen, biologischen, psychologischen Disziplinen, andererseits auch
alle prätendierten Erkenntnisse über Gott, Freiheit, Unsterblichkeit usw.
Sie alle, solange sie diese kritische Auswertung nicht erfahren haben, sie
alle sind so lange nicht philosophisch. Alles Nicht-Philosophische liegt vor
der Erkenntnistheorie (Phänomenologie und transzendentale Theorie der
Vernunft). Also die ganze Reihe der großen und stolzen Wissenschaften,
die da „streng“ heißen, blühen und wachsen zwar ohne Erkenntnistheorie.
Aber sofern sie ihr voranliegen und doch ihr alle unterliegen, ihrer Kritik
aus gewissen Gründen bedürfen, unfähig, aus sich selbst heraus diese Kritik
zu leisten, sind sie dogmatische Wissenschaften.
Hier liegt der Grund, warum wir so lange bei der Wissenschaft vom
Transzendentalen verweilten und verweilen mussten. Denn vom Verständnis
ihrer, dem Anfänger so fern liegenden Problematik hängt das Verständnis al-
les überhaupt Philosophischen ab. Die eigentümliche hier waltende Sachlage
können wir so aussprechen: Einen so ungeheuren Fortschritt der menschli-
chen Erkenntnis die Schöpfung der reinen Logik der Sätze, der apriorischen
mathematischen Ontologie und aller sonstigen Ontologie auch bedeutet und
366 einleitung in die philosophie

andererseits die Entwicklung der methodisch strengen Wissenschaften (von


der Natur und von allem geistigen Sein) auch bedeutet, mit dem Auftreten
der transzendentalen Probleme stellte es sich heraus, dass die durch diese
Wissenschaften geleistete Welterkenntnis keine absolute, endgültige sei. Nur
durch transzendentale Erkenntniskritik, durch Anwendung der in der reinen
Erkenntnistheorie (der reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Theorie der Vernunft) gewonnenen Erkenntnis der Wesenskorrelation zwi-
schen Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit, ist aufgrund jener also
nur relativ befriedigenden Wissenschaften eine absolute Erkenntnis erreich-
bar. Wir werden also in Form dieser Anwendung, dieser zu leistenden Kritik
der objektiven Erkenntnis, auf neue, über das Niveau der strengen und doch
dogmatischen Wissenschaften hinausreichende Forschungen hingewiesen;
diese müssen sich dann, wie wir uns überzeugen werden, mit all den For-
schungen innig vereinigen, die von alters her „metaphysisch“ heißen. Ist die
transzendentale Erkenntnistheorie danach die philosophische Grundwissen-
schaft, so leitet ihre Synthesis mit den objektiven Wissenschaften und mit der
metaphysischen Problematik älteren Stils zu einer neuen philosophischen
Wissenschaft, auf diejenige, der das höchste Erkenntnisinteresse, das der
absoluten Erkenntnis, offenbar gilt, und diese werden wir als Metaphysik
bezeichnen.
Die ursprüngliche Idee der Philosophie als einer absoluten und univer-
salen Erkenntnis gewinnt dadurch also einen neuen Sinn. Wie alle Wissen-
schaft und Philosophie ist auch die Metaphysik schon in den Forschungen
des Altertums angelegt und mit einem reichen Gehalt an Problemen und
Theorien ausgestattet. Aber zum Rang einer echten und dann rein philo-
sophischen Wissenschaft kann sie sich erst erheben nach der historischen
Konstitution der natürlichen oder objektiven Wissenschaften und weiterhin
nach der durch sie bedingten Konstitution einer Erkenntnistheorie. Das alles
gilt es aus tiefsten Gründen zu verstehen. Nach unserer Auffassung baut
sich also die Entwicklung der Wissenschaften zu echten Wissenschaften und
schließlich absoluten Wissenschaften, historisch wie sachlich betrachtet, in
Stufen auf: dogmatische Wissenschaften, transzendentale Wissenschaften,
Erkenntnistheorie, Metaphysik. Das sind Stufen; solange sich diese Stufen
nicht ihrer Ordnung nach und in Reinheit abgesetzt haben, ist das Ziel letzter
Erkenntnis nicht erreichbar. Die höhere Stufe setzt die reine Absetzung der
unteren voraus.
Erinnern wir, um nun bestimmter zur Metaphysik zu kommen, an frü-
her schon Gesagtes. Das Altertum, so herrlich seine Leistungen sind, ent-
scheidend für alles, was die Zukunft je geleistet hat, kennt die radikalen
erkenntnistheorie und metaphysik 367

Stufenscheidungen noch nicht. Es bringt es hinsichtlich der ontologischen


Disziplinen nur zur reinen Mathematik und zu den Anfängen der reinen
noematischen Logik. Da es keine exakten Naturwissenschaften in unserem
Sinne hat, so hat es auch im reinen Sinne noch keine Philosophie. Da alle
Erkenntnisse die gegebene Welt betreffen oder umwillen ihrer hilfreichen
Funktion für eine Welterkenntnis entsprungen sind, so gehen begreiflicher-
weise in den ersten Versuchen wissenschaftlicher Weltbetrachtung alle Pro-
bleme ineinander: Auf Welterklärung geht man aus; unklar mengt sich in den
Anfängen apriorische und empirische Erkenntnis, und wieder unklar mengt
sich in den Anfängen überall kausale und teleologische Welterklärung. Selbst
schon der reine Begriff des Physischen mit rein physischen Eigenschaften
und Kräften ist ein spätes Entwicklungsprodukt; überall spielen zwecktätig
wirkende Prinzipien mit hinein. So ist es ursprünglich sogar auch mit dem
Mathematischen. Arithmetische Fragen gehen ungeschieden über in Fragen
der Bedeutung des Zahlenmäßigen für das Sein der Welt; und diese Bedeu-
tung, über welche der Pythagoreismus so eifrig spekuliert, ist eine mythisch-
teleologische Bedeutung, die als solche auch als metaphysisch bezeichnet
werden kann.
Im Altertum tauchen auch mancherlei Erkenntnisprobleme und erkennt-
nistheoretische Schwierigkeiten auf – ich erinnere an die skeptischen Schu-
len, die sich mit dergleichen, sozusagen sportsmäßig abgeben–, aber zu reinen
Problemstellungen kommt es nicht; es mengt sich beständig Metaphysisches
und Naturwissenschaftliches ein. Schrittweise vollzieht sich der Prozess der
Reinigung, die Auskristallisierung der wissenschaftlichen Stufen: zuerst die
reine Mathematik im Altertum selbst, dann zu Beginn der Neuzeit die streng
empirische Naturwissenschaft, und ihr folgen streng empirische Geistes- und
Kulturwissenschaften. Das alles, in eins gefasst, ergibt die Stufe der natürli-
chen objektiven Wissenschaften. Früher ausführlich besprochen haben wir,
wie die Auskristallisierung dieser Stufe Erkenntnisbedürfnisse einer neuen
Dimension hervortreibt: Es erwächst die Erkenntnistheorie. Sie erwächst
zwar nicht gleich in der von uns als notwendig geforderten Reinheit, aber
sie ist sozusagen auf dem Marsch, sie steht in einem Entwicklungsprozess,
der schließlich zur Reinheit führen muss. Das ergibt also eine neue Stufe, die
erste im eigentümlichen Sinne philosophische, wie wir sagten.
Aber das ist nicht alles. Die Auskristallisierung der dogmatischen Wis-
senschaften bedingt, zunächst parallel laufend mit der Entwicklung einer
Erkenntnistheorie, auch die Begründung einer anderen, sich den mathe-
matischen und Naturwissenschaften gegenübersetzenden Wissenschaft: der
Metaphysik. Oder vielmehr, Metaphysik ist nach Problemen und Theorien
368 einleitung in die philosophie

längst da, aber nun scheidet sie sich notwendig für sich ab und setzt sich den
mathematischen und Naturwissenschaften gegenüber. Davon sprachen wir
schon. Metaphysik hatte schon das Altertum in dem ersten systematischen
Entwurf durch Aristoteles.1
In dieser aristotelischen Metaphysik nun, die bei der historischen Lage
selbstverständlich kausale und finale (teleologische) Probleme ineinander-
schlingt, ist der finale Gesichtspunkt, was bei einem Schüler des Platon
begreiflich ist, der durchaus herrschende. Alles was ist, ist so, wie es ist und
wie es wird, gesetzmäßig bestimmt, aber all solche Gesetzmäßigkeit ist im
letzten Grund eine teleologische. Alles Werden in der Welt ist zweckmäßiges
Werden; die Welt ist eine teleologische Werdenseinheit, deren letztes Prinzip
die absolute Vernunft, die Gottheit, ist. Gott ist der unbewegte Beweger, die
selbst nicht werdende Urquelle alles Werdens, die absolut unveränderliche
Vernunft. Das alles, bemüht Aristoteles sich, wissenschaftlich zu erweisen in
seiner Metaphysik. Durch den Hinweis auf solche Probleme der Weltteleolo-
gie, auf die Gottesprobleme und die damit zusammenhängenden Weltwert-
probleme (wozu natürlich auch die Probleme der menschlichen Bestimmung
gehören) ist uns der Begriff der Metaphysik vorläufig illustriert; wir haben
eine Problematik damit bezeichnet, die durch das ganze Altertum bis in
die Neuzeit hindurchgeht und an die man unter dem Titel „Metaphysik“
vorzugsweise denkt.
Für uns Modernen ist hierbei aber schon bestimmend die Abscheidung
von den naturwissenschaftlichen Problemen, die das Altertum noch nicht
kennt. Die Neuzeit bringt als ein in der Tat Neues die Konstitution von nicht-
teleologischen Weltwissenschaften, die aufgrund der Erfahrung real-kausale
Zusammenhänge und ihre Gesetzlichkeiten unter völligem Ausschluss al-
ler Frage nach Teleologie, nach Gott und Weltvernunft behandeln; und in
dieser Richtung geht immer mehr und immer ausschließlicher die forschende

1 Gestrichen Zunächst, was den Titel „Metaphysik“ als Name einer eigenen Wissenschaft

anbelangt, so geht er auf Aristoteles zurück, obschon dieser selbst den Namen nicht gekannt hat.
Sein Name lautet „Erste Philosophie“, im Gegensatz nämlich zu den „Zweiten Philosophien“.
Zu beachten ist dabei, dass bei ihm Philosophie so viel heißt wie „theoretische Wissenschaft“.
Er hält es für notwendig, dass eine eigene Wissenschaft vom Seienden überhaupt, vom Realen
nach seinen allgemeinen Wesensbestimmungen, handle, und stellt ihr gegenüber die theore-
tischen Wissenschaften, die von den besonderen Arten und Gebieten der Realität handeln,
unter beständiger Anwendung der in der ersten Philosophie herausgestellten allgemeinen
Seinserkenntnisse. Die zufällige äußere Stellung der aristotelischen Schrift Erste Philosophie
bestimmte die üblich gewordene Zitation: τ+ μετ+ etc., „die hinter der Physik“. Und daraus
wurde der Name „Metaphysik“, der zufällig eine andere und sachlich passende Deutung zuließ:
als eine über Physik, über Naturwissenschaft hinausliegende Wissenschaft.
erkenntnistheorie und metaphysik 369

Energie der Neuzeit. Das geht so weit, dass wohl die meisten heutigen Natur-
forscher unter dem Einfluss des beherrschenden Positivismus andere als die
naturwissenschaftlichen Fragen nicht mehr gelten lassen. Aber jedenfalls zu
Anfang der Neuzeit war das nicht die Meinung, und auch in der Folge konnte
es bei dieser Beschränkung nicht sein Bewenden haben. Der Naturforscher
muss alle teleologischen Fragen, alle Fragen nach einer göttlichen Vernunft,
nach Wertideen, von denen sie geleitet ist (denen gemäß diese Natur von
innerer Rationalität durchleuchtet ist, zwecktätig Gestaltung nach Kausal-
gesetzen hervorgehen lässt), beiseitelassen: Das fordert ja der Sinn seiner
Wissenschaft. Aber historisch waren diese Fragen doch da und die ältesten;
und sie waren doch nicht aus der Luft gegriffen, sondern durch die Welt,
wie sie sich dem menschlichen Bewusstsein nun einmal gibt, nahegelegt. Sie
mussten also wissenschaftlich angegriffen werden.
Descartes ist einer der Begründer der neuen Naturwissenschaft. Als sol-
cher fordert er energisch den Ausschluss aller Fragen nach den „finalen“
Ursachen, nach Zwecken, also auch Werten innerhalb der naturwissenschaft-
lichen Forschung. Aber darum ist für ihn Naturwissenschaft doch nicht alles.
Das Gottesproblem, als die Frage nach dem absoluten Seinsprinzip, das
den teleologischen Grund der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit abgibt
und die rationale Ordnung der Natur unter mathematischen Naturgesetzen,
unter Erhaltungsprinzipien, erklärt, die Frage nach dem Verhältnis dieser
absoluten Substanz „Gott“ zu den endlichen Substanzen, den Dingen im
gewöhnlichen Sinne – alle solche Fragen sind für ihn von brennendem
Interesse, sind für ihn Hauptfragen. Sie liegen seit Galilei aber außerhalb
der Linie der neu konstruierten Naturwissenschaft. Also Metaphysik als
eine Wissenschaft neuer Art und wieder neuer Dimension sondert sich
ab; und diese verselbständigende Absonderung ist bedingt durch die Art,
wie vorher Naturwissenschaft sich, in sich abgeschlossen, ihr eigentümliches
Aufgabenfeld sich abgegrenzt hatte.
Wieder ist es eine Wissenschaft „neuer Dimension“. Eine neue Dimen-
sion ist auf die alten bezogen. Das sagte für die Erkenntnistheorie: Alle
Naturwissenschaft, wie alle Wissenschaft überhaupt, ist als Erkenntnissystem
zu betrachten und hat seinen erkenntnistheoretischen Aspekt. Das Paral-
lele haben wir für Metaphysik. Hier sagt die Rede von einer Wissenschaft
neuer Dimension: Alles was Naturwissenschaft an Sätzen und Theorien
ableitet (und vor allem die oberste Naturgesetzmäßigkeit, die alle Natur
umspannt, die letzten Naturelemente nach Arten und Formen, aus denen
Natur sich gesetzmäßig aufbaut), all das hat einen metaphysischen Aspekt,
der wissenschaftliche Betrachtung fordert, während die Naturwissenschaft
370 einleitung in die philosophie

selbst diese Forschung nicht leistet. Naturwissenschaftliche Fragen sind nicht


teleologische Fragen, aber alle Natur ist unter teleologischem Aspekt anzu-
sehen, und unter diesem betrachtet sie die Metaphysik. Sie ist von vornher-
ein auf Naturwissenschaft zurückbezogen (nämlich soweit sie Metaphysik
der Natur, „Naturphilosophie“ ist) und doch nicht eine bloße Fortsetzung
der naturwissenschaftlichen Theorien, wie eine neue naturwissenschaftliche
Disziplin Fortsetzung der vorangegangenen ist. Diese zwei philosophischen
Wissenschaften, diese Wissenschaften neuer Dimension gegenüber der ma-
thematischen Naturwissenschaft und der reinen Mathematik selbst, stehen
nun aber in innigstem Zusammenhang.1
Die2 Gesamtheit der Wissenschaften von der physischen und geistigen
Natur (unter Zuzug der in ihnen methodisch fungierenden reinen Mathema-
tik) befriedigt in Ansehung der Welt nicht alle theoretischen Bedürfnisse.
Einerseits übt, sagten wir, die Heranziehung der Erkenntnistheorie als reine
Wesenslehre der Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit einen not-
wendigen Einfluss. Die Anwendung der Erkenntnistheorie auf die Erkennt-
nisart und den Erkenntnisgehalt der natürlichen Realitätswissenschaften
leistet hinsichtlich dieser Wissenschaften eine Kritik, die an ihren Sätzen
und Theorien zwar nichts ändert, für die rechtmäßige Interpretation der in
diesen erkannten Natur aber entscheidend ist. Andererseits liegt im Wesen
der Naturwissenschaften von ihrer Begründung her eine Einschränkung, die
keine zufällige ist, sondern den Sinn der physischen und geistigen Natur in
bestimmter Richtung begrenzt. Die Welt als Natur erforschen, das ist von
allen Fragen nach Gott und göttlicher Teleologie absehen, alle Fragen der
Zweckmäßigkeit der Welt ausschalten. Ob das Weltall einer Wertbetrach-
tung unterliegt, ob Wertideen für die Realisierung gerade dieser Welt mit
diesen Dingarten, Dinganordnungen und Gesetzen bestimmende Bedeu-
tung haben, ob und in welchem Sinne von einer Weltschöpfung durch eine
absolute, von Zwecken geleitete Vernunft gesprochen werden muss – das
alles sind Fragen, die außerhalb der Linie der Naturwissenschaft liegen. Für
die Menschheit hat die Welt immer diesen metaphysischen Aspekt gehabt;
sein Sinn und Recht muss in wissenschaftlichen Forschungen herausgestellt
werden.

1 Gestrichen Das wird sich alsbald zeigen, wenn wir den Einfluss der Erkenntnistheorie, schon

in ihren unvollkommeneren Ausgestaltungen zu Anfang der Neuzeit, auf die Interpretation der
naturwissenschaftlich bedachten und bestimmten Natur beachten und dessen innewerden.
2 Randbemerkung 26.6.1916. Wir erholen uns.
erkenntnistheorie und metaphysik 371

(Diese beiden Gruppen von wissenschaftlichen Forschungen, die über


die naturwissenschaftlichen hinaus vollzogen werden müssen, wenn den un-
ablässigen Intentionen der absoluten Welterkenntnis Genüge geleistet wer-
den soll, stehen miteinander in innigem Zusammenhang.) Wir überzeugen
uns davon durch folgende Betrachtung. Versetzen wir uns zurück in unsere
geistige Situation, da wir von Philosophie noch nichts wussten. Wir lernten
die Naturwissenschaften kennen. Im einsichtigen Verständnis der Kraft na-
turwissenschaftlicher Methode nehmen wir alle natürlichen Wissenschaften
von der physischen und geistigen Welt als endgültige Wissenschaften. Gesetzt
nun, dass etwa von unserer religiösen Erziehung her oder auch von der wis-
senschaftlich historischen Tradition her die theologischen bzw. teleologi-
schen Probleme in unseren Gesichtskreis treten, wir also dazu übergehen, an
die rein sachwissenschaftlich betrachtete Welt auch solche metaphysischen
Fragen alten Stils zu stellen. Es wird dann dieses neue Problemgebiet zu
dem naturwissenschaftlichen zunächst nur in Form einer äußerlichen Ergän-
zung hinzutreten. Die Natur mit all den naturwissenschaftlich festgesetzten
Bestimmungen gilt als absolut daseiend. Nur ob und inwiefern sie von einer
Teleologie durchherrscht ist, ob und wie sie geschaffene Natur ist, ob und wie
sie aus göttlichen Zweckideen hervorgegangen ist, wird ergänzend gefragt.
Dabei ist auf keine Erkenntnistheorie Rücksicht genommen, von der wir
vorausgesetztermaßen nichts wussten. Nun tritt sie in unseren Gesichtskreis,
und dann hat sie hier sehr viel mitzureden.
Einerseits unterliegt die Naturwissenschaft nach allen ihren wirklichen
und möglichen Disziplinen den Wesensgesetzen der Erkenntnistheorie, die
für jede mögliche Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit, also auch
für jede erkennbare Naturgegenständlichkeit ihre Regeln vorschreiben. An-
dererseits gilt aber dasselbe auch für die ergänzend hinzutretende Metaphy-
sik, die, indem sie hinzutritt, doch auf dieselbe von der Naturwissenschaft
schon erkannte Natur eine Erkenntnisbeziehung beansprucht, wenn auch
eine solche neuer Dimension. Woher wir immer die Zweckgedanken, woher
die Ideen von Gott und göttlichem Schaffen, von real wirkenden Wertideen
u. dgl. hernehmen mögen, wir denken und erkennen, was hier zu denken
und zu erkennen ist, in Gestaltungen unseres Bewusstseins; und somit ist
es die Erkenntnistheorie, die auch für diese Gestaltungen, für Wesen und
Methode metaphysischer Problemstellungen und Problemlösungen Normen
aufstellt. Welches sind die metaphysischen Erkenntnisquellen? Was sind in
Hinsicht auf alles Metaphysische die letzten Geltungsprinzipien? Wie sehen
hier die Rechtsgründe aus? Wie weit reicht hier die Evidenz und wie sieht
diese Evidenz aus? Und wie lösen sich die Probleme dieser neuen, der
372 einleitung in die philosophie

metaphysischen Transzendenz? Die Natur ist ein dem Bewusstsein Tran-


szendentes, aber Natur ist gegeben in der Erfahrung. Wir haben von ihr also
unmittelbare Anschauung und diese fundiert das erfahrungswissenschaft-
liche Denken. Ist auch Gott eine Gegebenheit der Erfahrung? Oder gibt
es, wenn auch nicht in Form äußerer Erfahrung, ein analoges unmittelbar
gebendes Bewusstsein, etwa das religiöse Bewusstsein, das Fundament ist
des metaphysischen Denkens und Theoretisierens? Wie steht es also mit
der Struktur echt wissenschaftlicher metaphysischer Methodik, wie ist Sinn
und Leistung derselben aufzuklären oder von vornherein in allgemeiner
Wesensbetrachtung die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis zu entwer-
fen? Das sind offenbar durchaus notwendige erkenntnistheoretische Pro-
bleme.
Wir nannten Wissenschaften, echte oder prätendierte, die noch der er-
kenntnistheoretischen Aufklärung entbehren, die noch nicht der von der
allgemeinen Erkenntnistheorie her zu leistenden Kritik unterworfen wor-
den sind, „dogmatische Wissenschaften“. Wir sehen nun, dass nicht nur
die Naturwissenschaften, solange sie so betrieben und gelernt werden, wie
sie erwachsen sind und wie wir sie alle treiben und lehren, dogmatische
Wissenschaften sind. Vielmehr gilt dasselbe von der Metaphysik, solange
sie unbekümmert um Erkenntnistheorie fortwächst.1 Ja, für sie gilt das in
doppeltem Maß. Denn in ihren Aufgabenkreis gehört doch die gesamte
Natur schon mit dem Bestand, den die Naturwissenschaft wissenschaftlich
herausgestellt hat und noch weiter herausstellt. Jede inquiry, die etwa die
Erkenntniskritik hinsichtlich der Naturerkenntnis übt, alle Sinnesdeutungen,
die durch sie für die naturwissenschaftlich erkannte Natur erwachsen mögen,
gehen eo ipso die Metaphysik an. Eine Metaphysik wäre also jedenfalls
dogmatische Metaphysik, wenn sie sich an die erkenntniskritisch unberührte,
also dogmatische Naturwissenschaft anschlösse. Und sie wäre zum zweiten
Mal dogmatisch, wenn sie sich zwar an eine kritisch aufgeklärte Natur-
wissenschaft anschlösse, aber in der eigenen Richtung ihres methodischen
Vorgehens hinsichtlich der neuen Probleme und Theorien, die sie heran-
brächte, sich um die Erkenntnistheorie nicht kümmerte. Also Sie sehen, wie
nahe Zusammenhänge hier bestehen, und Sie begreifen nun die notwendige
Stufenordnung einer absoluten Erkenntnis als einer nicht nur in irgendeiner

1 Randbemerkung Dogmatisch ist die gesamte Wissenschaft und Metaphysik des Altertums,

dogmatisch ist auch die auf die neuzeitliche Naturwissenschaft bezogene, etwa gar auf sie
gegründete Metaphysik, wenn sie vom Geiste reiner Erkenntniskritik nicht berührt ist, wie das
von dem größten Teil der von Naturforschern betriebenen Naturphilosophien unserer Zeit gilt.
erkenntnistheorie und metaphysik 373

Hinsicht wissenschaftlichen, sondern als einer so allseitig wissenschaftlichen,


dass sie alle hinsichtlich der Realität zu stellenden Problemdimensionen in
Angriff nimmt.
Unvollständig ist auch die Naturerkenntnis, sofern Natur uns immer neue
Aufgaben stellt und schon vermöge der räumlich-zeitlichen Unendlichkeit
ein endloses Aufgabenfeld bezeichnet. Die Idee absoluter Erkenntnis er-
fordert es aber nicht nur, dieses unendliche Feld für Forschung freizule-
gen, sondern auch die neuen Forschungsdimensionen zu eröffnen, die wir
als spezifisch philosophische klargelegt haben. Wie wenig die zugehörigen
Erkenntnisse sich bloß summieren, wie tiefgreifend vielmehr die höheren,
die philosophischen Erkenntnisse Sinn und Wert der unteren Dimension
bestimmen, das werden wir bald sehen.
Ehe ich weiter gehe, möchte ich noch vor Vermengungen warnen. Wir
müssen die reine Linie beständig im Auge halten. Manche der Neueren
identifizieren geradezu Erkenntnistheorie und Metaphysik oder scheiden
mindestens beides nicht deutlich voneinander. Wir, die wir die völlig eigene
Stellung der Erkenntnistheorie als reine Wesenslehre der Erkenntnis einge-
sehen haben, können keine Motive finden, sie mit irgendwelchen Realitäts-
wissenschaften, also auch nicht mit der wie immer näher zu begrenzenden
Metaphysik zu identifizieren oder zu vermengen.
(Die1 Erkenntnistheorie hat es natürlich mit dem Wesen aller Grund-
arten von Erkenntnissen und Erkenntnisgegenständlichkeiten zu tun, also
auch mit dem Wesen jedweder Grundart von Realitätserkenntnis über-
haupt und Realität überhaupt. Ist Naturwissenschaft ein Grundtypus von
Wissenschaft, so gehört dieser Grundtypus als solcher nach allgemeiner
Form und Wesen in die Erkenntnistheorie. Und ebenso für Metaphysik.
Aber darum gehört keine einzige faktische Naturwissenschaft und keine
auf faktische Welt bezogene Metaphysik in die Erkenntnistheorie. Das Ver-
hältnis ist dasselbe wie etwa das zwischen Raumgestalten der Wirklichkeit
und der Geometrie. Diese, als reine Geometrie, ist Wissenschaft von ideal
möglichen Raumgestalten überhaupt, aber nicht etwa von der faktischen
Gestalt der Erde. Das Letztere sucht die Geographie und Astronomie; und
das sind Naturwissenschaften, die reine Geometrie anwenden, aber nicht
selbst reine Geometrie sind. Wir scheiden also die reine Erkenntnistheorie
und die wissenschaftlichen Forschungen, die aus der Anwendung dersel-
ben auf die faktisch gegebenen Realitätswissenschaften entspringen. Und

1 Am Rande zwei Nullen.


374 einleitung in die philosophie

demgemäß haben wir die erkenntniskritisch aufgeklärte und interpretierte


Naturwissenschaft und Naturteleologie als eine neue Wissenschaft zu fassen.)
Dem Allgemeinen nach bezeichnen wir alle philosophischen Realitäts-
forschungen, sofern sie, hinsichtlich der realen und gegebenen Welt über
die Unterstufe der Naturwissenschaften hinausgehend, dem Ziel absoluter
Erkenntnis zustreben, als Metaphysik. Sie umspannt also sowohl das Neue,
das die Anwendung der reinen Erkenntnistheorie (die also nicht Metaphysik
ist) auf die Naturwissenschaften für die Welterkenntnis leistet, als auch das
höherstufige Neue, das die im engeren Sinne metaphysischen (also die teleo-
logischen und theologischen) Forschungen hereinbringen, die nicht minder
Erkenntnistheorie voraussetzen.
Wir gehen nun dazu über, den Einfluss der Erkenntnistheorie auf die
Interpretation der naturwissenschaftlich bestimmten Natur näher zu be-
trachten. Es gilt jetzt, uns zu konkret erfüllter Klarheit zu bringen, was
vorweg in der letzten Vorlesung angedeutet war: Nämlich, dass die noch
so vollkommen in Form der Naturwissenschaften erkannte Natur die Mög-
lichkeit verschiedener Interpretationen offen lässt, dass somit die noch so
weit getriebene und noch so exakte Naturwissenschaft nicht als absolute
Naturerkenntnis gelten kann. Die Naturwissenschaft ist vor der Konstitution
einer reinen Erkenntnistheorie erwachsen, und sie konnte weiter blühen,
ohne sich um Erkenntnistheorie zu kümmern. Aber sowie Erkenntnistheorie
auf den Plan trat (und noch ehe sie die echte Form einer Wesenslehre der
Erkenntnis angenommen hatte), ging von ihr eine eigentümliche Wirkung
auf die Naturerkenntnis aus. Die Natur wird zum Rätsel, die Natur mit all
den physikalischen und chemischen Eigenschaften und Gesetzen, mit all den
Theorien, deren Geltungswert keine Vernunft bestreiten mag. Infolge der
Verknüpfung erkenntnistheoretischer Motive mit den Naturwissenschaften
erhalten diese im allgemeinen Bewusstsein immer entschiedener die bloße
Bedeutung von Wissenschaften von bloßen „Erscheinungen“, und der Streit
entbrennt nun hinsichtlich der Frage: Was ist die Natur selbst, inwiefern
hat sie hinter sich ein An-sich-Sein? An dem theoretischen Bestand der
Naturwissenschaft wird dabei nicht gerüttelt, sie ist in ihrer Geltung voraus-
gesetzt. Und doch, der echte und rechte Sinn der Natur als des Themas der
Naturwissenschaft wird fraglich. Die durch die Erkenntnistheorie vermittelte
Erforschung dieses Sinnes soll also auf ein durch die Naturwissenschaft selbst
noch nicht herausgestelltes Absolutes der Natur zurückführen.
Sowohl auf Seiten des von Descartes ausgehenden Rationalismus als
auch auf Seiten des Locke’schen Empirismus wirkt die Erkenntnistheo-
rie mit der bezeichneten Tendenz, und beiderseits führt die Entwicklung
erkenntnistheorie und metaphysik 375

sehr bald dahin – auf der einen Seite schon in Leibniz, auf der anderen in
Berkeley – die materielle Natur zu deuten als eine in den erfahrenden geisti-
gen Subjekten verlaufende Gesetzmäßigkeit von Bewusstseinsphänomenen.
Descartes hatte noch die neue mathematische Naturwissenschaft als eine
absolute Wissenschaft angesehen, die nur durch metaphysisch-teleologische
Interpretationen zu ergänzen sei. Durch seine energische Forderung einer
absoluten Erkenntnis und durch seinen Rückgang auf die zweifellose Ge-
gebenheit des reinen Bewusstseins im cogito hatte er zwar für alle weiteren
Entwicklungen den entscheidenden Anstoß gegeben, aber allzu schnell hatte
er vom cogito den Sprung in die Metaphysik gemacht, einen vermeintlich
zweifellosen Gottesbeweis geführt und durch Berufung auf die angeblich
miterwiesene göttliche veracitas die objektive Geltung der rationalen Natur-
erkenntnis, der mathematischen, vollzogen.
In seinem Ideengang standen sich erkenntnistheoretisch geistiges Sein
und materielles Sein nicht gleich. Einen Vorzug unmittelbarer und absolu-
ter Gewissheit hatte die Erkenntnis der Bewusstseinsgegebenheiten oder –
in der bedenklichen Wendung, die er häufig sogleich machte – die Er-
kenntnis, die der Geist von sich selbst hat. Was andererseits die im Geist
erscheinende und durch eingeborene Ideen des Geistes rational erkannte
Körperwelt anbelangt, so hat sie nicht die gleiche absolute Erkenntnisdi-
gnität; sie kann nur erschlossen sein, und der Schluss läuft bei Descartes
als bloßer Kausalschluss in der angedeuteten Weise über den Gottesbe-
weis. Gegenüber diesem Unterschied der Erkenntnisdignität besteht nach
Descartes hinsichtlich Geist und Körper Koordination in der Seinsdignität,
denn seine Untersuchung endet mit dem Resultat, dass es zwei irredu-
zible Grundarten von endlichen Substanzen (endlichen Realitäten) gibt,
die res cogitantes und res extensae, und zudem die eine unbedingte, un-
endliche Substanz Gott, das schöpferische Prinzip der endlichen Substan-
zen. Die Abhängigkeit der endlichen Substanzen und insbesondere auch
der körperlichen von Gott ändert nichts an ihrer wirklichen Wirklichkeit,
nur dass sie eben gottbedingte sind. Dieser Dualismus in der Naturauf-
fassung stimmte sehr gut zu der in der neuen Naturwissenschaft selbst
vollzogenen Einstellung. Ihr gemäß gelten in äußerer und innerer Erfah-
rung gegebene Realitäten eben als gegebene Realitäten: Körper und mit
Körpern verbundene Geister sind da; sie nach ihren objektiven Beschaf-
fenheiten und Gesetzen zu erforschen, ist die naturwissenschaftliche Auf-
gabe.1

1 Gestrichen Schon bei Hobbes, dem Zeitgenossen des Descartes, bemerken wir einen Einfluss
376 einleitung in die philosophie

Der Empirist Locke vertritt den gleichen Dualismus wie Descartes. Nicht
als ob er die cartesianische Deduktion durchaus mitmachen wollte, sondern
weil er eben als Empirist der Erfahrung folgen und sich durch die erfahrungs-
wissenschaftliche Auffassung leiten lassen will. Von Descartes übernimmt er
dabei die Lehre von der absoluten Gegebenheit, die für das Bewusstseins-Ich
sein eigenes Sein und Bewusstseinsleben hat, und in weiterer Folge die Lehre,
dass dem Ich alles Äußere nur durch die eigenen Ich-Erlebnisse gegeben sein,
dass das Äußere sich im Bewusstseinsinneren nur darstellen kann. Wir sollen
nach Locke eine unmittelbare Intuition von dem Verursachtsein unserer Sin-
nesempfindungen durch Äußeres besitzen, und so sollen wir mit Gewissheit
ein äußeres Sein, vor allem eine Körperwelt annehmen. Das wird in der
von Locke ausgehenden Linie der Entwicklung wirksam.1 Dieser Ausgang
vom immanenten Bewusstsein führt zum sogenannten „Idealismus“, das
heißt, zur Auffassung, dass die materielle Natur, mit den gesamten Gehalten
genommen, die die Naturwissenschaft herausstellt, in letzter Wahrheit nur
eine Bewusstseinswirklichkeit hat, dass sie nichts anders sei als eine Regelung
von Zusammensetzungen von „Ideen“.
In der Redeweise des 18. Jahrhunderts heißen „Ideen“ Bewusstseinser-
lebnisse. Das Wort hat also einen ganz anderen Sinn, als er heute üblich ist.
Die Entwicklung führt also dahin, dass der cartesianische (und Locke’sche)
Dualismus der Naturauffassung aufgegeben und alles reale Sein in geistiges
Sein umgedeutet wird: Es gibt nur geistige Realitäten, und in den geistigen
Realitäten treten sinnliche Phänomene auf in gewissen geregelten Ordnun-
gen. Materielle Körper erscheinen, sie sind als gegenständliche Phänomene
in der Erfahrung gegeben. Aber es kommt ihnen kein außerbewusstes Dasein
zu. Sie sind bloße Indizes für Bewusstseinsregelungen, die übereinstimmend
alle empirischen Subjekte übergreifen und in ihnen das geregelte Phäno-
men einer ihnen äußeren materiellen Welt erzeugen. Diese dem natürlichen
Bewusstsein paradox anmutende Auffassung bleibt selbstverständlich nicht
ohne Bestreitung.
Dem Idealismus steht bis zum heutigen Tag gegenüber der sogenannte
Realismus. Dabei pflegt man unter „naivem Realismus“ die vor aller Theo-
rie liegende natürliche Auffassung zu verstehen, welche die gegebene ma-
terielle Natur als vorbehaltlos geltende Wirklichkeit hinnimmt, ohne sich

erkenntnistheoretischer Motive auf die Interpretation der Natur, da die mathematische Physik
die Sinnesqualitäten, mit denen die Dinge in der schlichten äußeren Erfahrung erscheinen, aus
einer puren qualitätslosen Körperlichkeit rein mechanisch erklärt.
1 Randbemerkung Cf. Locke über Existenz, das Außending und sonstige Gewissheit.
erkenntnistheorie und metaphysik 377

um erkenntnistheoretische Motive, welche für oder gegen den Idealismus


sprechen, zu kümmern. Demgegenüber versteht man unter „kritischem Rea-
lismus“, denjenigen, der sich mit diesen Motiven bzw. Argumenten ausein-
andersetzt und die realistische Position, die Annahme einer Welt materiel-
ler Dinge an sich, erkenntnistheoretisch rechtfertigt. Gemeinsam ist allen
Theorien vom einen und vom anderen Typus, also allen idealistischen und
realistischen, dass sie das, was die Naturwissenschaften über die Natur lehren,
in keiner Weise bestreiten, dass sie es vielmehr nur in verschiedener Weise
erkenntnistheoretisch interpretieren.
Am leichtesten ist die erkenntnistheoretische Motivation, die zum Idea-
lismus drängte, auf Seiten der Locke’schen empiristischen Richtung zu ver-
stehen. Gehen wir ihr nach, so gewinnen wir aber noch viel mehr. Nämlich:
Die Auswirkung der bei Locke angelegten sensualistischen Motive führt
in eins mit dieser idealistischen Entwicklung zu einem Skeptizismus, der
jedes Weltverständnis aufhebt. Das sagt: Im Verfolg dieser Entwicklung
lernen wir verstehen, dass erkenntnistheoretische Überzeugungen nicht nur
in irgendeinem einzelnen Punkt, in irgendeiner einzelnen Hinsicht die In-
terpretation des Sinnes der Welt angehen, sondern dass das Weltverständnis
so durch und durch von Erkenntnistheoretischem abhängig ist, dass an sich
sehr naheliegende, aber schwer aufzuklärende Abirrungen der Erkenntnis-
theorie schließlich einem völligen Unverständnis der Welt zuführen müssen.
In der Tat: Das vor allem war die im Empirismus herrschende Intention, der
schlechten, nur scheinwissenschaftlichen Metaphysik ein Ende zu machen
und gegenüber den scholastischen Tüfteleien und mystischen Substruktionen
der positiven Wissenschaft erkenntnistheoretisch die Wege zu bereiten. Dass
die empirische Naturwissenschaft eine allein klare, einstimmige, rechtmäßige
Weltanschauung zu geben vermöge, das war das Thema. Aber siehe da: In der
Ausführung solcher erkenntnistheoretischen Klärungen gerät man in Verle-
genheiten und endet bei Hume in einem Skeptizismus, der das Eingeständnis
in sich schließt, dass selbst die Rationalität der exakten Wissenschaften ein
Schein sei, dass also die Natur selbst jedweder vernünftig aufzuklärenden
objektiven Geltung entbehre, sondern eine sinnlose Fiktion im Bewusstsein
sei.
(Als unser Thema war angekündigt die Entwicklung zum sogenann-
ten Idealismus, die sich in der Locke’schen empiristischen Richtung voll-
zieht, und in eins damit der Nachweis, dass die konsequente Auswirkung
der empiristischen Erkenntnistheorie in metaphysischer Hinsicht so we-
nig zum Ziel einer auch nur den allgemeinsten Zügen nach einstimmigen
und klaren Weltanschauung führt, dass er vielmehr in einem widersinnigen
378 einleitung in die philosophie

Skeptizismus endet.) Lockes Essay, das Grundwerk, auf das die ganze Ent-
wicklung zurückbezogen ist, ist ein durch und durch widerspruchsvolles
Werk. Eine Erkenntnistheorie will es entwerfen und verfehlt den Sinn er-
kenntnistheoretischer Problematik so sehr, dass es von Anfang an Erkennt-
nistheorie und Erkenntnispsychologie verwechselt, also in einen widersinni-
gen dogmatischen Psychologismus verfällt.
Die1 natürlich gegebene geistige und körperliche Natur und mancherlei
auf sie bezogene vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Erkenntnisse
werden von Locke in naiv-realistischer Weise als Gültigkeiten hingenommen,
während doch der allgemeine Sinn und die Möglichkeit dieser Erkenntnis
und ihrer Gegenständlichkeiten selbst zum erkenntnistheoretischen Thema
gehören, selbst in Frage stehen; ja, für Locke selbst in Frage stehen, denn die
beständige naiv-realistische Benutzung der Existenz der Natur und der Gel-
tung der Naturwissenschaft hindert Locke nicht, in widerspruchsvoller Weise
die Möglichkeit dieser Erkenntnis zugleich zum Problem zu machen. Also,
was selbst in Frage steht, das dient, als ob es nicht in Frage stehe, zugleich
mit zur Beantwortung der Fragen. (Die Verkehrtheit dieses Verfahrens, die
eben mit der Unfähigkeit, den radikalen und reinen Sinn erkenntnistheo-
retischer Problematik zu erfassen, zusammenhängt, brauchen wir nicht von
Neuem zu erörtern) und ebenso sei nur erinnert an den allgemeinen Sinn
des Sensualismus, der sich im Bild von der tabula rasa ausprägt.
Was für die Fortentwicklung des Locke’schen Empirismus für uns aus dem
Gehalt des Locke’schen Essay besonders interessant ist, ist aber die in dem
ganzen Verfahren Lockes angelegte Tendenz zur nachmaligen immanenten
Philosophie, deren erste und noch unvollständige Auswirkung Berkeleys
„Idealismus“ (Spiritualismus, Immaterialismus) ist. Lockes herrschender
Gedanke ist zunächst folgender: Wenn wir dem endlosen Streit der Menschen
über Natürliches und Metaphysisches ein Ende machen, wenn wir die Macht
der scholastischen Wortklauberei und der mystischen Verstiegenheiten ra-
dikal bekämpfen wollen, wenn wir echte Wissenschaft wirksam vorbereiten
und in jeder Hinsicht dauernde Fortschritte menschlicher Erkenntnis erzie-
len wollen, dann müssen wir zu den letzten Quellen von Erkenntnis und
Irrtum überhaupt zurückgehen.
Was die Erkenntnis anbelangt, so ist es für Locke ein Grundsatz (dessen
Abstammung aus der cartesianischen Philosophie uns bekannt ist), dass
unserer Erkenntnis unmittelbar gegeben nur unsere eigenen Ideen sind,

1 Am Rande eine Null.


erkenntnistheorie und metaphysik 379

unsere eigenen Bewusstseinserlebnisse. Wie sehr Locke anthropologisch-


naturwissenschaftlich eingestellt ist, also den Erkennenden im Zusammen-
hang der räumlich-zeitlichen Welt nimmt, so sagt er doch zugleich: Alles,
was ich überhaupt erkenne und erkennen kann, ist mir nur durch meine
eigenen Vorstellungen gegeben, liegt also in meinem Bewusstseinsbereich,
meiner tabula, die ursprünglich eine tabula rasa ist, auf die im Gang der
Erfahrung sich immer neue Zeichen eintragen. Halte ich mich an diese
Zeichen, so wie sie in ursprünglicher Klarheit und Lebendigkeit aufzutreten
pflegen und in dieser Klarheit sich leicht voneinander scheiden, leicht ihre
Übereinstimmungen und Unterschiede herausstellen lassen, so irre ich nicht.
Der Irrtum entspringt dadurch, dass in uns auch unklare, sich miteinander
verwirrende Vorstellungen erwachsen, und zwar insbesondere in Form der
Reproduktion, deren oft matte und flüchtige Bilder ungeschieden ineinander
übergehen. Insbesondere ist die Sprache eine Hauptquelle des Irrtums. Der
Geist hat die Fähigkeit, scharf unterscheidbare sinnliche Ideen, sogenannte
Worte, als Zeichen für jederlei andere Ideen zu gebrauchen und sich dann
in Form des sprachlichen Denkens zu betätigen. Sind die Wortbedeutungen
nach klaren Anschauungen orientiert und so, dass wir fähig sind, jederzeit auf
diese ursprünglichen Bedeutungen durch Klärung zurückzugehen, so kön-
nen wir auch die sprachlichen Aussagen in ihrer Wahrheit oder Unwahrheit
beurteilen. Durch Anmessung der Worte an die klaren und deutlichen An-
schauungen treten die Übereinstimmungen und Unterschiede scharf hervor,
die zum Ausdruck zu bringen die Funktion der sprachlichen Aussagen ist. In
großem Umfang aber operieren wir im sprachlichen Denken mit unklaren
Vorstellungsresten, ohne auf die entsprechend klärenden Anschauungen
zurückzugehen.
(Dabei ist auch zu beachten, dass die sprachlichen Zeichen meist Zeichen
für komplexe Vorstellungen sind, die sich bei mangelnder Klarheit und
Analyse besonders leicht verwirren, besonders leicht verwechselt werden.
In der Unklarheit merken wir nicht, wenn im Komplex einem Vorstel-
lungselement sich ein anderes untergeschoben hat oder Teilvorstellungen
ganz ausfallen, die für die Bedeutungen wesentlich sind usw. So kommt
es, dass die vermeinte Wahrheit, die wir aussprechen, also die vermeinte
Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung zwischen Ideen, oft nicht
besteht.) Alles wird anders, wenn wir uns zum Ziel setzen, allzeit über das
bloß sprachliche Denken hinauszustreben, von den Worten und Sätzen auf
die entsprechenden Ideen und Ideenzusammenhänge selbst zurückzugehen
bzw. die Worte mit festen und klaren Bedeutungen neu auszustatten. Dann
werden wir in der Lage sein, uns jederzeit auch davon zu überzeugen, ob
380 einleitung in die philosophie

die in unseren Aussagen behaupteten Übereinstimmungen oder Widerstreite


wirklich bestehen, ob, wie behauptet, auch wirklich A B ist oder nicht ist.
So erwächst die große Aufgabe der Aufklärung bzw. der Ursprungsanalyse
all unserer Begriffe und insbesondere aller Grundbegriffe. Die Grundvorstel-
lungen unserer natürlichen und wissenschaftlichen Weltauffassung (müssen
in unserem Sprechen und in allen Wissenschaften dominierend hervortre-
ten: also Begriffe wie Geist, Körper, Ding, Eigenschaft, Raum, Zeit, Ziel,
Ursache, Wirkung usw. Aber all diese Begriffsworte haben vielfache Verwor-
renheiten angenommen. Offenbar müssen die durch ihre Verworrenheit er-
wachsenden Irrtümer besonders weittragende Folgen haben. Also erwächst)
die Aufgabe – gerade bei diesen die wichtigste –, auf die ursprünglichen
Vorstellungen zurückzugehen und diese zugleich einer Elementaranalyse zu
unterwerfen. Von da aus bewegt Locke der Gedanke: Könnten wir systema-
tisch alle elementaren Ideen aufweisen, die ursprünglich, also in originärem
Erleben (nicht reproduktiv) auf der Bewusstseinstafel erwachsen, und alle
Weisen der Zusammenbildung dieser Elemente zu Komplexen herausstellen,
so wäre damit das Universum möglicher menschlicher Erkenntnis im Voraus
entworfen, nämlich im Voraus für alle möglichen Begriffe das Material be-
stimmt und klar herausgestellt, aus dem sie ursprünglich und rechtmäßig ihre
Bildung gewinnen und an dem sie jederzeit zu klären und zu berechtigen sind.
Abgesehen von dem sensualistischen Unterton, sind das sicherlich höchst
wertvolle Konzeptionen.
Locke geht in der Ausführung genetisch-psychologisch zu Werk. Er schei-
det nicht die immanente Elementaranalyse von der genetischen Analyse
und zugleich nicht Wesensanalyse von empirischer Analyse. Das heißt, er
erforscht, wie in der empirischen Entwicklung des Seelenlebens schrittweise
zuerst einfache und dann zusammengesetzte Ideen entspringen. Wie viel er
dabei nun an naturalistisch-transzendentalen Präsuppositionen hereinzieht,
so ist doch in all dem die Tendenz auf einen immanenten Sensualismus vor-
gezeichnet. In dieser ganzen Erkenntnisforschung Lockes bewegen wir uns
auf der „Bewusstseinstafel“. Wir hören, dass zuerst primitive Ideen auf ihr
erwachsen durch die verschiedenen Sinne, dass manche Klassen von Ideen
aus den Erregungen einzelner Sinne, zum Beispiel des Gesichtssinnes allein,
hervorgehen, andere Ideen, wie die Ideen von Ausdehnung, Größe und Zahl,
aus mehreren oder allen Sinnen zugleich; wie dann der Geist aus sich selbst
das seine beifügt, wie er sich aufmerkend, vergleichend, unterscheidend,
kombinierend, abstrahierend an dem ersten Ideenmaterial betätigt und die
Tätigkeitsergebnisse eine neue Sphäre von Ideen, von Ideen der Reflexion,
darstellen usw.
erkenntnistheorie und metaphysik 381

In dieser Art Locke nachgehend, fragen wir uns aber, wie geltende Be-
griffe und Urteile erwachsen sollen, die je über die Bewusstseinstafel hin-
ausreichen, nämlich wie sie etwas anderes ausdrücken sollen denn einfa-
che oder komplexe psychische Vorkommnisse, die darin aufgehen, auf der
Bewusstseinstafel zu sein, auf ihr zu kommen und zu gehen. Für die zum
Wesen des Bewusstseins als solchen gehörige Intentionalität ist Locke ja
blind. In seinen Darstellungen ist also keine Rede von der zum Bewusstsein
wesentlich gehörigen Eigenheit, in der Weise des Meinens über sich selbst
hinaus zu meinen und in der Weise des gemeinten Sinnes, des vermeinten
Gegenständlichen als solchen, etwas in sich zu bergen, was nicht als reelles
Datum im Erlebnis selbst ist. All dergleichen ist also nie für die Analyse
bestimmend, sie ist nie intentionale Analyse; also wir haben immerfort
nur Daten auf einer Bewusstseinstafel, und was über die im engeren Sinne
sensuellen Daten (Farben-, Tondaten) hinaus auftritt (vermöge der Selbst-
tätigkeit der Seele), ist doch wieder ein reelles Datum, also nicht prinzipiell
vom Sensuellen verschieden. Das führt nun schon Locke selbst auf radikale
Schwierigkeiten, die in gewissen Analysen von ihm selbst bemerkt werden,
in anderen ihm verhüllt bleiben, aber sofort von seinen Nachfolgern ihre
Enthüllung erfahren.
Wir heben einige für die Folgezeit bedeutsame Beispiele hervor. Da ist der
Begriff des materiellen Dinges bzw. der materiellen Substanz. Wir verstehen
alle das Wort und halten es für ein rechtmäßig bedeutsames. Soll es das
sein, so muss in der entsprechenden klaren Anschauung die einfache oder
komplexe „Idee“ sich aufweisen lassen, für die das Wort das Zeichen ist. In
der Tat führt nun Locke diese Ursprungsanalyse durch, und zwar behandelt
er die Begriffe „Ding“ und „Substanz“ unter den zusammengesetzten Ideen.
Jeder Sinn liefert uns, sagt Locke, gesondert seine Ideen: der Gesichtssinn
Farben und gesehene Figur, Größe, der Tastsinn Tastdaten und getastete
Figur und Größe usw. Wie kommt es dann, dass wir davon sprechen, dass wir
ein Ding wahrnehmen? Warum sagen wir nicht, dass wir einen Haufen von
vielen sinnlichen Daten und Datengruppen wahrnehmen? Wo ist die eigene
Idee, die der Dingeinheit entspricht?
Wir wollen davon absehen, dass Locke von vornherein gesehene Ding-
farbe und das empfundene Farbendatum vermengt und so überhaupt die
Dingeigenschaften des Wahrnehmungsobjektes mit den in den Wahrneh-
mungserlebnissen darstellenden sinnlichen Daten. Aber stellen wir uns auf
seinen Boden, so müssen wir ihm doch vorhalten: Entweder es ist auf der
Bewusstseinstafel ein eigenes Band nachweisbar, das die vielen Sinnesdaten
verbindet, oder ein Träger, in dem sie alle verknüpft sind und der dem
382 einleitung in die philosophie

Begriff „Ding“ wirklichen Sinn gibt, oder es ist nicht aufweisbar, und dann
müssen wir diesen doch unentbehrlichen Begriff als leer, als bedeutungsloses
Wort verwerfen.
Was sagt da Locke selbst? Der Verstand beobachtet, meint er, dass all
die nachher „Eigenschaften“ genannten sinnlichen Daten der verschiedenen
Sinne sich gewohnheitsmäßig miteinander assoziiert haben. Und da wir uns
nun in solchen Fällen nicht vorstellen können, dass das von den einzelnen
hier zusammenstehenden Vorstellungen Vorgestellte für sich bestehe, zum
Beispiel, dass Farbigkeit sei ohne etwas, das farbig ist, so gewöhnen wir uns,
ein Substrat vorauszusetzen, in dem dieses Vorgestellte bestehe und woher es
entspringe. Und dieses Substrat nennen wir „Substanz“. Die in diesem Sub-
strat verknüpfte Einheit von Eigenschaften ist dann die Dingeinheit. Dieses
Substrat, das erkennt Locke ausdrücklich an, ist nicht in der Anschauung
selbst gegeben, ist nicht eine eigene Idee, ein aufweisbares Band u. dgl. Es
ist „ein unbekanntes Etwas“, ein je ne sais quoi, das den Eigenschaften
zugrunde liege. Aber dann ist es doch im Sinne der Prinzipien der Locke’-
schen Begriffsanalyse ein „leeres Wortwesen“ und das Wort „Substanz“ ein
Wort ohne Sinn, ohne ihm entsprechende aufweisbare Idee! Locke selbst
spottet über die scholastischen Philosophen, die so viel über Substanzen
zu spekulieren wussten, und doch gibt er den Substanzbegriff nicht preis,
wie er ihn bei konsequenter Durchführung seines Sensualismus preisgeben
müsste.1 (Eigentlich hätte er aber schon bemerken müssen, dass selbst die
Dingeigenschaften ein Transzendentes sind, das auf der Bewusstseinstafel
sich nicht finden lässt und das doch in der äußeren Wahrnehmung als einem
anschaulich gebenden Meinen Gemeintes ist.)
Gehen wir zu anderen Beispielen über. Locke unterscheidet verschiedene
Erkenntnisweisen: intuitive, demonstrative, sensitive Erkenntnis. Unter dem
ersteren Titel behandelt er neben der unmittelbaren Erfassung der eigenen
Erlebnisse im inneren Bewusstsein die axiomatische Erkenntnis. Habe ich
die Idee „rot“ und die Idee „grün“, dann sehe ich in absoluter Gewissheit,
dass Rot verschieden von Grün ist.2 Aber Locke nimmt das als Axiom in
allgemeiner Geltung in Anspruch. Wir sehen nicht nur dieses Verschieden-
heitsverhältnis im einzelnen Fall, sondern sehen auch ein, dass es gelten
bleibt, solange die Ideen gleicher Art sind, solange Rot überhaupt Rot,
Grün überhaupt Grün ist. Wir sehen die unbedingte Allgemeinheit und Not-

1 Randbemerkung Sie begreifen, dass den Schülern Lockes, die bereit waren, seine methodi-

schen Intentionen aufzunehmen, hier ein großer Anstoß erwachsen musste.


2 Randbemerkung 2= / 3.
erkenntnistheorie und metaphysik 383

wendigkeit der Geltung ein. – Ja, da müssen wir wieder fragen, ist allgemeine
Geltung, ist Notwendigkeit ein Zeichen auf der Bewusstseinstafel? Wäre es
das, so wäre es ja selbst ein Einzelnes. Was kann das Auftreten des Datums
„notwendig“ hier und jetzt an diesen einzelnen Fällen von „Rot“, „Grün“
mit ihrer Verschiedenheitsrelation für neue Fälle besagen?1
Und nun gar die sensitive Erkenntnis. In der sinnlichen Wahrnehmung er-
fassen wir nach Locke äußeres Dasein. Woher aber das Recht, aus diesem Er-
leben hinauszugehen und es zur Anzeige eines Transzendenten zu stempeln?
Locke sagt: Phantasien, reproduktive Vorstellungen können wir willkürlich
ummodeln, an die Gegebenheiten der Wahrnehmungen sind wir gebunden.
Sie drängen sich uns auf, mag es uns lieb sein oder nicht, ändern können
wir daran unmittelbar nichts. Das hindert ihre Stärke, Eindringlichkeit usw.
Wir müssen sie, als nicht aus uns selbst entsprossen, auf eine äußere Ursache
beziehen. – Aber ist das wirklich eine brauchbare Betrachtung? Es gibt
doch auch Reproduktionen, die sehr lebhaft sind, die nicht unserer Willkür
unterstehen, die uns verfolgen, die wie Halluzinationen oder Träume unserer
Willkür nicht unterliegen und stark, fest, eindringlich sind. Und was den
Kausalschluss anlangt, so hat er ohnehin seine Schwierigkeiten. Kann er denn
vom Gegebenen auf etwas führen, was seiner ganzen Artung nach nie gege-
ben war und gegeben sein kann, wie nach Locke die äußeren Substanzen?
Wie weit bei Locke selbst die mit dem Sensualismus sich verflechtende
Tendenz zu einer immanenten, ja solipsistischen Philosophie gediehen ist,
zeigt besonders stark seine Definition der Erkenntnis im iv. Buch des Werkes.
Es heißt da in § 1: „Da der Geist für alle seine Gedanken und Schlussfolge-
rungen kein anderes unmittelbares Objekt hat als seine eigenen Ideen, […]
so ist es einleuchtend, dass unser Wissen es nur mit diesen zu tun hat.“ Und
nun wird daran zugleich angeschlossen (§ 2): „Die Erkenntnis scheint mir
deshalb nichts zu sein als die Wahrnehmung des Zusammenhanges und
der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung und des Widerstreites
zwischen irgend welchen von unseren Ideen.“2
Natürlich fragen wir: Wie sollen wir dann unter dem Titel „sensitive“,
also auch „naturwissenschaftliche Erkenntnis“ irgendetwas von einer Natur
wissen? Die Natur ist doch nach Locke nicht irgendein Ideenkomplex, also
kann die Übereinstimmung unserer Ideen mit der Natur nie Gegenstand

1 Randbemerkung Cf. Bl. 345 = S. 384 f. ausführlicher und so ausführlicher alles Weitere,

auch Berkeley.
2 Zitiert nach der in Husserls Bibliothek befindlichen Ausgabe: Über den menschlichen Ver-

stand. Eine Abhandlung von John Locke. Aus dem Englischen übersetzt von Th. Schulze.
Zweiter Band. Leipzig: Reclam. o.J., S. 172. – Anm. der Hrsg.
384 einleitung in die philosophie

der Erkenntnis werden. Das hindert Locke aber nicht, um in breitester Weise
über die Naturerkenntnis zu handeln und dabei in Anlehnung an die ersten
großen Naturforscher und in scharfer erkenntnistheoretischer Deutung die
Lehre vorzutragen, dass an den äußeren Substanzen selbst nur die sogenann-
ten primären oder originalen Qualitäten reale Wirklichkeit haben, nämlich
die mathematisch-mechanischen Eigenschaften: Ausdehnung, Große, Zahl,
Solidität, Undurchdringlichkeit u. dgl., während die spezifischen Sinnesquali-
täten, die wir als den Dingen unmittelbar zugehörig ansehen, die Dingfarben,
Wärme und Kälte usw. bloß subjektive Bedeutung haben, nämlich aus bloßen
Wirkungen der Dinge selbst und aus Wirkungen von Veränderungen ihrer
primären Eigenschaften auf unseren Organismus und schließlich auf unseren
Geist resultieren.
Nach dieser Darstellung wird es nun leicht verständlich werden, wie Ber-
keley1 (übrigens einer der originellsten Denker der Neuzeit) dazu kommen
konnte, die Locke’sche Philosophie in einen Immaterialismus umzuwenden.
Er geht eben nur rücksichtslos ihrer eigenen Konsequenz nach und das eben
in Hinsicht auf die angedeuteten Locke’schen Lehren von den materiel-
len Substanzen und der sensitiven Erkenntnis. Jenes je ne sais quoi, jener
unperzipierte und unperzipierbare Träger der sinnlichen Eigenschaften ist
nach seiner Ansicht eine ganz heillose und lächerliche Substruktion. Wären
die sinnlichen Eigenschaften wirklich ohne Substanz undenkbar, so wären
sie auch anschaulich ohne einen Träger nicht vorstellbar, es müsste in der
Anschauung ein solcher Träger gegeben sein und dann hätten wir ja eine
originale Idee für die Substanz und sie wäre nicht ein je ne sais quoi; aber
freilich wäre sie damit eine Idee, und eine Idee ist im Geist. Doch ich
greife schon vor. Berkeley bestreitet aber nicht bloß diesen „Träger“ der
Eigenschaften. Er bestreitet Text bricht ab
Wir haben in der letzten Vorlesung an einigen markanten Beispielen zu
zeigen versucht, wie stark in dem Locke’schen Werk Tendenzen zu einer im-
manenten und dabei sensualistisch orientierten Philosophie emporstreben,
wobei Locke selbst in seiner widerspruchsvollen, vor allen radikalen Kon-
sequenzen ausweichenden Art an der natürlichen Transzendenzerkenntnis
durchaus festhält. Zuletzt erwähnten wir seine Definition der Erkenntnis als
Wahrnehmung der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung irgend-
welcher unserer eigenen Ideen.

1 Randbemerkung Ausführlicher wiederholt und im Einzelnen genau ausgeführt oder neu

herausgearbeitet Bl. 347 ff. = S. 387 ff..1685–1753, A Treatise Concerning the Principles of
Human Knowledge oder Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, 1710.
erkenntnistheorie und metaphysik 385

Ein aufmerksamer Leser Lockes müsste da doch fragen: Wie ist dann
noch jene sensitive Erkenntnis möglich, die aller Naturwissenschaft zugrunde
liegt, jene unmittelbare sinnliche Erfahrung einer dem erfahrenden Bewusst-
sein nach Locke transzendenten materiellen Natur? Wie könnten wir je
die Übereinstimmung unserer sinnlichen Ideen mit der bewusstseinstran-
szendenten Natur erkennen? Locke fühlt die Schwierigkeit. Er spricht sich
über sie weitschweifig aus, eifert gegen den Skeptizismus, ohne irgendetwas
Befriedigendes hervorbringen zu können. Neben dem schon erwähnten Ar-
gument, dass wir die Sinnesempfindungen und die konsistenten Komplexe,
in denen sie uns entgegentreten, nicht willkürlich erzeugen und umgestal-
ten können so wie die Sinnesphantasmen, und dass wir demgemäß für die
ersteren, als nicht von uns erzeugten, äußere Ursachen annehmen müssen,
gibt er noch andere und nicht bessere Argumente. Er1 weist auf die den
Empfindungen eigene Frische und Lebendigkeit hin sowie auf die damit
zusammenhängende Macht über unsere Gefühle. Der Skeptiker möge die
Hände ins Feuer stecken, und er wird die Realität des Feuers empfinden.
Die Empfindung der Hitze tut weh, die Einbildung der Hypothese wird uns
nicht verbrennen. Ferner weist Locke auch hin auf die erfahrungsmäßige
Konstanz, mit der die Empfindungen verschiedener Sinne in Komplexen
auftreten und die es mit sich bringt, dass sich die verschiedenen Sinne bei
der Erfahrungsausweisung unterstützen. Das Feuer sehend, weiß ich, dass ich
beim Hineinstecken der Hände die Empfindung der Hitze haben würde, wie
umgekehrt, wenn ich diese Empfindung hätte ohne zu sehen, so würde ich bei
einem Hinwenden der Augen sofort die entsprechende visuelle Empfindung
haben. Und nicht nur ich, sondern auch jeder andere. Meine Sinnesaussagen
können Bewährung durch die anderer erfahren und umgekehrt. Im Traum,
in der vorübergehenden Illusion fehlt diese durchgehende Konstanz und
Möglichkeit der Bewährung durch die noch unbeteiligten Sinne und durch
meine Nebenmenschen.
Indessen, wer in sich die Kraft der von Locke selbst geltend gemachten
Immanenzmotive erfahren hat, wird solche Argumente nicht befriedigend
finden können. Sind Unterschiede der Stärke und Lebendigkeit, sind Un-
terschiede sich anknüpfender Gefühle des Schmerzes oder Lust, sind Unter-
schiede der erfahrungsmäßig geregelten Konstanz im Zusammen-Auftreten
gegenüber der Inkonstanz im Traum, sind das nicht Unterschiede, die rein
in die Bewusstseinsphäre fallen? Und wenn man sich auf fremde Menschen
mitberuft, so wäre erst doch das Problem, wie wir zur Erkenntnis ihrer

1 Am Rande eine Null.


386 einleitung in die philosophie

Existenz kommen sollen, zu lösen. Es müsste Locke gegenüber gefragt wer-


den: Wie kann, wenn im Kausalschluss von Eigenheiten unserer Erlebnisse
auf transzendente Ursachen geschlossen wird, ein solcher Schluss überhaupt
gerechtfertigt werden? Und wenn er schon zulässig ist: Warum muss es
speziell eine materielle Außenwelt geben? Könnte nicht ein geistiges Prinzip,
ein Gott genau die Ordnung unserer Sinnesempfindungen, genau die Kon-
stanzen in ihren Zusammenhängen nach Koexistenz und Sukzession, genau
die Anknüpfung von Gefühlen der Lust und des Schmerzes usw. in uns
angeordnet haben, während es eine materielle Welt als ein System äußerer
geistiger Substanzen gar nicht gibt? Hatte man einmal zugestanden, dass das
erkennende Ich nur seine eigenen Erlebnisse unmittelbar gegeben hat, dann
war es verständlich, dass es Eigenschaften, Relationen, Komplexe dieser
seiner Erlebnisse erkennen kann; auch, dass es von gegebenen auf noch
nicht gegebene Erlebnisse schließen kann, konnte man verständlich finden,
nämlich in Form erfahrungsmäßiger Erwartung, dass Erlebnisse, die unter
gewissen immanenten Umständen sich in der Regel eingestellt haben, wo
diese immanenten Umstände wieder da sind, sich ebenfalls wieder einstellen
werden. Aber wie das erkennende Ich dazu kommen soll, über das Reich
wirklicher und möglicher eigener Erlebnisse hinauszukommen, das war ein
Problem, das durch all solche Argumente wie die Locke’schen in keiner
Weise gefördert war.
Dabei glaubte Locke, nicht nur überhaupt eine ungeistige Ursache für
die Folgen und Komplexe von Wahrnehmungsideen festgestellt zu haben,
sondern er hielt auch an dem Verhältnis der Abbildlichkeit der Wahrneh-
mungsphänomene gegenüber den äußeren materiellen Realitäten fest, mit
dem schon die naiven Anfänge einer erkenntnistheoretischen Interpretation
der Wahrnehmung operierten. Wie zum Beispiel schon die vorsokratischen
Naturphilosophen, so etwa die Atomisten von ε)δωλα, von Bildchen, spra-
chen, die in dem Kausalprozess, der die Dinge selbst und das sie wahrneh-
mende Subjekt verbindet, innerhalb des letzteren erzeugt werden. Ein Stück
Abbildtheorie ist in der Tat Lockes berühmte Lehre von den primären und
sekundären Qualitäten. Die Dinge erscheinen uns gefärbt, tönend, riechend
usw. Diese Beispiele bezeichnen die sekundären Qualitäten, die jeweils aus-
schließlich einem einzigen Sinn und seiner äußeren Erregung entspringen.
Die Dinge erscheinen uns aber auch ausgedehnt, in einer gewissen Größe,
in einer gewissen Zahl, sie erscheinen als undurchdringlich u. dgl. Das sind
primäre Qualitäten, die nicht ausschließlich einem Sinn, sondern zugleich
mehreren oder allen verdankt werden. Die neue Physik erklärt nun die
sekundären durch primäre Qualitäten. Den Ton durch gewisse Luftschwin-
berkeley 387

gungen, die Farbe durch gewisse andere Bewegungs- und Schwingungsarten


(im Sinne der Emanationstheorie oder Undulationstheorie).
Der Ton ist nur im Hören. In den Luftmolekülen ist kein Ton; sie schwin-
gen nur, aber die Schwingungen pflanzen sich bis zu dem nervus acusticus
fort usw. Das deutet Locke nun so: Die sekundären Dingqualitäten kommen
den Dingen nur scheinbar zu. Sie sind durchaus subjektiv, sie haben nur
Existenz als die jeweiligen Empfindungsdaten in unserem Bewusstsein: Sie
sind weder selbst in den Dingen, noch entsprechen ihnen Dingmomente,
die sie abbilden. Den Dingen selbst kommen nur zu Modi der Ausdehnung,
Bewegung, Größe, Zahl usw. Ihnen entsprechende Momente haben wir eben-
falls in den Wahrnehmungsideen. Diese Momente haben also den Charakter
von abbildlichen: Der gesehenen Größe und Bewegung entspricht ein reales
Analogon in der Dingwelt selbst, während das von der gesehenen Farbe,
vom gehörten Ton nicht gilt.
Dass die moderne Physik eine Autorität ist, wird man gern anerkennen
wollen, und somit wird die Art ihrer physikalischen Erklärungen jener sekun-
dären Qualitäten durch primäre zweifellos ihre Rechtsgründe haben. Aber
wie das physikalische Verfahren und den Sinn dieser Unterscheidung aus
letzten Gründen verstehen, wenn das eindrucksvolle Leitmotiv der imma-
nenten Philosophie nun einmal angeschlagen ist? Ist es nicht wahr, dass das
erfahrende und dann daraufhin naturwissenschaftlich erkennende Subjekt
ausschließlich mit seinen eigenen Ideen beschäftigt ist? Wie kommt es dann
aber über Ideen und Ideenzusammenhänge hinaus? Oder lässt sich am Ende
die ganze in der Physik bestimmte Objektivität und so alle Objektivität
irgendwelcher transzendenten Erkenntnis in Zusammenhänge der Subjek-
tivität auflösen? Ist reale Objektivität, reale raumzeitliche Natur am Ende
nur ein Titel für gewisse im Bewusstsein selbst in ausgezeichneter Weise sich
konstituierende Gebilde? Das eben meint die immanente Philosophie oder,
wie sie sich auch nennt, die positivistische Philosophie.

Berkeley

Den ersten Schritt auf diesen Weg bezeichnet die Philosophie Berke-
leys, des frommen Bischofs von Cloyne (1685–1753). Die hier allein fragli-
chen Schriften desselben sind der Treatise (Abhandlung über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis, 1710) und die Dialoge zwischen Hylas und
Philonous. Diese Schriften gehören zu den anregendsten und schönsten
Schriften der neuzeitlichen philosophischen Literatur. Berkeley geht den in
388 einleitung in die philosophie

der Locke’schen Philosophie liegenden Motiven zu einer immanenten Philo-


sophie in einer Hauptrichtung in rücksichtsloser Konsequenz nach, nämlich
in Richtung auf das Problem der materiellen Welt. (Sein Immaterialismus
ist übrigens nicht nur durch die Fortbildung der Locke’schen Philosophie
bestimmt, deren Schüler er ist, sondern durch kritische Hinblicke auf die
Entwicklung, die der Cartesianismus genommen hatte, durch die Schwierig-
keiten, die in der Zwei-Substanzenlehre liegen. Auf den Occasionalismus und
insbesondere auf die mystische Lehre des Malebranche, dass wir alle Dinge
in Gott schauen, nimmt Berkeley wiederholt Beziehung. Aber in der Haupt-
sache handelt es sich bei Berkeley um eine Fortwirkung Locke’scher Motive.)
(Im Sensualismus bleibt Berkeley durchaus befangen, aber mit den wi-
derspruchsvollen Halbheiten in den Ausführungen Lockes über die Idee der
Substanz, über sensitive Erkenntnis, über primäre und sekundäre Qualitäten
will er sich nicht zufrieden geben. Ein Mann rücksichtsloser Konsequenz
scheut er sich nicht vor Paradoxien.)
Seine originelle Hauptthese lautet: Eine Welt materieller Substanzen, eine
Außenwelt in dem gewöhnlichen, von den Philosophen als klar und zweifellos
ausgegebenen Sinn, gibt es nicht. Anders ausgedrückt: Es ist grundfalsch,
zwischen sinnlichen Erscheinungen in erfahrenden Subjekten und einer er-
scheinenden Welt an sich zu unterscheiden. Eine materielle Welt an sich, das
soll sagen, eine materielle Welt, die unabhängig von jedem wahrnehmenden
Geist existiert, eine Welt, der das Wahrgenommenwerden zufällig ist, die sein
könnte, auch wenn es gar keine wahrnehmenden Geister und ihre Wahrneh-
mungsideen gäbe, – das alles ist Fiktion. Was man „Dingerscheinungen“
nennt, das sind die Dinge selbst. Dingerscheinungen sind, was sie sind, nur
in dem Geist, dessen Erscheinungen sie sind. Ihr esse = percipi. Absolute
Existenz haben nur Geister und in ihnen jene sinnlichen Ideen, die wir
fälschlich als Erscheinungen von ungeistigen Realitäten ansehen.
(Berkeley behauptet damit nur in Opposition gegen abstruse Lehren
der Philosophie zu stehen und bestreitet unermüdlich die Paradoxie seiner
eigenen Lehre. Er behauptet, mit ihr nur die natürliche Weltauffassung zu
restaurieren, die eine durchaus selbstverständliche sei, wenn man sich nur
nicht von den Philosophen ins Bockshorn jagen lässt.)
Ausdrücklich sagt er: „Einige Wahrheiten liegen so nahe und sind so
einleuchtend, dass man nur das Auge des Geistes aufzuschlagen braucht,
um sie zu erkennen. Zu diesen rechne ich die wichtige Wahrheit, dass der
ganze himmlische Chor und die Fülle der irdischen Objekte, die das große
Weltgebäude ausmachen, keine Existenz außerhalb des Geistes haben und
dass ihr Sein nur ihr Perzipiertwerden in unserem oder in anderen erken-
berkeley 389

nenden Geistern ist.“1 Sehen wir uns doch vorurteilsfrei die Dinge an, so
wie sie sich uns in der Erfahrung geben. Als was finden wir sie da? Nun,
doch als farbig, als tönend, als warm oder kalt, als rund oder eckig usw.
Was bezeichnen diese Worte? Doch nichts als sinnliche Ideen, entweder
aktuelle Empfindungen oder mitgedachte Vorstellungen, die von früheren
Empfindungen herstammen. Die einen verdanken wir dem Gesichtssinn, wie
Farben, in den verschiedenen qualitativen Modifikationen, oder gesehene
Gestalten; dem Tastsinn verdanken wir Härte und Weichheit, auch Gestalt,
Bewegung, Widerstand, usw. Diese verschiedenen Sinnesideen bleiben aber
nicht isoliert, sie treten erfahrungsmäßig vereint auf, und vermöge ihres
regelmäßigen Zusammenauftretens in Koexistenz und Sukzession werden
sie mit einem Namen benannt und als ein Ding, zum Beispiel als dieser
Apfel, aufgefasst. Das eine Ding ist (in moderner Mach’scher Redeweise
ausgedrückt) eine denkökonomische Einheit.
Würden wir, sagt Berkeley, für jede einzelne der sinnlichen Ideen und
für jede Veränderung derselben im Abfluss ihres Kommens und Gehens
eigene Namen einführen, so bräuchten wir eine Unzahl von Benennungen,
das wäre praktisch undurchführbar. Dem entgehen wir, wenn wir Namen
nur einführen für die erfahrungsmäßigen Komplexe von Sinnesdaten, die
allein für uns eine praktische Bedeutung haben. Auch bei all dem, was wir
„Naturerkenntnis“ nennen, kommt es uns nur darauf an, die erfahrungs-
mäßigen Zusammenhänge unserer sinnlichen Ideen kennen, bestimmen,
bezeichnen zu können. Die Sprache ist ein vom Volk und nicht von gelehrten
Philosophen erzeugtes Gebilde und erzeugt einzig zur Bequemlichkeit und
schnellen Erledigung bei den Handlungen des täglichen Lebens. Steine, Häu-
ser, Bäume, das sind nur einheitliche Auffassungen und Bezeichnungen von
erfahrungsmäßigen Gruppen von Sinnesdaten für erfahrungsmäßige Koexis-
tenzen und Sukzessionen, deren Zusammengehörigkeit ausschließlich aus
Erfahrung und Gewohnheit entstammt. Natürlich sind also diese Gruppen
gänzlich subjektiv; es wird aus Subjektivem durch die Gruppenbildung der
Erfahrung nichts Außer-Psychisches erzeugt. Wirkliche Existenz hat dabei
aus den Gruppen nur das aktuell Gegenwärtige. Aber vermöge der Erfah-
rung dient dieses als Zeichen für künftig unter passenden Umständen zu Er-
wartendes, wie zum Beispiel die wirklich gesehene Farbe der „Vorderseite“
des „Dinges“ für andere Farben, die ich beim Herumgehen sehen würde.
1 Nicht wörtlich zitiert nach folgender in Husserls Bibliothek befindlicher Ausgabe: Berkeley’s

Abhandlung über die Principien der menschlichen Erkenntnis. In’s Deutsche übersetzt und mit
erläuternden und prüfenden Anmerkungen versehen von Dr. Friedrich Ueberweg. Berlin 1869.
Verlag von L. Heimann, S. 24. – Anm. der Hrsg.
390 einleitung in die philosophie

Ebenso sind die Daten der verschiedenen Sinne nur assoziativ einig und
in Bezug auf andere erfahrungsmäßige Zeichen. An und für sich ist jedes
solche Datum vereinzelt im Geist, der es nur eben vermöge der Erfahrung
als Zeichen für den Verlauf der weiteren Ideen verwendet.
Dinge reduzieren sich also auf Ideen; und dass das richtig ist im Sinne
der natürlichen Rede, also der Auffassung des natürlichen Menschen, davon
überzeugen wir uns, wenn wir fragen, was er denn und wir alle, wenn wir
nicht an Philosophie denken, unter „Existenz“ verstehen. Sage ich „Der
Tisch, an dem ich schreibe, existiert“, so heißt das: Ich sehe oder fühle ihn.
Ich sage hinterher, auch wenn ich nicht im Studierzimmer bin, „er existiert“,
aber dann doch nur in dem Sinne, dass ich ihn sehen und fühlen würde, wenn
ich in das Studierzimmer ginge. Natürlich löst sich auch dies „ins Studierzim-
mer Gehen“ für Berkeley in gewisse Gruppenfolgen von Sinnesdaten auf,
die empirisch mit dem Wiederauftreten der Schreibtisch-Ideen in aktuellen
Komplexen verknüpft sind. Nun wird man fragen: Wie, wenn ich überhaupt
nicht bin, wenn ich sterbe, da bleibt doch die Existenz des Tisches nach
natürlicher Auffassung bestehen? Gewiss, antwortet Berkeley, dass der Tisch
existiere, meint nicht, dass er gerade von mir wahrgenommen wird oder unter
erfahrungsmäßigen Umständen wahrgenommen werden könnte, sondern,
dass entweder ich oder jemand sonst, Mensch oder Gott, ihn wahrnehme.
Doch1 hier wird nicht jeder mittun. So mancher wird vom Boden der
Abbildtheorie aus einwenden: Die sinnlichen Ideen und Ideenkomplexe
sind freilich bloß in einem Geist. Aber sie sind nur Abbilder äußerer Dinge,
die unperzipiert existieren. Und daher bedürfte es gar keines Geistes für
ihre Existenz. Damit stimmt, dass wir die Existenz der Welt nicht abhängig
machen von der Existenz irgendwelcher Menschen oder Tiere. Und was Gott
anbelangt, so wollen wir den Sprung ins Theologische lieber vermeiden. Auf
solche Einwände antwortet Berkeley: Die Ideen sollen Abbilder sein? Aber
eine Idee kann nur einer Idee ähnlich, also nur eine Idee Abbild einer
Idee sein: eine Farbe einer Farbe, ein Ton einem Ton etc. Also wäre die
supponierte Außenwelt selbst nur ein Komplex von Ideen. Aber Ideen sind
nur denkbar als Ideen in einem perzipierenden Geist. Es ist ganz undenkbar,
dass eine Idee unperzipiert existiere. Also zum Beispiel undenkbar ist ein
ungehörter Ton, eine ungesehene Farbe und überhaupt ein unempfundenes
Sinnesdatum, ebenso wenig als eine unvorgestellte Vorstellung, ein ungeur-
teiltes Urteil, ein ungefühltes Gefühl. Jedweder Bewusstseinsinhalt ist nur als
Bewusstseinsinhalt, als Bewusstes in einem Bewusstseinssubjekt denkbar.

1 Am Rande eine Null.


berkeley 391

Wieder könnte man sich gegen Berkeley auf die naturwissenschaftliche


Auffassung beziehen, die doch scharf zwischen bloß subjektiven Komponen-
ten der Erscheinungsdinge und den objektiven, nämlich unter dem Titel der
sekundären und primären Qualitäten, unterschied. Zugegeben also, dass die
spezifischen Sinnesqualitäten „Farbe“, „Geruch“ usw. keine Ähnlichkeits-
korrelate in den Objekten selbst haben, die mathematisch-mechanischen
Qualitäten sind objektiv gültig, der gesehenen Bewegung entspricht eine
objektive Bewegung usw. Berkeley antwortet da: Diese Locke’sche Inter-
pretation der Physik ist grundverkehrt. Sie hypostasiert eine Abstraktion.
Es ist evident, dass primäre Qualitäten ohne sekundäre unvorstellbar sind.
Eine Unvorstellbarkeit kann nicht sein, das ist ein allgemein anerkanntes
Erkenntnisprinzip. Eine Ausdehnung kann ich zu geometrischen Zwecken
ohne Rücksicht auf Färbung, auf Rauhigkeit oder Glätte oder auf sonstige
sinnliche Qualitäten betrachten, aber ohne irgendwelche Bestimmungen
durch solche Qualitäten sind sie undenkbar. Es ist also eine widersinnige
Verdinglichung von abstrakten Momenten, wenn wir pure Komplexe von pri-
mären Qualitäten, von Ausdehnung zum Beispiel, Bewegung, Zahl, Größe
u. dgl. ohne sekundäre glauben, vorstellen zu können. Sind diese zugestan-
denermaßen subjektiv, so auch jene.
Wen eine solche Überlegung noch nicht bestimmt hat, der erwäge, sagt
Berkeley, doch Folgendes. Angenommen, es gebe materielle Substanzen,
jene „tragenden gedankenlosen Etwasse“, die nach den Philosophen als
Träger bloß primärer Qualitäten außerhalb des Geistes existieren sollen, wie
könnten wir von ihnen je etwas wissen? Es beständen dann doch nur zwei
Möglichkeiten: entweder durch die Sinne oder durch Denken, das über das
sinnlich Gegebene hinaus schließt. Das erste ist unmöglich. Durch die Sinne
erkennen, das ist Sinneswahrnehmungen haben, und das heißt nichts anders
als unmittelbar unsere eigenen Ideen perzipieren. Kann nun das Denken
aufgrund der Erfahrung weiter führen? Auch das ist unmöglich. Wie sollten
denn die prätendierten hinausführenden Schlüsse aussehen? Notwendig-
keitsschlüsse können es nicht sein derart, wie es mathematische Schlüsse
sind, deren Resultate denknotwendig sind. Das wird allgemein zugestanden.
Allgemein erkennt man an, dass wir alle sinnlichen Erscheinungen haben
könnten, wie wir sie haben, während doch nichts außer uns wäre. Keiner
bezweifelt dies als eine Denkmöglichkeit. Man drückt das so aus, dass es
möglich wäre, dass unsere ganze Erfahrung ein konsequenter Traum sei.
Es bleibt also nur übrig, sich auf eine Position zurückzuziehen: Derglei-
chen sei, obschon möglich, doch höchst unwahrscheinlich. Aber auch Wahr-
scheinlichkeitsschlüsse versagen, meint Berkeley. Die Art und Folge unserer
392 einleitung in die philosophie

Sinneserscheinungen soll ihre kausale Erklärung fordern durch äußere Ursa-


chen. Nämlich, dass die Empfindungen, wie sie auftreten und sich verflechten,
nicht als unsere Erzeugnisse sich geben, dass wir auf ihr Kommen, ihre
Verbindung keine freie Willkür ausüben können wie bei Phantasmen, das
zwingt, nach einer außersubjektiven Ursache uns umzusehen.
Das erkennt Berkeley an. Aber da ist es die weitere Frage, ob wir dann
zu ungeistigen Ursachen unsere Zuflucht nehmen müssen, die doch nach
den angegebenen Argumenten etwas Undenkbares sind. Es bleibt doch die
Möglichkeit geistiger Ursachen, obschon solcher, die außer uns liegen. Hier
ist der Punkt, wo Berkeley durch den Occasionalismus und insbesondere
durch Malebranche beeinflusst ist.1
Erinnern2 wir uns an den allgemeinen Zusammenhang unserer letzten
Betrachtungen. Natürlich-naive und auch exakt-wissenschaftliche Welter-
kenntnis halten sich für absolut. Aber sowie Erkenntnistheorie auftritt und
die Leistungen der Naturerkenntnis bzw. den Sinn der durch sie erkannten
Natur zum Thema ihrer Reflexionen macht, stellt es sich heraus, dass dieser
Sinn nicht ein eindeutiger ist; selbst was die strengsten Naturwissenschaften
über die Natur aussagen, lässt sich in vielfältigem Sinn interpretieren, und so
ergeben sich aufgrund derselben Naturwissenschaft je nach den erkenntnis-
theoretischen Überzeugungen grundverschiedene Weltanschauungen. Eben
damit verliert die Naturwissenschaft den Charakter einer endgültigen Wis-
senschaft; über sie hinaus wächst eine neue Disziplin, eine Naturphilosophie,
welche eine Unterstufe der Metaphysik ist. Die Oberstufe bilden die mit ihr
innig verflochtenen theologischen oder teleologischen Weltprobleme. Diese
Sachlage an den konkreten Theorien verständlich zu machen, die uns die
neuzeitliche Philosophie und zunächst die Entwicklung des Locke’schen
Empirismus bis Hume darbietet, war unser Thema. Die konsequente Aus-
wirkung dieser Entwicklung in einem Skeptizismus, der an aller Metaphysik
und damit an jeder einstimmigen Weltanschauung verzweifelt, sollte uns auch
eindringlich zu Gemüt führen, welch ungeheure theoretische und dann auch
praktische Konsequenzen erkenntnistheoretische Irrungen mit sich bringen.
Nachdem wir die mit Lockes Essay auftretenden Motive zu einer positi-
vistisch-immanenten Philosophie besprochen hatten, sahen wir zwar, wie
ihre Fortwirkung in Berkeley zu einem paradoxen Immaterialismus führte,

1 Randbemerkung Hier müsste ausgeführt werden, dass für Berkeley die Kausalität in der

Natur keine wahre Kausalität ist, sondern nur empirisch-assoziative Anzeige. Das führt zum
Hume’schen Problem.
2 Am Rande eine Null.
berkeley 393

dessen Hauptargumente wir ausreichend schon besprochen haben. Das letzte


Argument war: Selbst wenn eine Welt materieller Substanzen, eine außer-
geistige Welt an sich, denkbar wäre, so wäre ihre Erkenntnis für uns prinzi-
piell unmöglich. Keine mögliche Erkenntnisquelle, weder Sinnlichkeit noch
schließender Verstand, könnte uns von ihr irgendwelche Kunde, irgendeinen
Anhalt für ein Vernunftwissen geben. Vernünftiges Schließen führt vom
aktuell Gegebenen zu Nichtgegebenem, aber hinsichtlich der physischen
Welt sagt das nur, von Ideenkomplexen zu Ideenkomplexen gemäß der
Erfahrungsordnung, die in ihnen waltet. Wir werden gleich aber hören,
dass diese Einschränkung auf die Sphäre der Immanenz nicht besagen will
die Unmöglichkeit von jederlei Schlussweisen, die zu transzendentem Sein
führen.
Berkeley, der fromme Bischof, ist sehr weit entfernt davon, all die bisher
behandelten Lehren im Sinne eines unbedingten metaphysischen Negativis-
mus oder eines entsagenden Agnostizismus fortführen zu wollen. Selbst was
er bisher uns geboten hat, sieht er nicht als negativistische Beschränkung
der Erkenntnis an; denn, wie Sie sich erinnern werden, will seine Lehre
nicht als eine Negation der materiellen Welt im Sinne des natürlichen Men-
schen und der wohlverstandenen Naturwissenschaft gelten, sondern nur als
eine Negation abstruser philosophischer Interpretationen der Natur und
Naturwissenschaft. Die einzig vernünftige Interpretation der materiellen
Natur ist die, dass sie nichts anders ist als ein geordneter Zusammenhang
von sinnlichen Ideen, näher von Empfindungen, die im erlebenden Geist,
eben weil sie in festen Ordnungen auftreten, zu assoziativen Komplexen
„zusammenwachsen“ müssten. Diese sind praktisch die allein uns interes-
sierenden, sie werden daher einheitlich als Dinge aufgefasst und mit je einem
Namen benannt. Das und nichts anders liegt in der natürlichen Welt an sich,
es ist eben der Sinn der Naturerfahrung, über den auch die Naturwissenschaft
eben als Erfahrungswissenschaft nie hinauskann und eigentlich auch nie
hinauswill.1
Berkeley schränkt nun die Erkenntnis keineswegs auf die bloß immanente
Sphäre und etwa gar auf die Erkenntnis der erfahrungsmäßigen Zusammen-
hänge der Empfindungsdaten ein. „Ideen“ sind, hieß es, ja gegeben und
können nur gegeben sein in einem denkenden Geist. Wie steht es mit dem
Wissen vom Geist? Zunächst haben wir ein solches unmittelbar in Form
der Reflexion. Ich weiß von mir unmittelbar und völlig gewiss. Dabei ist zu

1 Am Rande eine Null.


394 einleitung in die philosophie

beachten, dass mein Leib, wie ein anderes materielles Ding, ein bloß denk-
ökonomischer Komplex sinnlicher Ideen ist. Mein Leib ist also perzipierter
Inhalt, ist aber nicht perzipierendes Subjekt. Das Ich, das geistige Subjekt, ist
nicht gegeben wie solch ein Ideenkomplex, es ist überhaupt nichts Sinnliches.
Erfasst wird es nicht in der Sensation, sondern in der Reflexion, und zwar
intuitiv in völliger Gewissheit und Zweifellosigkeit, und erfasst wird es darin
als aktives Prinzip, als Subjekt von mannigfaltigen Tätigkeiten, als geistige
Substanz. Also nicht ist „Substanz“ überhaupt für Berkeley ein leeres Wort
oder ein widersinniger Begriff, sondern nur „materielle Substanz“. Der
Substanzbegriff ist ein berechtigter und notwendiger Begriff, und als das
ist er Begriff vom geistigen Subjekt.1
Substanz2 sein ist: als ein Ich tätig zu sein oder zu leiden, als ein Ich
zu wirken, Kausalitäten zu üben und zu erfahren, aber auch als ein Ich
sinnliche Ideen haben und eventuell dann an ihnen sich, etwa wie wir es bei
unserer sinnlichen Phantasie tun, wirkend betätigen. Berkeley, der mit allem,
was sich auf die Naturerkenntnis bezieht, und desgleichen in seiner höchst
einflussreichen nominalistischen Abstraktionslehre die Locke’schen Motive
des Sensualismus so kräftig aufgenommen und fortgebildet hat, macht in
dieser Hinsicht Halt in der Geistessphäre. Charakteristisch ist dafür, dass
zwar das Ich in der Reflexion intuitiv gegeben ist, aber doch in total anderer
Weise wie ein sinnliches Datum: Ein solches gibt sich sozusagen als Totes,
als ein Passives, und der Geist hat es als ein Perzipiertes.3 Das Subjekt selbst
ist aber kein bloßes Datum, sein Sein ist Tätigsein, Aktivität; und das kann
man nicht vorfinden, wie man ein sinnliches Datum vorfindet. Daher will
Berkeley das Wort „Idee“ auf den Geist am liebsten gar nicht anwenden, er
fordert einen prägnanten und damit beschränkten Begriff von Idee, der nur
die passive Gegebenheit umspannt. Vergleiche Berkeleys Begriff der notion,
der nicht nur auf die Ich-Erfassung, sondern auch auf die Erfassung von
Tätigkeiten und Relationen, also auf Kategoriales geht. Gelegentlich (in der
Einleitung zum Essay über Abstraktionstheorie) wird auch bei der Erfassung
von Begrifflichem von notion gesprochen und damit deutet sich wohl die

1 Randbemerkung Nicht zu übersehen ist auch: Der Geist gibt sich in der Reflexion als ein

einfaches, ein unteilbares Wesen.


2 Randbemerkung Geistige Substanz nach Berkeley.
3 Randbemerkung Die so oft wiederholte und scharfe Betonung: Der Geist kann seiner

Natur nach nicht von sich selbst perzipiert werden, sondern nur perzipiert können werden
die Wirkungen desselben. Vgl. Sektion 27 in A Treatise Concerning the Principles of Human
Knowledge.
berkeley 395

Entwicklung an, die Berkeley in seinen späteren Schriften genommen hat,


im Sinne einer Annäherung an den Platonismus. Aber freilich allzu schnell
geht Berkeley hier vorüber und vertieft sich nicht in die Intentionalität des
Bewusstseins, daher seine Ausführungen wie Inkonsequenzen empfunden
werden konnten.
Eine Weise nun (um wieder weiter zu gehen), transzendente Erkenntnis
berechtigter Art zu gewinnen, besteht darin, dass das Ich zwar nur sich
selbst in dieser unmittelbaren intuitiven Weise erfasst, andererseits aber
auch in der Weise der Einfühlung (um es modern auszudrücken) das Sein
fremder Geister erfasst. Die Raumdinge sind freilich für mich, den sie Er-
fahrenden, Ideenkomplexe, aber mit gewissen solchen Komplexen, genannt
„Leibern“, erfasse ich das Dasein anderer Geister, die sich in diesen Kom-
plexen ausdrücken: Dieses Ausdrücken ist ein Verhältnis empirischer und
analogischer Anzeige. Den Zusammenhang meiner seelischen Erlebnisse
mit dem Ideenkomplex, den ich „meinen Leib“ nenne, habe ich empirisch
zuerst gegeben. Vermöge der Ähnlichkeit des fremden Leibes mit meinem,
muss ich nun ein durch diesen angezeigtes Subjekt, das aber nicht ich selbst
bin, annehmen. Die Transzendenz, die ich so als wirklich ansetze, ist nicht
wie die der angeblichen materiellen Substanz etwas Widersinniges. Da ich
an mir selbst vom Ich eine klare Intuition habe, hat auch ein Ich-Analogon
nichts von einem Unstimmigen, Widersinnigen in sich.
Aber nun kommt noch ein sehr viel wichtigeres Transzendentes, von dem
ich Erkenntnis gewinne. Die Form des Locke’schen Schlusses von den Ideen
der sinnlichen Wahrnehmung auf äußere Ursachen erkennt Berkeley als
gültig an. Verkehrt ist nur der Schluss auf äußere materielle Substanzen. Die
sinnlichen Impressionen in ihrem Zusammenhang und Verlauf unterliegen
nicht unserer freien Willkür, wie es die sinnlichen Phantasien tun; sind wir
nicht ihre Ursachen, so müssen ihre Ursachen außer uns liegen. Eine äußere
Materie kann es nicht sein: Sie ist ja nur denkbar als Idee, Ideen sind aber
etwas Totes, Passives, etwas, das als Träger von Aktivitäten, von echten Ursa-
chen nicht denkbar ist. Nur ein aktives Prinzip kann Ursache sein. „Ursache
sein“ (das ist der einzige ursprüngliche Begriff von Verursachung, den wir
haben) ist als ein geistiges Subjekt wirken, erzeugen, gestalten. Mit anderen
Worten: Nur dadurch, dass wir uns selbst als tätige, wirkende Subjekte finden,
zum Beispiel in der willkürlichen Lenkung unserer Aufmerksamkeit, unseres
Denkens, unseres Phantasiegestaltens, haben wir eine klare Vorstellung von
Wirken, von Ursache und Wirkung sein.
Liegt also hier der Ursprung dieser Begriffe, so können wir nicht anders
als sagen: Ein Geist und nur ein Geist kann es sein, welcher für die Ordnung
396 einleitung in die philosophie

der sinnlichen Impressionen, die wir in uns unter dem Titel „Natur“ vorfin-
den, die wir aber nicht selbst gemacht haben, als wirkende Ursache aufzu-
kommen hat. Die Subjekte, die wir als Nebenmenschen rechtmäßig anneh-
men, können diese Ursache nicht sein. Denn in der Einfühlung sind sie nur
rechtmäßig gesetzt als Subjekte, die wie wir eine Natur, und zwar eine gleiche
ihnen aufgenötigte Natur haben wie wir, mit anderen Worten, die gleiche
ihrer Willkür entzogene Regelordnung von sinnlichen Komplexionen haben
wie wir, von denen sie daher sowenig wie wir die Ursache sind.
Beachten wir nun die Rationalität dieser Natur, die sich in der physi-
kalischen Gesetzmäßigkeit ausspricht, die Unendlichkeit dieser Ordnung
und dann die ganze wunderbare Teleologie, die sich in der organischen
Natur, im Menschenleben usw. ausspricht, so ist es klar, dass wir einen
unendlichen und unendlich vollkommenen Geist als Ursache annehmen
müssen: Gott. Und Berkeley hat damit das theologische Prinzip in einer
neuen Wendung des teleologischen Beweises gewonnen, auf das er auch
die Existenz der endlichen Geister zurückführt.1 Gott ist also Geist; und
sicher sind wir, hiermit einen möglichen Gottesbegriff zu haben, da der
Begriff des Geistes seinen rechtmäßigen Ursprung in der Intuition unseres
eigenen Ich hat. Ferner: Die Gotteserkenntnis ist prinzipiell von derselben
Art wie die Erkenntnis, die wir von unseren Nebenmenschen haben und die
uns allen eine ganz selbstverständliche und gewisse ist. Wir sagen geradezu:
Wir sehen die Nebenmenschen. Nun, in der nämlichen Weise „sehen“ wir
Gott. Der ganze Unterschied liegt darin, dass während gewisse begrenzte
Ideengruppen, genannt „Leiber“, Anzeigen sind für zugehörige Geister,
nun die ganze sinnliche Welt, also die gesamte Ideenmannigfaltigkeit nach
allem und jedem, Anzeichen und Wirkung der göttlichen Macht ist und in
ihr also die Gottheit gleichsam gesehen werden kann.2

1 Randbemerkung Vgl. Ergänzung S. 3582 = S. 400 Fn. 1.


2 Beilage Der Occasionalismus hatte in Descartes’ Zwei-Substanzenlehre einen Anstoß ge-
funden. Zwei grundverschiedene Realitätsarten, Geister und Körper, hatte Descartes gegen-
übergestellt, die miteinander durch kausale Beziehungen verbunden sein sollten. Körper wirken
auf Geister, zum Beispiel in der Form von Sinnesreizen, als deren Erfolg in den Geistern die
Sinnesempfindungen auftreten. Geister wirken auf Körper, zum Beispiel in Form der willkür-
lichen Leibesbewegung. Aber wie können heterogene Substanzen aufeinander wirken? Wie
kann Heterogenes aus Heterogenem hervorgehen? Wie ein Wirken aussieht, das verstehen
wir in der geistigen Sphäre, da wir selbst Tätigkeit üben, willkürlich unsere Aufmerksamkeit
dirigieren, unsere Denkarbeit vollziehen, Prämissen verbinden usw. Aus dem Geist gehen
da geistige Produkte hervor: in ihm selbst. Aber wie aus dem Willen der leibliche Vorgang
der Handbewegung hervorgeht oder wie der Reizvorgang die Empfindung bestimmt, das
ist etwas Unverständliches. Das Hervorgehen ist hier nicht wahrhaft erfahren. Ebenso auch
berkeley 397

Von besonderem Interesse ist in diesen Gedankenreihen die Konsequenz


mit der Berkeley die immaterialistische Deutung der Natur so weit durch-
führt, dass er der Tatsache der Naturwissenschaft gerecht wird, und darin
wieder die prinzipielle Deutung, welche der naturwissenschaftliche Kausal-
und Kraftbegriff unter Berkeley’schen Gesichtspunkt erfährt. Freilich bietet
Berkeley in dieser Hinsicht nur flüchtige Aperçus.
Die Naturwissenschaft geht aus von der Erfahrung, nämlich der Ding-
erfahrung. Ihr Thema sind die erfahrungsmäßigen Ideenkomplexe, die da
„Dinge“ heißen. Im Zusammenhang dieser Komplexe, in den Koexistenzen
und Sukzessionen, walten feste Regelmäßigkeiten, das sind die Naturge-
setze. Es ist nicht wahr, dass sie Kausalgesetze sind, dass die Dinge oder
Ideen der Natur nach dem Gesetz der Kausalität Zusammenhang haben.
Naturwissenschaftliche Theorie leistet nichts anders und kann nichts anders
leisten wollen, als uns in der festen Ideenordnung als einer Ordnung wech-
selseitiger empirischer Zeichen zu orientieren und es uns zu ermöglichen,
vernünftige, obschon nur wahrscheinliche Vermutungen über den Gang
künftiger Erfahrung (oder rückschauend über Zusammenhänge möglicher
früherer Erfahrung) anzustellen. In diesen Zusammenhängen redet man
zwar viel von Ursachen und Wirkungen, aber im echten Sinne ist davon hier
gar nichts zu finden. Die Regelungen in der Ordnung der Ideenkomplexe
und die auf der Erfahrung dieser Ordnungen beruhenden Verhältnisse der
empirischen Anzeige, das ist alles, was hier vorliegt. Das Feuer ist nicht
eigentlich Ursache der Hitze, sondern nur das Zeichen derselben. Es ist eine
unpassende, obschon gewöhnliche Rede: „Das Feuer macht heiß“, nicht
besser als man sagt: „Die Sonne bewegt sich im Tageshimmel“. Aber in
wahrem Sinne verursachen Ideen nichts, sie sind nur Anzeigen. Ideen sind
gänzlich passiv. Nur Gott ist hier verursachend. Nämlich er ist der Schöp-
fer der Regelordnung, die der Naturforscher im Voraus in unbestimmter
Allgemeinheit voraussetzt, wenn er Naturgesetze aufsucht und alles in so-
genannter kausaler Weise erklären will. Nur wenn man in philosophischer

nicht die angebliche Wirksamkeit eines Physischen auf ein anderes Physisches: der Stoß einer
Kugel auf eine andere. Dahinter steht der Gedanke: Materie ist etwas gänzlich Passives, Wirken
ist aber eine Aktivität; Agieren als Ursache und Reagieren ist so viel wie tätig Wirken und durch
tätige Wirkung etwas erledigen.
Der Occasionalismus endet damit zu erklären: Alle psychophysische und bloß physische
Wirkung, die wir in der Naturbetrachtung zu erfahren vermeinen, sei bloß Schein. In Wahrheit
gebe es nur ein wirkendes Prinzip: Gott. Am metaphysischen Dualismus aber rüttelte der Occa-
sionalismus nicht. Von da her ist Berkeley mitbestimmt. Nämlich er eignet sich diese Auffassung
von der Kausalität an, wonach die allein verständliche Kausalität psychische Kausalität sei.
398 einleitung in die philosophie

Weise auf Gott zurückgeht, ist man auf das wirkliche kausale Prinzip zu-
rückgeführt.1 (Wichtig ist auch der Hinweis Berkeleys darauf, dass man das
naturwissenschaftliche Deduzieren und Erklären nicht verwechseln dürfe
mit dem logisch mathematischen Demonstrieren. Der erklärte Naturvorgang
ist nicht als notwendig erwiesen, sondern nur auf die allgemeine faktische
Naturordnung zurückgeführt.)
Vergleichen2 wir Descartes’ und Lockes Theorien über Naturwissenschaft
und Natur mit denjenigen Berkeleys, so hat sich der psychophysische Dualis-
mus der ersteren, die zwei Substanzenlehre, bei Berkeley verwandelt in einen
spiritualistischen Monismus: Alles Sein ist von einer Art: geistiges Sein.
Zugleich bestätigt sich bereits, was wir in die Einleitung der letzten Vorle-
sung über den Einfluss der Erkenntnistheorie auf die Weltanschauung gesagt
haben. Berkeley und Locke gemeinsam ist der Empirismus, beide wollen die
Natur als das interpretieren, als was sie sich in der Erfahrung gibt. Und beide
lassen natürlich die neue Naturwissenschaft als echte Wissenschaft gelten
(wie erst recht der rationalistische Dualist Descartes). Berkeley hat allerdings
an den neuen exakten Wissenschaften allerlei zu mäkeln, insbesondere an
ihrem Instrument, der reinen Mathematik: Leerer Raum, absoluter Raum,
unendliche Teilbarkeit, mathematische Kontinuität, kurz, die Grundbegriffe
der idealen reinen Geometrie und Mathematik weist er als Fiktionen ab,
da er sensualistisch nur die sinnlichen Ideen gelten lässt. Aber für seine
philosophischen Theorien von der Natur ist das so außerwesentlich, dass
bedeutende Naturforscher unserer Tage, so Ernst Mach und seine Anhänger,
in Ansehung der Natur Ideen entwickelt haben, die sich fast ganz mit den
Berkeley’schen decken (wofern wir nur die Gottes- und Geisteslehre des
Theologen abziehen). Andererseits hat auch der ungeheure Fortschritt der
Naturwissenschaften es nicht verhindert, dass auch sehr viele Naturforscher
und Philosophen heutzutage den dualistischen Standpunkt eines Locke und
Descartes vertreten.
Wir ersehen daraus zugleich (was ohnehin aus der Art der beschriebenen
theoretischen Betrachtungen ersichtlich ist), dass solche Gegensätze, wie die
des Dualismus und Monismus vom Fortschritt der Naturwissenschaften ganz
unabhängig sind. Die Sachlage ist also in der Tat die: Da steht fest und blüht
immerfort eine Form der Naturerkenntnis, die wir „Naturwissenschaft“

1 Randbemerkung Die viel gepriesene Naturwissenschaft ist nicht im höchsten Sinne Natur-

wissenschaft, aus echten kausalen Gründen, aus finalen erklärende.


2 Am Rande eine Null.
berkeley 399

nennen. Sie fixiert immer neue Wahrheiten über die Natur, die jeder Ver-
nünftige gelten lässt und die auch jene streitenden Parteien gelten lassen.
Und doch haben wir eben Parteien. Dieselbe naturwissenschaftlich erkannte
Natur interpretiert ein Locke als ein System transzendenter materieller
Substanzen und ein Berkeley immaterialistisch als ein System immanenter
Empfindungsgebilde, die übereinstimmend und geordnet in Geistern auftre-
ten und nur in ihnen Realität haben. Mit anderen Worten: Dieselbe Natur
mit derselben strengen Naturwissenschaft lässt eine doppelte metaphysische
Interpretation zu und lässt vielleicht noch andere Möglichkeiten für meta-
physische Interpretationen offen; diese Möglichkeiten sind ausschließlich
bestimmt durch Reflexion über Sinn und Leistung der Naturerkenntnis,
also durch Erkenntnistheorie. Wirklich kann also Naturwissenschaft nicht
das Ende sein, über sie hinaus brauchen wir eine durch Erkenntnistheorie
wissenschaftlich vermittelte ergänzende Wissenschaft von der Natur, eine
Metaphysik der Natur.
An Berkeley lernen wir aber auch schon verstehen, dass auch die natur-
teleologischen Probleme und die innig zugehörigen theologischen Probleme
mit dem Auftreten der Erkenntnistheorie eine eigene Prägung und mit den
metaphysischen Problemen der unteren Schicht einen nahen Zusammen-
hang erhalten. Scheiden wir um der Klarheit willen die naturalen Pro-
bleme der Metaphysik, die Probleme der Interpretation des Sinnes der
psychophysischen Natur, von den supranaturalen, den theologischen Pro-
blemen. Bei Descartes und Locke ist die Verbindung noch recht äußerlich;
die Erkenntnistheorie wirkt schon ein, aber nicht so tiefgreifend wie bei
Berkeley. Sowie dieser die Natur in ein immanentes Gebilde übereinstim-
mender Ideenordnung in reinen Geistern umgedeutet hat, gewinnen die
theologischen Fragen einen neuen Aspekt, der erkenntnistheoretisch be-
stimmt (und zugleich durch die erkenntnistheoretischen Reflexionen über
das Wesen der Erkenntnis vom Geist bestimmt) ist. Gottes Wirken besteht
jetzt nicht in einem Wirken, das irgendwie zu vergleichen ist mit dem, was
innerhalb der absolut hingenommenen Natur als Wirken gilt, nach Art
von Stoß und Gegenstoß. Das göttliche Wirken ist ein geistiges Tun, und
geistiges Tun kann sich nur vollziehen in einer reinen Geistessphäre, also
in der Regelung von Tätigkeiten und in der Erzeugung oder Ordnung von
Ideen und Ideenkomplexen. Alles wahrhafte Sein reduziert sich auf Ich-
Subjekte mit ihren Tätigkeiten und ihren sinnlichen Ideen. Gott als das
schöpferische und unbedingte Subjekt tritt nun in eine besondere Bezie-
hung zu den endlichen Ich-Subjekten und durch sie hindurch zu ihrem Ich-
Leben und zur Natur als phänomenaler Umwelt des Ich. In den genannten
400 einleitung in die philosophie

Berkeley’schen Schriften, die allein historisch gewirkt haben, fehlt es übri-


gens an weiter fortführenden Theorien, welche den hier angelegten Motiven
einer Geistesmetaphysik genugtun würden. Doch für uns ist die Hauptsache,
dass Sie sehen, wie die theologischen Probleme innerlich mit den Natur
interpretierenden, den naturalen Problemen der Metaphysik zusammenhän-
gen.1

Hume

Im2 Sinne unserer vorgezeichneten Absichten gehen wir nun zum Hume’-
schen Skeptizismus über, der seine Nahrung aus den Philosophien Lockes
und Berkeleys geschöpft hat.3 Es war Berkeley, dem glaubenseifrigen Theo-
logen, dem unermüdlichen Bekämpfer des Atomismus und Skeptizismus,
das arge historische Schicksal beschieden, dass gerade die Lehren, die ihm

1 Ergänzung Gewiss lag in Berkeleys Skizzen eine große Kraft und nicht nur, wo er Lo-

cke und die herrschende Philosophie kritisiert. Geradezu eine epochemachende Bedeutung
müssen wir diesem Anfang einer rein immanenten und dabei empirischen Naturinterpretation
zuerkennen. Dieser Anfang musste nämlich gemacht, eine empirische immanente Philosophie
musste versucht werden. Alle transzendente Objektivität ist für unsere Erkenntnis doch nur
gegeben und gedacht in Bewusstseinserlebnissen, in gewissen Erlebnissen des Wahrnehmens
und sonstigen Erfahrens und dann weiter des Erfahrungsdenkens in den Formen der natur-
wissenschaftlichen Methode. So einfach der Locke’sche Satz, von dem der Anstoß ausgeht,
auch ist (der Satz: Unmittelbar gegeben sind nur unsere eigenen Ideen), so viel ist sicher, dass
die Natur als Objekt der Naturerkenntnis einer rein aus der Immanenz dieser Erkenntnis zu
schöpfenden Interpretation bedarf. Es bedarf durchaus einer reinen Wesensdurchforschung der
Naturerkenntnis nach allen ihren typischen Stufen, von der sinnlichen Erfahrung an, bis hinauf
zu den höchsten Formen methodisch-wissenschaftlichen Denkens. Es gilt hierbei klarzustellen,
was diese Erkenntnisse in sich selbst, ihrem eigenen Wesen gemäß, unter dem Titel „Natur“
meinen, welche Sinngebungen das Bewusstsein unter diesem Titel schrittweise vollzieht und in
der Einsicht als gültige vollzieht. Alles in allem, es gilt klarzustellen, was die Idee objektiver
Naturwirklichkeit als sich im Erkenntnisbewusstsein schrittweise konstituierende enthält, was
sie vermöge dieser Konstitution notwendig enthalten muss.
Sowenig Berkeley in dieser Hinsicht geleistet hat und bei seinem alle Intentionalität über-
sehenden Sensualismus leisten konnte, epochemachend war es, dass er zuerst hinsichtlich
der physischen Naturerkenntnis die rein immanente Einstellung vollzieht und in Form sei-
ner paradoxen Theorie als der Erste die Natur als ein im Erkenntnisbewusstsein selbst sich
konstituierendes Gebilde zu verstehen sucht. Aber Berkeley kann uns hier nicht Genüge tun:
Über sehr unzureichende und unklare Anfänge kommt er nicht hinaus. Sehr eifrig behauptet
er, steif und fest.
2 Am Rande eine Null.
3 Randbemerkung 1711–1776. Hume: Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of

Human Nature), 1738–1740. Philosophical Essays Concerning Human Understanding, 1748.


hume 401

um ihrer selbst willen so sehr am Herzen lagen (seine Gotteslehre, seine


Lehren über geistige Substanzen, über das Wesen des Wirkens als aus-
schließlich geistigen Wirkens), völlig einflusslos geblieben sind. Nur sein
Immaterialismus, der ihm doch nur so wertvoll war als Grundstück seiner
theologischen Begründungen und eine Reihe von Hilfstheorien, die für ihn
nur eine polemische und methodische Bedeutung hatten, wie seine epoche-
machende Abstraktionstheorie, haben die Entwicklung bestimmt und sie
durchaus im skeptischen Sinne bestimmt, wider alle Intentionen Berkeleys.
Das geschah eben vermöge seiner Einwirkung auf Hume, der sich den sen-
sualistischen Motiven der Locke’schen Philosophie schon als Jüngling ganz
hingegeben hatte und sie in sich, in scharfer Kritik der Locke’schen Halb-
heiten, Unklarheiten, Inkonsequenzen zur radikalen Auswirkung brachte.
In dieser Einstellung studierte er neben Locke die Schriften Berkeleys, der
ja selbst in so weitem Maß zum Fortbildner des Sensualismus geworden war,
ohne eine Ahnung zu haben, dass jede Förderung des Sensualismus eine
solche des Skeptizismus werden muss. Wo Berkeley, wie in seiner Lehre
von der Erkenntnis des Geistes und der Geistestätigkeiten, den Sensualis-
mus überschreitet und dann zur Begründung seiner spiritualistischen und
energetistischen Metaphysik übergeht, da tut Hume nicht mit. Es ist hier
wichtig zu bemerken, dass er den Hauptstock der Locke’schen Lehren über
Natur und Naturwissenschaft, die Auffassung der Natur als bloß empirischer
Empfindungszusammenhang, zwar übernimmt, dass sie für ihn aber nicht ein
Ende, sondern einen Anfang bedeuten.
Berkeley, der Gottesmann, war eigentlich für die Naturwissenschaft wenig
interessiert, mit seinen flüchtigen Aperçus glaubt er den Sinn der Natur-
wissenschaft genugsam aufgeklärt zu haben; es kam ihm ja nur auf seine
spiritualistische Theologie an. Der Weltmann Hume aber, der theologisch
gar nicht interessiert ist und an der ungeheuren historischen Tatsache der
neuen Naturwissenschaft nicht so schnell vorübergehen kann, erkennt, dass
uns nun, nach der immaterialistischen Interpretation der Natur und Na-
turwissenschaft, so richtig und höchst verdienstvoll sie auch ist, erst recht
Rätsel, gewaltige Rätsel aufgegeben seien. Vom Widersinn der Annahme
transzendenter materieller Substanzen befreit und somit auch befreit vom
Widersinn einer Auffassung der Naturwissenschaft, die prinzipiell Unerfahr-
bares erkennt, werden wir bei tieferer Erwägung dessen inne, dass auch
die immanent interpretierte Naturerkenntnis und Natur problematisch sei;
nämlich die Naturwissenschaft, die uns doch allen so recht als Muster strenger
und einsehbarer Rationalität gilt, ist eben hinsichtlich dieser Rationalität bei
näherem Zusehen unverständlich. Andererseits, in Hinsicht auf die Natur
402 einleitung in die philosophie

selbst, die sich auf Ideenkomplexe reduzieren soll, ist rätselhaft der Ursprung
des erfahrungsmäßigen Anscheins einer bewusstseinsäußeren Objektivität.1
Die Natur gibt sich uns doch als ein Äußeres. Es gibt sich uns doch,
was als Komplex nie aufgewiesen werden kann, ein unendlicher Raum und
eine unendliche Zeit; es geben sich uns im Raum, wir meinen sie zu sehen,
äußere Dinge; und diese Objektivitäten sind doch gemeint als Dauerein-
heiten, die sind, auch wenn wir sie nicht wahrnehmen, während die jewei-
ligen wirklichen Impressionen, die wir dingartig als solche Dauereinheiten
auffassen, nur so lange sind, als sie eben erlebte sind. Mit den dauernden
Dingen und zusammengenommen mit der dauernden und von der Sub-
jektivität unabhängigen Natur, die wir als solche unmittelbar anzuschauen
vermeinen, hat es aber die Naturwissenschaft zu tun, auf sie bezieht sich
die Naturkausalität; und als spezielle Besonderungen derselben werden die
mathematischen Naturgesetze als schlechthin und notwendig gültige ausge-
sprochen.
Das alles hat Berkeley nicht aufgeklärt. Er nimmt die Rationalität der
Naturwissenschaften hin und beschränkt diese Rationalität nur, darin übri-
gens genau Locke folgend. Er leugnet also zwar, dass wir in der naturwissen-
schaftlichen Erkenntnis demonstrative Notwendigkeiten erfassten wie in der
reinen Logik und Arithmetik; er spricht ihrer Erkenntnis nur Wahrschein-
lichkeit zu. Aber die Wahrscheinlichkeiten sollen dabei doch rational sein,
was die Naturwissenschaft als höchstwahrscheinlich gültig hinstellt. Das muss
doch jeder Vernünftige anerkennen. Aber ist diese Vernünftigkeit wirklich
verständlich zu machen? Nach Berkeley sind die Dinge bloße Ideenkom-
plexe, deren Einheit nicht in den Ideen selbst liegt, sondern in der gewohn-
heitsmäßigen assoziativen Verflechtung, die sich im Geist vollzieht. Wo Ideen
oft zusammen auftreten, da wachsen sie in der Weise zusammen, dass sie
wechselseitig aufeinander hinweisen, den Charakter des gewohnheitsmä-
ßigen Zusammengehörigen annehmen. Sind von den Ideen aus solch einer
empirisch erwachsenen Gruppe nur einige in wirklicher Impression erfahren,
da fungieren die wirklich erfahrenen als Zeichen für die nicht erfahrenen: So
wie die gesehene Vorderseite eines Dinges die Rückseite mit sich führt, näm-
lich bloß als Erfahrungsmöglichkeit anzeigt. Auch die empirische Kausalität
gehört nach Berkeley hierher, nur dass sie sich bezieht auf die geregelten zeit-
lichen Folgen: Feuer macht heiß, erwärmt die Umgebung. Nichts weiter liegt

1 Randbemerkung Vgl. die nochmalige ausführlichere Kritik der Grenzen Berkeley’scher

Interpretation Bl. 360 f. = S. 402.


hume 403

vor als ein Verhältnis gewohnheitsmäßiger geregelter Folge. (Echte Kausali-


tät wäre Tätigkeitswirken, und das ist nach Berkeley Wirken eines Geistes.)
All das wirft Berkeley im Vorbeigehen hinein, ohne nun die Frage aufzu-
werfen, wie nun so etwas wie eine Naturwissenschaft als ein System objektiv
geltender Erkenntnis möglich sei. Sollen die Naturgesetze bloße Ausdrücke
zufälliger assoziativ-gewohnheitsmäßiger Verbindungen sein? Aber woher
dann die Vernünftigkeit naturwissenschaftlicher Schlüsse? Ebenso wenig
klärt er das Phänomen auf, dass uns Dinge im Raum als unwahrgenommen,
an sich seiend, bewusstseinstranszendent erscheinen. Er ist hier geneigt, weg-
zuleugnen, was sich nicht wegleugnen lässt. Die Dinge sollen nichts weiter
sein als durch Assoziation und Gewohnheit zusammengewachsene Gruppen
teils wirklicher teils unter den jeweiligen empirischen Umständen zu er-
wartender Sinnesempfindungen. Aber wie solche Komplexe dazu kommen
sollen, sich bei allem Wechsel ihrer Elemente als identisch dauernde Realitä-
ten und zudem als von unserem Wahrnehmen oder Nicht-Wahrnehmen, von
unserem Dasein oder Nicht-Dasein unabhängige Realitäten zu geben, das
klärt Berkeley nicht auf. Wenn irgendetwas, so ist das doch ein Grundfaktum,
dass äußere Erfahrung sich selbst eben als Erfahrung von einem Äußeren
gibt und von einem im Raum sich ausbreitenden, verharrenden materiellen
Sein, dem das Gesehen-Werden etwas Zufälliges ist. Darüber ging Berkeley
nicht achtend hinweg.
Aber noch schlimmer war sein Versagen hinsichtlich der Tatsache der
exakten Naturwissenschaft. „Natur“, das soll nach Berkeley nichts weiter
besagen als den Bestand von Empfindungskomplexen bzw. Empfindungsab-
läufen, die durch Erfahrung, durch Assoziation und Gewohnheit miteinander
verflochten sind und daher durchgängige Verhältnisse erfahrungsmäßiger
Anzeigen mit sich führen. Danach erwarten wir, wo unter ähnlichen Emp-
findungsumständen ähnliche Empfindungskomplexe öfters aufgetreten bzw.
abgelaufen sind, dass, wo solche Umstände wieder erlebt sind, auch die asso-
ziativ zugehörigen Empfindungsgruppen ablaufen werden. Zumal alle Emp-
findungen, nämlich die normalen, sind in solchen empirischen Beziehungen
wechselseitiger Vordeutung und Rückdeutung verflochten (ausgenommen
sind nur die Anomalitäten des Traums und der Halluzination). Und das soll
die Ordnung der Natur sein. Das scheint ganz wohl zu stimmen. Blicken wir
hier im Raum herum, so laufen bei den Blickbewegungen Bewegungsemp-
findungen reihenweise ab und damit verflochten die eigentlichen visuellen
Empfindungen in Gruppen. Was ich bei der einen Augenstellung sehe, weist
vor, es lässt mich sogleich erwarten, was ich beim Einschlagen irgendeiner
neuen Blickrichtung sehen würde. Die Bilder sind empirisch verflochten
404 einleitung in die philosophie

und auf Umstände bezogen, sie laufen jeweils in vertrauter Weise, eben
gewohnheitsmäßig ab. Aber ist das alles? Ist damit das große Phänomen Na-
turwissenschaft verständlich? Wie ist sie möglich, wenn das alles ist? Habe ich
nur assoziative Gebilde und somit nur die Möglichkeiten, in gewohnheitsmä-
ßigen Abläufen mich zu bewegen, dann gibt es für mein Denken nur Schlüsse
von gewohnheitsmäßigen Umständen auf gewohnheitsmäßige Folgen. Aber
alle solchen Schlüsse sind doch vage und entbehren der wissenschaftlichen
Notwendigkeit.
Kann die Naturwissenschaft als eine Sphäre vager Gewöhnlichkeiten
aufgefasst werden, ist sie aufzulösen in ein, wenn auch kompliziertes Sys-
tem von Schlüssen aus empirischen Zeichen auf das durch sie angezeigte?
Wer möchte bezweifeln, dass Naturwissenschaft eine echte, von Rationalität
durchleuchtete Wissenschaft ist? Aber als was lehrt sie uns die Natur kennen?
Alles Reale der Natur, ist, wie sie lehrt, einig unter dem Gesichtspunkt
mathematisch exakter Gesetzlichkeit. Einheit der Realität ist Einheit der
Notwendigkeit. Ein bloß anderer Ausdruck dafür ist, dass alles in der Natur
unter strengen, mathematisch formulierbaren Gesetzen steht, dass jede Ver-
änderung, jedes Geschehen in der Natur eine kausale, eine mathematisch-
exakte Folge der gesetzlich zugehörigen Veränderungen der Umstände ist.
Kausalität ist das beständige Thema der Naturwissenschaft, die Erklärung
kausale Erklärung. Berkeley freilich hatte eine Kausalität der Natur geleug-
net; aber das konnte er nur, weil er seinen Begriff von Kausalität, den des
geistigen Tuns und Wirkens mit dem naturwissenschaftlichen identifiziert
hatte. Freilich pflegten die Naturforscher selbst diesen die populäre Rede
von Wirkung und Kraft beherrschenden Begriff ungeschieden zu mengen mit
dem naturwissenschaftlichen, mit dem, der ihre wissenschaftliche Methode,
ohne dass sie sich darüber klar waren, ausschließlich bestimmte.
Jedenfalls durfte Berkeley nach der berechtigten Ausscheidung des Tä-
tigkeitsbegriffes aus den Verhältnissen physischer Natur nicht die Notwen-
digkeitszusammenhänge übersehen, auf die es der Naturwissenschaft, wo
sie von Kausalität spricht, allein ankommt, eben weil die Natur in ihrem
Sinne nichts anders ist als der Notwendigkeitszusammenhang in Raum und
Zeit. Ist das aber gesehen, dann ist eben dies das Problem, klarzulegen (und
zwar durch eingehendes Wesensstudium der Naturerfahrung und der natur-
wissenschaftliches Denken ausmachenden Bewusstseinszusammenhänge),
wie die Eigenart dieser Bewusstseinserlebnisse und der in ihnen vollzoge-
nen Sinngebungen es verständlich macht, dass das an der Kette der na-
turwissenschaftlichen Methode fortschreitende Erkennen in sich eine von
Notwendigkeit durchherrschte Natur als erkannte Gegenständlichkeit er-
hume 405

kennen lässt und wie auf diese Weise der Sinn der materiellen Natur und
ihre Notwendigkeit zu seiner letzten Verständigung kommt.
Was aber speziell Berkeley anlangt, so wäre zu sagen: Hatte ihn die imma-
nente Betrachtung des Bewusstseins von Natur dahin geführt, die erfahrene
Natur auf assoziative Komplexe von Sinnesempfindungen zu reduzieren, so
hätte er das Rätsel nicht übersehen dürfen, das nun gestellt war: Wie kommt
in diesen Komplex nicht nur erscheinungsmäßige Dingeinheit, sondern auch,
in eins damit, natur-kausale Notwendigkeit hinein? Damit habe ich Ihnen
aber eigentlich schon ein großes Stück Hume vorgetragen, wenn auch nur
implizite. Denn darin bestand die Größe Humes, und das ist die Quelle seiner
ungeheuren Wirkung auf Kant und seiner noch unmittelbareren Wirkung auf
die Gegenwart, dass er zuerst diese Probleme einer immanenten Philosophie
gesehen, dass er, was in Berkeley lag, herausverstanden hat und so viel besser
als Berkeley selbst. Freilich, die Problemdarstellungen und Lösungsversuche
Humes bewegen sich wieder und recht nur auf dem Niveau des Sensualismus
der Tabula-rasa-Theorie des Bewusstseins, die er in schroffster Einseitigkeit
durchführt. Eben damit aber hängt es zusammen, dass Hume in einem Skep-
tizismus endet und, wie wir verstehen werden, notwendig enden muss, der
an jeder rationalen Weltinterpretation verzweifelt und die Welt selbst als ein
System von widervernünftigen Fiktionen auffasst.
Zunächst vollendet Hume den Sensualismus, der in Berkeley nur zur
Auflösung der physischen Natur in Empfindungskomplexe geführt hatte,
dadurch, dass er des letzteren methodische Inkonsequenz überwindet und
nicht wie dieser bei der geistigen Substanz Halt macht. In der reflektiven
Intuition finden wir nach Berkeley unser Ich vor, die geistige Substanz, und
nicht vor als ein Perzipiertes, als ein Datum derart, wie in der Sensation die
Farben- oder Tondaten. So zweifellos wahr das ist, es war eine Inkonsequenz,
da doch Berkeley das Parallele in der äußeren Erfahrung leugnet, nämlich die
erfahrene Einheit und Identität des Dinges, der er unterschiebt die Komplexe
von Empfindungsdaten. Hume also, ins Extreme gehend und nichts als im-
manent vorfindlich anerkennend als Daten des sinnlichen Typus, streicht nun
auch die geistigen Substanzen fort; er übt also an Berkeleys Lehre von der
geistigen Substanz eine analoge Kritik, wie dieser sie an Lockes Lehre von
der materiellen Substanz geübt hatte. Was nicht perzipiert ist und perzipiert
ist wie ein sinnliches Datum, das ist überhaupt nichts, ist eine metaphysische
Konstruktion.1

1 Randbemerkung Die Intuition geistiger Substanzen wird mit dem Gespenster-Sehen auf

eine Stufe gestellt.


406 einleitung in die philosophie

„Es gibt“, sagt er, „einige Philosophen die sich einbilden, wir seien uns
dessen, was wir unser Ich nennen, jeden Augenblick unmittelbar bewusst.
Wir erführen seine dauernde Existenz, seine Identität, Einfachheit. Aber
eine solche Idee vom Ich haben wir nicht. Ich meinesteils, wenn ich mir
möglichst unmittelbar klar mache, was ich, von mir sprechend, vorfinde,
kann nicht umhin, jedes Mal über die einen oder anderen Perzeptionen zu
stolpern. Ich finde nichts anders vor als zum Beispiel Perzeptionen von Hitze
und Kälte, Licht und Schatten, Liebe und Hass, Lust oder Unlust. Niemals
finde ich etwas anders, ein davon Unterschiedenes unter dem Titel ,Ich‘,
einen eigenen inneren Eindruck.“1 Ich, das ist, sagt Hume, also nichts anders
als ein Bündel oder Zusammen verschiedener Perzeptionen, die aneinander
in unbegreiflicher Schnelligkeit folgen. Freilich erwächst auch hier wieder
das Problem: Wir halten uns doch alle für bleibende Subjekte, für dauernde
Persönlichkeiten, dauernd, während die Bündel von Perzeptionen beständig
wechseln. Also es erwächst das parallele Problem zum Problem der ver-
meintlichen Erscheinung eines äußeren dauernden unabhängigen Dinges.
Eines und das andere Problem hat Hume ausführlich behandelt und für
den Ursprung des Phänomens der Persönlichkeit nach dem Vorbild der Ber-
keley’schen Naturtheorie ausschließlich auf Assoziation und Gewohnheit
rekurriert.
So hat der Sensualismus der Weltinterpretation seine volle Extension
und Geschlossenheit erlangt. Die Welt der Körper und die Welt der Geister,
also die gesamte Welt der physischen und psychischen Erfahrung wird, in
der gewöhnlichen Auffassung einer Welt an sich seiender Realitäten, weg-
gestrichen. Alles Sein reduziert sich auf Bewusstsein, auf ein subjektloses
Bewusstsein, und dieses selbst ist keine Realität, sondern ein Haufen oder
Bündel von Perzeptionen. Das ist nichts weiter als die radikale Durchführung
der Tabula-rasa-Auffassung des Bewusstseins. Auf diese Auffassung gerät
die Philosophie im ersten Versuch, die immanente Einstellung zu vollziehen
und die immanenten und absoluten Gegebenheiten zu fixieren: Perzeptionen
und nichts als Perzeptionen sind die immanenten Gegebenheiten, Daten und
nichts als Daten, zunächst sinnliche Daten, Farbendaten usw., dann Gefühle,
Affekte u. dgl., die prinzipiell nichts anderes, nur etwas andersartig sind,
sozusagen pure Sachen, die darin aufgehen zu sein und die in sich nichts
von Sinn tragen. Man kann wohl sagen, dass darin sich der Einfluss der

1 Randbemerkung Nicht wörtlich. Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, Book i,

Part iv, Section vi.


hume 407

Naturwissenschaft und damit ein Naturalismus bekundet: Der atomistische


Mechanismus der anfangenden Naturwissenschaft löst die ganze physische
Natur in Atome auf, absolute Realitäten, die einfach sind und unter bloßen
Gesetzen der räumlich-zeitlichen Ordnung, der kausalen Bestimmung ste-
hen. Der Bewusstseinsnaturalismus löst alle Subjektivität in ähnlicher Weise
in Bewusstseinsatome auf, in letzte sachliche Elemente, die unter bloßen
Sachengesetzen stehen.1 Diese Bewusstseinsatome sind die primitiven Per-
zeptionen. Die zu ihnen gehörigen immanenten Gesetze sind die Gesetze
der Assoziation und Gewohnheit, allenfalls noch einige ergänzende Gesetze
vom selben Typus. Darauf reduziert sich also in absoluter Betrachtung alles
Sein überhaupt, sofern ja die vermeintliche Wirklichkeit der physischen und
geistigen Natur ein bloß nach diesen Gesetzen zu erklärendes Bewusst-
seinsphänomen sein soll.
Die Hauptgesetze, unter denen dieses Spiel des Bewusstseinslebens, des
Ablaufes von Impressionen und Ideen steht, sind die Assoziationsgesetze.
Ähnliches erinnert an früher erlebtes Ähnliches. Erlebnisse, die gleichzeitig
oder im Nacheinander aufgetreten sind haben die Tendenz, sich zu repro-
duzieren. Tritt zum Beispiel ein Glied einer solchen Erfahrungsfolge auf, so
pflegt die ganze Folge in der Vorstellung abzulaufen, wie etwa der Anfang
einer Melodie die ganze Melodie sich abspielen lässt. Also die Bewusst-
seinstafel hat Gesetze, vermöge deren der Erlebnisverlauf eine gewisse
Organisation erhält, vermöge deren Erlebnisse nicht spurlos verschwinden,
sondern assoziativ geweckt werden können durch andere, mit denen sie
verbunden sind durch Assoziation; dass sich also Erlebniskomplexe bilden
können, die durch die Häufigkeit der Zusammenerfahrung immer fester, wo
nicht unlöslich werden.
Gestehen wir einen Augenblick der physischen Natur im Sinne der na-
türlichen Auffassung eine absolute Bedeutung zu und etwa in Form der
atomistischen Naturwissenschaft, so können wir sagen: So wie nach dieser
Naturwissenschaft die Gesamtheit der physischen Dinge und Vorkommnisse
sich auf eine Vielheit von Atomen zurückführt und nach den mechanischen
Naturgesetzen sich alles und jedes erklärt, so will dieser Bewusstseinsnatu-
ralismus die Bewusstseinserlebnisse in Bewusstseinsatome auflösen und alle
Gebilde und Gebildeveränderungen, den ganzen Lauf des Bewusstseinsle-
bens, erklären durch die Assoziationsgesetze und mit ihnen sich verflech-
tende ähnliche Gesetze.

1 Randbemerkung Dieser Gesichtspunkt „Natur“, bloße Sache, welchen Kontrast (Intentio-

nalität) hat er? Wird das weiter ausgeführt?


408 einleitung in die philosophie

Nun besteht aber jene Gleichstellung nicht. Das einzige Absolute ist ja
für den Schüler Berkeleys das Bewusstsein; alles Bewusstseinstranszendente,
alle Natur ist ein bloß assoziatives Gebilde im Bewusstsein, und Bewusstsein
selbst bedeutet nichts anderes als ein Schauplatz für Erlebnisse, die eben
sind, wie Atome sind, wie bloße Sachen sind. Die Grundeigenschaft des
Bewusstseins, die Eigenschaft Bewusstsein von etwas zu sein, wird bei-
seitegeschoben oder nur als eine assoziativ erwachsende Gefühlsfärbung an
Erlebnissen, als Hinzutreten eines neuen Erlebnisdatums betrachtet.1 Das
ist der Boden, auf dem Hume sich bewegt. Und die Konsequenz der Aus-
bildung einer Erkenntnistheorie und einer erkenntnistheoretischen Natur-
Geist-Interpretation auf diesem Boden ist die Größe Humes; sie liegt in der
radikalen Ausbildung des Sensualismus und der Enthüllung seines imma-
nenten Widersinnes.
Gehen wir nun auf die philosophischen Theorien Humes ein, welche die
oben genannten und von Hume entdeckten Problemen betreffen: die imma-
nente Aufklärung der realen Einheiten „Ding“ und „Persönlichkeit“ und
andererseits der die reale Welt durchherrschenden kausalen Notwendigkeit.
Oder vielmehr, wir besprechen näher nur das letztere historisch besonders
wirksame Problem der Kausalität. Wir gehen also in die Gedankenreihen
des Hume’schen Essay ein, die dem ganzen kantischen Denken die entschei-
dende Wendung gaben und von denen er selbst sagt, dass sie es waren, die
ihn aus seinem dogmatischen Schlummer erweckt hatten.
Reales Dasein erfassen wir unmittelbar in seiner Gegenwart durch Wahr-
nehmung, auf vergangenes Dasein beziehen wir uns unmittelbar in Form der
Erinnerung. Lassen wir diese Erkenntnisquelle ohne nähere Kritik gelten;
im Essay spricht Hume geradezu so, als böten sie kein Problem. Interes-
sieren wir uns aber jetzt speziell für die Frage: Wie kommen wir dazu
Wirklichkeiten anzunehmen, die wir nicht wahrnehmen und deren wir uns
als früher wahrgenommene nicht erinnern? Die Antwort lautet: Der Kausal-
schluss ist es, der über die unmittelbare Evidenz unserer Sinne und unseres
Gedächtnis hinausführt. Wir schließen von Ursachen auf Wirkungen, oder
umgekehrt; wir leiten aus Naturgesetzen ab, die aber ihrerseits Kausalgesetze
sind. Also auf Erfassungen von Kausalverhältnissen, von einzelnen, oder
von Kausalgesetzen, eventuell auch auf das allgemeine Kausalitätsgesetz

1 Randbemerkung Bewusstsein von etwas: Vernunft, Stellungnahme, Recht, Unrecht, tran-

szendentes Objekt – letztes immanentes Objekt, vor der Natur als bereitliegende Sache für ein
aktives Subjekt?
hume 409

werden wir zurückgeführt. Wie steht es nun mit der Rationalität der Kausal-
Erkenntnis? Das ist die Hauptfrage der Aufklärung der Rationalität der
Naturwissenschaft. Denn bloß Erfahren ist noch keine Wissenschaft; erst
wenn wir über das unmittelbar Gegebene der Erfahrung hinausgehen, kann
von Wissenschaft die Rede sein. Und dieses Hinausgehen ist hier eben das
kausale, der kausalen Relation gehen wir nach.
Hume fragt nun nach der Impression, welche der „Idee“ der Kausalität
bzw. den Begriffen „Ursache“ und „Wirkung“ zugrunde liegt. Soll der Be-
griff kein leerer sein, kein leeres Wort, so muss sich sein ursprünglicher Sinn
als Impression ausweisen lassen, als ursprüngliche Anschauung, sei es in der
Sensation oder Reflexion. Es handelt sich um einen Relationsbegriff. Würde
es sich um die Relation eines Nebeneinander handeln oder eines Nachein-
ander, so wären wir sogleich fertig. Der Begriff, die Idee des Nebeneinander
berechtigt sich ohne weiteres, wenn wir auf zwei nebeneinander stehende
Dinge hinblicken und beziehend mit dem Blick von dem einen zum anderen
übergehen. Mit den Beziehungspunkten sehen wir dann unmittelbar die
Relation des Neben. Ebenso für den Begriff des Nacheinander. Nicht minder
auch für Relationen wie Intensitätsrelationen, Relationen der Tonhöhe, des
qualitativen Abstandes u. dgl.1
Was finden wir nun im Fall einer Kausalität, eines Verhältnis von Wir-
kung und Ursache vor, wenn wir es zu impressionaler Gegebenheit bringen
wollen? Zum Beispiel ein geworfener Stein zerschlägt eine Fensterscheibe.
Wir finden da den Stein in der Bewegung bis zur Scheibe und dann das
Zerfallen der letzteren. Einen kontinuierlichen Prozess des Nacheinander.
Das erschöpft natürlich nicht die Sache, wird man sagen. Zum Sinn der
Rede von Kausalität, von Ursache und Wirkung, gehört nicht bloß das post
hoc, sondern das propter hoc. Eines folgt nicht nur auf das andere, son-
dern infolge des Ursache-Vorganges muss der Wirkungs-Vorgang eintreten.
Gemeint ist Notwendigkeit der Folge, und die macht also das Wesentliche
der Kausalität aus. Aber hier bleiben wir stehen. Wo ist die Impression,
müssen wir fragen, für dieses „infolge“, dieses „muss“, für Notwendigkeit?
Vielleicht sind wir nur ungeschickt und finden nicht gleich, was doch da
ist.2

1 Gestrichen Überall gilt es: Mit den Beziehungspunkten erfassen wir im Übergang unmittel-

bar in ursprünglicher Impression die Relation.


2 Gestrichen Man spricht von Hervorgehen und von notwendigem Hervorgehen auch, so

ähnlich wie man in einer anderen Sphäre, in der des logischen und mathematischen Schließens,
sagen wir allgemein des apriorischen Schließens, von Hervorgehen spricht: Bei einem solchen
410 einleitung in die philosophie

Sehen wir zu, ob wir nicht in anderen Fällen besser so etwas wie Not-
wendigkeit originär erfassen können. In der Tat ist dieses Wort kein leeres
Wort, es hat einen Ursprung. Von Notwendigkeit sprechen wir nicht nur
bei Kausalschlüssen gemäß den Verhältnissen von Ursache und Wirkung,
sondern in der gesamten Sphäre der Vernunftschlüsse in Logik und reiner
Mathematik. Auch da ist die Rede von notwendigem Hervorgehen. Zum
Beispiel, aus a > b und b > c geht hervor a > c, es geht notwendig hervor.
Erschließen heißt hier: ein Verhältnis herausstellen, das in einem Paar ande-
rer Verhältnisse im Voraus beschlossen, notwendig beschlossen ist. Hierher
gehören auch einfachere Verhältnisse. Sage ich „2 < 3“, so gilt das notwendig,
und intuitiv erfasse ich, was da ausgesagt ist. Ich erfasse, dass das Verhältnis
des „kleiner“ notwendig zu den Beziehungspunkten 2 und 3 gehört. Ebenso,
dass das Gleichheitsverhältnis notwendig zu den Summen a + b und b + a
gehört usw.
Was sagt hier das „notwendig“? Hier, wo ich seinen Sinn in Form in-
tuitiver Erkenntnis klar erfasse? Es handelt sich hier überall um gewisse
Relationen, die wir nicht nur in dem einzelnen Fall und nur in aktueller
Erfahrung in seinen einzelnen Beziehungspunkten erfassen; sondern es ist
uns intuitiv klar, dass, wenn immer wir gleiche Beziehungspunkte haben,
auch die Relation dieselbe sein muss.1 Nicht nur der impressional gegebene
Fall von 2, etwa von zwei Äpfeln, und weiter der von drei Äpfeln führt
das Verhältnis des „größer“ mit sich, sondern wir haben die allgemeine
Vernunfteinsicht, dass das für jeden gleichartigen Fall gilt.2 Überhaupt ist
2 < 3. Ebenso: Überhaupt liegt in a > b > c das a > c beschlossen. Und ebenso
für alle logisch-mathematischen Axiome.
(Das Verhältnis dieses Beschlossen-Seins ist für alle Größenverhältnisse
dieses Typus dasselbe.) Also es gibt Relationen zwischen Inhalten (die selbst
wieder Relationen sein können) von solcher Art, dass die Relation zu gleich
gearteten Inhalten überhaupt gehört, und das wird in einer intuitiven Er-
kenntnis unmittelbar erfasst. Überall da sprechen wir von Notwendigkeit,

Schluss heißt es: Aus den Prämissen geht notwendig der Schlusssatz hervor. Da haben wir also
wieder die Rede von notwendigem Hervorgehen. Stehen die verglichenen Fälle auf gleicher
Stufe, das kausale und logische und mathematische Verhältnis, Ursache und Grund, Wirkung
und logisch mathematische Folge?
1 Gestrichen Ein beliebiger in bloßer Phantasie vorstelliger Fall genügt, um diese intuitive und

vollkommene Gewissheit zu gewinnen. Zum Beispiel:


2 Gestrichen Wir erfassen in der intuitiven Erkenntnis und aufgrund bloßer Phantasiefälle

eine generelle axiomatische Sachlage:


hume 411

von der Notwendigkeit des Bestandes der Relation. Das Gebiet dieser Not-
wendigkeit erweitert sich in Form der Demonstration, wie in der reinen
Geometrie: Aus den intuitiv erfassten Axiomen, die unmittelbare Notwen-
digkeiten aussprechen, gehen wir in Schritten, deren jeder einzelne Not-
wendigkeit mit sich führt, weiter und gewinnen notwendige Erkenntnis von
Sachverhalten, die nicht unmittelbar als notwendig zu erkennen wären. Für
diese Klassen von Relationen, die Gegenstände möglicher intuitiver oder
demonstrativer Erkenntnis sein können, gebraucht Hume den Ausdruck
„relations of ideas“. Dies ist die Sphäre echter Vernunft. Hier sehen wir
nicht nur ein vereinzeltes „so ist es“, sondern „so ist es überhaupt und so
muss es sein“.
Das Charakteristische dieser Sphäre kann man noch durch einige Kri-
terien bezeichnen: Die Leugnung einer Ideen-Relation bzw. die Leugnung
einer intuitiv oder demonstrativ einsehbaren Wahrheit führt einen Wider-
spruch, eine Absurdität mit sich. Einen Widersinn gibt es, leugnend zu
sagen: „Es ist nicht 2 < 3“, „es ist aber a > b > c und nicht a > c“.
Und das gilt für die gesamte Sphäre der Erkenntnis großer Wissenschaf-
ten wie der reinen Mathematik. Und ebenso die weiteren Kriterien: Alle
hierhergehörigen Erkenntnisse sind a priori, sie sagen über tatsächliche
Existenz nichts aus. Ob es eine reale Welt gibt oder nicht, die mathema-
tischen Sätze gelten, gelten für jede erdenkliche Welt, aber urteilen über
keine wirkliche. Und dem entspricht: Es bedarf nicht der Erfahrung, um
festzustellen, dass 2 < 3 ist, es genügen die bloßen „Ideen“, die bloßen
Vorstellungen. Phantasiere ich mir eine 2 und eine 3, so genügt das; ich
erkenne auch daran, dass 2 überhaupt kleiner als 3 überhaupt ist. Natürlich,
der Satz gilt und wird eingesehen vor aktueller Erfahrung, nicht aufgrund
der Erfahrung.1 Ferner: Jeder Versuch, die Negation einer Relation zwischen
Ideen sich anschaulich zu machen, schlägt fehl. Ein Widersinn ist prinzipiell
unvorstellbar, durch keine anschauliche Vorstellung einheitlich vorstellig zu
machen.
Die Sachverhalte oder Relationen, die hier beschrieben sind, sind aber
nicht die einzigen Themen möglicher Erkenntnis. Den apriorischen Erkennt-
nissen stehen die aposteriorischen gegenüber, in Hume’scher Rede: den
relations of ideas stehen gegenüber die matters of fact. An den bezeichneten

1 Gestrichen Es kommt auf die Tatsächlichkeit, die uns aktuelle Erfahrung gibt, nicht an,

sondern nur auf den Inhalt, Wesensgehalt der jeweiligen Beziehungspunkte, der ja in der
Impression und bloßen Vorstellung der Phantasie derselbe ist.
412 einleitung in die philosophie

Kriterien können wir sie erkennen. Dass morgen die Sonne aufgehen wird
ist eine Wahrheit, aber eine bloße Tatsachenwahrheit, nur durch wirkliche
Erfahrung kann sie festgestellt werden; ihre Leugnung ist ganz ohne Wi-
dersinn, ihr Gegenteil ist klar vorstellbar. Also Tatsachenwahrheiten führen
nichts von jener Notwendigkeit mit sich, die sich damit ausdrückt: Es ist
undenkbar, dass es anders sei; es ist absurd, ein Widerspruch. Hier heißt es
vielmehr: Faktisch verhält es sich so, so lehrt es die Erfahrung, aber es könnte
sehr wohl anders sein.
Nach dieser Überlegung kehren wir zur Frage des Kausalverhältnisses
zurück. Gehört es zu den Ideenrelationen oder zu den bloß tatsächlichen
Relationen? Ist der Kausalschluss ein echter Vernunftschluss, führt er Not-
wendigkeit mit sich in jenem echten Sinne, den Intuition und Demonstration
uns kennenlernen? Legen wir unsere Kriterien wieder an. Welches Beispiel
wir uns auch anschaulich klarmachen, zur Lebendigkeit voller Impression
bringen, wie „Feuer macht Eisen erglühen, das Wasser sieden“, „durch
das Hämmern verändert das Eisen seine Form“ u. dgl., immer finden wir
ein bloßes Nacheinander, aber nichts von der Notwendigkeit der Wirkung.
Denn immer ist das Gegenteil der eintretenden Wirkung anschaulich vor-
stellbar, nicht das Mindeste von Widersinn oder Widerspruch ergibt sich,
wenn wir solche Kausalaussagen negieren und etwa behaupten wollten
„Feuer macht das Wasser frieren“ usw. Das Beschlossen-Sein der Wir-
kungen in ihren Ursachen ist kein wirkliches Beschlossen-Sein. Man darf
sich durch die bildliche Rede nicht täuschen lassen, es ist kein Analogon
des Beschlossen-Seins einer logischen oder mathematischen Folge in ih-
ren Gründen. Also darf man die apriorische Notwendigkeit, die zu den
Vernunftschlüssen gehört nicht auf die kausalen Schlüsse erstrecken wol-
len.
Nun könnte man sagen: Gewiss! Das Kausalverhältnis wird nicht a priori,
sondern a posteriori erkannt, oder der Kausalschluss, der Schluss von gege-
benen Ursachen auf ihre künftigen Wirkungen vollzieht sich nicht a priori,
sondern beruht auf Erfahrung. Ja freilich, antwortet Hume, aber geholfen ist
damit wenig. Denn unsere Ursprungsanalyse hat hier wie überall den Zweck,
dem Ursprung der Geltung nachzuprüfen. Wie kann die Erfahrung dem
Kausalschluss Rechtfertigung verleihen? In der apriorischen Sphäre ist der
Grund der Geltung klar.1 Wo die Negation Widersinn wäre, da sind wir in der

1 Gestrichen In der Intuition bzw. Demonstration erfassen wir im einzelnen Fall im gegebenen

Ideengehalt die ihm generell zugehörige Relation, im Ideengehalt der Prämissen finden wir den
hume 413

Affirmation zweifellos im Recht. Jede Abweichung ist hier unvernünftig. In


der Tatsachensphäre und speziell beim Kausalschluss verhält es sich anders.
Die Tatsachen, die da „Ursachen“ heißen, sind in der Erfahrung gegeben,
und über die Erfahrung hinaus schließen wir auf die nicht gegebene Wirkung,
als angeblich notwendige. In der Supposition der Notwendigkeit, die die
Worte „Ursache“ und „Wirkung“ ihrem Wesen nach beschließen, liegt, dass
wir meinen: Diese bestimmte Wirkung wird eintreten, weil sie eintreten muss
oder, was gleichwertig, weil überhaupt eine gleiche Ursache eine gleiche
Wirkung mit sich führt. Dieses Feuer unter diesen Umständen muss dieses
Eisenstück glühend machen: Feuer überhaupt unter denjenigen Umständen
führt solche Wirkungen mit sich. Diese Allgemeinheit und Notwendigkeit
soll die Erfahrung geben.
Aber wie kann sie das? Da hier kein Ideenverhältnis vorliegt, so gibt ein
Einzelfall keine Möglichkeit, sogleich das Allgemeine intuitiv zu fassen. Es
bleibt also nur die Häufigkeit der Erfahrung. Kann aber noch so häufige
Erfahrung aus einem bloß tatsächlichen Sachverhalt eine Ideenrelation ma-
chen? Nie und nimmer. Wie oft wir auch im Nacheinander unter gleichen
Umständen gleiche Folgen erfahren haben: Es ändert sich nichts daran, dass
die Wirkung nicht in der Ursache beschlossen ist, dass die hinzutretende
Vorstellung des Gegenteils der Wirkung möglich und ohne Widersinn bleibt.
Beständigkeit der zeitlichen Folge in aller bisherigen und noch so häufigen
Erfahrung kann sich nie in rationale Notwendigkeit, das Nacheinander nie
in ein Durcheinander verwandeln, das die Vernunft als gesetzlich oder not-
wendig einzusehen vermag. In den hundert und tausend Fällen in denen
ich erfahren habe, dass der der Unterlage beraubte Stein fällt, liegt nie der
künftige, noch nie erfahrene Fall beschlossen, und doch schließe ich auf ihn
und meine: er muss immer.
Daraus scheint sich aber ein Ausweg zu eröffnen, in Form der Beru-
fung auf das allgemeine Kausalgesetz. Populär gesprochen, man könnte
sagen: Alle Schlüsse aus gegebenen Tatsachen auf neue beruhen auf dem
allgemeinen Gesetz, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird,
dass unter ähnlichen Umständen ähnliche Erfolge eintreten müssen. Locke
hatte das Kausalgesetz für eine intuitive Erkenntnis ausgegeben. Dass das
falsch ist, ergibt sich schon aus den bisherigen Betrachtungen, denn ganz
allgemein sehen wir ein: Unter gegebenen tatsächlichen Umständen kann

des Schlusssatzes nicht nur beschlossen, sondern wir sehen das generelle Beschlossen-sein für
alle Fälle gleichen Ideengehalts ein.
414 einleitung in die philosophie

alles Mögliche erfolgen in beliebiger Ordnung, mit beliebigem Sachgehalt.


Das ist durchaus vorstellbar. Es ist vorstellbar, dass die Mannigfaltigkeit
der Impressionen, die uns die Natur repräsentieren, in einem beliebigen
Chaos ablaufen.1 Damit ist zugleich sicher, dass das Kausalprinzip auch
nicht eine demonstrative Folge intuitiver Axiome sein kann, denn sonst
wäre es wie ein mathematischer Satz nicht zu leugnen ohne Widersinn und
jenes Chaos wäre nicht vorstellbar. Wendet man nun aber ein, es stamme
aus Erfahrung, es sei durch Induktion aus Einzelfällen erschlossen, so dre-
hen wir uns im Zirkel. Denn alle Schlüsse, die wir dabei verwenden sind
selbst Tatsachenschlüsse, deren Rechtfertigung ja in Frage ist. Führen wir
das Recht der Erfahrungsschlüsse auf das Kausalprinzip zurück, so können
wir seine Geltung nicht wieder durch Erfahrungsschlüsse begründen wol-
len.
Das Ergebnis ist: Es ist gar kein Weg zu ersehen, auf dem sich das rationale
Recht des Kausalschlusses und ebenso das rationale Recht für die Annahme
der allgemeinen Naturkausalität rechtfertigen ließe. Gewiss, Erfahrung ist es,
die uns veranlasst, über das bloß regelmäßige post hoc hinauszugehen. Aber
was kann sie allein leisten? Überlegen wir: Wiederholt haben wir es erlebt,
dass unter erfahrenen Umständen U eine zeitliche Folge eintritt. Erfahrung
lässt ihre Spuren zurück; was in der Einheit eines Erfahrungsbewusstseins
auftritt, assoziiert sich. Im neuen Fall wird also in uns, sowie die Erfahrung
U auftritt, im Voraus die Vorstellung eines künftigen W geweckt werden.
Und nicht nur das. Von der Kraft und Lebendigkeit der Impression U wird,
so ist unsere psychische Natur konstituiert, ein Teil auf die assoziativ ge-
weckte Idee W überströmen; diese Krafterregung ist der Erwartungsglaube.
Mit einem Wort: So geartet ist die Gesetzmäßigkeit unseres immanenten
Bewusstseinslaufes, dass, wenn in ihm in wiederholtem Nacheinander U
und W aufgetreten sind, das impressionale Wieder-Auftreten des U eine
gewohnheitsmäßige Glaubensneigung mit sich führt, das künftige Eintreten
von W zu erwarten. Da haben wir also in der Tat etwas Neues, das durch
Erfahrung erwächst: ein gewohnheitsmäßiger psychischer Zwang zu glauben
über das Gegebene hinaus. Das ist aber ein bloß blindes Faktum. Rechtferti-
gen kann ein so erwachsener Glaube nichts, ein gewohnheitsmäßiger Zwang,
unter ähnlichen Umständen der Erfahrung Ähnliches erwarten zu müssen,
hat nicht das mindeste von Vernunft, von echter Notwendigkeit in sich.

1 Gestrichen Ist das Kausalprinzip, wenn nicht unmittelbar, also intuitiv gewiss, so doch

demonstrativ erweisbar?
hume 415

Gewiss, wir erwarten, weil wir es bisher immer so gefunden haben. Aber in
diesem Weil liegt kein Vernunftgrund, sondern nur die Bezeichnung einer
psychologischen Entstehung des Glaubens.
Und nun durchschauen wir den natürlichen Trug: Dem Glaubenszwang
der gewohnheitsmäßigen Erwartung können wir uns nicht entziehen. Ver-
suchen wir zu leugnen, so bricht sich der Leugnungsversuch an diesem
lebendig fühlbaren Zwang. Dieses Nicht-leugnen-Können, diese Aufhebung
der Negation durch Gewohnheit verwechseln wir mit der rationalen Auf-
hebung durch den hervorspringenden Widersinn. Wir unterliegen hier also
einer natürlichen Fiktion. Den irrationalen Zusammenhängen, die Erfah-
rung, also Gewohnheit stifteten, unterschieben wir, ohne es zu merken,
Zusammenhänge rationaler Notwendigkeit. Unsere Natur ist gewissermaßen
so geartet, dass sie gern überall Rationalität finden möchte. Äußerlichste
Analogie reicht ihr dafür hin, und so spiegelt sich uns, vermöge der gesetz-
lichen Konstitution unseres Bewusstseins, eine Welt vor, die angeblich von
rationaler Notwendigkeit getragen ist, die nach allen ihren Vorgängen unter
Kausalgesetzen steht.
Ergänzend muss ich noch bemerken, dass Hume sich auch ausführlich
mit dem Gedanken auseinandersetzt, ob nicht der Rekurs auf die Wahr-
scheinlichkeiten die Rationalität der Kausalerkenntnis retten kann. Man
könnte sagen: Erfahrungsschlüsse sind bloße Wahrscheinlichkeitsschlüsse,
und nur als das dürfen sie und wollen sie gelten. Kann man sie als Wahr-
scheinlichkeitsschlüsse einsichtig rechtfertigen, waltet in den Verhältnissen
der Wahrscheinlichkeit echte Rationalität? Hume sucht aber auch hier zu
zeigen, dass uns dieser Ausweg versperrt ist. Er gründet die ganze Theorie
der Wahrscheinlichkeiten auf blind-gewohnheitsmäßige Assoziation. Alle
Erfahrungsschlüsse, die sicherlich nur wahrscheinliche Geltung haben, sind
ohne rationale Rechtfertigung. Es handelt sich überall um psychologisch
erklärliche Unterschiebungen rationaler Verhältnisse für Irrationales.
Was ergibt sich aus all dem für die Interpretation von Natur und Naturer-
kenntnis? Naturwissenschaft will Wissenschaft, will rationale Erkenntnis von
Natur sein. Erweist sich aber der Kausalschluss, der es allein ermöglicht, über
unmittelbare Erfahrung hinauszukommen und dann weitere allgemeine Er-
fahrungsgesetze zu erschließen, als unvernünftig, jeder Rechtfertigung bar,
so fällt eigentlich die ganze Naturwissenschaft dahin. (Echte Wissenschaften
sind die mathematischen Wissenschaften; hier sehen wir ein, hier ist jede
Leugnung Widersinn. Aber mathematische Wissenschaften sagen kein Wort
über reale Wirklichkeit. Andererseits, die Naturwissenschaften, diese großen
und stolzen Naturwissenschaften von der realen Wirklichkeit, sind im echten
416 einleitung in die philosophie

Sinne gar keine Wissenschaften (so müssten wir wenigstens, wenn wir Humes
Schlüsse anerkennen, sagen).) Von da aus ist es nur ein Schritt weiter zu
sagen: Bietet die Naturwissenschaft mit ihren mittelbaren Methoden keine
Vernunfterkenntnis über die Natur, dann wissen wir überhaupt nichts von
einer Natur. Denn unmittelbare Erfahrung und die unmittelbaren Wahrneh-
mungsurteile geben noch keine wissenschaftlich-objektive Erkenntnis, und
solange wir nicht objektive Erkenntnis haben, die in einer Weise, die volle
Rechtfertigung in sich birgt, haben wir auch kein Recht, von einer objektiven
Natur zu sprechen.
Hume löst auch den Wert der unmittelbaren Erfahrung von physischer
und psychischer Natur skeptisch auf, und damit hebt sich auch von da aus
und eigentlich noch radikaler der Wert der exakten Naturwissenschaften auf.
Damit berühre ich die zweite Hume’sche Problemgruppe im Treatise, die auf
die Einheit des Dinges und der Persönlichkeit bezügliche. Hume versucht
nämlich zu zeigen, dass die phänomenale Einheit des dauernden und vom
subjektiven Wahrnehmen unabhängigen Dinges ebenfalls ein natürlicher
Schein ist, der nur aufgrund der Gesetze der Ideenassoziation und Ge-
wohnheit zu erklären ist. Es ist ein allgemein-menschlicher, natürlicher und
durchaus irrationaler Schein. Vor der Vernunft und ihrer Kritik erweist sich
das identische Ding als eine Fiktion; über die Empfindungskomplexen hinaus
etwas Identisches anzunehmen, besteht gar kein Vernunftgrund. Aber so ge-
artet ist unsere menschliche „Imagination“, dass wir im Lauf der Erfahrung
solche Fiktionen wie die Dingeinheiten bilden, sie den faktisch allein vorhan-
denen assoziativen Empfindungsgruppen unterschieben müssen. Eben solch
eine Fiktion ist die identische Persönlichkeit. Wir selbst also, sofern wir uns
nehmen, wofür wir uns doch immerfort nehmen, für identische Personen,
sind bloße Fiktionen der Einbildungskraft, welche die Vernunft als haltlos
und widersinnig verwirft. Dasselbe gilt für die großen Formen der realen
Welt. Der einheitliche und bleibende Raum, in dem die Dinge sich bewegen
und verändern, ist erst recht Fiktion unserer Imagination, desgleichen die
mathematische Kontinuität des Raumes und der Zeit, usw. Berkeley hatte in
der Theorie des Sehens den Versuch gemacht die phänomenalen objektiven
Raumbestimmungen (Entfernung, Größe) assoziativ-psychologisch zu erklä-
ren. Das war die Quelle aller späteren Bemühungen, die „Raumvorstellung“
überhaupt, das Phänomen des Raumes als ein assoziatives Gebilde von sen-
suellen Daten zu erklären. Hume knüpft in dieser Hinsicht an Berkeley nicht
an. Er behandelt das phänomenal Räumliche (soweit ich mich erinnere) als
gegeben, wie die Sukzession (die freilich keine Impression sein soll). Aber
seine skeptische Argumentation richtet er gegen den mathematischen Raum.
hume 417

Die skeptische Kunst Humes besagt überall, dass die menschliche Er-
kenntnis so wie ein Theater zu behandeln sei, auf dem Vernunft und Ein-
bildungskraft als die Aktoren auftreten und sich als unversöhnliche Feinde
zunichte machen. Die Vernunft hat ihre fest umgrenzte Herrschaftssphäre,
ihre Grenzmauer trägt überall die Inschrift: Widersinn. Innerhalb dieser
Rechtssphäre gibt es keine reale Welt. Diese Welt mit ihren physischen und
geistigen Realitäten hat ganz und gar ihren Ursprung in dem anderen Vermö-
gen: in dem der Einbildungskraft. Die menschliche Vernunft hält sich freilich
nicht in ihren Schranken. Sie begnügt sich nicht mit den einstimmigen und
unabänderlichen Ideenrelationen, mit den einzigen rechtmäßigen wirklichen
Existenzen, den Perzeptionen, den immanenten Daten. Sie treibt auch Na-
turwissenschaft und Metaphysik. Als naturwissenschaftliche Vernunft nimmt
sie die erfahrene Welt als eine Welt wirklicher Körper und Geister hin
und übt hier unter der Fahne naturwissenschaftlicher Methode Anwendung
der rein logischen und mathematischen Vernunftwahrheiten. Aber keine
noch so vernünftige Methodik der Naturwissenschaft und noch so viel ange-
wandte Mathematik ändert etwas daran, dass ihre als Wirklichkeit hingenom-
mene Arbeitsdomäne, nämlich die erfahrene Natur eine bloß psychologische
Schöpfung der Imagination ist nach Gesetzen der Ideen-Assoziation und Ge-
wohnheit. Diese Schöpfung ist aber nicht etwa eine solche, dass die Vernunft
hinterher die mit der Aufdringlichkeit des Erfahrungsglaubens auftretenden
imaginativen Gebilde rechtfertigen könnte. Die prüfende Vernunft findet
so wenig irgendeinen Rechtsgrund des Glaubens, dass sie den schlechthin
der Imagination Nachgehenden vielmehr nachweist (nämlich in Form der
Hume’schen Philosophie nachweist), dass die imaginativen Gebilde aus wi-
dersinnigen Grenzüberschreitungen der Domäne aktuellen Bewusstseins,
der aktuellen Impressionen und Erinnerungen, erwachsen.
Der Prozess ist immer der, dass die Imagination nach ihrer blinden Ge-
setzmäßigkeit zuerst einen Widersinn erzeugt und dann, um diesen ersten
Widersinn schmackhafter zu machen, einen zweiten Widersinn hinzuerdich-
tet. Das allgemeine Prinzip der Imagination liegt in einer eigentümlichen,
zur menschlichen Seele gehörigen Trägheit, vermöge deren sie sich, durch
bisherige Erfahrung in einen Gewohnheitsschein gekommen, nicht halten
kann und über die Erfahrung hinaus schließen muss. Wo sich ihr irgendetwas
von Regelmäßigkeit der Existenz und Folge in wirklicher Erfahrung darge-
boten hatte, muss sie sofort dazu übergehen diese Regelmäßigkeit über die
bisherige Erfahrung hinaus zu verlängern, sie in die Zukunft zu projizieren,
sie zu verabsolutieren als schlechthin objektiv bestehend.1 So erfindet sie
1 Randbemerkung Trägheitsgesetz der Seele.
418 einleitung in die philosophie

aufgrund ungefährer Koexistenzen von Daten bleibende Dinge und als vom
Bewusstsein unabhängige Dinge, so erfindet sie kausale Zusammenhänge
mit vermeinten Notwendigkeiten usw.
Die erfahrene Welt ist also nach Hume in einem bestimmten Sinne eine
bloß phänomenale, bloß Phänomen im Bewusstsein. In der allein zwei-
fellos gegebenen immanenten Wirklichkeit, in dem Ablauf unserer Emp-
findungen, Gefühle, Affekte usw. erscheint eine andere Wirklichkeit, die
räumlich-zeitliche Natur mit Körpern und Geistern. Und das ist die Welt,
die wir beständig unmittelbar zu erfahren vermeinen. Dieses Erscheinen
ist aber nichts weiter als ein in die aktuellen Erlebnisdaten durch Assozia-
tion und Gewohnheit hinein erzeugtes und gänzlich unvernünftiges Mei-
nen, das so mit den Daten verschmilzt und von solcher Lebendigkeit ist,
dass wir diese Fiktionen eben wirklich zu erfahren glauben, als wären sie
unmittelbar da. Es handelt sich da nicht um einen Phänomenalismus, der
zwischen Erscheinung und Erscheinendem scheidet und lehrt, an sich sei
eine transzendente Welt, die sich in unseren Erscheinungen, wenn auch
noch so sehr verhüllt, doch irgend bekundet, in ihnen erscheint oder noch
so indirekt durchscheint. Die Vernunft gestattet weder, die erscheinende
Welt (die transzendent ist, sofern sie Realitäten setzt, die nicht selbst die
Erlebnisdaten sind) in gewissem Sinne als seiend gelten zu lassen, noch
gestattet sie, diese Dingwelt als Bekundung einer noch weiter zurücklie-
genden transzendenten Welt anzusehen. Ein in unserem Bewusstsein nicht
vorfindliches Sein ist zwar nach Hume eine Denkmöglichkeit: Aber nur
im Gegebenen können Anhalte liegen, Nichtgegebenes anzunehmen, und
der einzige Weg dazu ist der der Assoziation und Gewohnheit, die ihre
Dingfiktionen schafft, und nichts berechtigt; einen berechtigenden Weg gibt
es nach Hume nicht.
Freilich spricht er wiederholt als Agnostiker und als wäre doch eine völlig
unbekannte und unerkennbare transzendente Welt, die als Seinsprinzip und
Ursache für unseren Bewusstseinsverlauf anzunehmen sei. Aber das wider-
spricht so krass seinen Theorien, dass es nur als eine unehrliche Akkomo-
dation an die herrschenden und von den Kirchen behüteten Auffassungen
anzusehen ist. Also, die Hume’sche Philosophie können und müssen wir
also als eine Philosophie der Fiktionen oder als eine Philosophie des Als-
ob bezeichnen. Treiben wir Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, so
tun wir so, als ob die Fiktionen unserer Einbildungskraft Wirklichkeiten
wären; und der einzige Grund dafür ist, dass diese Fiktionen mit einem so
starken blind-instinktiven Glauben ausgestattet sind, dass wir nichts anderes
können.
hume 419

Ich möchte hier noch anmerken, dass der Begriff der Einbildungskraft
bei Hume, wie schon bei Descartes und im ganzen 18. Jahrhundert, nicht
ein bloßes Vermögen frei-willkürlich gestaltender Phantasie bedeutet und
überhaupt nicht bloß ein Vermögen der Phantasie. Das gehört auch dazu,
aber sehr viel mehr. Der Gegensatz von Imagination ist zum Beispiel bei
Descartes Intellektion. Es handelt sich um den Gegensatz all der Erkennt-
nisprozesse des Erfahrens und jedweden empirischen Anschauens und Vor-
stellens von Singulärem gegenüber dem reinen Denken, das sich aber auch
an anschaulichem Material betätigen kann. Die Imagination Humes ist die
das Weltbild der Erfahrung gestaltende Gesetzmäßigkeit der menschlichen
Seele; und sie gestaltet es aus dem Material der Sensation und Reflexion.
Jedes menschliche Bewusstsein untersteht der gleichen Gesetzmäßigkeit,
daher haben wir alle die gleichen psychologischen Gebilde: Erfahrungen
von Dingen und menschlichen Gemeinschaften.
Wie steht es nun, nachdem mit dieser Interpretation von Natur und
Naturwissenschaft die naturalen Probleme der Metaphysik erledigt sind,
mit der Metaphysik im engeren Sinne, also den supranaturalen Problemen
von Gott, Welt-Teleologie usw.? Natürlich fallen sie gänzlich dahin. Hume
belebt hier ein wenig ehrliches Verfahren – es ist so etwas wie englischer
Cartesianismus –, nämlich in der relativen Wertung von Naturwissen-
schaft und Metaphysik. Es beliebt ihm, die radikale Skepsis im Erkennt-
nisgebiet der Naturwissenschaft zu verhüllen, um desto entschiedener den
Erkenntnisanspruch der Metaphysik bestreiten zu können. Die Vernunft
kann zwar den Kausalschluss nicht anerkennen (und muss die ganze Natur
nur als eine haltlose Fiktion werten, wenn wir dem Treatise folgen), aber die
menschliche Natur oder genauer die psychologische Kraft der Imagination ist
stärker als die Vernunft. Immerhin: Wenn wir die Wirklichkeit der Natur hin-
nehmen und Kausalschlüsse gemäß dem Kausalprinzip vollziehen, verfahren
wir natürlich, wir folgen ja den Gesetzen unserer seelischen Natur. Wenn
wir aber Schlüsse ins Supranaturale machen und die Grenzen möglicher
Erfahrung überschreiten, wenn wir uns nicht in der Sphäre halten, in der
mögliche Assoziation und Gewohnheit walten kann, so verfahren wir nicht
nur unvernünftig, sondern unnatürlich. Ich kann nur finden, dass das eine
starke Zumutung ist, die dem Leser des Hume’schen Essay gemacht wird,
die dabei von Hume etwas niedrig eingeschätzt wird. Ernst kann das nicht
gemeint sein.
Schon aus dem Bisherigen geht hervor, dass die konsequente Durchfüh-
rung des Empirismus in Form eines sensualistischen Psychologismus in der
Hume’schen Philosophie eine Art Bankrott der Philosophie darstellt. Sie
420 einleitung in die philosophie

fängt damit an, der Erfahrung alle Ehre zu geben, und endet damit, ihr alle
Ehre zu nehmen. Wer nicht durch skeptische Argumente verwirrt ist, wird es
doch als ein Unmittelbares anerkennen müssen, dass Erfahrung, und zwar als
äußere Erfahrung ihre Evidenz in sich trägt, dass in ihr unmittelbar ein ding-
liches Sein, eine räumlich-zeitliche Körperlichkeit gegeben und rechtmäßig
gegeben ist, ebenso das Sein von Menschen als einheitlichen Persönlichkei-
ten, das Sein von menschlichen Gesellschaften, von Staat, Gemeinde, Verein
usw. Gewiss hat die Reduktion auf das Immanente und zum Beispiel der
Rückgang auf Empfindungsdaten, die an aller äußeren Erfahrung einen
Anteil haben, seinen erkenntnistheoretischen Wert. Aber so wenig sind
diese das unmittelbar Gegebene, dass erst ein reflektiver und reduktiver
Prozess zu den Empfindungsdaten hinführt. Die ausgezeichnete Evidenz
des immanenten Seins, die sich dabei herausstellt, hebt aber nicht die, ob-
schon begrenzte Evidenz der äußeren Erfahrung auf. Humes geistvolle und
nach vielen Stücken auch wertvolle psychologische Untersuchungen über
den genetischen Ursprung der Dingerfahrung sollen aber dazu dienen, den
eigenen Gehalt der Erfahrung und ihre ursprüngliche Evidenz umzudeuten
in ein Bewusstsein leerer Fiktion. Das ist grundverkehrt. So grundverkehrt,
wie wenn man durch psychologische Ursprungsuntersuchungen über die
Entstehung des allgemeinen Denkens erweisen wollte, dass das einsichtige
Erfassen eines axiomatischen Gedankengehalts wie a + 1 = 1 + a wertlos sei,
als ein nach psychologischen Gesetzen erwachsener Schein.
Es würde zu weit führen, in diesen Beziehungen an Hume eine ins Ein-
zelne gehende widerlegende Kritik zu üben. Wie sehr aber seine Philoso-
phie in Widersinn endet und nicht bloß in einem paradoxen Streit gegen den
Wert der Welterfahrung und gegen die von uns allen als stringent gefundene
Naturwissenschaft, zeigt folgende kurze Überlegung:1 Die Erkenntnistheo-
rie Humes und damit in eins seine negative Metaphysik, die als absolutes
Sein nichts übrig lässt als die momentanen Bewusstseinsdaten, beruht auf
Psychologie. Woher weiß Hume etwas von den psychologischen Gesetzen,
aus denen er seine Erklärungen erstreitet? Sind sie apriorische Gesetze, im
Hume’schen Sinne relations of ideas? Offenbar nicht. Sind sie durch unmit-
telbare Wahrnehmung oder Erinnerung in der immanenten Sphäre gegeben?
Auch das nicht. Gesetze sind doch keine singulären Bewusstseinsdaten oder
Komplexe. Sie sind also erschlossene matters of fact. Welch ein Widerspruch,
müssen wir nun sagen! Im Inhalt der Hume’schen Theorien wird angeblich

1 Randbemerkung Widersinn von Humes Psychologismus.


hume 421

erwiesen, dass keinem Schluss, der über das Immanente und wirklich schon
Erfahrene hinausgeht, und somit keinem empirischen Gesetz eine vernünf-
tig zu rechtfertigende Geltung zukommen kann. Andererseits setzt Hume
in seinen Begründungen überall voraus, dass die psychologischen Gesetze
erfahrungsmäßig gelten, dass sie also vernünftig sind, sie, die doch selbst
Tatsachengesetze sind, durch Schlüsse der unvernünftigen Art gewonnen. Im
Inhalt der Theorien wird erwiesen, dass alle und jede Kausalität subjektive
Fiktion sei. Im Beweis aber fungiert beständig die psychische Kausalität, die
also doch wohl keine Fiktion sein darf.
Ein anderer Punkt radikaler Kritik an Hume wäre folgender: Nirgends
finden wir bei ihm das Problem behandelt, mit welchem Recht wir andere
Menschen neben uns annehmen. Ihre Leiber sind für unsere Erkenntnis
imaginative Fiktionen. Ihre Persönlichkeiten auch. Aber wie steht es mit
ihrem Bewussteinslauf? Hume spricht immer so als ob intersubjektive Ver-
ständigung und intersubjektive psychologische Erfahrung möglich wäre. Mit
welchem Recht? Offenbar kann es für ihn kein solches Recht geben und
somit reduziert sich für den Erkennenden die Welt auf den eigenen Lauf von
Impressionen und Ideen. Solipsismus.
Ferner muss noch auf Folgendes aufmerksam gemacht werden. Humes
Skeptizismus ist ein sehr viel weiter gehender, als es zunächst und insbeson-
dere beim Studium des Essay den Anschein hat. Insofern war unsere Darstel-
lung seiner Kausalitätstheorie, die dem Essay folgte (und die um des leich-
teren Verständnisses des Kontrastes von Vernunftschlüssen und Erfahrungs-
schlüssen willen noch den Anschein verstärkte) nicht korrekt. Hume verfährt
wie ein bildender Künstler, der um charakteristische Momente seiner Gestalt
durch Kontrast besonders wirksam zu machen, absichtliche Verzeichnungen
macht. Das betrifft die Charakteristik der Vernunftsphäre. Hume übernimmt
die sensualistisch-nominalistische Abstraktionstheorie Berkeleys, sie wo-
möglich noch übertreibend. Es gibt keine allgemeinen Vorstellungen. Es gibt
zwar allgemeine Namen, aber sie haben keine allgemeinen Bedeutungen im
eigentlichen Sinne eines mit dem Namen verbundenen Allgemeinheitsbe-
wusstseins, in dem ein Allgemeines als gegenständliches Korrelat bewusst
wäre. Es gibt nur individuelle Vorstellungen.1 Zum Beispiel, mit dem Wort
„rot“ ist keine allgemeine Rot-Vorstellung verbunden, sondern bestenfalls
schwebt eine einzelne Rot-Idee vor. Darüber hinaus hat das Wort aus psy-
chologischen Gründen die Funktion angenommen, nicht nur ein bestimmtes
erfahrenes Rot, wie ursprünglich, zu bezeichnen, sondern Anwendung zu

1 Randbemerkung relations of ideas.


422 einleitung in die philosophie

finden auf alle ähnlichen Daten. Das Faktum, dass wir so etwas wie ein be-
griffliches Meinen haben, ein Bewusstsein, in dem wir eben nicht dieses Rot-
Moment, das uns vor Augen steht, meinen, sondern Rot überhaupt, wie wenn
wir sagen „Rot (überhaupt) ist eine Art von Farbe (überhaupt)“, das wird
psychologistisch weggedeutet. Es verwandelt sich damit die ganze Sphäre
der Denkallgemeinheit, die als reine Gesetzessphäre eine Sphäre idealer
Gegenständlichkeiten ist, in psychologische Fiktion. Damit ist aber auch das
gesamte Gesetzesdenken und Gesetzeseinsehen skeptisch entwertet.
Was tut nun Hume? Alles eigentliche Denken reduziert er auf ein Erfassen
von Relationen, und zwar von Relationen an individuell einzelnen Daten. Er
sondert dann eine Klasse von Relation zwischen Ideen ab, welche die merk-
würdige Eigenheit haben sollen, dass sie Relationen sind, die unabänderlich
zu den Ideen gehören und so, dass alle ähnlichen oder gleichen Ideen dieselbe
Relation mit sich führen müssen. Aber unter anderem müssen wir natürlich
fragen: Woher weiß er das? Natürlich aus der allgemeinen Einsicht, dass 3
überhaupt > 2 überhaupt ist, oder dass überhaupt, wenn a > b und b > c, a > c
ist, für beliebige a, b, c.1 Aber eben dies, dass je ein Allgemeines gegeben ist
und je sein kann, leugnet er in seiner Abstraktionstheorie in widersinniger
Weise. Damit hängt der ganze Kontrast zwischen Vernunft und Imagination,
zwischen apriorischen Erkenntnissen und Tatsachenerkenntnissen in der
Luft. Wenn er auf der einen Seite, bei den Tatsachen, nach der Impression
der Notwendigkeit sucht und keine findet, so hätte er doch auch offen sagen
müssen, dass er nicht minder bei den Ideenrelationen keine Impression von
Notwendigkeit findet bzw. von unbedingter Allgemeinheit. Das ist ja gerade
eine „abstrakte Idee“. Also wäre auch alles rein Logische und Mathemati-
sche Fiktion der Einbildungskraft.
Hume ist zwar konsequent darin, den Sensualismus bis in alle Erkennt-
nissphären hin durchzuführen, aber nicht ohne Absicht unterlässt er es, alle
Schlüsse aus diesen sensualistischen Einzeluntersuchungen zu ziehen. Denn
sonst hätte er allzu früh damit enden müssen, zu sagen: Alles objektive
Erfahren und alles Denken überhaupt ist unverständlich und unverständig;
das einzige, was man rechtmäßig aussagen kann, ist „dies-da“ und „dies-
da“, nämlich in Hinweisung auf die immanenten Impressionen, auf Affekte
etc. Das ist nun wirklich voller Bankrott der Erkenntnistheorie und Philo-
sophie überhaupt. Nicht einmal reine Logik und reine Mathematik haben
irgendeinen Erkenntniswert.

1 Randbemerkung In der allgemeinen Einsicht ist eben intuitiv der allgemeine Gesetzesinhalt

gegeben.
hume 423

Die empiristische Philosophie geht daran zugrunde, dass eine bedeutsame,


die echte philosophische Tendenz auf eine immanent fundierte Philosophie
sich bei ihm mit grundverkehrten methodischen Tendenzen verbindet. Die
Philosophie bedarf sicherlich einer Begründung auf dem Boden der Im-
manenz. Die Erkenntnistheorie und, in weitester Weite gefasst, die Phäno-
menologie ist die reine und allgemeine Wissenschaft von der Immanenz,
es ist die universelle Wesenslehre des reinen Bewusstseins: des „reinen“
Bewusstseins, d. i. durch phänomenologische Reduktion alle transzendenten
Setzungen einklammernden Bewusstseins. Dem ordnet sich die Erkennt-
nisphänomenologie oder, was sich wesentlich damit deckt, die Erkennt-
nistheorie ein als Wesenslehre des erkennenden Bewusstseins nach allen
seinen möglichen Gestaltungen, einschließlich der in ihm sich möglicher-
weise konstituierenden Sinnesgestaltungen und Gegenstandsgebilde. Alle
Weltprobleme führen, wenn sie eine endgültige Lösungsform, eine Lösung
des Typus absoluter Erkenntnis gewinnen sollen, auf erkenntnistheoreti-
sche Probleme zurück. So bedürfen, wie das der Empirismus wohl gemerkt
hat, alle konstitutiven Begriffe der Weltbetrachtung einer Ursprungsauf-
klärung, nach unseren Nachweisungen einer Aufklärung des phänomeno-
logischen Ursprungs im Rahmen der Immanenz des reinen Erkenntnis-
bewusstseins. Alle natürlich erwachsenen und wie immer wissenschaftlich
theoretisierten Weltauffassungen sind, solange die Ergebnisse der Erkennt-
nistheorie nicht als Normen an sie herangebracht sind und zu ihrer Kritik
gedient haben, dogmatisch. Sie bieten keine endgültige Erkenntnis. Sol-
che erwächst als Metaphysik, also durch „Kritik“ der konstitutiven Be-
griffe und überhaupt durch die erkenntnistheoretisch vollzogene Auswer-
tung.
Etwas von diesen notwendigen Forderungen fühlt der Empirismus her-
aus, und so strebt er nach einer immanenten Bewusstseinstheorie. Aber
er verfällt sogleich in einen Psychologismus und dazu in einen sensualis-
tischen Psychologismus der Tabula-rasa-Auffassung. Er stößt zwar überall
auf die Intentionalität des Bewusstseins. Statt aber sie vor aller erklärenden
Theorie zum Objekt der analytischen Durchforschung in reiner Wesens-
allgemeinheit zu machen, seine Grundformen zu scheiden und für jede
die in ihm aufzuweisenden Sinngebungen und sonstigen Erkenntnisstruk-
turen klarzulegen, sieht er überall nur das Sensuelle und deutet das In-
tentionale in genetisch-psychologischen Konstruktionen weg. Er sieht auch
nicht das prinzipiell Verkehrte eines erkenntnistheoretischen Verfahrens,
das einerseits doch davon ausgeht, dass Bewusstseinstranszendenz jeder
Art ein Problem ist, und andererseits die Transzendenz, die in jeder Form
424 einleitung in die philosophie

erklärender Psychologie beschlossen ist, absolut setzt und verwendet, als ob


das kein Problem wäre.1
So lernten wir also an den Theorien des Empirismus nicht nur die un-
geheure und ganz fundamentale Bedeutung der Erkenntnistheorie für die
Ermöglichung einer Weltanschauung oder besser jedweden Anfangs einer
letzten Welttheorie verstehen (mit anderen Worten Wesen und Notwen-
digkeit einer erkenntnistheoretisch begründeten Metaphysik gegenüber den
natürlich-dogmatischen Wissenschaften), sondern auch verstehen, wie ein
Verfehlen des echten erkenntnistheoretischen Bodens, des der reinen Phä-
nomenologie, durch die so begreiflichen Versuchungen des Psychologismus
und Sensualismus nicht nur zu schiefen und falschen Weltanschauungen
führen muss, sondern notwendig zu einer Skepsis, in der sich alle menschliche
Erkenntnis mit allen noch so exakten Wissenschaften in Widersinn auflöst.2

Spinoza

Die3 historisch-systematischen Gedankenreihen, die wir soeben abge-


schlossen haben, umspannen nicht alle philosophischen Probleme und For-
schungsmotive, die zum Verständnis der Philosophie der Neuzeit und der
Kämpfe der Gegenwart notwendig sind, wie wir ja auch noch nicht alle phi-
losophisch bedeutsamen und als philosophisch anzusprechenden Disziplinen
kennengelernt haben. Verfolgen wir, um weiterzukommen, jetzt eine neue
historische Linie. Die bisherige führte von Descartes (daneben wäre Hobbes
zu nennen) über Berkeley zu Hume. Die jetzige geht wieder von Descartes
aus und läuft durch Spinoza und den Occasionalismus zu Leibniz und von
da zu Kant. Das, was in erster Linie die Größe Descartes’ ausmacht, die
Entdeckung des reinen Bewusstseins und sein, obschon verrückter Versuch,
auf diesem Fundament eine absolute Erkenntnis zu gründen, das wirkt als
entscheidender Impuls gerade nicht auf den Rationalismus, sondern auf die
Ausgestaltung des Empirismus. Der Rationalismus bildet nicht neben diesem
eine andere und bessere immanente Philosophie aus, wie sehr er an sich
dazu berufen gewesen wäre. Erkenntnistheoretische Motive und einzelne
Betrachtungen spielen zwar auch bei ihm eine große Rolle, aber was der
Ausgang von Descartes doch eigentlich nahegelegt hätte, eine systematische,
reine Erkenntnistheorie und darauf gegründete kritizistische Philosophie,
1 Randbemerkung Damit haben wir das uns gesteckte Ziel erreicht.
2 Randbemerkung Ende des Empirismus.
3 Randbemerkung Rationalismus.
spinoza 425

bildet er nicht aus. Üppig blüht er als dogmatistische Metaphysik, die zwar
beständig von erkenntnistheoretischen Motiven bestimmt ist, aber, was das
Entscheidende ist, eben nicht auf eine phänomenologisch reine, von al-
len transzendenten Suppositionen befreite Erkenntnistheorie gegründet ist.
Erkenntnistheoretische und metaphysische Gedankenreihen gehen unge-
schieden ineinander, sich wechselseitig beeinflussend und verflechtend. Das
schließt nicht aus, dass die erwachsenden Systeme nicht nur historische Kraft
erweisen, sondern dass sich in ihnen auch, trotz aller Unreinheit, sachlich
wertvolle Motive emporarbeiten.
Wir besprachen früher den Einfluss eines allgemeinen, aber ungeklärten
erkenntnistheoretischen Motivs auf die ganze Entwicklung des Rationalis-
mus, nämlich den Einfluss der Vorbildlichkeit der mathematischen Theorie,
die als Prototyp echter und endgültiger Wissenschaften angesehen wurde.
Damit hängt die im 17. und 18. Jahrhundert grassierende Mode zusammen,
alle Wissenschaften in euklidischer Demonstrationsform zu begründen und
darzustellen. Die extreme Konsequenz dieser Vorbildlichkeit, die auf einer
noch völligen Unklarheit über die erkenntnistheoretische Wesensstruktur
mathematischer Erkenntnis beruhte, war der Ontologismus des Spinoza,
wie wir das früher schon erörtert haben, der eine Metaphysik à la Euklid,
ordine geometrico demonstrata aufbaute, der also glaubte ein rein rationales
Axiomsystem aufweisen und als Fundament nützen zu können, auf dem in
rein logischer Deduktion eine absolute Wissenschaft von der Realität zu
gründen sei, eine Wissenschaft von Gott und den göttlichen Attributen, von
der Art, wie aus Gottes begrifflichem Wesen, vermöge dessen er notwendig
die eine und einzige Substanz sei1.2
1 Gestrichen, durch rein apriorische Explikation (nach Art der Mathematik) die Körper- und

Geisterwelt als Modifikationen der göttlichen Attribute hervorgehe, der Parallelismus körper-
licher und geistiger Kausalitäten usw. Diese mathematisch-exakt seinwollende Metaphysik ist
eine allgemeine Metaphysik; sie will nicht die exakten Naturwissenschaften, soweit sie in der
Tat schon mathematische Strenge erreicht haben, bestätigen, sondern sich darauf beschränken,
die allgemeinsten Grund- und Wesensbestimmungen des Realen herauszustellen, und zwar
rein a priori, und daraus das System allgemeinster Realitätserkenntnis zu gewinnen. Offen-
bar ist dabei der unausgesprochene Gedanke der, dass eine vollkommene Rationalisierung
der besonderen Naturerkenntnis zu oberen Sätzen führen muss, die abwärts alle besonderen
physikalischen, mechanischen etc. Wahrheiten in rein rationaler Deduktion hergeben und die
andererseits aufwärts sich als rein rationale Folgen der Ergebnisse der allgemeinen Metaphysik
herausstellen würden, sich diesen also einordnen. Dass diese leitende Idee ein Irrwahn war,
eine grundverkehrte Reduktion aller Tatsachenerkenntnis auf apriorischer Erkenntnis, das hat
die weiter folgende Entwicklung zur Klarheit gebracht. Gleichwohl tritt hier eine bleibend
bedeutsame und nur durch Überschreitung ihrer berechtigten Grenzen verderblich wirkende
Idee in einem großen systematischen Wurf zu Tage, und diese rechtmäßige Idee soll unser
Interesse beschäftigen.
2 Das folgende, von Husserl wohl versehentlich nicht gestrichene Textstück ließ sich nicht in
426 einleitung in die philosophie

In der letzten Vorlesung begannen wir mit einer an der Ethica, dem
metaphysischen und ethischen Hauptwerk des Spinoza anknüpfenden Be-
trachtung. Es ist, sagten wir, eine allgemeine und apriorische Metaphysik
und dazu, wie ich noch beifüge, eine monistische. Ihr extremer Apriorismus
ist bestimmt durch die von Descartes herstammende Auffassung des Typus
mathematischer Erkenntnis als des Grundtypus strenger und endgültiger
Erkenntnis überhaupt. Diese Vorbildlichkeit der mathematischen Erkennt-
nis, die den Rationalismus charakterisiert, nimmt Spinoza so ernst, dass er

den Vorlesungstext einfügen und führen die Tendenz mit sich, keine anderen Realitätswissen-
schaften neben sich anzuerkennen. Die Erkenntnistheorie ist auf den Plan getreten und stellt
sich als positivistische Metaphysik in den Dienst des Naturalismus, leugnet also jedwede teleo-
logische Metaphysik gegenüber der allein selig machenden Naturwissenschaft. Die Möglichkeit
der Metaphysik wird ein großes Problem, und wenn es mit dem Auftreten der Erkenntnis-
theorie für immer zur Gewissheit ward, dass jede absolute Welterkenntnis auf dem Boden
der Erkenntnistheorie erwachsen muss, so gab das hinsichtlich der Metaphysik einerseits und
Naturwissenschaft andererseits einen gewaltigen Unterschied, dass die letztere im Voraus als
anerkannte und zweifellos rechtmäßige Wissenschaft vor aller Augen dastand, die erstere aber
nicht. Die Metaphysik ist nur repräsentiert durch eine Vielheit von voneinander nach dem
Gehalt an wesentlichen Lehren unterschiedenen metaphysischen Systemen. Viele Systeme, aber
nicht eine Wissenschaft. Immerhin, es waren Systeme da und schon vom Altertum und Mittel-
alter überlieferte. Ein unermüdlicher Eifer musste, wo es sich um so unabweisliche Probleme,
wie es die Gottes- und weltteleologischen Probleme waren, handelte, darauf gehen, daraus
Wissenschaft zu gestalten und so, dass erkenntnistheoretische Kritik damit zurechtkommen
konnte. Begreiflicherweise, die Haupttriebkräfte hatten dabei die allgemeinen metaphysischen
Probleme. Man erstrebte naturgemäß vor allem die Gewinnung allgemein metaphysischer Vor-
stellungen, mindestens solcher, die eine Gewähr ihrer Möglichkeit mit sich führten und deren
Erkenntnismöglichkeiten von Seiten der Erkenntnistheorie gerechtfertigt werden konnten.
Indem man sich in der Neuzeit immer wieder in die allgemeinen Seinsfragen metaphysischer
Art vertiefte, vollzogen sich aber notwendig Scheidungen und solche von großer Bedeutung. Spi-
nozas allgemeine Metaphysik war eine rein apriorische gewesen. Das gehörte, wie schon gesagt,
nicht zum notwendigen Sinne einer allgemeinen Metaphysik. In der Tat werden wir hören, wie
der Rationalismus in seiner Fortentwicklung geneigt ist, für die absolute Realitätswissenschaft
das Ideal geometrischer Erkenntnis aufzugeben. Aber andererseits entdeckt sein geschärfter
Blick für das Rationale, dass höchst umfassende Seinsprobleme in der Tat apriorische sind und
dass also die Wissenschaft von der Realität teils auf apriorischen Erkenntnissen beruht und teils
auf aposteriorischen.
Apriorische Wissenschaften handeln von unbedingten Notwendigkeiten und Gesetzlichkei-
ten. Jedes Faktum aber bindet, ist zufällig, kann auch anders sein. Mit anderen Worten, sie
bewegen sich als rein apriorische im Reich idealer Möglichkeiten und sprechen nicht von der
gegebenen Wirklichkeit. Die Metaphysik als Wissenschaft von der gegebenen Welt scheidet
sich von der apriorischen Ontologie als Wissenschaft von möglichen Realitäten überhaupt,
möglichen Welten überhaupt, in allgemeinster Allgemeinheit. Sie legt auseinander was der Idee
„Realität“ wesentlich, unabtrennbar zugehört, und das ist dann eine unbedingte Gesetzesnorm,
die Anwendung findet in jeder aktuellen Metaphysik und insofern zu ihrem Bestand selbst
beiträgt. Hier tritt aber eine weitere Differenzierung allmählich hervor: Text bricht ab.
spinoza 427

seine Metaphysik ordine geometrico aufbaut und damit sozusagen der Euklid
der Metaphysik werden will. Dass in diesem Apriorismus der Metaphy-
sik oder, wie man auch sagt, im Ontologismus ein erkenntnistheoretischer
Grundirrtum liegt, das hat die weitere Entwicklung des Rationalismus selbst
herausstellen müssen und wir werden davon noch zu sprechen haben.1
Ehe wir auf diesen Punkt im Sinne der letzthin schon gegebenen Andeu-
tungen eingehen, knüpfen wir an Folgendes an. Die Metaphysik des Spinoza
ist eine allgemeine Metaphysik. Und in der Regel hat man, wo von Meta-
physik die Rede ist, ohne weiteres die allgemeinen, endgültigen Seinswahr-
heiten im Auge (Sein = reales Sein). So ist ja schon das historische Grundwerk
der Metaphysik, die aristotelische Erste Philosophie, ausdrücklich einge-
führt als Wissenschaft, die vom real Seienden in Allgemeinheit handelt und
nicht von dem, was den besonderen Seinsgebieten in eigentümlicher Weise
zukommt; da spricht Aristoteles von „Zweiten Philosophien“. Die Erste
Philosophie, die nachmals sogenannte Metaphysik, erforscht also die allem
Realen überhaupt zukommenden Wesensbestimmungen und dann auch das,
was allem einzelnen Sein mit allem anderen Einheit gibt. Alle realen Einzel-
heiten und alle einzelnen Werdensgestaltungen schließen sich zusammen zur
Einheit eines Kosmos, und das ist nicht ein toter Mechanismus, sondern nach
Aristoteles eine teleologische Einheit. Zum Wesen alles Werdens gehört es,
ein zweckvolles Werden zu sein; und letztlich werden wir zurückgeführt auf
einen letzten realen Urgrund für alles Werden, auf die Gottheit. Sie ist das
letzte Finalprinzip für die einheitliche teleologische Gestaltung des ganzen
Weltalls. Das alles gehört zu den allgemeinen Seinsfragen. Andererseits,

1 Gestrichen Als Probleme könnten wir formulieren: Inwiefern ist apriorische Erkenntnis von

absoluter Realität möglich? Soll die Metaphysik die endgültige und somit absolute Wissenschaft
von der Wirklichkeit sein, von der gegebenen, existierenden Wirklichkeit, dann fragt es sich,
ob etwa neben dieser Wissenschaft von der gegebenen Wirklichkeit noch Raum sei für eine
Wissenschaft von möglicher Wirklichkeit überhaupt, etwa so, wie wir scheiden zwischen der
naturwissenschaftlichen Mathematik als Wissenschaft von den Bedingungen der gegebenen
Natur und einer apriorischen Bedingungslehre, die von möglichen geometrischen und realen
Bedingungen überhaupt und möglichen Bedingungsgesetzen überhaupt handelt, unangesehen
der besondern und faktischen Wirklichkeit und ihrer faktischen Gesetze. Wäre diese Scheidung
richtig, so würde sich also ergeben eine apriorische Ontologie, das ist eine apriorische Wissen-
schaft vom Realen überhaupt und eine aposteriorische Ontologie. Das ist eben die Metaphysik.
Vorläufig ist es zum Verständnis nur nötig, dass Sie den Sinn apriorischen Verfahrens klar haben,
wozu etwa die Erörterungen über Relationen zwischen Ideen und Tatsachen bei Hume helfen
können. Die mathematischen Axiome sind apriorische, sie drücken keine Tatsachen aus, sind
nicht aus Erfahrungsfeststellungen hergenommen, sie drücken aus, was ohne Widersinn nicht
geleugnet werden kann, also auch nicht von einem Faktum.
428 einleitung in die philosophie

die Durchführung der Welterklärung in den besonderen Realitätssphären


und natürlich unter beständiger Anwendung der in der Ersten Philosophie
gewonnenen prinzipiellen Erkenntnis ist Sache der aristotelischen Zweiten
Philosophien, zum Beispiel der Psychologie und Physik, worunter hier also
nicht Naturwissenschaften in unserem Sinne, sondern metaphysische Diszi-
plinen zu verstehen sind.
Auch die Metaphysik des Spinoza ist in diesem Sinne eine allgemeine
Metaphysik. Sie handelt von der einen absoluten Substanz, die identisch
mit Gott ist, sie handelt von den Attributen dieser Substanz und von den
Modi, in welchen sie sich ins Unendliche expliziert, mit anderen Worten von
dem Hervorgehen der gewöhnlich so genannten körperlichen und geistigen
Substanzen aus Gott. Denn in Wahrheit sind die Dinge keine selbständigen
Realitäten, sondern nur aus Gott mathematisch hervorgehende Modi, aus
seinem unendlichen und ungeteilten Wesen so hervorgehend, wie aus dem
Wesen des einen unendlichen ungeteilten Raumes hervorgehen alle mögli-
chen geometrischen Sondergestaltungen: Sondergestaltungen, die sind was
sie sind nur als Modi des einen Raumes. Die Physik mit Mechanik, Akus-
tik, Optik u. dgl. (und ebenso die Besonderheiten der Psychologie) leitet
Spinoza nicht in seiner Metaphysik ab. Die leitende Idee ist aber sicherlich
die, dass eine hier weit abwärts deduzierende Metaphysik schließlich bis zu
den Obersätzen der Physik führen muss, d. i. zu den Grundsätzen, welche
der Physiker voraussetzt und aus denen er dann den Lehrgehalt der ganzen
mathematischen Physik ableitet. Ist dieser Zusammenhang hergestellt, so
verwandelt sich die zunächst nicht auf letzte, metaphysische Gründe gebaute
Physik in die scientia intuitiva, sie gewinnt damit den Endgültigkeitswert;
alles, was exakte mathematische Physik lehrt, ist zwar schon rational, aber
im höchsten Sinne rational erst dann, wenn die Begründung bis in die letzten
metaphysischen Wurzeln zurückgeführt ist. Erst damit ist es wirklich voll
und ganz und aus letzten Gründen eingesehen. „Alles was ist, muss aus Gott
begriffen werden“, aus der einen Substanz.1

1 Gestrichen Und geschieht das (diese Leistung heißt eben scientia intuitiva), so ist es, ist alles

besondere Sein zugleich in seinem realen Hervorgehen aus Gott begriffen. Das mathematische
Hervorgehen und das reale wird bei Spinoza im Sinne seines Ontologismus identifiziert. Diese
Scheidung zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik kehrt offenbar auf allen Stufen
der Entwicklung notwendig wieder. Auch wir, die wir zwischen natürlich-dogmatischen und
philosophischen Wissenschaften scheiden und der Erkenntnistheorie die erkenntniskritische
Funktion verleihen, sie sozusagen zum Scheidweiser machen, werden diese beiden Stufen
anerkennen müssen.
spinoza 429

Aber das bedeutet für Spinoza nicht bloß, dass überhaupt wissenschaftlich
nachgewiesen wird, dass und wie alles aus der äußeren und psychologi-
schen Erfahrung bekannte endliche Sein seinen letzten realen Grund in
der absoluten Substanz hat, sondern im Sinne seines mathematisierenden
Ontologismus, dass alles, was ist, durch adäquate Begriffe fassbar ist, Begriffe
die ihrerseits im begrifflichen Wesen Gottes logisch beschlossen sind. Da nun
das Wesen Gottes im Voraus in einer einfachen Definition adäquat, also voll
erschöpfend, zu erfassen ist, so ist die Aufgabe, in reiner Deduktion aus
der Definition Gottes und aus den sonstigen primitiven Definitionen und
Axiomen die Wesensbestimmungen allen Seins abzuleiten. So, wie wir das
Wesen des Raumes adäquat begreifen, so, wie wir es in den geometrischen
Fundamentaldefinitionen und Axiomen zu adäquat-begrifflicher Ausprä-
gung bringen und wie nun alles, was im geometrischen Raum in Form von
Sondergebilden seine geometrische Existenz hat, in reiner Deduktion abzu-
leiten ist und in dieser Ableitung absolut begreiflich wird, genau so soll es sich
mit Gott und Welt verhalten. Gottes Wesen soll seine adäquat-begriffliche
Ausprägung finden in Definitionen und Axiomen, und in rein rationaler
Notwendigkeit sollen nun darin alle sogenannten endlichen Substanzen als
Modi des göttlichen Wesen beschlossen, also deduktiv abzuleiten sein, so,
wie alle Figuren bloße Modi des reinen Raumes sind.
Die Idee einer allgemeinen Wissenschaft vom Realen überhaupt gegen-
über den besonderen Realitätswissenschaften ist offenbar eine notwendige
Idee. Das Problem ist nur, wie diese Idee in gültiger und dann weiter in
endgültiger Weise auszuführen ist. Sie verstehen die angedeutete Scheidung
von „relativ gültig“ und „endgültig“. Die Frage wird ja auch sein müssen,
inwiefern hier wiederum Stufen der Ausbildung einer solchen Seinslehre
unvermeidlich sind, nämlich als Unterstufe eine nur relativ berechtigte vor-
erkenntnistheoretische Seinslehre und dann die höhere, durch Erkennt-
niskritik hindurchgegangene und endgültige Seinslehre. Andererseits aber
stellt Spinozas Metaphysik gerade vermöge ihres vollendeten und extremen
Rationalismus das Problem, inwiefern eben eine rein apriorische Metaphysik
möglich sei, und wenn nicht, inwiefern doch eine rein apriorische Seinslehre
notwendig und für die Ausbildung einer Metaphysik unentbehrlich sei. Die
Metaphysik soll eine Wissenschaft (eine endgültige, somit absolut fundierte)
Wissenschaft von der Wirklichkeit sein, von der faktisch existierenden, von
der dem Erkennenden gegebenen Wirklichkeit. Ist rein a priori eine Wis-
senschaft von individueller realer Existenz möglich? Eine Wissenschaft nach
dem Vorbild also vom Typus der reinen Geometrie? Ist reine Geometrie, ist
irgendeine Wissenschaft ähnlichen Typus befähigt und befugt für irgendein
430 einleitung in die philosophie

wirkliches Dasein zu entscheiden? Oder liegt es nicht im erkenntnistheo-


retischen Wesenstypus apriorischer Erkenntnis, dass sie in ihren unbedingt
gültigen Notwendigkeiten nur über ideale Seinsmöglichkeiten zu urteilen
hat, nie und nimmer aber über faktische Wirklichkeiten?
Sollte das richtig sein, dann würde sich aber sofort das weitere Problem
ergeben: Die gegebene Realität, die wirkliche, ist doch wohl nicht die ideali-
ter einzig mögliche; ihre unendlich vielen individuellen Sondergestaltungen
lassen unendlich viele andere, und in ähnlicher Weise zur Einheit einer Welt
verbunden, als vorstellbare Möglichkeiten offen. Und von der Einheitsform
der Welt und vielleicht gar von der Form der Beziehung auf einen eventu-
ellen Urgrund gilt dasselbe. Ist nun nicht eine wissenschaftliche Erwägung
aller ideal-möglichen Abwandlungen des gegebenen realen Seins durchführ-
bar, also gegenüber der Wissenschaft von der erfahrungsmäßig gegebenen
oder aufgrund der Erfahrung in welchen Stufen immer wissenschaftlich
bestimmten Wirklichkeit, eine Wissenschaft von möglichen Wirklichkeiten
überhaupt, eine Wissenschaft von der Idee einer Wirklichkeit, einer realen
„Welt“ überhaupt, von ihren ideal-notwendigen Konstituenten, kurz, eine
apriorische Ontologie? Wenn das eine rechtmäßige Idee ist, müsste nicht
eine höhere wissenschaftliche Ausbildung der Metaphysik als Wissenschaft
der faktischen Wirklichkeit sich notwendig gründen auf dieser apriorischen
Ontologie? Es muss doch was zur Idee der Realität überhaupt gehört, was
für alle mögliche Realität somit notwendige Norm ist, auch grundlegende
Norm sein für die Erforschung der gegebenen Realität.
Was gemeint ist, wird klar, wenn wir darauf hinweisen, dass auf der unte-
ren Stufe der naturwissenschaftlichen Seinslehre uns zum Beispiel entgegen-
tritt die naturwissenschaftliche Mechanik als Wissenschaft von den realen
Bewegungen der gegebenen Natur und den für sie erfahrungsmäßig gelten-
den Naturgesetzen; dass dies aber andererseits nicht ausschließt eine aprio-
rische Bewegungslehre. Eine solche besteht nicht nur als Idee, sondern kam
längst neben der physikalischen Mechanik zu systematischer Ausbildung
und fungiert zudem in ihr als ein unentbehrliches methodisches Instrument.
Sie besteht einerseits als geometrische Bewegungslehre, als Theorie der im
euklidischen Raum ideal-möglichen Bewegungen, sofern sie rein durch die
geometrischen Axiome konstruierbare Möglichkeiten sind, und andererseits,
und darüber hinausgehend, als apriorische Theorie der möglichen physi-
schen Bewegungen, Bewegungen von möglichen materiellen Realitäten. Das
Letzte sagt, dass die physikalische Mechanik auffassbar ist als ein faktischer
Sonderfall gegenüber einer Mannigfaltigkeit ideal-möglicher theoretischer
Systeme oder Mechaniken. Die moderne mathematische Mechanik hat diese
spinoza 431

idealen Möglichkeiten auch wissenschaftlich zu fixieren gesucht. Das ist aber


für die Naturwissenschaft kein leeres Spiel von Möglichkeiten: Reine Mathe-
matik ist überall methodisches Instrument der faktischen Naturforschung.
Nur wer wissenschaftlich das Reich idealer Möglichkeiten auszuschöpfen
vermag, vermag eine vollendete wissenschaftliche Beherrschung der gege-
benen Erfahrungswirklichkeit zu gewinnen.
Ist diese Scheidung richtig, so würde sich also sondern müssen Metaphysik
und apriorische Ontologie, und beide wären aufeinander bezogen wie ein
faktischer Sonderfall zu dem idealen System möglicher Fälle überhaupt,
umgrenzt durch eine rein begrifflich bestimmte Allgemeinheit. Es wird sich
aber zeigen, dass hier noch eine weitere Differenzierung möglich und not-
wendig ist, eine Scheidung zwischen materialer und formaler Ontologie.
Lauter Scheidungen, die in dem Entwicklungsprozess von Spinoza zu Leibniz
und Lambert und Kant zum Durchbruch kommen.
Die allgemeine Ablehnung, die Spinozas mathematisches Demonstrati-
onssystem der Metaphysik erfuhr, und somit die Motivation für die wei-
teren historischen Entwicklungen in der angedeuteten Richtung hat nicht
darin ihre Quelle, dass man die erkenntnistheoretische Unzulässigkeit einer
apriorischen und die Geometrie methodisch imitierenden Metaphysik durch-
schaute. Im Gegenteil waren alle Rationalisten durch die neue mathemati-
sche Naturwissenschaft geblendet, und es fehlte bei allen in gleicher Weise
an entscheidender Klarheit über den wesentlichen Unterschied zwischen
reiner Mathematik und auf die Erfahrungsrealität angewendeter Mathema-
tik, angewendet eben in Form der mathematischen Physik. Bloß erkennt-
nistheoretische Ablehnung hätte übrigens auch nicht den leidenschaftlichen
Hass erklärt, der sich gegen Spinoza als den Urheber gerade dieses Systems
richtete. Der Anstoß kam aus dem Inhalt des Systems, der aber in merk-
würdiger Weise durch Spinozas erkenntnistheoretisches Vorurteil und somit
auch durch die wissenschaftstheoretische Form des Systems bestimmt war
und in einer Weise bestimmt, die die Anstößigkeit wesentlich bedingte.
Descartes1 hatte die absolute Substanzialität Gottes definiert durch die
Existenzweise absoluter Unbedingtheit durch irgendein Sein außerhalb; der
absoluten Substanz gegenübergestellt wurden die endlichen und bedingten
Substanzen, die sind, was sie sind, in ihrer Abhängigkeit von Gott. Diese
Abhängigkeit dachte Descartes, obschon in der Definition der absoluten
Substanz nichts von Teleologie stand, doch im alten Sinne als teleologisch.

1 Randbemerkung Descartes’ Substanzbegriff, Occasionalismus.


432 einleitung in die philosophie

Die endlichen Substanzen zerfallen in die zwei Grundklassen (Körper und


Geister), sie sollen beide miteinander in ihrem Wesen nichts gemein haben,
durch und durch heterogen sein. Sie sollen aber psychophysisch in Wech-
selwirkung stehen. Daraus erwuchsen im 17. Jahrhundert die zunächst leb-
haft empfundenen und für die metaphysische Entwicklung bestimmenden
Schwierigkeiten bzw. Probleme: Wie sollen grundverschiedene Substanzen
aufeinander einwirken? Wie ist reale Kausalität überhaupt hier zu verstehen,
da sie nur verständlich ist als innere psychische Kausalität? Und von da
aus wurde sogar die Kausalität zwischen Physischem und Physischem zum
Problem, wie wir schon gehört haben.
Andererseits fand man unverständlich das Verhältnis zwischen unend-
lichen Substanzen und endlichen Substanzen und das Wie des Hervorge-
hens dieser aus jener. Diese Probleme suchte Spinoza durch seinen Monis-
mus der einen Substanz zu lösen. Die endlichen Substanzen sind in Wahr-
heit keine Substanzen, Gott ist die allein wahre und einzige Substanz. Die
endlichen Dinge, die sogenannten endlichen Realitäten oder Substanzen,
sind bloß Modi göttlicher Attribute. Gott hat unendlich viele Weisen, sich
„auszudrücken“, sein Wesen zu explizieren. Wir kennen davon zwei: die
Körperlichkeit und die Geistigkeit. In jeder solchen Weise, in jedem sol-
chen göttlichen Wesensattribut, drückt Gott sich in einer Unendlichkeit von
besonderen Modifikationen aus und vollkommen aus. Und da er, dieselbe
absolute Substanz, sich und ebenso vollständig in Form der Geistigkeit
ausdrückt als in Form der Materialität, so muss ein genauer Parallelismus
zwischen geistigen Dingen und körperlichen Dingen, geistigen Vorgängen
und körperlichen Vorgängen bestehen. Dass wir in der Erfahrung mit allem
Körperlichen Geistiges und mit allem Geistigen Körperliches vereint finden,
hat hiermit seine Erklärung gefunden. Wir freilich, in unserem verworrenen
Denken, meinen hier Zusammenhänge kausaler Abhängigkeit zu finden.
In Wahrheit gibt es gar keine psychophysische Kausalität, keine Kausalität
zwischen Reiz und Empfindung, keine Kausalität zwischen psychischem
Willensakt und Leibesbewegung. Es besteht nur ein Parallelismus zweier
Reihen, die gleich notwendige Explikationen und gleichlaufende des göttli-
chen Wesens sind.
All das hätte nun immer noch keinen Anlass gegeben, gegen Spinoza so
heftig zu reagieren, zumal doch die Reduktion aller Endlichkeit auf die
göttliche absolute Unendlichkeit durchaus im Sinn der Zeit war, hatten
doch die Occasionalisten Gott als das einzige im echten Sinne wirkende
Prinzip hingestellt und gelehrt, dass die vermeintlichen Kausalitäten end-
licher Dinge in Wahrheit ausschließlich göttliche Kausalitäten sind. Aber
spinoza 433

freilich, sie fassten Wirken als Tätigsein und fassten Gott als Brennpunkt
aller den innersten Sinn alles Seins und Geschehens ausmachenden Aktivität.
Alle Kausalität war im Grunde Finalität, die ihrerseits zwecktätiges Wirken
Gottes ist. Spinoza aber, und das erregte die leidenschaftliche Opposition,
interpretierte das Verhältnis der absoluten Substanz zu den Geistern und
Körpern und somit zur ganzen gegebenen Welt der endlichen Dinge in einer
Weise, die mit der gesamten antiken und christlichen Tradition in scharfen,
ganz unerhörten Gegensatz trat. Bisher war Gott immer als reales Prinzip
der Vernunft in der Welt gefasst worden; die Rationalität der Welt aber lag
in ihrer zweckmäßigen Vollkommenheit, in ihrer Wohlordnung, Schönheit,
in einer Werthaftigkeit, die auf ein zwecksetzendes Prinzip zurückwies. Das
sagte aber: Zurückwies auf einen absoluten Geist als schöpferisch tätiges
Subjekt oder mindestens als in der Ordnung tätiges Subjekt.
Spinoza aber in seiner radikalen Durchführung der mathematischen Vor-
bildlichkeit musste Gott ein begriffliches Wesen zuschreiben, wie der Geome-
ter dem Raum, ein begriffliches Wesen, in dem die ganze Welt rein deduktibel
beschlossen sei. Die mystische Tendenz, die Dinge in Gott zurückzunehmen,
die wir in dieser Zeit auch sonst, so auch bei Malebranche, wirksam finden,
realisiert sich bei Spinoza in mathematischer Weise. Malebranche lehrte, dass
Gott der Ort aller Geister ist (analog wie wir uns den Raum als Ort aller
Körper denken). Spinoza macht Gott gleichsam zum Raum aller endlichen
Dinge, aber um die Mathematisierung durchführen zu können, lässt er alle
endlichen Wesen analytisch im Begriff Gottes beschlossen sein. Darin liegt,
dass alles, was wir reales Hervorgehen nennen, identifiziert wird mit dem
mathematischen Hervorgehen in der Deduktion. Darin liegt weiter, dass
die ganze Welt mit allem und jedem, mit allem geistigen und körperlichen
Geschehen, ein starrer Mechanismus ist, der nicht die leiseste Möglichkeit
für Selbsttätigkeit und Freiheit offen lässt. Sowenig die Raumgestalten der
Geometrie, die Dreiecke, die Hexaeder usw. irgendwelche Spontaneität ha-
ben, von sich aus etwas tun können, da alles absolut eindeutig determiniert
ist, sowenig die Körper und Geister der Welt. Ihr Sein geht darin auf, ein ma-
thematisches Wesen zu haben, das notwendige Folge des göttlichen Wesens
ist.
Aber auch für Gott selbst fällt alles weg, was wir sonst mit der Idee „Gott“
verknüpfen. Sein Wesen erschöpft sich in gewissen Definitionen, die einen
rein begrifflichen Bestand abgrenzen. Ein starres totes Wesen, das die Quelle
einer starren Begriffswelt ist. Gott ist nicht Geist, nicht Subjekt einer Sponta-
neität, und die endlichen Geister selbst sind erst recht nicht in wahrem Sinne
Geister, sondern Analoga geometrischer Figuren im geometrischen Raum,
434 einleitung in die philosophie

dem Analogon Gottes.1 Damit fällt die ganze Teleologie und die absolute
Wirklichkeit heraus. Alle Rede von einem göttlichen Schaffen, göttlicher
Zwecktätigkeit, von zweckmäßiger Ordnung und Schönheit der Welt, von
einem selbstverantwortlichen Wirken endlicher Subjekte unter Leitung gött-
lich gebilligter Ideale usw., alles verliert in dieser Mathematisierung seinen
Sinn; mathematische Rationalität ist ein starrer Zusammenhang von begriff-
lichen Wesen. Teleologische Rationalität ist ein lebendiger Zusammenhang
von frei tätigen Subjekten oder von realen Leistungen, der aus schöpferi-
schen Spontaneitäten entsprungen ist. So erklärt sich die leidenschaftliche
Bestreitung des Spinoza und der beständige Vorwurf des Atheismus.
Freilich er selbst war nichts weniger als Atheist; in seinem System spricht
sich ein inniger Mystizismus aus, der, widerspruchsvoll genug, die mystische
Einheit Gottes in aller Welt mathematisch zu deuten suchte. Aber bei seiner
Weise, den von der Naturwissenschaft geforderten Mechanismus oder Kau-
salismus auf absolute Prinzipien zurückzuführen, konnte man sich in der
Tat nicht beruhigen. Die tief in den Gemütern verwurzelte Überzeugung,
dass die Welt ein teleologisches Seinsprinzip fordere, dass die Welt einen
teleologischen Sinn hat, dass sie im letzten Grund und trotz aller einzeln
empfundenen Irrationalitäten eine Gotteswelt sei, musste nach neuen Phi-
losophien suchen. Diesen war aber die Aufgabe gestellt, in besserer Weise,
als es Descartes vermocht hatte, und gegen Spinoza teleologische und me-
chanische Weltauffassung zu versöhnen und dabei jeder doch ihr Recht zu
lassen.
Hier lagen also die Haupttriebkräfte für die weitere Entwicklung der ra-
tionalistischen Philosophien, wobei andererseits die erkenntnistheoretischen
Motive eine begleitende und keineswegs unbedeutende Rolle spielten.2 In
dieser Hinsicht ist zu bemerken, dass das Vorherrschen der metaphysi-
schen Interessen einer Versöhnung von Determinismus und Teleologie zwar
die Entwicklung einer rein phänomenologischen Erkenntnistheorie hemmt,
aber andererseits dahin wirkte, der erkenntnistheoretischen Problematik
eine neue und eigenartige Wendung zu geben. Ich meine hier die Wendung
zur sogenannten transzendentalen Methode und zur transzendentalen Philo-
sophie im prägnanten Sinne. Damit ist gegenüber der letzthin bezeichneten

1 Randbemerkung Oder vielmehr: Eines mit dem anderen ist doch unverträglich. Kann denn

ein Geist, ein göttlicher, absolut vernünftiger Geist, in seinen Vernunfttätigkeiten mathematisch
gedacht werden? Hier genauer durchdenken! Den Widerstreit darstellen!
2 Gestrichen Das Letztere zeigte ja gerade das System Spinozas, in dem eine wissenschaftstheo-

retische Vorüberzeugung dem Inhalt der Metaphysik gerade die Gestalt gab, die den Vorwurf
des seelenlosen Mechanismus und Atheismus bedingte.
leibniz 435

Entwicklung der rationalen Ontologien ein weiteres Thema bezeichnet, dem


wir in diesen ideengeschichtlich so reich gestalteten Entwicklungen des Ra-
tionalismus unser Interesse werden zuwenden müssen.1

Leibniz

Der zentrale Geist für alle diese Entwicklungen ist Leibniz (1646–1716).
14 Jahre nach Spinoza und Locke geboren, 502 nach Descartes. Anfangend
als Rationalist, aber von vornherein bei seiner außerordentlichen histori-
schen Bildung und Anregsamkeit vielfältig motiviert, hat er nicht nur von
der neuen Naturwissenschaft und vom Cartesianismus her Bestimmungen
erfahren, sondern auch aus antiken und mittelalterlichen Philosophien,
von den italienischen Naturphilosophen und von den englischen Platonikern
und sonstigen Philosophen der Renaissance. Charakteristisch ist die absolute
Hochschätzung, mit der er immer wieder von Platon und Aristoteles, selbst
von den Neu-Platonikern spricht, der Ernst, mit dem er die Scholastik gegen
die modischen Einwürfe verteidigt, wie er denn von Thomas und auch von
Duns Scotus erheblich beeinflusst war. Die teleologische Weltanschauung
hat in seinem Gemüt feste Wurzeln gefasst. Von konfessionellen Schranken,
von kirchlichem Dogma ist er, der Mann eifriger Versöhnungsversuche aller
christlichen Kirchen, frei. Andererseits ist er einer der epochemachenden
Begründer der modernen Mathematik, der Schöpfer der Differenzialrech-
nung, der bedeutende Förderer der neuen Physik und unermüdlich darauf
bedacht, in allen Wissenschaften reformatorisch, in noch brachliegenden Er-
kenntnisfeldern als Pionier der Wissenschaft zu wirken, und all das immer im
Geist der neuen strengen Wissenschaften. Mit all dem bekundet er sich als der
ohne Frage größte und universalste wissenschaftliche Genius seit Aristoteles.
Was uns hier interessiert, ist, dass Leibniz, als schöpferischer Repräsen-
tant der neuen Naturwissenschaft selbstverständlich an ihrer Naturauffas-
sung durchaus festhalten will: Also in der Natur herrscht überall eindeutige
Determination alles Geschehens nach strengen, mathematisch zu formulie-
renden Gesetzen. In dieser naturwissenschaftlich betrachteten Natur bleibt
alle Finalität außer Betracht. Aber andererseits steht ihm im Voraus fest, dass
die finale, die teleologische Weltauffassung auch ihr Recht haben muss, ja

1 Randbemerkung Cf. Bl. 460 Dieses Blatt liegt nicht vor, da die Paginierung mit 433

aufhört..
2 Im Manuskript 38 statt 50. – Anm. der Hrsg.
436 einleitung in die philosophie

sogar ein vorwiegendes Recht. Kausale und teleologische Weltanschauung,


naturalistische und supranaturale, können nicht nebeneinander bestehen und
sich nur äußerlich verbinden, so äußerlich wie es bei Descartes der Fall war.
Sie müssen sich durchdringen, und zwar so, dass die kausale oder besser
naturalistische Weltauffassung eine bloße relative und vorläufige Bedeutung
haben kann; ohne dass ihr wissenschaftlicher Ausdruck in Form der Natur-
wissenschaften im mindesten davon berührt wird, muss sie vom metaphysi-
schen Standpunkt aus, dem der absoluten Wahrheit, sich teleologisch deuten
lassen. Also absolut betrachtet, ist alles Sein teleologisches Sein, die Welt
eine Gotteswelt, aber für das erkennende und aufgrund der Erfahrung
theoretisierende Subjekt, muss sich die Welt als ein totes materielles Sein
darstellen, in dem, wie so nebenbei, Geister mitauftreten; und diese Welt
muss sich in einer Naturwissenschaft darstellen, die der unphilosophische
Mensch als eine letzte Wissenschaft, eine Wissenschaft einer solchen halb
oder ganz entgeisteten Natur ansehen kann und muss.1 Natürlich muss einem
Leibniz, sowie er sich für die Endgültigkeit der teleologischen Weltinter-
pretation entschieden hatte, der mathematische Apriorismus Spinozas und
dessen Konsequenz, die Durchführung des Determinismus bis zur absoluten
Entgeistung der Welt, als äußerste Verirrung erscheinen; daher die heftigen
Worte auch Leibnizens gegen Spinoza.
In2 seiner Entwicklung, sagte ich, fing auch Leibniz als Rationalist an und
so war auch er lange geneigt, das mathematische Vorbild zu überspannen und
alle letzte und endgültige Erkenntnis als rein apriorische (rein rationale) an-
zusehen. Vermutlich hat ihn in dieser Hinsicht Spinozas Metaphysik kuriert.
Da sah er, wie die konsequente Durchführung dieser erkenntnistheoreti-
schen Auffassung zu einer widersinnigen Überspannung des Determinismus
und zu einer Vernichtung aller Teleologie führte. Genug, er machte den
großen Schritt, der den extremen Rationalismus überwand, er schied prinzi-
piell die Wahrheiten in zwei fundamental verschiedene Klassen: in die Tatsa-
chenwahrheiten und die apriorischen Wahrheiten. Ich brauche diese Unter-
scheidung nicht lange zu erörtern, da ich an die Hume’sche Unterscheidung
zwischen Ideenwahrheiten und Tatsachenwahrheiten anknüpfen kann (vgl.
Lockes Scheidung der demonstrativen und der Tatsachenwissenschaften).

1 Randbemerkung Die Grundüberzeugung aller Teleologien nach Descartes (Leibniz, wohl

auch der Occasionalismus und Berkeley) ist: Es gibt nur eine Art verständlichen Seins, das ist
geistiges Sein, und nur eine Art verständlichen Wirkens (echten), das ist geistiges Wirken.
2 Gestrichene Randbemerkung Knüpfen wir hier eine erste Reihe von Betrachtungen an, die

in Leibniz’ Idee einer scientia universalis kulminieren.


leibniz 437

Zu beachten ist, dass Hume zu der Leibniz nachfolgenden Generation ge-


hört, also unmittelbar oder mittelbar von Leibniz beeinflusst sein muss. Also
schon nach dem letzteren scheiden sich die Wahrheiten in solche, deren
Leugnung ein Widerspruch ist, und in solche, bei denen das nicht der Fall ist.
Die einen haben notwendige Geltung, die anderen zufällige; die einen nennt
er auch ewige (das sagt natürlich zeitlos gültige) Wahrheiten, die anderen
zufällige Wahrheiten. Die einen sagen aus, was rein in den begrifflichen
Wesen gründet, die anderen, was nur durch aktuelle Erfahrung als faktisch
bestehend sich herausstellt, dessen Gegenteil eine vorstellbare, eine wider-
spruchslose Möglichkeit ist.
Äußerlich betrachtet ist das dieselbe Unterscheidung wie die spätere
Humes. Aber der Geist ist ein anderer. Leibniz, ein bewusster Vermitt-
ler zwischen Scholastik und Neuzeit, ist weit entfernt davon, sich der in
der Renaissance üblichen Verachtung der aristotelischen Logik und ihrer
Fortbildungen im Mittelalter anzuschließen. Und hierher gehört auch sein
Eintreten für die Unterscheidung von Essenz und Existenz bzw. sein Ein-
treten für allgemeine Vorstellungen und für allgemeine Wesen als deren
begriffliche Gehalte. Diese allgemeinen Wesen, die auch zu Gegenständen
der Betrachtung gemacht werden können, sind nicht sensualistisch als reelle
Momente der jeweiligen Erlebnisse, etwa als sinnliche Momente, anzusehen;
der Begriff „rot“, das Wesen, die allgemeine Artung von Farbe, ist nicht das
sinnliche Empfindungsdatum „rot“. Leibniz bekämpft sogleich die Anfänge
des Sensualismus, in seiner großen Gegenschrift gegen Lockes Essay. Er
erkennt klar die Grundirrtümer des Nominalismus, er sieht, dass, wo wir
intuitiv den Sinn eines allgemeinen Wortes gegeben haben, wie zum Beispiel
„Gerade“, „Viereck“, das Gegebene und Gemeinte nicht ein flüchtiges Er-
lebnismoment, nicht ein sensuelles Datum am Angeschauten, sondern eben
ein Allgemeines ist, das ein eigenes Sein hat, eine eigene Seinsart darstellt,
die total verschieden ist von der des individuellen Seins.
In der Tat, in aller intuitiven Erkenntnis nach Art der axiomatischen ha-
ben wir Wesenserkenntnis zu sehen; Sachverhalte erfassen wir da, die in den
Essenzen, in Wesen, gründen. Erfasst werden nicht individuelle Daten und
individuell zugehörige Relationen, sondern ein Generelles, eine reine und
unbedingt gültige Allgemeinheit oder Gesetzlichkeit, wo wie bei „a + b =
b + a“ das intuitiv Erfasste und somit Selbstgegebene die rein gesetzliche
Allgemeinheit ist, die zum allgemeinen Wesen der Zahlensumme als sol-
cher gehört. Freilich auf tiefere erkenntnistheoretische Untersuchungen lässt
sich Leibniz nicht ein, wie er überhaupt nur der große Anreger und nicht
der ausführende Arbeiter ist. Aber sehr bedeutungsvoll ist jedenfalls seine
438 einleitung in die philosophie

unnachgiebige Stellung gegen den Sensualismus und seine klare Erkenntnis


der eigentümlichen Gegebenheiten des begreifenden Denkens und speziell
der Allgemeinheiten erfassenden „Intuition“.
Für Leibniz treten infolge seiner fundamentalen Scheidung reine Ma-
thematik und mathematische Naturwissenschaft und dann überhaupt rein
apriorische Wissenschaft und Tatsachenwissenschaft auseinander. Erkennt-
nistheoretisch wird für ihn die Tatsachenerkenntnis und die Bedeutung der
rationalen Erkenntnis für sie zum drängenden Problem. Denn nur Denken,
speziell wissenschaftliches, führt zur Wahrheit. Auch empirisches Denken ist
Denken. Wo Denken rein waltet, ohne auf Erfahrung sich zu gründen, gibt
es jene echte Rationalität der ewigen Wahrheiten, deren Prinzip der Satz
vom Widerspruch ist. Wo es auf Erfahrung sich gründet, da walten dieselben
Denkfunktionen, treten dieselben Denkformen auf, die eben zum Denken als
solchen gehören und die im reinen Denken jene ewigen Wahrheiten ergeben.
Wie ist nun die Leistung der reinen Denkfunktionen im empirischen Denken
zu verstehen, wie die Verwissenschaftlichung der Erfahrung?
Was bloße Erfahrung gibt, ist doch etwas Denkfremdes, etwas in sich
Irrationales, das nun rationalisiert werden soll, während es doch, gemäß jener
Scheidung, nie jene fraglos reine Rationalität des Apriori hat, sich nicht in
reine Apriorität auflösen lassen kann. Im Erfahren ist der Erkennende durch
die Sinnlichkeit, also von außen her bestimmt, wie allgemein zugestanden
bzw. angenommen wird. Im reinen Denken ist er rein bei sich selbst; nichts
von außen her bestimmt ihn, er folgt seiner eigenen Natur, er gestaltet
spontan Gedanken, die er aus sich selbst schöpft, in Aktualisierung ihm
ursprünglich eingeborener Anlagen. Die ewigen Wahrheiten sind eingebo-
rene Wahrheiten, das heißt, sie entspringen in immanenter Selbsttätigkeit
gemäß diesen eingeborenen Anlagen als absolute Gültigkeiten. Unmittelbar
gilt das von den axiomatischen Wahrheiten. Die mittelbaren, wie die oft
höchst entlegenen und erstaunlichen Wahrheiten der mathematischen Wis-
senschaften gewinnt das reine Denken in Tätigkeiten der Explikation, der
Analyse; das Implizite wird in seine rationalen Elemente aufgelöst und auf
die Axiome zurückgeführt.
Ursprünglich glaubt nun Leibniz, sich damit helfen zu können, dass er
alles Empirische als höchst Zusammengesetztes und in verworrener Ein-
heitlichkeit Aufgefasstes ansehe. Ihn leitet also der Gedanke, dass die Er-
fahrungsgegebenheiten nicht an sich irrational, sondern vielmehr, an sich
betrachtet, rational sind; aber für unser verworrenes Auffassen, das nicht
zu scheiden, die rationalen Elemente nicht herauszufinden vermag, fehlt die
Möglichkeit, die unmittelbaren Axiome zu formulieren, und es ist daher
leibniz 439

auch außer Stande, die die erfahrene Natur beherrschenden Gesetze, die
in Wahrheit rationale Gesetze sind, a priori zu deduzieren. In Wahrheit
sind die Naturgesetze nichts weiter als sehr entlegene Folgen der zu den
Elementen gehörigen rationalen Axiome. Hätten wir diese, so könnten wir
Physik rational deduzieren.
Nach der prinzipiellen Scheidung zwischen rationalen und empirischen
Wahrheiten fiel diese Auskunft dahin. Aber ganz gab er den Gedanken nicht
Preis. Musste er der Erfahrung schließlich ein irrationales Element auch
zugestehen, so bildete er auch auf dem Boden seiner Metaphysik, nämlich
seiner Monadenlehre eine Theorie der Erfahrungserkenntnis aus, die die
Erfahrung als ein verworrenes Denken interpretierte, also annahm, dass das
sinnliche Bild nur durch die analytische Ungeschiedenheit der verworren-
einheitlichen Auffassung sich als ein völlig irrationales gibt. Wie konnte das
methodische Verfahren der mathematischen Physik, die Mathematisierung,
die doch durchaus mit reinen Denkformen operiert und sich in spontanen
Denkleistungen aufbaut, wie konnte sie aus wirklich irrationalen, denkfrem-
den Stufen eine vernünftige Welt herausarbeiten? Das wissenschaftliche
Denken erfindet doch nicht die objektive, die exakt-physikalische Natur
und die Naturwissenschaft ist doch kein willkürliches Gebilde. Die theore-
tischen Konstruktionen der Physik sind doch durch die Gegebenheiten der
Erfahrung geforderte, also muss in diesen schon Rationalität liegen.1

1 Eingelegtes Blatt Es ist die Art konstruierender Metaphysik, dass sie zwar immer den

Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, aber ihre Voranschläge schon für wissenschaftliche
Theorien ausgibt. Freilich war ihr gerade der progressive Weg dadurch verschlossen, dass sie
die transzendentale Subjektivität nicht als den Urgrund für alle metaphysischen Progressionen
erkannte, es nicht sah, dass alle letzten Fragen auf sie zurückführen und darum alle von ihr
ausgehen und in einer rationalen Methode Schritt für Schritt zu den Höhen emporsteigen
müssen. Andererseits fehlt es nicht an dem leidenschaftlichen Bemühen, über Anschläge von
vager Sachferne hinauszukommen und sie in intuitiv geschöpften Einsichten fest zu veran-
kern. So viele und tiefe Einsichten wirklich gewonnen und den Systemen angefügt werden,
es bleiben philosophische Systeme, aber nicht philosophische Wissenschaften; es bleiben im
Ganzen geniale Antizipationen, selbst wo sie der Wahrheit nahekommen. Nie kann in solcher
Methode Philosophie als wirkliche Wissenschaft werden, also ihren eigensten Beruf angemessen
erfüllen. Gestrichen Illustrieren wir die Art konstruktiver Naturinterpretation an Leibniz, dem
größten erfindenden Genius des 17. Jahrhunderts, und zugleich die Art wie erkenntnistheo-
retische Gedanken zu wesentlichen Bestimmungsstücken werden mussten. Ihm zuerst war die
Klarheit über die prinzipielle Scheidung zwischen Vernunfterkenntnis und Tatsachenerkenntnis
aufgegangen, die im Rationalismus vor ihm und am krassesten von Spinoza verhängt worden
war. Sowie die Scheidung da war, musste die Tatsachenerkenntnis und die Bedeutung der
rationalen Erkenntnis für ihr Zustandekommen als wissenschaftliche Tatsachenerkenntnis zum
Problem werden. Denn nur Denken, speziell nur wissenschaftliches führt zur Wahrheit, und
auch empirisch-wissenschaftliches Denken ist Denken.
440 einleitung in die philosophie

Mit anderen Worten, vor allen sichtlichen und in bewusster Spontaneität


vollzogenen Denktätigkeiten der Wissenschaft liegt als ihr Ausgangspunkt
und ihr beständiges Fundament die sinnliche Erfahrung und das in ihr er-
scheinende sinnliche Weltbild, die Dinge der sinnlichen Anschauung. Sie
drängen sich auf, vermeintlich als etwas rein passiv von außen Empfange-
nes, Irrationales, an dem sich hinterher das Denken ordnend, verknüpfend
und damit allererst Rationalität hineinbringend, betätigt. Das ist falsch.
Die Dingbilder der Erfahrung sind schon Gebilde der Subjektivität; vor
der bewussten Denktätigkeit liegt eine unbewusste, deren fertiges Gebilde
eben das Erfahrungsbild ist. Es ist verworren einheitlich gegeben, weil eben
nicht einzelne Schritte und Folgen von Schritten es vor dem Auge des Be-
wusstseins, wie das bei den Gebilden des logisch-wissenschaftlichen Denkens
statthat, aufgebaut haben. Freilich weist es mindestens ideell auf irrational-
sinnliche Stoffe zurück, die, wirklich rein passiv empfangen, das Material
abgeben; aber was wir vor Auge haben ist immer schon ein Werk des In-
tellekts, der sich formend, rationalisierend am Unterbewusstsein betätigt
hat. „Intellektiv unbearbeiteter Stoff“ ist eine Grenze, die der Erfinder
der Infinitesimal-Rechnung möglichst weit, wo möglich infinitesimal zu-
rückschieben möchte. Solche Motive stecken, wenn auch nie so deutlich
expliziert in der Leibniz’schen Lehre, dass Sinnlichkeit nur eine Unterstufe
des Denkens ist.
Da sehen Sie, wie eigentümlich sich eine erkenntnistheoretische Problem-
stellung verwandeln und Quellpunkt für psychologische und dann weiter me-
taphysische Konstruktionen werden kann. Das Problem ist, gegenüber den
fraglosen Leistungen des reinen Denkens die des naturwissenschaftlichen
Denkens aufzuklären. Damit drängt auch gleich das korrelative Problem sich
hervor: Was ist eigentlich die in der unmittelbaren äußeren Wahrnehmung
gegebene Welt, was sind das eigentlich diese „durch die Sinne“ uns gegebe-
nen Dingphänomene im Wahrnehmungsraum? In ihnen „sehen“ wir angeb-
lich die Natur. Aber die mathematische Naturwissenschaft allein lehrt uns die
wahre Natur kennen, die sich nur durch rein rationale Begriffe bestimmt und
alle sinnlichen Daten ausschaltet, als bloß subjektiv psychologische Erfolge
äußerer Reize erklärt. Das Problem der Aufklärung wird verwandelt in
das Problem: Wie ist die Rationalität naturwissenschaftlicher Erfahrungs-
erkenntnis möglich? Und zu seiner Beantwortung wird die Subjektivität
mit psychologischen Vermögen und Vermögensleistungen ausgestattet, die
angenommen werden müssen, damit rationale Erfahrungserkenntnis psy-
chologisch verständlich wird. Schon die schlichte Erfahrung enthält eine
verborgene Rationalität, die in der mathematischen physikalischen Theorie
leibniz 441

zur Deutlichkeit und Klarheit kommt, d. i. zur Explikation kommt in Form


logischer Akte, in Form logischer Schlüsse, Beweise, Theorien. Hier liegen
also die Anfänge der sogenannten transzendentalen Psychologie: Nicht aus
der psychologischen Erfahrung, wie in der naturwissenschaftlichen Erfah-
rungsseelenlehre werden psychologische Erkenntnisse gewonnen, sondern
das psychische Erkenntnisvermögen und unbewusste psychische Funktionen
werden konstruktiv ersonnen, die angebliche Bedingungen der Möglichkeit
dafür sein sollen, damit die Erkenntnisleistung der Naturwissenschaft und
sonstiger Wissenschaften verständlich wird.
Man kann die ganze Metaphysik Leibnizens als eine transzendental-
philosophische Metaphysik ansehen. Man kann beobachten dass Leibniz,
ohne sich das hier und sonst übrigens zu differenziertem Bewusstsein zu
bringen, sich die ganze absolute Wirklichkeit philosophisch konstruiert und
so, dass das Problem der Erkenntnismöglichkeit ein hauptsächlicher Quell-
punkt der Konstruktionen ist.
Wir haben in der letzten Vorlesung gesehen, wie das Problem der Aufklä-
rung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bei Leibniz zu transzendental-
psychologischen Konstruktionen führt. Naturwissenschaftliche Erkenntnis
verdankt ihre Rationalität eben der ratio, den Funktionen reinen Denkens,
die mit der Empirie sich verbinden, während sie, in Reinheit für sich waltend,
zu ewigen Wahrheiten führen, durch die aber nie Realität erkannt werden
kann. Wie ist diese Rationalisierung eines in sich Irrationalen zu verste-
hen? Leibniz antwortet darauf: Es ist gar nicht ein völlig Irrationales; die
Sinnlichkeit ist eine niedere Stufe des Verstandes, von vornherein hat die
Erfahrung schon eine verborgene, vom verborgenen Walten des Verstandes
herstammende rationale Gestalt. Leibniz analysiert nicht das Wesen der
Erfahrung phänomenologisch und weist nicht in ihr rationale Strukturen
als Implikationen nach, geschweige denn, dass er an diesen phänomeno-
logischen Strukturen den Sinn der Geltung und Nicht-Geltung klarlegte.
Sondern die erkenntnistheoretische Frage verschiebt sich für ihn in die Form:
Wie müssen die Erkenntnisfunktionen der Erfahrung beschaffen sein, wie
müssen wir sie uns theoretisch konstruieren, damit so etwas wie naturwis-
senschaftliche Erkenntnis psychologisch möglich und verständlich wird? Das
ist die Art aller transzendentalen Psychologie gegenüber der empirischen
Psychologie, die, aus der seelischen Erfahrung intuitiv und wirklich nachwei-
send, von Tatsachen zu Tatsachen fortschreitet, und der Phänomenologie,
die aus der phänomenologischen Intuition Wesenszusammenhänge schöpft.
Dabei ist das Verfahren Leibnizens nicht ein methodisch Bewusstes, sofern
er zwar in dieser Weise konstruktiv zu Werk geht, aber nicht prinzipiell
442 einleitung in die philosophie

über die methodische Form desselben reflektiert und eine eigene Methode
proklamiert, wie das erst viel später die Transzendentalpsychologie getan
hat.1
Das Verfahren transzendental-psychologischer Konstruktion, das uns bei
Leibniz, wenn auch noch keimhaft entgegentritt, hängt sichtlich zusammen
mit der konstruktiven Methode, die das Charakteristikum aller dogmatisti-
schen Metaphysik ist. Der dogmatistische Metaphysiker hat seine festen Pole,
denen gemäß er sein philosophisches Schifflein steuert. Er hat vor seinen
philosophischen Theorien gewisse leitende Überzeugungen; sie sind ihm
Endziele, in welchen er die allererst zu gestaltenden Theorien terminieren
lassen will. Natürlich wird es sich dabei im Allgemeinen um Überzeugungen
handeln, die in ihm von höchsten Gemütswertungen getragen und verklärt
sind; sie ziehen also aus der Gemütssphäre ihre bestimmende Kraft. Der
theoretische Verstand soll nachkommen und theoretisch begründen, was im
Voraus in einem gläubigen Vertrauen angenommen worden ist. Der Seins-
glaube folgt hier den im Gemüt vollzogenen Stellungnahmen nach, so dass
der Erkenntniswille im Voraus gebunden ist. Eine Welt, die keine Gotteswelt
wäre, die eines teleologischen Sinnes entbehrte u. dgl., wäre unerträglich, sie
kann also nicht sein.
Doch braucht es sich nicht immer um ein gläubiges Vertrauen in der religi-
ösen Sphäre zu handeln, wir finden ja auch Analoges in der Verstandessphäre.

1 Gestrichen Leibniz ist eben der echte „Metaphysiker“, das Wort in der eigentümlichen

Färbung verstanden, die es im letzten Jahrhundert zumindest angenommen hat: Die drückt
eine tadelnde Abwertung aus. Der Metaphysiker hat seine festen Pole, denen gemäß er sein
philosophisches Schifflein steuert. Er hat im Voraus seine leitenden Überzeugungen, Endziele
der philosophischen Theorien, die er erreichen will, in denen die allererst zu gestaltenden
Theorien terminieren müssen. Er hat also Vorurteile, zielgebende Vorurteile. Sie werden im
Allgemeinen von höchsten Gemütswertungen getragen und verklärt sein; und vielleicht ist das
selbst ein Hauptstück der Teleologie der Welt, dass das, was das Gemüt im gläubigen Vertrauen
ergriffen und sich in evidenten Wertungen als höchsten Wert zugeeignet hat, mindestens einem
wesentlichen und dann eigentlich Wert begründenden Kern nach sich auch vor der kühlen
Vernunft als berechtigt herausstellen muss. Ich spreche von Glauben. Sie merken, dass das
vor allem auf die religiösen Grundüberzeugungen sich bezieht und auf die mit ihr einigen
teleologischen Weltanschauungen. Doch wäre dies eine Beschränkung. Wer durch skeptische
Argumentationen oder durch erkenntnistheoretische Reflexionen dessen inne wird, dass die
Naturwissenschaft mit all ihrer zwingenden Rationalität unter gewissen notwendigen Gesichts-
punkten sich als etwas völlig Unklares darstellt, mag doch in der Weise des „gläubigen
Vertrauens“ fest zu ihrer Rationalität halten und sie als festen Pol hinnehmen, nach dem
er sich eine Erkenntnistheorie konstruiert: also nicht vorurteilslos und rein theoretisch die
Erkenntnis jeder Form und Art studierend und aus ihr Theorien schöpfend, sondern eben
gegen ein Vorurteil hin konstruierend.
leibniz 443

Wer durch die skeptischen Argumentationen, durch die Verwirrungen, in


die ich die erkenntnistheoretische Reflexion versetzt habe, an der rationalen
Möglichkeit etwa der Naturwissenschaft irre wird, sofern sie sich ihm
nun als voll von Unklarheiten, wenn nicht Widersprüchen darstellt, mag
doch in einer Art von gläubigem Vertrauen fest für ihre Rationalität Partei
nehmen und von da aus sich eine Erkenntnistheorie konstruieren, die dazu
dienen kann, sein theoretisches Gewissen zu beruhigen. Das ist also kein
vorurteilsfreies, in rein sachlicher Motivation von Gründen zu den Folgen
emporsteigendes Verfahren, sondern ein allzu leicht bestechliches, gegen das
vorgegebene Urteil hin konstruierendes Verfahren. Natürlich hat das seine
großen Bedenken. Es kann nur gut tun, wenn das Ziel den Charakter des
Vorurteils verliert, wenn seine Geltung eingeklammert und ein rein sachli-
cher, Schritt für Schritt in sich berechtigter Weg von unten eingeschlagen
wird, ohne Rücksicht darauf, ob er dem ersehnten Ziel zuführt.1
Das gilt nun überall und insbesondere gilt es im outrierten Maß von
der Philosophie. Gerade das ist ja das Eigentümliche der Philosophie, dass
sie unsere Erkenntnis auf einen absolut gesicherten Boden stellen, dass sie
also absolut vorurteilsfrei sein und ausschließlich theoretischen Motiven
und allen, die irgend bedeutsam sein können, Raum geben will. Sie will
ja (nach allem, was wir gehört haben) der Idee einer absoluten Erkenntnis
genugtun; sie darf also kein Vorurteil ungeprüft gelten, ja sogar keine mög-
liche untheoretisierte Erkenntnisdimension darf sie bestehen lassen, wie es
vor der Erkenntnistheorie das erkennende Bewusstsein war, da sonst die
Erkenntnis einen Index der Unklarheit hat, der allen ihren Ergebnissen den
Endgültigkeitswert benimmt.
Haben nun Gemütswerte eine objektive Bedeutung, haben sie eine über-
subjektive Geltung und steht reales Sein unter einem Gesetz, das Wert-
haftigkeit und Realität in Verknüpfung setzt, dann muss auch das selbst
in vorurteilsfreier theoretischer Untersuchung herausgestellt und endgül-
tig begründet werden. Es mag sein, dass es ein Stück der teleologischen
Konstitution der Welt ist, dass vor aller Wissenschaft in natürlicher Ent-
wicklung der Menschheit blinde und doch wertvolle Vormeinungen über
die Weltteleologie erwachsen müssen, Vormeinungen über die reale Bedeu-
tung von Werten, über den Realitätsvorzug des Wertvollen gegenüber dem
Wertlosen, ja über die dienende Funktion alles Negativwerten für eine reale
Wertsteigerung in der Welt (über die Läuterungskraft des Unglückes). Aber

1 Randbemerkung Man muss jederzeit bereit sein, seine liebsten Überzeugungen zu opfern.
444 einleitung in die philosophie

dann muss eben die Vernunft hinterher dieses Recht sowie seine Grenzen
ursprünglich ausweisend bestimmen, wenn sie philosophierende Vernunft
sein will. Der religiöse Glaube hat gewiss seinen religiösen Wert. Aber wer
sich von ihm theoretische Prämissen vorgeben lässt, der treibt Theologie und
nicht Philosophie. Denn das ist die Art der Theologie, dass sie das Dogma
als ein festes vor sich hat und dass sie nun Theorien konstruktiv ersinnt, um
das fest Vorgegebene nun auch theoretisch zu begründen. Nicht wesentlich
anders verfahren dogmatistische Metaphysiker, auch wenn sie sich nicht von
einem konfessionellen Dogma leiten lassen; die Verstandeswege haben ein
geheimes Vorurteil.
Echte Philosophie aber, Philosophie als strenge Wissenschaft und als Wis-
senschaft, die der Idee absoluter Erkenntnis genugtun will, muss prinzipiell
all solcher Metaphysik den Krieg erklären. Sie kann nur Philosophie von
unten, von absolut evidenten Gründen aus sein und gemäß Methoden fort-
schreiten, die in allen Schritten absolut einsichtig sind. Nie und nimmer darf
sie von oben her konstruieren, sie darf keine festen Pole haben, sie muss alle
noch so hoch zu bewertenden Vormeinungen ausschalten. Sie verlangt nicht,
dass man das gläubige Vertrauen auf eine von Wertideen aus realisierende
Vernunft in der Welt wegwerfe, aber mitreden darf es nicht in Form von
leitenden Prämissen.
Doch zurück zu Leibniz. Leibniz strebt sicherlich danach, auch in der
Metaphysik sich als wissenschaftlicher Forscher zu bewähren. Aber so viele
wertvolle Einzelerkenntnisse er gewonnen hat, im Ganzen ist er dogmatisti-
scher Metaphysiker. Man merkt es überall, wie er seine Vorüberzeugungen
hat,1 seine teleologische Weltanschauung, seine Gottesüberzeugung, sein
Vertrauen auf die objektive Geltung der mathematischen Naturwissenschaft,
und wie er überall sich die Welt und das Bewusstsein so konstruiert, dass er
mit diesen Vorüberzeugungen durchkommen kann. Eine solche Konstruk-
tion ist seine berühmte Monadenlehre. Sie ist, wie das bei einem großen
echten wissenschaftlichen Genius nicht anders zu erwarten ist, keineswegs
eine leere Konstruktion; denn unermüdlich sucht Leibniz nach Grundgege-
benheiten als wissenschaftlichen Ankergründen. Und so zeichnen seine Kon-
struktionen ein Weltbild, das einer künftigen wissenschaftlichen Philosophie
die vermutlichen Wege vordeutet. Leibniz konstruiert sich die metaphysische
Wirklichkeit als eine spiritualistische, eine Generation vor Berkeley macht
er, der Rationalist, den Schritt, alles absolute Sein als geistiges Sein zu deuten.
Wie kommt er dazu?

1 Randbemerkung Er spricht sie ja auch in seinen Erörterungen immer wieder direkt aus.
leibniz 445

Fragen wir „Was kann die Welt in metaphysischer Wahrheit sein?“, so ist
uns die Welt schon durch Erfahrung und Erfahrungswissenschaft gegeben.
Religion und Dogma haben zu ihr Stellung genommen und sie in Bezug
zu Gott gesetzt. Vermeintlich wissen wir, was die Welt ist: Eine Welt von
Körpern und Geistern, wie die Religion sagt: von Gott geschaffen und erhal-
ten. Die mathematische Naturwissenschaft werden wir dabei von vornherein
nicht bekritteln wollen; sie hat ihr sicheres Recht; es muss also auch richtig
sein, dass die materiellen Dinge sind und in ihrer Sphäre die Naturgesetzlich-
keit, ein strenger Mechanismus, herrscht. In der materiellen Natur, in der
in der neuen Naturwissenschaft exakt mathematisch erkannten Natur, treten
auch Leiber auf und, mit diesen vereint, geistige Subjekte, mit den Leibern,
wie es scheint, durch psychophysische Kausalität verbunden. Hat Descartes
recht, wenn er diese Auffassung philosophisch unter Übernahme der ma-
thematischen Naturwissenschaft in der bekannten Deutung sanktioniert, die
Welt der endlichen Substanzen auf zwei gleichberechtigte Grundarten von
Realitäten, mathematisierte Körper und Geister, zurückführt, wobei alle
diese endlichen Substanzen unter Dingkausalität stehen sollen und bloße
Träger mathematischer Bestimmungen sein sollen? Aber Recht soll nun
auch die teleologische Weltanschauung, die der Religion, haben, mit der
der Mechanismus oder Kausalismus der naturwissenschaftlichen Auffassung
unverträglich zu sein scheint.
Überlegen wir zunächst: Kann die dualistische Auffassung der beiden
gleichberechtigten Substanzen gültig sein? Offenbar stehen sie einander gar
nicht gleich, wie das schon bei Descartes eigentlich hervorgetreten war.
Nämlich nicht gleich hinsichtlich ihrer Erkenntnisweise: Der Erkennende
hat nur von sich unmittelbare Gegebenheit und zweifellose Erkenntnis, nicht
aber von der materiellen Welt, die in seinen Erfahrungen erfahrene, aber in
ihnen nicht reell enthaltene und gegebene Welt ist. Was kann aber eine
Welt sein, die sich in mir, in meinem Geist, dem einzigen Sein, von dem ich
absolut weiß, bekundet? Kann sie eine Welt ungeistiger Substanzen, kann
sie prinzipiell von einer mir, als einem Geiste, absolut fremden Seinsart sein?
Von vornherein muss man sagen: Bin ich für mich das einzige absolut
Gegebene, so kann ich nur aus mir selbst die Grundbegriffe rationaler
Erkenntnis schöpfen; alles was ich mir vernünftig denke und aus absoluten
Gründen, muss ich nach seinen Elementen, Grundkategorien aus mir selbst
entnommen haben, also auch wenn ich Substanzen außer mir annehme und
dabei den Substanzbegriff als rationalen Grundbegriff verwende! Ich habe
ihn aus mir selbst geschöpft, und nur daraus gewinnt er seinen möglichen
Sinn. Welchen Inhalt muss der Substanzbegriff als aus meinem eigenen Sein
446 einleitung in die philosophie

geschöpfter besitzen? Unser Sein ist Subjektsein, Subjektsein ist Tätigkeiten


zu üben und üben zu können. Was sind das für Tätigkeiten? Es sind offenbar
Bewusstseinstätigkeiten, vorstellende, wie Leibniz sagt. Zu den Vorstellun-
gen gehören aber Tendenzen; Bewusstsein ist nicht isoliert, es ist immerfort
motiviert, aus Bewusstseinstendenzen hervorgegangen und in sich wieder
weiter tendierend zu neuem Bewusstsein. Scheinbar sind wir nur gelegentlich
aktiv und zumeist sogar passiv. Diese Passivität heißt „Sinnlichkeit“, der wir
gegenüberstellen die Spontaneität des Verstandes und Vernunftwillens.
Aber Passivität ist eine bloß niedere Stufe der Spontaneität, Sinnlich-
keit nur eine verworrene Unterstufe des Verstandes; durch kontinuierli-
chen Übergang führt das Niedere in das Höhere über. (Dass es sich hier
um eine transzendental-psychologische Konstruktion handelt, haben wir
besprochen.) Das also gehört zum Wesen der Substanz, das wir aus uns
selbst schöpfen. Da wir nun, was irgend wir als Substanz sollen denken
können, uns gemäß dieser Substanzkategorien vorstellen müssen, so kann
es nur eine Grundart von Substanzen geben. Alle Substanzen müssen von
der Art unserer Subjektivität sein, müssen Geister sein. Nur in der Stufe der
Klarheit und Deutlichkeit bzw. der Verworrenheit des Vorstellens und damit
in der Vollkommenheitsstufe der Geistigkeit können Unterschiede beste-
hen, wie wir solche Unterschiede in uns selbst in verschiedenen Perioden
unseres Daseins finden, nämlich unter den Titeln „Ohnmacht“, „Schlaf“,
„Wachen“ u. dgl. Es ist denkbar, dass geistige Wesen immerfort in die-
sem völlig dumpfen Bewusstseinszustand sind, den wir „Ohnmacht“ oder
„traumlosen Schlaf“ nennen. Andere mögen ein bloßes Sinnenleben füh-
ren wie die Tiere und vorwiegend die Wilden; wieder andere nur höchste
Stufen der Klarheit und Deutlichkeit in sich realisieren wie wir, wenn wir
wissenschaftlich denken.
Diese Geister, die also außer uns existieren und die das wahre Sein der
Welt ausmachen, sind nun, wie Leibniz weiter ausführt, starr gegeneinander
geschlossene Einheiten; jede, einzeln betrachtet, ist eine unteilbare Einheit.
Ein Subjekt (das hatte schon Descartes’ vi. Meditation eindringlich ausge-
führt) lässt sich nicht zerstücken, darum aber auch nicht zusammenstücken:
Geister können sich nicht verbinden so, wie wir uns Körper zerstückt und
wieder zusammengestückt, so, wie wir uns aus mehreren Körpern neu zu-
sammengesetzt denken. Geister können auch nicht aufeinanderstoßen, kön-
nen nicht in der Art physischer Körper Kausalität aufeinander üben, nicht
etwas von außen aufnehmen, etwas aufeinander übertragen, sich Verände-
rungszustände, wie im Stoß, mitteilen usw. Die Monaden, so nennt Leibniz
die geistigen Einheiten, haben keine Fenster, sie sind völlig gegeneinander
leibniz 447

abgeschlossen; alles, was in ihnen ist, ist ihre Bewusstseinsaktion, die von
ihrem Sein untrennbar ist; und Bewusstsein geht in einer festen Regelung
des Forttendierens in neues Bewusstsein über, ein absolut abgeschlossener
Zusammenhang. Und doch fehlt ihnen nicht jede intersubjektive Einheit,
wenn auch reale Verbindung fehlt: Die Monade stellt vor. Vorstellen als
ein Bewusstsein kann etwas vorstellen, was es ist nicht selbst ist. Vorstellend
beziehen sich die Monaden aufeinander und alle aufeinander: In jedem dieser
Einheitspunkte spiegelt sich gleichsam die ganze absolute Wirklichkeit in
Form von Repräsentationen.
Aber wie steht es nun mit der materiellen Welt? Die Naturwissenschaft
setzt doch die Materie aufgrund der Erfahrung und bestimmt sie in objektiver
Wahrheit durch rationale Begriffe. Materie existiert also und existiert mit
den Bestimmungen, die ihr die mathematische Naturwissenschaft zuerteilt.
Wie verträgt sich das mit der Lehre, dass alles Sein monadisches Sein ist?
Leibniz würde darauf antworten: Die Geltung, die wir der gemeinen Er-
fahrung faktisch zuschreiben, und in höherer Stufe die Geltung der natur-
wissenschaftlich bestimmten Materie, jede hat auf ihrer Stufe die Wahrheit,
aber das ist nicht die endgültige, die metaphysische Wahrheit. Die wahr-
genommenen Dinge und Vorgänge, der Wahrnehmungsraum, die Zeit, die
erfahrenen Kausalitäten, all das sind bloße Phänomene, aber phaenomena
bene fundata. Als das stellt sie schon die wissenschaftliche Physik hin, sie
fasst die sinnlichen Erscheinungen der Wahrnehmungen in ihrem geordneten
Wahrnehmungsverlauf als Existenzzeichen auf für die wahren physischen
Dinge und letztlich also für die Atome, die aber, genau besehen, ihr nichts
weiter sind und sein können als reale Einheitspunkte, die als Träger von
Kräften fungieren. Zu den Kräften gehören aber Gesetze, deren Kenntnis
es ermögliche, den Verlauf des realen Geschehens zu rekonstruieren, denen
aber auch Regeln der immanenten Erscheinungen und ihrer empirischen
Zusammenhänge entsprechen.
Was besagt das nun aber: Kraftpunkt und Kräfte? Da die einzig wahre
Vorstellung von Kraft uns auf Tätigkeit und damit auf Subjektivität, auf
monadisches Sein zurückführt, so löst sich alle Schwierigkeit, wenn wir sagen:
Die unsinnlichen Atome, die der Physiker mit Kräften, mit zugehörigen
mathematischen Kraftgesetzen ausstattet, sind nichts anders als Monaden
und wir selbst, die naturwissenschaftlich Erfahrenden und Erkennenden,
sind auch Monaden. Wir alle haben eine gemeinsame sinnliche Welt mit
einem gemeinsamen Raum, einer gemeinsamen Dinglichkeit usw. Das heißt,
in uns allen laufen in zusammenstimmender Weise sinnliche Phänomene
ab und nach zusammenstimmenden Reglungen, des Näheren aber so, dass
448 einleitung in die philosophie

jeder rational Erkennende aus dem Gehalt und Verlauf der Phänomene
dieselbe rationale Physik schöpfen kann, dass er in gleicher Weise seinem
Weltphänomen eine und dieselbe Atommannigfaltigkeit unterlegen kann
und muss. Metaphysisch besagt das aber: Es besteht eine gewisse Mannigfal-
tigkeit von monadischen Punkten mit einem geregelten Lauf von sinnlichen
Phänomenen: die wahre Welt im letzten Sinne.
Diese spiritualistische Interpretation der Welt ermögliche nun die er-
sehnte teleologische Weltanschauung. Was ist der Grund für die faktische
Aufeinanderbezogenheit der Monaden, für diesen wunderbaren Accord, ver-
möge dessen alle in solcher Weise mit Phänomenen verworrener Sinnlichkeit
ausgestattet sind, dass sie sich als mit phänomenalen Leibern ausgestattete
Menschen auffassen und sich in eine und dieselbe sinnlich anschauliche Welt
hineinversetzt finden können und weiter dass in allen die phänomenalen
Abläufe im Sinne derselben Naturwissenschaft theoretisiert werden können?
Diese Harmonie ist doch keine Denknotwendigkeit, sie ist eine Tatsache und
muss als ein Fall unter unendlich vielen möglichen Fällen, ihren realen Grund
haben. Das ist natürlich Gott.1 Es ist eine gottgewollte, von Gott gestiftete
Harmonie. Schon darin haben wir ein Stück universeller Teleologie und
dann weiter, wenn wir uns diese Erfahrungswelt ansehen und sie, je weiter
wir gehen, mit umso größerer Schönheit und Zweckmäßigkeit ausgestattet
finden usw. Aus der empirisch zu konstatierenden Teleologie ist der Schluss
auf ein teleologisches Prinzip im Sinne des teleologischen Gottesbeweis
zu machen und nach Leibniz in der Tat auf ein unendlich vollkommenes
Wesen, das den Seinsgrund für jedes einzelne monadische Sein und für die
vollkommenste Harmonie des Ganzen abgibt. Freilich endet das in Mystik,
sofern, was das Hervorgehen der Monaden aus Gott, der zentralen Monade,
anlangt, Emanation in Aktion tritt.
An diesem bedeutenden und relativ einfachen Beispiel einer konstrukti-
ven Metaphysik sehen Sie das Eigentümliche der konstruktiven Methode,
die immer regressiv ist von vorgegebenen Überzeugungen zu den Bedingun-
gen ihrer Möglichkeit. Natürlich verfährt auch jeder streng-wissenschaftliche
Forscher gelegentlich konstruktiv: Nämlich in seinem erfindenden Gedan-
kengang lässt er sich von Vorausahnungen leiten, deren er vielleicht im
Voraus stark zuneigt, und regressiv sucht er sich nun im Voraus einen mögli-
chen Weg zu gestalten, der über schon feststehende Wahrheiten als Etappe

1 Randbemerkung Der Schluss auf Gott, auf einen geistigen realen Grund der Harmonie, ist

offenbar derselbe auch bei Berkeley.


leibniz 449

zu dem vermuteten Resultat führen dürfte. Aber mit all dem ist für ihn nur
ein Anschlag gewonnen, das Bild einer vielleicht auszuführenden Theorie,
während die wirkliche Arbeit progressiv ist, in jedem Schritt von erwiesenen
Daten zu neu erwiesenen, und das Ende ist in der Regel eine wesentlich
anders lautende, wenn auch vielleicht dem Typus nach ähnliche Theorie
und andere Ergebnisse, die den leitenden Ahnungen keineswegs ganz, wenn
überhaupt, entsprechen werden.
Es ist die Art dogmatistischer Philosophie nach Art der Leibniz’schen,
dass sie zwar den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, aber ihre Vor-
anschläge für erwiesene Theorien ausgibt. In der Philosophie darf man nicht
laxer sein wie in anderen Wissenschaften, im Gegenteil: Sie wird ihrem
eigenen Sinn untreu, wenn sie irgend die äußerste und peinlichste Strenge
vermissen lässt. Sie soll ja die Wissenschaft aus den letzten Gründen und
von der endgültigen Wahrheit sein. Der Grund liegt aber doch darin, dass
man keine Klarheit über den Boden der ausführenden Arbeit und über
die auf ihm vorgeschriebene Methode gewinnen kann für eine progressive
Untersuchung und für diese ausführende Arbeit selbst.
Wir haben jetzt in Anknüpfung an Leibniz von den Anfängen einer
apriorischen Ontologie zu sprechen, worüber sich freilich die gewöhnlichen
historischen Darstellungen der Leibniz’schen Philosophie ausschweigen, ob-
schon in dieser Richtung wenigstens m. E. eines der bleibendsten Verdienste
Leibniz’ für die künftige wissenschaftliche Philosophie liegt. Wir sind hin-
reichend vorbereitet, um den sachlichen Fortschritt, den er vollzieht, nicht
mühsam aus seinen Anfängen herauskritisieren zu müssen. Es wird hier
vorteilhafter sein, ein Stück sachlicher Darstellung zu geben und dann das
Aufgewiesene auf Leibniz zurückzubeziehen. Ich erinnere zunächst an die
aristotelische Idee der Ersten Philosophie als Wissenschaft vom Seienden
in Allgemeinheit. Ihr Thema ist, genauer gesprochen, aber nur das Seiende
im Sinne der realen Wirklichkeit und die auf sie bezogenen allgemeinen
Wahrheiten.
Ziehen wir die fundamentale Scheidung Leibnizens heran zwischen ratio-
nalen Wahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Die einen sind als unbedingte
Allgemeinheiten und Notwendigkeiten anzusehen, und es liegt in ihrem Sinn,
dass sie nicht die leiseste Behauptung über ein wirkliches Dasein machen;
die anderen, umgekehrt, sprechen von wirklichem Dasein, das nur durch
Erfahrung gegeben werden, nur auf ihrem Grund erkannt werden kann. Wir
nennen die einen auch „apriorische Wahrheiten“, eben weil sie ohne Re-
kurs auf Erfahrung zur Erkenntnis kommen, die anderen „aposteriorische“.
Im Übrigen halten wir alle die schiefen Ursprungslehren wie die von der
450 einleitung in die philosophie

Eingeborenheit der ersteren von der Definition fern. Dies vorausgesetzt ist es
verständlich, wenn wir sagen, dass in der Ersten Philosophie des Aristoteles
keine apriorische Seinslehre vorliegt und dass er überhaupt nicht daran
denkt, die Wahrheiten, die sich auf das Reale überhaupt in umfassendster
Allgemeinheit beziehen, scharf zu sondern und zwei Disziplinen zu bilden:
eine a priori und eine a posteriori. Machen wir uns zunächst klar, dass es in
der Tat mancherlei apriorische Wahrheiten gibt, die für Seiendes überhaupt,
für Gegenstände als solche in unbedingter Allgemeinheit gelten, und dass zu
diesen apriorischen Allgemeinheiten Begriffe gehören, die als reine Begriffe
uns an keine Sphäre empirischer Tatsachen binden. Weiter denkt Aristoteles
noch nicht daran, der Metaphysik als der Lehre vom Realen überhaupt
gegenüberzustellen eine Wissenschaft vom Seienden überhaupt. Denn nicht
alles Seiende ist ein Reales.1
Halten wir uns zunächst irgendeinen empirischen Begriff vor Augen, d. i.
ein empirisches Prädikat, durch das wir einen Gegenstand überhaupt be-
stimmt denken, etwa den Begriff eines Europäers. Sofort denken wir dabei,
das liegt offenbar in der Intention des Begriffs, an den Weltteil Europa. Der
Begriff verliert seinen Sinn bzw. die Möglichkeit, prädikativ zu fungieren,
wenn wir den Boden der gegebenen Welt, der Welt der Erfahrung preisgeben.
Genau besehen, gilt das für die meisten Begriffe des gewöhnlichen Lebens,
auch für die Begriffe der Zoologie und Botanik u. dgl. „Löwe“, das ist ein
Index für Bestimmungen, die teils aus der Erfahrung gewisser Tiere schon
gewonnen sind, teils noch ergänzt werden würden, wenn wir immer in der
Erfahrung dem nachgehen würden, was solchen Tieren auf der Erde allge-
mein zukommt. Demgegenüber gibt es „reine“, nämlich von aller Beziehung
auf Feststellungen faktischer Erfahrung reine Begriffe. Nehmen wir gleich
Begriffe von einer umfassendsten Anwendbarkeit, wir nennen sie formal-
allgemeine, so allgemein, dass jeder erdenkliche Gegenstand überhaupt ih-
nen untersteht. Da haben wir gleich eben diesen Begriff „Gegenstand“, der
nicht etwa besagen soll räumlich-zeitliches Ding, nicht Ding der Erde, nicht
Ding im Weltraum, auf der Sonne usw. überhaupt nicht Ding, nicht Reales,
sondern Gegenstand überhaupt, etwas überhaupt. Und sogleich haben wir
da eine ganze Kette solcher Begriffe: Beschaffenheit überhaupt, Beziehung

1 Gestrichen Machen wir uns das klar, denn es ist, die Geschichte der Wissenschaften und

die der Philosophie haben es gelehrt, von ungeheuer prinzipieller Bedeutung, Apriori und
Aposteriori, rein rationale und empirische Erkenntnis scharf zu sondern und in eigenen Diszi-
plinen systematisch zu erforschen, was a priori für Gegenstände überhaupt gilt, also sofern sie
ausschließlich durch reine Begriffe bestimmt gedacht werden.
leibniz 451

überhaupt, Verbindung, Verknüpfung überhaupt (nämlich Verknüpfung zu


einem Ganzen), also auch Ganzes und Teil; ferner Kollektion, Menge über-
haupt, Reihe überhaupt, Anzahl überhaupt usw. Ordinalzahl überhaupt,
Quantität und Quantitätszahl usw.
Kaum habe ich das letzte Wort genannt, ist uns auch schon klar, dass
es längst ganze Wissenschaften gibt, die sich auf Gegenstände überhaupt,
ausschließlich bestimmt gedacht durch solche formalen allgemeinen Begriffe,
also a priori beziehen. Es gibt ja eine Wissenschaft von den Anzahlen und
von den Ordinalzahlen und sonstigen Zahlen, beschäftigt mit Gegenständen
überhaupt, sofern sie rein und ausschließlich als durch Zahlenbestimmun-
gen bestimmt gedachte sind. Sagen wir „eine Zwei“, so meint das irgendet-
was, das durch „Eins und Eins“ bestimmt gedacht ist; und Eins das kann
hier alles und jedes sein, nämlich jedes Etwas ist als Eins zu zählen. Es
ist mit jedem anderen Etwas zusammenzunehmen und dann Eins und Eins
anzusetzen. Sagen wir „2 + 3 = 5“, so sprechen wir eine Wahrheit aus, die auf
jede erdenkliche Seinssphäre sich bezieht, sofern in jeder jedwedes Etwas als
Eins anzusetzen und dann für die in der Zählung erfassten Anzahlen dieser
Satz als unbedingt gültiger auszusprechen ist. Ebenso verhält es sich mit den
Begriffen „Ordnung“ und „Relation“. Relationen sind es, die in gewissen
Weisen bestimmend verbinden, Ordnungsbeziehungen darstellen. Alles und
jedes kann auf jedes andere bezogen gedacht werden und in formaler Allge-
meinheit können wir Beziehungsformen unterscheiden wie die umkehrbaren
und nicht-umkehrbaren Beziehungen; wir können Formen von Ordnungen
uns vorstellig machen und in Bezug darauf die Begriffsbildungen entwerfen,
die da „Ordinalzahlen“ heißen.
Sagen wir „Vater und Sohn“, so bezeichnen diese Worte keine for-
mal bestimmte Beziehung, ebenso „rechts und links“ usw. Sagen wir aber
„Beziehung überhaupt“, „Verschiedenheitsbeziehung“, „Gleichheitsbezie-
hung“, „umkehrbare Beziehung“ u. dgl., so sind das formal gedachte Bezie-
hungen; es sind Formen, die uns prinzipiell nicht an eine gegebene Seinss-
phäre binden. Wir sehen, dass wir nicht nur an kein empirisches Dasein
gebunden sind, sondern auch an keine apriorische, aber sachhaltige Gegen-
standsbestimmung. Es tritt da sogleich uns entgegen der Unterschied des Ma-
terialen und Formalen in der rein begrifflichen, in der apriorischen Sphäre.
Sie sehen ja klar, dass geometrische Begriffe wie „Gerade“, „Viereck“ u.
dgl. auch reine Begriffe sind und dass die mit ihnen ausschließlich operie-
rende Geometrie nichts über wirkliches Dasein in der Welt aussagen will
und kann. Sowenig ein arithmetischer Satz aussagt, dass es eine Erde gibt,
Dinge usw., sowenig er irgendein faktisches Dasein setzt, während er doch
452 einleitung in die philosophie

vermöge seiner unbedingten Allgemeingültigkeit in der Anwendung für je-


des hic et nunc gegebene Reale in Anspruch genommen werden kann, so gilt
dasselbe für die geometrischen Sätze. Ihre reinen Begriffe sind aber obschon
reine, doch beschränkte, sie haben einen sachhaltigen Sinn, der nicht jedem
erdenklichen Gegenstand überhaupt zugemutet werden kann, nicht jedem
in apriorischer Wahrheit notwendig zugehört. Es wäre sinnlos, den Begriff
der Geraden oder sonstige rein geometrische Begriffe in der Geistessphäre
anwenden zu wollen; ein Geist, ein geistiger Zustand, Geistiges jeder Art ist
weder rund noch eckig, es schließt Raumbestimmungen wesensmäßig aus.
Dagegen wäre es widersinnig, der Geistessphäre zahlenmäßige Zählbarkeit,
Anwendung von Zahlenprädikaten abstreiten zu wollen, denn das gehört
zur jeder Gegenstandssphäre überhaupt, in der weitesten Weite des Etwas
überhaupt.
Da kontrastieren sich uns also zwei Typen von apriorischen Wissenschaf-
ten: die eine exemplarisch repräsentiert durch die reine Arithmetik, die reine
Lehre von den Anzahlen, die reine Ordinalzahlenlehre (wir können auch
hinzufügen: die formale reine Größenlehre u. dgl.); die andere repräsentiert
sich uns exemplarisch durch die reine Geometrie. Die Scheidung liegt ge-
gründet in der Scheidung der apriorischen Begriffe in formal-apriorische und
material-apriorische und darin, dass die einen Wissenschaften alle material-
apriorischen Begriffe ausschließen, die anderen nicht. Formal-apriorische
Begriffe und zugehörige rein formale Wahrheiten als auf alle erdenklichen
Seinssphären, also Wissenschaftssphären, anwendbar, treten natürlich gele-
gentlich in allen Wissenschaften auf bzw. finden in allen ihre Anwendung:
so in der Geometrie die reine Arithmetik und die sonstige rein formale
Mathematik. Dagegen kann in den rein formalen Disziplinen kein materialer
Begriff und kein zugehöriger material-apriorischer Satz Anwendung finden;
er beschränkt und bindet ja die Allgemeingültigkeit, hebt also sofort die
weiteste Weite der Geltung, die formale, auf.
Es war das Schicksal der Entwicklung menschlicher Wissenschaft und
Philosophie, dass so einfache und jedem Anfänger zugängliche Scheidungen
Jahrtausende gebraucht haben, um zur Klarheit zu kommen und den Gang
der Erkenntnis zu bestimmen. Also Aristoteles hat sie noch nicht, obschon
doch Stücke apriorischer Wissenschaften beiderlei Typus schon ausgebildet
waren und obschon er schon an den Unterschied zwischen apriorischer und
empirischer Erkenntnis rührte, ohne doch Sinn und Tragweite des Unter-
schieds fassen zu können. Dabei rühmt man nicht mit Unrecht sein unsterb-
liches Verdienst um die Begründung der formalen Logik, die selbst mit zu
den formal-apriorischen Disziplinen gehört. Doch hier muss ich in nähere
leibniz 453

Erörterungen eingehen, da es sich um eine Disziplin handelt, an die man, wo


von Philosophie die Rede ist, sogleich mitzudenken pflegt, während das bei
der Arithmetik nicht der Fall ist, und da die formale Logik, wie wir sagen
müssen, mit allen anderen formalen Disziplinen wesentlich in eine Einheit
zusammengehört. Man wird es fast als Paradox empfinden, dass wir formale
Logik und Arithmetik hier zusammen tun, man wird uns vorwerfen, dass wir
sie in einen Topf zusammenwerfen wollen.
Gewöhnlich sagt man: Die Logik ist die Lehre von den Formen und Geset-
zen des richtigen Denkens, sie hat gegenüber den psychologischen Gesetzen,
die das faktische menschliche Denken empirisch regeln, gleichgültig, ob es
richtig oder falsch ist, die normativen Gesetze herauszustellen, an die das
Denken gebunden ist, wenn es die Wahrheit erreichen soll. Schon seit dem
Altertum, schon seit Aristoteles herrscht dabei der erkenntnis-praktische
Gesichtspunkt vor, geradezu liebt man es, die Logik als Kunstlehre des
Denkens oder ganz allgemein des Erkennens zu definieren. Dabei geht
in der lehrhaften Behandlung, eben weil es sich um normative Regelung
unserer menschlichen Erkenntnis handelt, psychologisch Empirisches und
Apriorisches ineinander. Auch fehlte es an radikalen Scheidungen, die zur
richtigen Beurteilung der Hauptrichtungen der unter dem Titel „Logik“ ver-
suchten wissenschaftlichen Forschungen notwendig waren. Vor allem musste
scharf auch hier geschieden werden: Apriori und Aposteriori. Sagt man zum
Beispiel: Ein Urteil, eine Behauptung, in der ein Widerspruch behauptet,
in deren Urteilsgehalt ein Widerspruch, mindest verborgen, beschlossen ist,
ist unbedingt falsch, so ist das offenbar ein apriorisches, ein unbedingt und
allgemein gültiges Gesetz, das von dem Menschen und dem menschlichen
Seelenleben nichts sagt und dadurch also auch nicht gebunden, beschränkt
ist. Dagegen sind zum Beispiel Normen der Terminologie weil auf psycho-
logische Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur Rücksicht nehmend,
natürlich empirisch bedingte.
Weiter fehlte eine Scheidung, die ganz fundamental ist, die zwar (nach
Aristoteles) die Stoa gesehen hat, die aber bis in die allerneueste Zeit völlig
versunken war und erst wieder entdeckt werden musste: Die Scheidung
zwischen dem Denken als dem Akt des Denkens, als dem Bewusstseinser-
lebnis des Urteilens, zum Beispiel des mit aussagenden Worten verbundenen
Meinens, und andererseits dem Urteilsinhalt, dem Bedeutungsgehalt des Ur-
teilens, dem in dem Urteilen vermeinten Was. Das Identische, zum Beispiel
das der Wortlaut „2 × 2 = 4“ ausdrückt, das, was dabei gemeint ist und was
dasselbe ist, ob für die deutschen Worte lateinische, griechische und sonstige
Wortlaute eingesetzt werden, dieses Identische ist der Bedeutungsinhalt, es
454 einleitung in die philosophie

ist der vermeinte Sachverhalt als solcher und genau in der Weise, mit den
begrifflichen Bestimmungen, in den Formen, in der er eben da vermeinter ist.
Das Urteilen ist ein fließendes Phänomen und ein flüchtig Vorübergehendes,
es ist immer wieder ein neues, wenn ich oder jemand sonst so urteilt. Aber das
identisch Gemeinte „2 × 2 = 4“, was wir schlechthin den „Satz“ nennen, ist
ein und dasselbe. Und Satz in diesem gewöhnlichen Sinne ist nicht Wortlaut
und nicht Urteilen, sondern Gemeintes, eine ideal-identische Einheit, die
Bedeutung, der identische Sinn. (Ich habe dafür den Terminus „Noema“
eingeführt.)
Das gibt nun zu zweierlei Forschungen Anlass. 1) Einmal kann man den
Blick auf den Satz (oder, wie man vieldeutig auch zu sagen pflegt, auf das
Urteil) gerichtet haben, auf das Noema. 2) Das andere Mal auf das Urteils-
bewusstsein, das Urteilen, auf die Urteilsnoesis. Überlegen wir das Erstere:
In der urteilenden Einsicht lebend, sie vollziehend, erfasst man an dem
Satz die Eigentümlichkeit der Wahrheit, die also mit in diese Blickrichtung
gehört. Im Versuch, einen Widerspruch zu vollziehen, erfasst man einsichtig
am widersprechenden Sinn oder Urteilsinhalt die Falschheit, die also wieder
hierher gehört. Es ist genau die Einstellung, die wir arithmetisch haben.
Zählend und rechnend vollziehen wir arithmetische Akte, aber der Blick ist
gerichtet auf die damit bewusst werdenden Zahlen und ihre Charaktere.1
In dieser Blickstellung forschend, können wir entdecken, dass zu diesen
idealen Einheiten, die wir da unter dem Titel „Sinn“ oder „Bedeutung“
erfassen, gewisse mögliche Formen gehören, dass diese notwendig unter
einem Formensystem stehen, speziell, dass Bedeutungen sich abschließen
zu selbständigen Sätzen mannigfaltiger und geregelter Formen; dass dann
weiter alle Sätze unter dem Gegensatz wahr und falsch stehen und dass
dazu dann weitere Gesetze gehören, welche Bedingungen der Möglichkeit
der Wahrheit und Falschheit aussprechen, und zwar Bedingungen, die an
der bloßen Form hängen. Das ist die Sphäre der eigentlich formalen Logik,
die Sphäre, die Aristoteles de facto in der von ihm so genannten Analytik
behandelt, aber keineswegs selbst richtig interpretiert hat.
Es ist von einer nicht genug hoch zu schätzenden Bedeutung für die
philosophische Einsicht in der Stufenfolge der Wissenschaften, sich dessen
zu vergewissern, dass Urteilsakt und Urteilsbedeutung, Noesis und Noema
nicht vermengt werden und erkannt wird, dass das Noema das Feld einer

1 Randbemerkung Wir sprechen von der doppelten Forschungsrichtung beim Denken, Be-

greifen, Urteilen. Forschungsrichtung des Noema, wie in der Arithmetik.


leibniz 455

eigenen formalen Wissenschaft ist, die es gar nicht mit dem Denken, mit dem
Urteilen und Begreifen, sondern mit Urteilsbedeutungen und Begriffen zu
tun hat. An sich sind diese Sachen leicht klarzumachen. Am geurteilten Was,
am Satz selbst, erfassen wir Formen und erkennen, dass a priori jeder Satz
eine Form hat, die in reiner Allgemeinheit herauszustellen ist: An mehreren
Sätzen gleicher Form erfassen wir sogleich die allgemeine und reine Form; es
ist gleich, ob es richtige oder falsche Sätze sind. Stellen wir etwa nebeneinan-
der „alle Menschen sind sterblich“, „alle Deutschen sind Barbaren“, „alle
Engländer sind Engel“ u. dgl., es springt da der formale Typus hervor, den
wir in den Worten aussprechen, wie das schon Aristoteles getan hat, „alle A
sind B“.
Ebenso verstehen Sie die Formtypen heraus aus den Bezeichnungen
„einige A sind B“, „dieses A ist B“. Ebenso den Unterschied des Affir-
mativen und Negativen, „ein A ist B“, „ein A ist nicht B“ usw. Sie erfassen
da zugleich den Gegensatz von Form und Materie in formal-logischem Sinne.
Das A ist Zeichen für eine beliebige „Materie“, das heißt, in jedem wirklich
vollständigen Satz drückt das A ein Sinnesmoment aus, das wechselt von
Satz zu Satz, aber so, dass die logische Formung gleich bleiben kann, die
des allgemeinen Satzes, des partikulären Satzes, des singulären etc. Wir
sehen an diesen Beispielen zugleich, dass die Formen so rein herausgestellt
sein können, dass mit ihnen eine Allgemeinheit erwächst, die wieder auf
jede erdenkliche Gegenstandssphäre Beziehung annehmen kann oder, was
dasselbe, in jeder möglichen Wissenschaft vorkommen kann. Wissen ge-
winnen wir in Form von Urteilen, logisch gesprochen, von Aussagesätzen.
Im Urteilen beziehen wir uns auf beurteilte Gegenstände, aber notwendig
geschieht das so, dass wir im Urteilen einen Satz bewusst haben, der Satz über
diesen Gegenstand ist. Vermittels der Bedeutung ist der Gegenstand Urteils-
gegenstand. Ob wir nun Physik treiben oder Chemie oder Theologie usw.,
überall können „allgemeine“ oder „besondere“ Urteile auftreten, überall
müssen Urteile auftreten, die dem reinen Formensystem möglicher Urteile
oder Sätze zugehören. Das „alle“, das „einige“, das „ist“, das „nicht“, das
„wenn“ und das „so“, das „entweder“ und „oder“, all diese Formworte ent-
halten nichts, was von vornherein uns binde an die materielle Natur, an den
Geist, an Gott oder Engel usw. Aus diesen rein-logischen Formenelementen
baut sich aber jede Satzform auf. Anders ausgedrückt: So wie „Gegenstand“
ein formal-apriorischer Begriff ist, genau so ist nun in korrelativem Sinne
der Begriff „Satz“ ein formal-apriorischer Begriff, und wieder ist das ganze
System ideal-möglicher Satzformen, Formen die zur formalen Idee „Satz“
als solcher gehören, formal-apriori.
456 einleitung in die philosophie

Nun gehört aber – das führt erst in die logische Normenlehre – zu den
Satzformen eine ideale Gesetzmäßigkeit, sowie wir sie unter dem Gesichts-
punkt der Wahrheit und Falschheit betrachten. Und ebenso unter parallelen
Gesichtspunkten der Möglichkeit und Notwendigkeit, der Zweifelhaftigkeit
usw. Halten wir uns an den Hauptgesichtspunkt der Wahrheit, so zeigt es sich,
dass nicht jede Satzform, also auch nicht jede beliebige aus Satzelementen
und ganzen Sätzen als Elementen gebildete komplexe Form, Form eines
wahren Satzes sein kann. Ein Widerspruch, zum Beispiel, bezeichnet eine
Form, aber eine Form, die kein wahrer Satz haben kann. Hierher gehört die
ganze Schlusslehre, genauer die Lehre von den rein logischen Verhältnissen
der Folge. Traditionell spricht man hier von deduktiven Schlüssen oder Syl-
logismen. Aus Sätzen können neue Sätze folgen, und der Zusammenhang
der Folge aus Prämissensätzen als logischen Gründen ist selbst eine der
hierhergehörigen Formen. Es gibt aber Gesetze, welche Bedingungen der
Möglichkeit der Wahrheit der schließenden Zusammenhänge und damit der
möglichen Wahrheit der Schlusssätze, wenn die Wahrheit der Prämissen
vorausgesetzt ist, ausdrücken. In forma zum Beispiel ist es evident, dass
jeder Schluss der Form: „wenn alle A B sind, und alle B C, so sind alle
A C“ richtig ist, andererseits der Schluss gesetzmäßig falsch ist „wenn alle
A B, und alle B C, so sind nicht alle A C“. Es ist ein falscher Schluss aus
zwei partikulären Prämissen einen partikulären Schlusssatz zu ziehen
usw. Aristoteles war es, der zuerst einige hauptsächliche Gruppen zusam-
mengehöriger Satzformen wie bejahende und verneinende, wie allgemeine,
besondere und einzelne herausgestellt und systematisch durchüberlegt hat,
welche Schlussformen, rein formal betrachtet, gesetzmäßig richtig sind und
welche nicht. Mit anderen Worten, er hat gewisse systematische Gruppen
von Wahrheits- und Falschheitsgesetzen rein formaler Art, bezogen auf die
reinen Satzformen, herausgestellt.
Zweierlei haben wir dabei gelernt: 1) Einerseits, dass eine rein auf die
idealen Urteilsinhalte, Urteilsnoemata, bezogene Forschung möglich ist, und
2) dass diese Forschung gerichtet sein kann auf die reinen Formen möglicher
Urteilsnoemata und die Gesetze der Wahrheit und Falschheit, sofern diese
durch die reine Form vorgezeichnet ist.1

1 Gestrichen Fügen wir nun noch einen weiteren Punkt hinzu: Es ist klar, dass diese formale

Disziplin ohne weiteres auch als eine solche aufgefasst werden kann, die sich auf Gegenstände
überhaupt in formaler Allgemeinheit bezieht, also als formal-ontologische, die auf alle mög-
lichen Gegenstandssphären überhaupt Beziehung hat. Offenbar hat jeder Bedeutungssatz der
leibniz 457

Wir fügen nun ein Wichtiges hinzu. Wir sprachen von formalen und
apriorischen Erkenntnissen, die sich auf Gegenstände beziehen, für Ge-
genstände in formaler Allgemeinheit Gesetze herausstellen, und in diesem
Zusammenhang kamen wir auf die Idee unserer formalen Disziplin von
den Urteilsbedeutungen, den Sätzen. Dass sie in der Tat in diesen Zusam-
menhang gehört, ist klar. Verstehen wir unter „Ontologie“ eine apriori-
sche Wissenschaft von Gegenständen irgendwelchen Umfangs und unter
„formaler Ontologie“ eine solche, welche die weiteste Weite der Gegen-
ständlichkeit umspannt, also all das erforscht, was zu Gegenständen als
irgendetwas gehört, die dabei ausschließlich durch formal-apriorische Be-
griffe bestimmt gedacht sind, dann ist die formale Logik, in dem von uns
bestimmten noematischen Sinne, in der Tat eine Disziplin der formalen
Ontologie. Die logischen Noemata sind ja Denkbedeutungen, durch die
Gegenstände überhaupt und in der Tat in formaler Allgemeinheit gedacht
sind. Ein Gegenstand muss notwendig im Denken mit irgendeiner Bedeutung
gesetzt sein, und derselbe Gegenstand kann als sehr verschieden bedeuteter,
mit verschiedenem Sinn ausgestatteter Urteilsgegenstand sein: wie gleich-
seitiges Dreieck und gleichwinkliges Dreieck. Es ist nun klar, dass Gesetze
für Formen von Bedeutungen hinsichtlich ihrer Wahrheit und Falschheit
zugleich den Wert von Gesetzen für Gegenstände, sofern sie in solchen
Formen bedeutet sind, besitzen müssen. Um es an einem primitiven Beispiel
zu zeigen: Spreche ich für kontradiktorische Sätze der reinen Formen „A
ist B“, „A ist nicht B“, das Gesetz aus „Je einer von diesem Paar ist wahr
und einer falsch“, so spreche ich freilich über Sätze, nicht über Gegenstände
überhaupt. Denn nicht alle Gegenstände sind Sätze. Aber es ist klar, dass eine
äquivalente Umwandlung das Gegenstandsgesetz gibt: Jedem Gegenstand
A überhaupt kommt von einem Paar kontradiktorischer Prädikate B und
nicht B eines zu und das andere nicht zu. Es wäre offenbar verkehrt, die
Logik der Sätze und aller ähnlichen Bedeutungen und die Wissenschaft
von den Gegenständen überhaupt, die formale Ontologie, trennen zu wol-
len.
Besprechen wir jetzt die korrelative noetische Forschungsrichtung, also
die auf das Urteilsbewusstsein. Seinem Wesen nach ist es Bewusstsein von

Logik zugleich gegenständlichen Wert: Es ist gleichwertig, zum Beispiel zu sagen von zwei
Sätzen, kontradiktorischen kategorischen Sätzen, ist einer wahr und einer falsch, und zu sagen:
Jedem Gegentand kommt von einem Paar kontradiktorischer Prädikate eines zu und das andere
nicht.
458 einleitung in die philosophie

Etwas, es hat seinen Sinnesgehalt und bezieht sich durch ihn auf Gegen-
ständlichkeit. Lostrennen lässt sich das vom Urteilsbewusstsein nicht.1 Was
das Urteilen, in seinen Aktgliederungen sich so und so aufbauend, meint,
das bestimmt immerfort mit sein eigenes Wesen. Wir können also das Urtei-
len und das Denken überhaupt in all seinen Gestaltungen und Leistungen
nicht studieren ohne immerfort mit die Beziehung auf sein Noema mit im
Auge zu haben. Studieren wir das Urteilen als seelisches Erlebnis, als Akt
des menschlichen oder tierischen Subjekts, erfahrungswissenschaftlich oder
eidetisch, so treiben wir Psychologie des Denkens (empirisch und rational).
Wir können aber das Urteilen als das reine cogito studieren und nach seinem
rein apriorischen Wesen fragen, was in diesem an möglichen Gestaltungen
liegt und wie es sich diesen gemäß a priori auf Gegenstände mittels ihm
zugehöriger Noemata bezieht. Ich brauche nicht zu sagen, dass wir damit
in der Erkenntnisphänomenologie stehen und der Erkenntnistheorie. Sie
sehen zugleich, dass die formale Logik, die Wissenschaft von den λγοι im
Sinne der Urteilsbedeutungen, rein objektiv und ohne Rücksicht auf Er-
kenntnistheorie behandelt werden kann, genauso wie die Arithmetik ohne
phänomenologisches und erkenntnistheoretisches Studium des arithmeti-
schen Bewusstseins. Andererseits sehen Sie aber, dass die Denkphänome-
nologie wesentlich mitbezogen sein muss auf die formale Logik und auf
die formalen Denkgehalte jeder Art: Jede logische Form und jedes logisch-
noematische Gesetz ist ein Index für mannigfaltige mögliche Denkerlebnisse,
deren noematischer Gehalt von dieser Form ist und gibt also einen Leitfaden
für phänomenologische Untersuchungen.
Wir verstehen nun die herrschenden Unklarheiten über die Begrenzung
des Begriffs „Logik“. Dem Hauptgehalt nach war die traditionelle Logik
seit Aristoteles formale Logik gewesen, Wissenschaft von den Satzformen,
den zugehörigen Begriffsformen, den Schlussformen usw.: noematische Wis-
senschaft. Statt aber diese Wissenschaft so rein herauszustellen wie die reine
Arithmetik, wurden die formal-logischen Lehren immer wieder vermengt
mit noetischen Ausführungen, dazu sehr oberflächlich, außerdem mit psycho-
logischen Ausführungen, die hereinkamen durch den Gesichtspunkt einer
praktischen, uns Menschen im Erkennen anleitenden Kunstlehre. Aber wie
wir reine Arithmetik und Rechenkunst scheiden und reine Geometrie und

1 Gestrichen Wird dieses also zum Forschungsobjekt und wird es zum Objekt einer apriori-

schen Forschung oder, was dasselbe, einer Wesensforschung, so umspannt dasselbe Noetisches
und Noematisches notwendig in seinen Wechselbeziehungen.
leibniz 459

Feldmesskunst, so müssen wir scheiden rein formale Logik als eine rein
theoretische Doktrin und die sie benützende, auf die empirische Eigenheit
des Menschen bezogene Kunstlehre des Denkens. Denn wenn man in der
Weise einer Technik menschlicher Vernunft das menschliche Denken und
Forschen nützlich so regeln will, dass der Zweck der Wahrheitserkenntnis
in möglichstem Umfang erreicht wird, so müssen natürlich die spezifisch
menschlichen Eigentümlichkeiten, d. i. die Psychologie seines Seelenlebens
in Rechnung gezogen werden.1
Die Betrachtungen, die wir soeben abgeschlossen haben, geben uns mit
der echten Interpretation der traditionellen formalen Logik als einer noe-
matischen Disziplin auch das Verständnis ihrer nahen, ja untrennbaren Be-
ziehung zu den sonstigen Erkenntnissen über Gegenstände in formaler All-
gemeinheit. Wir sprachen vorhin den Titel aus „formale Ontologie“ als Titel
einer Wissenschaft. In der Tat gehört doch zur Einheit einer Wissenschaft al-
les zusammen was an Erkenntnissen durch das erforschte Gegenstandsgebiet
als zusammengehörig gefordert ist. So sind alle Erkenntnisse formaler Art
zusammengehörig und zu einer Wissenschaft verbunden. Es gibt mancher-
lei Wissenschaften von besonderen gegenständlichen Gebieten, aber auch
eine Wissenschaft von Gegenständen überhaupt in weitester, eben formaler
Allgemeinheit. Die verschiedenen formalen Kategorien, die zu Gegenstän-
den gehören, wie Beschaffenheit, Beziehung, Ordnung, Menge, Ganzes und
Teil, Größe, Zahl usw. mögen verschiedene Sonderdisziplinen bedingen,
wie die formale Zahlenlehre, Mengenlehre, Ordnungslehre, Größenlehre
usw., aber die Grundgesetze aller dieser Disziplinen sind, weil eben auf
die Idee des Gegenstandes überhaupt bezogen, insgesamt durch apriorische

1 Gestrichen Machen wir einen Schritt weiter. Hat man einmal die Idee des formalen noemati-

schen und ontologischen Apriori erfasst, so ergibt sich notwendig die Idee einer allumfassenden
Wissenschaft mit vielerlei Disziplinen, in welcher alle Gegenstände überhaupt und die auf sie
möglicherweise zu beziehenden Bedeutungen und sie betreffenden Wahrheiten systematisch
entwickelt werden, eine universale Wissenschaft also vom formalen Apriori. In der Tat jedes
formale Apriori hat mit jedem eben durch die Beziehung auf die Idee des Etwas überhaupt, der
Gegenständlichkeit überhaupt, einen Zusammenhang, der sich in verbindenden apriorischen
Gesetzen auch nachweisen lässt, bezogen auf Gegenstände überhaupt und die Bedeutungen
überhaupt, durch die sie zu möglichen gedachten Gegenständen werden. Aus zufälligen histo-
rischen Gründen erscheint uns wie etwas völlig Getrenntes die formale Wissenschaft, die wir
Arithmetik nennen und dann weiter reine Analysis, andererseits formale Logik der Urteils-
noemata, weil zufällig seit Jahrhunderten das eine von Professoren der Mathematik und das
andere von Professoren der Philosophie vorgetragen wird. Erst die Neuzeit, die allerjüngste,
hat die Brücken hergestellt und die systematischen Gesetzeszusammenhänge, die hierüber und
hinüber laufen.
460 einleitung in die philosophie

Verbindungsgesetze miteinander verflochten. Hierher gehören auch die


auf Gegenstände überhaupt bezogenen Formen von Bedeutungen mit
ihren Bedeutungskategorien, wie „Satz“, „Begriff“, „Schluss“, „Prämisse“,
„Schlusssatz“ usw., deren Gesetze, wie wir sehen, sich in Gegenstandsgesetze
eo ipso umwandeln lassen. Eben vermöge dieser apriorischen Zusammen-
hänge, die alle formalen Theorien miteinander verflechten, sprechen wir von
einer apriorischen Ontologie mit einer Mehrheit von relativ abscheidbaren
Disziplinen.
Man darf sich hier nicht durch Vorurteile verwirren lassen. Nur aus zufäl-
ligen historischen Gründen erklärt es sich, dass wir die Mathematik als eine
Lehre von Quantitäten als eine völlig abgeschlossene und seitab stehende
Wissenschaft ansehen und dass es uns schwer angeht, dass mit der reinen
und formalen Quantitätslehre untrennbar eins sind auch andere Disziplinen,
die nichts von Quantitäten besagen. Insbesondere gilt das von der formalen
Logik. Es ist ein rein zufälliger Umstand, dass die einen Disziplinen von
den Professoren der Mathematik, die anderen von denen der Philosophie
vorgetragen werden. Die eigene und notwendig höhere Entwicklung der
Mathematik hat es mit sich gebracht, und zwar erst in der jüngsten Zeit,
dass die Mathematiker sich geneigt sehen, den Lehren formal-ontologischer
Forschung über die Quantitätssphäre hinaus nachzugehen, und so wurden sie
dazu geführt, von sich aus, unbekümmert um alle unbegründeten Proteste der
Philosophen, sich der formalen Logik zu bemächtigen. Was sie als mathema-
tische Logik (Logikkalkül) entwickelt haben, ist in der Tat nichts weiter als
eine exakte Neugestaltung der alten syllogistischen Doktrinen mit großen
Erweiterungen, die dann alsbald notwendig wurden, Neugestaltungen im
Geiste echter, mathematisch-formaler Methode. Und mit dieser Neugestal-
tung vollzog sich auch die Einordnung in den großen Zusammenhang des Ma-
thematischen im verallgemeinerten Sinne, den der formalen Ontologie. So
sind denn überhaupt die Mathematiker unserer Zeit, den innersten Motiven
ihrer Wissenschaft folgend, auf dem Wege, die Idee der formalen Ontologie
zu realisieren und systematisch alle möglichen Disziplinen aufzubauen, die
im Wesen derselben a priori beschlossen sind: ein höchst bedeutungsvoller
Abschluss einer Jahrtausende langen Entwicklung.
Wir haben früher hingewiesen, als wir von der formalen Logik sprachen,
auf den Wesenszusammenhang zwischen Noema und Noesis, und darauf,
dass korrelativ der formalen noematischen Logik eine noetische Logik ent-
spricht, welche die parallelen phänomenologischen und erkenntnistheoreti-
schen Probleme behandelt. Dasselbe gilt offenbar für die in vollem Umfang
genommene formale Ontologie. Gegenstände sind Gegenstände möglicher
leibniz 461

Erkenntnis, und wenn der Erkennende über Gegenstände in formaler Allge-


meinheit, also in Abstraktion von der Erkenntnismaterie, apriorische Wahr-
heiten ausspricht, wenn da ganze Wissenschaften wie die mathematischen
möglich sind, so bedarf es doch einer Forschung, welche den Blick von der
gegenständlichen und noematischen Einstellung reflektiv wendet in die noe-
tische Einstellung. In dieser Einstellung muss das System der Erkenntnisakte
studiert werden nach allen Wesensgestaltungen ihrer formbestimmenden
Strukturen, also nach allem, was für die formal-apriorischen Wahrheiten
konstitutiv ist.
Wie die Naturwissenschaft, so ist auch die Mathematik in unserem Sinne
dogmatische Wissenschaft, sie bedarf einer Ergänzung durch Erkenntnis-
phänomenologie und Erkenntnistheorie, wodurch erst der endgültige Sinn
und Wert der mathematischen Objektivität herausgestellt wird. Das aber ist
auch notwendig, wenn der Sinn der Anwendung der Mathematik auf Natur
erkenntnistheoretisch klar sein soll; und insofern hat es dann metaphysische
Bedeutung. Den Grundbegriffen der Mathematik und allgemeiner denen
der apriorischen Ontologie entspricht notwendig im Wesen des erkennen-
den Bewusstseins, im idealen System seiner mögliche Objektivität recht-
mäßig und einsichtig konstituierenden Gestaltungen, eine bestimmte und
scharf abgegrenzte Schicht. Jeder formalen Kategorie und jedem formal-
ontologischen Axiom entspricht ein System von gesetzmäßigen Erkenntnis-
strukturen, die phänomenologisch erforscht und unter dem Gesichtspunkt
möglicher Evidenz bzw. möglichen Rechtscharakters studiert werden müs-
sen.
Allgemein muss man sagen: Darin liegt die philosophische Bedeutung
des Durchbruches und der Realisierung einer aus apriorischen Gründen
abgeschlossenen und somit notwendig umgrenzten Wissenschaftsidee, dass
erst durch sie eine korrelativ abgegrenzte, wesensmäßig abgeschlossene
Problematik der Phänomenologie und damit der Philosophie ermöglicht
wird. Den prinzipiell umgrenzten Gegenstands- und Wissenschaftsregio-
nen müssen, das ist hier die fundamentale Einsicht, entsprechen prinzi-
piell, d. i. a priori umgrenzte Regionen des objektivierenden und Wissen-
schaft ermöglichenden Bewusstseins. Und eben damit wird erst eine echte,
systematische und dabei auf die endgültigen Wesensklärungen zurückge-
hende Philosophie möglich. Es ist daher Sache der Philosophie als der
Wissenschaft, die die Idee absoluter Erkenntnis als Leitstern hat, in den
zufälligen Gang der Geschichte und in die Zufälligkeiten der Abgrenzung
von Wissenschaften einzugreifen und durch Erforschung der wesentlichen
Demarkationen, welche die Idee der Gegenständlichkeit vorzeichnet, die
462 einleitung in die philosophie

notwendigen Grundtypen von Wissenschaften herauszuarbeiten, deren Aus-


führung dann nicht ihre Sache ist. In diesem Sinne ist eine Kategorienlehre
und überhaupt eine apriorische Wissenschaftslehre mit ihre Aufgabe. Zu
dieser Wissenschaftslehre aber gehört als erstes die Herausarbeitung der
Region der formalen Gegenständlichkeit mit ihren formalen Kategorien
und die Umgrenzung der apriorischen Ontologie als des ersten und funda-
mentalsten Wissenschaftstypus. Diese Wissenschaft mit all ihren Disziplinen
hat andererseits auch in sich selbst universellen wissenschaftstheoretischen
Charakter, als ja ihre Erkenntnisse für alle möglichen besonderen Gegen-
standssphären gelten müssen, also prinzipiell allen anderen Wissenschaften
vorangehen.
Die Gedanken, die ich hiermit entwickelt habe, sind so, wie sie hier
gegeben sind, von Leibniz nicht entwickelt. Abgesehen davon, dass er noch
keine Ahnung von Phänomenologie hat, ist auch die Idee einer formalen
Ontologie von ihm nicht in derjenigen vollen Ausgestaltung schon gewon-
nen, die wir ihr hier gegeben haben. Und doch gebührt ihm der Ruhm,
als erster die Bahn gebrochen und auch eine mathesis universalis, die
Idee einer apriorischen Ontologie, erschaut und ihre ungeheuere Bedeutung
gewürdigt zu haben. Erst in unseren Tagen hat man seine vielen, aber nie
systematisch ausgearbeiteten Bemerkungen, Einzelausführungen, Entwürfe
über diese Idee zu deuten verstanden. Er ist der erste, der es sieht, dass
eine mathesis notwendig sei, die es nicht mit bloßen Zahlen und Quantitäten
zu tun hat, er ist der erste, der lehrt, mit geometrischen Gebilden, ohne
Quantifikation, gleichsam zu rechnen (der also anderthalb Jahrhunderte vor
Graßmann eigentlich schon die Idee einer „Ausdehnungslehre“ hat), und
der sieht, dass diese mathematischen Operationen auf die Höhe formaler
Allgemeinheit erhoben werden können. Ebenso hat er als der erste die
Idee des logischen Kalküls gefasst. Lauter Sonderdisziplinen seiner mathesis
universalis.
Aber freilich in einer Hinsicht ist er nie zur Klarheit gekommen und eine
Scheidung hat er, sehr zum Schaden der weiteren Philosophie, nicht gemacht:
nämlich nicht die Scheidung zwischen formalem und materialem Apriori.
Wenn er rationale und empirische Wahrheiten gegenüberstellt, so ist er der
Meinung, dass rationale (apriorische) Wahrheiten und jene mathematisch-
logischen Wahrheiten sich decken. Er meint, jedes Apriori sogar auf ein
formal-logisches reduzieren zu können. Wo wir dazu nicht im Stande sind,
da liege es nur an der Verworrenheit unserer Begriffe, an Mängeln logischer
Analyse. Natürlich musste ihm dann das reine Bewusstsein als ein unendli-
ches Feld apriorischer Erkenntnis, eben der unendlich vielfältigen Wesenser-
leibniz 463

kenntnis einer Phänomenologie, entgehen. Wie wäre da an eine Auflösung


in formal-ontologische Zusammenhänge zu denken? Etwas weiter kam der
geniale Mathematiker und ausgezeichnete Logiker J.H. Lambert, den Kant
so hoch schätzte, dass er daran dachte, ihm die Kritik der reinen Vernunft zu
widmen, der, unter dem Einfluss Leibnizens gebildet, aber frei selbständig
fortdenkend, der Idee einer apriorischen Ontologie ein kräftigeres Relief
gab und schon die Scheidung zwischen formalem und materialem Apriori
sah. Leider blieb er im Psychologismus stecken und sah nie die Aufgaben
einer Bewusstseinsphänomenologie und einer echten Erkenntnistheorie.
Halten wir nun die Scheidung zwischen formalem und materialem Apriori
fest, so kontrastiert sich uns jetzt formale Ontologie und materiale Ontologie.
Ein Beispiel für die letztere bietet die reine Geometrie, die sich auf die
a priori zu erkennenden Gestaltungen des rein-idealen Raumes bezieht.
„Material“ heißt dieses Apriori natürlich darum, weil Raumbestimmungen
eben nicht a priori zur Idee eines Gegenstandes überhaupt gehören, wie wir
ja schon gesagt haben. Ein Wille ist auch ein Gegenstand, aber er hat keine
Figur, keine Quantität usw. Ein anderes nah damit zusammenhängendes
Beispiel liefert die apriorische Ontologie der Natur, das heißt das System
der Wahrheiten, die in Wesensnotwendigkeit zur Idee eines Naturdinges als
solchen gehören. Sofern zum Wesen eines Dinges überhaupt Räumlichkeit
gehört und so sehr, dass Descartes geradezu das Ding als res extensa defi-
nierte, sofern ist die reine Geometrie selbst eine Disziplin, die zur Ontologie
der Natur zu rechnen ist. Aber Ding ist mehr als ausgedehntes Sein. Es ist
materielle Substanz; zu seinem Wesen gehören reale Eigenschaften, die dem
Ding in wesentlicher Beziehung auf reale Umstände zukommen. Realität und
Kausalität sind wesensmäßig untrennbare Ideen, und so kommt man von hier
auf mancherlei apriorische Prinzipien, die aller empirischen Dingerkenntnis
als ihr Apriori vorangehen, wie zum Beispiel die Kausalgesetze. Kant hat
die Idee dieser apriorischen Naturlehre, die er „reine Naturwissenschaft“
nannte, konzipiert und in Grundstücken auszuführen versucht. Andererseits
leugnet er aus Gründen, die in seiner Vernunftkritik liegen, die Möglichkeit
einer apriorischen Wissenschaft vom Geiste: Der apriorischen Naturwissen-
schaft entspricht nicht eine apriorische Seelenwissenschaft.1 Es ist zweifel-
los, dass das nicht richtig ist und dass, wie jede radikal zu umgrenzende

1 Randbemerkung Doch überzeugt man sich, dass ein erheblicher Bestand dieser apriorischen

Naturwissenschaft „formal“ ist, wie die Lehre von der Realität in forma, wozu Kausalität etc.
gehört; das kann hier nicht näher ausgeführt werden, und schließlich bleibt nur als ungelöster
Rest das Hyletische.
464 einleitung in die philosophie

Gegenstandsregion, so auch die des individuellen, ja sogar die des sozialen


Geistes ihr Apriori hat, das systematisch herauszuarbeiten die Aufgabe von
formal- und material-ontologischen Forschungen sein müsste.1
In all diesen Beziehungen liegen Zukunftsaufgaben. Denn bis zum heuti-
gen Tage sind hier die Vorerfordernisse einer systematischen Austeilung und
erkenntnismäßigen Realisierung der Wissenschaftsregionen nicht erfüllt;
und das sind nach unserer Auffassung Vorerfordernisse einer ihrer entschei-
denden Problematik sicheren Philosophie. Offenbar hätten wir hinsichtlich
der material-apriorischen Ontologie genau das zu sagen, was wir von der
formalen gesagt haben. Jedes Apriori ist ein Index für Wesensstrukturen des
erkennenden Bewusstseins. Zum Beispiel, eine systematische Ontologie der
physischen Natur würde das Apriori einer Natur überhaupt herausstellen,
ohne Rücksicht auf wirkliche Natur mit ihren nur empirisch zu begrün-
denden besonderen Naturgesetzen. Der ideal-möglichen Natur, der Idee
möglicher Dinglichkeit überhaupt mit möglichen Naturgesetzen überhaupt,
entsprechen die Wesensformen des Bewusstseins, in denen eine derartige
Gegenständlichkeit angeschaut werden kann, in möglichen Erfahrungen sich
ausweisen, in möglichen methodischen Denkakten gedacht und bestimmt
werden kann. Nur durch das allgemeine Studium dieser Korrelation ist
(und zwar in apriorischer Allgemeinheit) der rechtmäßige Sinn einer Natur
überhaupt als sich bewußtseinsmäßig konstituierender physischer Gegen-
ständlichkeit klarzulegen. All die verschiedenen Interpretationen, welche
die gegebene Natur gefunden hat (die materialistische, spiritualistische, emp-
findungsmonistische usw.), hängen nicht eigentlich an den Besonderheiten
der faktischen Natur, sondern sie betreffen allgemeiner nach ihren Motiven
und Verursachungen die Idee möglicher Natur als Korrelat idealmöglicher
räumlich-zeitlich kausaler Erkenntnis überhaupt. Mit anderen Worten, die
Problematik spielt zwischen apriorischer Ontologie und apriorischer Phäno-
menologie eines Natur erkennenden Bewusstseins überhaupt.
Weiter zu bemerken ist hier ferner: Wenn wir über die formal-ontolo-
gische Sphäre hinausgehen und eintreten in die apriorische Ontologie der
Natur und dann ebenso in die des Geistes, so muss auch die formale Lo-
gik als Disziplin der formal-ontologischen Noemata ihr Analogon haben
in einer materialen noematischen Disziplin. Das wird deutlicher, wenn ich
Ihre Aufmerksamkeit darauf lenke, dass nicht nur das logische Denken

1 Randbemerkung Hier ist nichts gesagt von der Erweiterung der formalen Ontologie bis zur

formalen Ontologie der Geistigkeit.


leibniz 465

Einheiten des Sinnes in sich birgt, also seinen noematischen Gehalt hat
in Form von Begriffen und Sätzen, sondern auch für das erfahrende Be-
wusstsein gilt Ähnliches, zum Beispiel, für das äußere Erfahren, in dem
uns die Naturgegenstände unmittelbar anschaulich gegeben sind. Was wir
gegenwärtig „Phänomenologie der Erfahrung und Erfahrungsgegenständ-
lichkeit“ nennen, das geht einerseits auf das Erfahren, auf die Akterlebnisse
des Wahrnehmens, Erinnerns, Phantasierens usw. Aber nicht nur auf das.
Sondern all diese Erlebnisse haben ihren noematischen Gehalt. Sie geht
auf beides.1 Auch auf die sogenannten Dingerscheinungen, d. i. die sin-
nenanschaulichen Gegebenheiten, die das Was des Erfahrens ausmachen.2
So ist ein und dasselbe Ding als Einheit von kontinuierlichen und idealiter
unendlichen Mannigfaltigkeiten von sinnlichen Erscheinungen gegeben, und
diese Erscheinungen sind weder die Akte noch die Gegenstände, sondern
die Aspektgehalte der Erfahrung. Als solche fordern sie ihre systematische
Wesenserforschung, und man bezeichnet diese gegenwärtig als Phänome-
nologie der Erfahrungsgegenständlichkeit, deutlicher als noematische Phä-
nomenologie der Erfahrung. Konsequenterweise müsste man die formale
Bedeutungslehre auch als Phänomenologie, nämlich als Phänomenologie
der formalen Urteilsnoemata bezeichnen, was ganz korrekt wäre.
Diese ontisch-noematischen und noetischen Forschungen sind hinsicht-
lich aller a priori zu unterscheidenden Gegenstandsregionen zu vollziehen;
und erst in dieser Allseitigkeit der Wesensforschungen, die zu möglicher Ge-
genständlichkeit überhaupt gehören und zu den systematischen Zusammen-
hängen, die ihnen a priori vorgezeichnet sind, gewinnen wir die Zugangswege

1 Randbemerkung 1) Die Ich-Akte und Ich-Affekte. 2) Die Erlebnisse der Phansis, wie

ich es früher nannte, die Dingerscheinungen, in dem einen Sinn, Empfindungsdaten in ihren
„Auffassungen“, das und das „Ding von der Seite“ darstellend. 3) Das erscheinende Ding
selbst, und zwar Ding von der und der Seite (Erscheinung im zweiten Sinne). 4) Das Ding
selbst, Identisches aller Seiten.
2 Randbemerkung 1) Der Gegenstand selbst. Also 2) Erscheinungen = Aspekte als Dinge

im Wie der Gegebenheitsweisen, erscheinend als rot, quadratisch etc., der „Rückseite“ nach
unbestimmt etc. Dingsinn, Noema. 3) Die Einheit der Darstellung als Darstellung dieses
Sinnes, die Empfindungsdaten, erlebt als Sinn habend, darstellend, und darüber hinaus Ein-
heit eines über die wirkliche Darstellung hinausreichenden Sinnes tragend. Dann aber auch
„Leervorstellungen“ 1) als Erlebnisse, 2) als Sinn in sich „habend“, implizierend, 3) als diesen
Sinn in einer Erscheinungsweise in sich „implizierend“. Das Leere in sich beschlossen, das
zur Erfülltheit zu bringen ist. Wie im sprachlichen Urteilen und urteilenden Denken, wie im
anschaulich beschreibenden und explizierenden Denken? Im Explizieren haben wir, wenn es
anschaulich ist, das Vermeinte, die Bedeutung, genau so wie das Erlebnis als das diese Bedeutung
in sich Tragende etc. Voranstehend der Sachverhalt. Gegenstand. Sinn = Gegenstand im Wie.
Intentionales Erlebnis, Bewusstsein-von.
466 einleitung in die philosophie

zur absoluten Erkenntnis und das in der Sphäre des Apriori. Wir sind dann
auch in die Lage gesetzt, nicht nur das zum Wesen einzelner Gegenstände ir-
gendeines regionalen Typus Gehörige zu betrachten, sondern alle möglichen
Verknüpfungen, und schließlich uns zu erheben zur Idee möglicher Welten
überhaupt mit ihren noetischen und noematischen Korrelaten. Und daran
schließen sich dann (immer innerhalb des Apriori) die Fragen nach Welt-
schöpfung und nach Gott an, in der Sphäre des Apriori, wiederhole ich, dass
heißt unter dem Gesichtspunkt idealer und ganz prinzipieller Möglichkeit
und nach den letztklärenden Ursprüngen solcher Möglichkeit.
Es ist nicht ein phantastisches Ziel, das damit gezeichnet ist. Hat man
einmal die Idee einer universellen formalen Ontologie erfasst, hat man die
wirkliche Durchführbarkeit dieser Leibniz’schen Ideen einer scientia oder
mathesis universalis erkannt und den Entwicklungsgang der modernsten
Mathematik als Gang der Realisierung dieser Idee begriffen, dann ist es
nur ein Schritt zu erkennen, dass dieser Idee gleich laufen muss die Idee
einer scientia universalis hinsichtlich aller materialen Seinsregionen, wie
zum Beispiel „Natur“ und „Geist“.1 Dann ist also auch eine universelle
apriorische Ontologie als Wissenschaft von den a priori möglichen Welten
als Korrelaten einer ideal-möglichen Welterkenntnis eine notwendige Idee.
Weiter ist dann klar, dass diese Erkenntnis, in der sich die möglichen Welten
konstituieren und sofern sie es tun, einer apriorischen noetischen und noe-
matischen Forschung zugänglich ist, womit sich a priori der absolute Sinn
jeder möglichen Welterkenntnis theoretisch klarlegen lässt. Damit erwächst
aber ein Gegenstück dessen, was wir bisher „Metaphysik“ genannt hatten.
Metaphysik ist die endgültige, durch Erkenntnistheorie zu leistende Inter-
pretation der gegebenen Welt, die vordem Gegenstand der dogmatischen
Wissenschaften gewesen war. Die gegebene Welt ist aber ein faktischer Ein-
zelfall der a priori möglichen und in einer apriorischen Disziplin systematisch
zu erforschenden Welten. Der tatsachenwissenschaftlichen Metaphysik ent-
spricht also eine „apriorische Metaphysik“, wie wir sehr gut sagen können,
die das Apriori der gegebenen Metaphysik und jeder möglichen Metaphysik
umspannt und die prinzipielle metaphysische Interpretation jeder möglichen
Welt und dogmatischen Weltwissenschaft a priori und im Voraus leistet.
Es sind also letzte Auswirkungen von Leibniz’schen Intentionen, die
hier eine begriffliche Ausgestaltung erfahren haben, wie denn Leibniz das

1 Randbemerkung Aber Natur und Geist sind schon in der formalen Sphäre regionale Formen

(Formen möglicher Regionen).


leibniz 467

große Prinzip letzter und höchster Wissenschaft wohl erkannt hat, nämlich,
dass der letzt-wissenschaftlichen Erkenntnis jedweder Wirklichkeit voran-
gehen muss die Erkenntnis der idealen Möglichkeiten, unter die sich diese
Wirklichkeit als Einzelfall ordnet. So versteht er den großen Schritt, den
die exakte Physik gegenüber der früheren Naturbetrachtung macht. Nur
dadurch konnte Natur exakt erforscht werden, dass sie zur mathematischen
Naturwissenschaft wurde. Das aber sagt, dass in immer weiterem Ausmaß
Raum, Zeit, Bewegung, Kraft usw. vor der faktischen Natur in apriorischer
Reinheit, eben als reine Mathematik erforscht wurde. Das ist der tiefste
Sinn der rationalistischen Philosophie, dass diese Tendenz zur höchsten und
universalsten Auswirkung des Apriori sie bewegte und die Überzeugung,
dass nur auf dem Grund universaler apriorischer Erkenntnis aposteriorische
Erkenntnis zu endgültiger Exaktheit und Strenge kommen könne. Aber
das ist auch ihre Grenze, dass sie sich doch weder über den echten Sinn
des Apriori noch über die Verhältnisse des Apriori und Aposteriori klar
wurde, dass sie das formale und materiale Apriori nicht zu scheiden wusste
und, nicht zum mindesten, dass sie das Gegenüber von dogmatischer und
phänomenologischer Forschung nicht sah, ferner das Bewusstsein nicht als
Feld noematischer und noetischer Erkenntnis, und zwar als ein Feld rein
apriorischer Erkenntnis erschaute. Eben damit fehlte ihr die erkenntniskri-
tische Metaphysik und sie blieb im Dogmatismus stecken.
Freilich der Vorwurf gilt der ganzen Philosophie seit dem 18. Jahrhundert
und die notwendigen Aufgaben, die wir uns herausgearbeitet haben, be-
zeichnen bis jetzt nur Postulate, zu deren Erfüllung die phänomenologische
Philosophie unserer Zeit nur eben die ersten Schritte tun konnte. Aber
der Anfang ist gemacht. Und das Wichtigste ist: Was in den Bewegungen
des Rationalismus nach Seiten der Ontologien und in den Bewegungen des
Empirismus nach Seiten des Bewusstseins und der Ursprungsaufklärung im
Bewusstsein an dunklen und so viel irrenden Tendenzen lebendig war, haben
wir uns zur vollen Reinheit und zu begrifflicher Bestimmtheit gebracht.
Wir haben feste und in ihrer Sinnesbestimmung völlig evidente und darum
notwendige Ziele. Natürlich gewinnen sie noch manche, nicht unwesentliche
Züge durch die Motivationen, die in der Fortentwicklung der neuzeitlichen
und insbesondere in der deutschen philosophischen Kultur neu aufgetreten
sind. Indessen, die Art, wie wir uns die innersten Tendenzen des 17. und
18. Jahrhunderts gedeutet, sie durch Kritik gereinigt und in die Gestalt einer
streng wissenschaftlichen Problematik gebracht haben, schuf einen Rahmen,
in den sich das Fehlende einordnen bzw. die naturgemäßen Erweiterungen
eingliedern lassen.
468 einleitung in die philosophie

Kant

Es ist jetzt vor allem notwendig, einiges über Kant zu sagen und Ihnen
zu erklären, warum bisher so wenig an ihn angeknüpft wurde, an ihn, den
überwältigenden Genius, von dem Sie ja wissen, dass er die philosophischen
Bewegungen unserer Zeit bestimmt, wo nicht gar beherrscht. Dass ich erst
jetzt Kants vernunftkritische Philosophie heranziehe, erst am Schluss des
Semesters, hat seinen Grund in dem Ziel dieser Vorlesungen, in die Phi-
losophie einzuleiten. Freilich, der Neuling der Philosophie pflegt als erstes
philosophisches Buch Kants Kritik der reinen Vernunft zur Hand zu neh-
men. Nicht selten meint er, das Werk mindestens in Hauptstücken auch zu
verstehen, und wo das nicht der Fall ist, berauscht er sich mindestens an
dem Tiefsinn desselben. In Wahrheit ist das Werk und sind die kantischen
Hauptwerke dem Anfänger m. E. unzugänglich. Kant bietet nichts weniger
als fertige Stücke einer wissenschaftlichen Philosophie, die eben im Geiste
echter Wissenschaft von evidenten Gegebenheiten, die jedem unmittelbar
zugänglich sind, ausgehen und in evidenten Schritten, also in beständiger
Klarheit und Einsicht, zu Resultaten emporführen.1 Genialer, aber unklarer
Tiefsinn, das ist das Charakteristikum ringender, aber noch nicht zu wissen-
schaftlicher Bestimmtheit durchgedrungener Menschen und Zeiten. Diese
Signatur passt leider zu sehr auf Kant, daher die ungeheure Kantliteratur,
eine Kantphilologie mit den vielen verwirrenden Kantinterpretationen.2

1 Gestrichen Seine Ausgangspunkte sind durchaus unklar, sie sind vermeintliche Selbst-

verständlichkeiten, was eben in seiner Zeit, in seiner und ihrer historischen Bedingtheit als
selbstverständlich hingestellt werden konnte. Und so geht es auch im Aufbau des Ganzen.
2 Gestrichene Seite Kant ist ein Kind dieser Zeit. Aus ihr bzw. aus der festen Tradition

der neuzeitlichen philosophischen Entwicklungen seit Descartes hat er unklare und schiefe
Problemstellungen übernommen, deren verführerische Kraft in einer scheinbaren Klarheit fest
gefügter Schlagworte lag. Unklare und schiefe Theorien hat er ausgebildet, die an sich gegen-
über seinen Vorgängern keinen wirklichen prinzipiellen Fortschritt bedeuten. Das muss einem
orthodoxen Kantianismus gegenüber scharf herausgesagt werden. Die ungeheure Bedeutung
Kants für die lebendige Philosophie unserer Zeit liegt nicht in den kantischen Theorien, so
wie Kant selbst sie verstanden und mit solcher suggestiven Kraft gelehrt hat, sondern in dem,
was er geschaut hat, was als Gehalt seiner gewaltigen Intuitionen vor seinen begrifflichen
Prägungen und theoretischen Erarbeitungen liegt. In seinen Theoretisierungen ist er von tra-
ditionellen Begriffen und Vormeinungen bestimmt. Aber darin liegt seine Größe, dass er ein
schauender Denker war und dass sich ihm schauend mächtige und höchst bedeutsame neue
Problemgebiete eröffnet haben; desgleichen, dass in der Stufenfolge seiner Untersuchungen
wie in seinen Scheidungen zwischen transzendentaler Ästhetik, Analytik und Dialektik sich
grundwesentliche Demarkationen von notwendigen Forschungssphären eröffnen, die für jede
künftige Philosophie bedeutsam werden müssen. Freilich können sie erst wirklich fruchtbar
kant 469

Kants Entwicklung fällt in die Zeit, da in Deutschland Christian Wolff,


der Schüler Leibniz’scher Philosophie, als großer, Leibniz ebenbürtiger Phi-
losoph gilt und alle Katheder beherrscht. Wolff hatte die Leibniz’sche Phi-
losophie im Sinn eines extremen Logizismus zurückgebildet, hatte die fun-
damentale Scheidung zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrhei-
ten preisgegeben und das Ideal des mathematisierenden Rationalismus or-
dine geometrico noch überboten dadurch, dass er alle Wahrheit auf formal-
logische Wahrheit nach dem Gesetz vom Widerspruch glaubte zurückführen
zu können. Gegen diesen Logizismus wirkte in Kants Entwicklungsjahren
der in Deutschland bekannt werdende englische Empirismus Lockes sehr
nachhaltig. Bei einzelnen selbständigen Köpfen wie Rüdiger und Crusius
begannen sich Oppositionen zu regen, und Kant selbst gehört zu diesen
Opponenten in seinen bedeutenden Jugendschriften, in denen er übrigens
in der Hauptsache doch Rationalist blieb. Er öffnet sich immer mehr den
empiristischen Einflüssen.
In1 seiner Schrift Träume eines Geistersehers von 1766 schien er ganz
zum Empirismus hinüberzuschwenken. Da kam aber die Peripethie. Durch
Vertiefung in den Hume’schen Essay, dessen volle Bedeutung und radikale
Problemstellung er allein unter seinen Zeitgenossen erfasst hatte, sieht er,
wohin der Empirismus steuere, er erkennt den an aller objektiven Erkenntnis
verzweifelnden Skeptizismus als notwendige Konsequenz des sensualisti-
schen Empirismus. Die Überwindung dieses Skeptizismus wird nun zu seiner
Aufgabe. Positiv bestimmend sind, was die Mittel der Überwindung anlangt,
für ihn mancherlei Motive, die er aus Leibniz schöpft, aus dem originären
Leibniz der Neuen Essays, die damals erst aus dem Nachlass erschienen,
und nicht aus dem logizistisch umgemodelten Leibniz der Wolff’schen Schule.
Diese freilich wirkt auch auf ihn ein, wie sehr er gegen sie opponiert; er
bleibt in Grundauffassungen, trotz aller Abwandlung derselben, von ihr
abhängig, und das bestimmt mit die Weise, wie er Hume aufnimmt, wie er ihn
versteht und ihn überwindet. Ein Erbstück des Rationalismus bei Kant ist

werden, wenn man Kants Begriffe und Theorien ihres durchaus zeitlich bedingten und falschen
Sinnes entkleidet hat. Also Kant kann nur historisch verstanden werden, nur im Nachverstehen
der unausgereiften (im ersten Moment und scheinbar so klaren und doch durchaus unkla-
ren) Probleme, die seit Descartes zwischen Rationalismus und Empirismus spielten, und der
verborgenen Vorurteile, an die sie dabei gebunden waren. Speziell kann Kant nur verstanden
werden unter der speziellen historischen Perspektive, unter der er steht. Leibniz, Christian Wolff
und die deutsche Schulphilosophie, mit den ersten oppositionellen Gegenströmungen, die auf
Einflüssen des englischen Empirismus beruhen.
1 Am Rande dieses Absatzes drei Nullen.
470 einleitung in die philosophie

seine Fassung des Ursprungsproblems, das auf Eingeborenheit zurückweist.


Durch ihn als Abwandlungen bestimmt sind seine Begriffe des Analytischen
und vom Apriori. Von ihm und von Leibniz rührt her die Verschränkung
von Erkenntnistheorie und Metaphysik, die den Charakter der kantischen
Vernunftkritik durchaus bestimmt. Die in Leibniz noch verborgene Tendenz
zur transzendental-psychologischen Konstruktion wird bei Kant zur bewusst
ausgebildeten und geübten transzendentalen Methode.
Das Grundproblem der Kritik der reinen Vernunft, von dessen Lösung
nach Kant das Stehen und Fallen der Metaphysik und die Möglichkeit des
Vernunftgebrauchs in Gründung und Ausführung aller echten Wissenschaf-
ten abhängt, ist eine Abwandlung und Umarbeitung des Hume’schen Pro-
blems, an das wir anzuknüpfen haben. Vorher ist an Folgendes zu erinnern:
Humes Skeptizismus betrifft nicht nur die supranaturale Metaphysik, auf
die er es allerdings besonders abgesehen hatte. Aber paradoxerweise trifft
dieser Skeptizismus, wie sehr Hume dies auch verhüllt, schon die exakte
Naturwissenschaft, während er die Mathematik, wenigstens im Essay un-
geschoren lässt. „Vernunfterkenntnis“, Erkenntnis, deren Rechtfertigung
ohne weiteres klar und wirklich zweifellos ist, ist Erkenntnis von Ideen-
Relationen. Jede Leugnung ist hier ein Widersinn (oder, wie Hume sagt,
Widerspruch). Hier erkennen wir a priori, wir bedürfen keiner Erfahrung.
Aber freilich: Über reale Tatsachen wird dabei gar nichts erkannt, wir be-
wegen uns in der bloßen Sphäre unserer eigenen Ideen. In diesem Sinn
ist die mathematische Erkenntnis als reine Vernunfterkenntnis zu bewer-
ten. Aber die Naturwissenschaft spricht allgemeine Sätze aus über Tat-
sachen; die in ihr überall leitende Schlussweise, ist die kausale. Und hier
hatte Hume nachgewiesen, dass die kausale Notwendigkeit nicht eine Ver-
nunftnotwendigkeit ist, sie stammt aus blinder Gewohnheit. Also ent-
behrt die ganze Naturwissenschaft der eigentlichen Vernunft in ihrer Me-
thode, sie ist letztlich ein blindes Gebilde der Assoziation und Gewohn-
heit.
Was Kant anlangt, so war er der letzte der großen Philosophen, die ganz
und gar in ihrem Philosophieren durch das Vorbild der exakten Wissenschaf-
ten bestimmt waren. Also das stand ihm fest, und daran hielt er immer fest,
dass Mathematik und mathematische Naturwissenschaften echte und strenge
Wissenschaften sind, ja das Prototyp jeder Wissenschaft überhaupt. Und
nun sah er durch Hume die Rationalität mindestens der Naturwissenschaft
in Frage gestellt und erkannte, dass hier in dieser Rationalität wirklich ein
großes Problem lag, dass sie nicht ohne weiteres verständlich sei, etwa gar
durch Rekurs auf den Satz vom Widerspruch, an dem die leitenden Prinzi-
kant 471

pien naturwissenschaftlicher Methode zu rechtfertigen wären. Das gab also


das Grundthema des kantischen Philosophierens, dieses Problem zu lösen,
dessen metaphysische Tragweite er sofort erkannte.
Wissenschaft ist ein Gebilde unserer Vernunft. Vernunft kann sich als
reine Vernunft betätigen in Wissenschaften wie reine Logik und reine Ma-
thematik. Da beschäftigt sie sich mit ihren eigenen Begriffen: Daraus ergibt
sich keinerlei Erkenntnis für reales Dasein. Es war ein Grundirrtum des
Ontologismus, dass er durch reine Vernunft, also ordine geometrico, Reali-
tätserkenntnis glaubte gewinnen zu können. Realitätserkenntnis ist nur auf
dem Grund der Erfahrung als exakte Erfahrungswissenschaft möglich. So
weit war Kant schon vor Hume gewesen. Und so weit stimmt er Hume also
zu.
Auch hatte Hume natürlich darin Recht, dass durch singuläre Erfahrun-
gen und eventuell mit gewohnheitsmäßiger Erwartung im Sinn „Es pflegt so
zu sein, also dürfte es wohl auch weiter so sein“, wir keine echte Wissen-
schaft gewinnen. Und hätte Hume auch darin Recht, dass die Prinzipien
der naturwissenschaftlichen Schlüsse und so das Prinzipielle naturwissen-
schaftlicher Methode überhaupt letztlich doch aus Gewohnheit stammte,
dann wäre in der Tat Naturwissenschaft eine Schein-Wissenschaft und sein
Skeptizismus hätte Recht. Aber wahr ist hingegen Folgendes: Die exakte
Naturwissenschaft ist keine bloße Sammlung von Einzelerfahrungen und
keine Sammlung vager empirischer Zusammenfassungen im Sinn des „es
pflegt“. Die zweifellose Rationalität ihrer Methode liegt einerseits in der
beständigen Anwendung der Mathematik und andererseits in Prinzipien,
wie im Kausalprinzip, die ihre Schlussweisen leiten und ihnen wie ihren
Gesetzesergebnissen eine echte Notwendigkeit einprägen, die nichts zu tun
hat mit dem blinden Drang der Gewohnheit und ihrer Nötigung. Diese
Notwendigkeit darf man nicht wegdeuten, sie ist da und gibt sich als grund-
verschieden von gewohnheitsmäßigem Drang.
Heben wir die über die reine Mathematik als Arithmetik und Geometrie
hinausreichenden Grundbegriffe und Grundsätze heraus, welche als Prin-
zipien der Rationalität in der naturwissenschaftlichen Methode fungieren
und welche in Anwendung auf Gegebenheiten der unmittelbaren Erfahrung
jene Erkenntnisbearbeitung ermöglichen, die eben exakte Naturwissenschaft
ausmacht, so konstituiert sich uns eine „reine Naturwissenschaft“,1 das heißt,

1 Gestrichene Randbemerkung Die reine Naturwissenschaft Kants ist formal. Sie ist in meinem

Sinne formale Ontologie jeder Natur überhaupt.


472 einleitung in die philosophie

ein System von apriorischen Erkenntnissen, die auf die Natur bezüglich und
doch aus uns selbst geschöpft sind, so wie die rein mathematischen Begriffe
und Grundsätze aus uns selbst geschöpft sein müssen. Ihre Apriorität bekun-
det sich in ihrem eigentümlichen Charakter: Der Naturforscher wendet sie
an mit dem Bewusstsein, dass prinzipiell alles Reale durch sie bestimmbar
sein muss, in unbedingter Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Vor aller
Erfahrung sind wir durch diesen Bewusstseinscharakter der Notwendigkeit
und Allgemeingültigkeit dessen völlig sicher, dass sie für alle mögliche Er-
fahrung gelten müssen. Dieser Charakter ist das Kennzeichen alles echten
Apriori und somit all dessen, was nicht der Wahrnehmung und der induktiven
Erfahrung entsprungen sein kann. Zum Beispiel: Dass alles und jedes Gege-
bene äußerer Erfahrung notwendig zählbar und messbar sein muss oder dass
alles und jedes Geschehen als Veränderung eines realen Substrates erfassbar
und dann unter Kausalgesetzen stehen muss, also auffassbar sein muss als
Ursache oder Wirkung, das kann man nicht wahrnehmen, das kann man nicht
durch Sammlung von einzelnen Erfahrungen erweisen, wie Hume richtig sah,
um aber nachher in verkehrter Weise auf Gewohnheit zurückzugehen.
Aber nun ergibt sich ein großes Problem: Wie ist es zu verstehen, dass
Begriffe und Sätze, die a priori, also rein aus uns selbst entsprungen sind, für
Gegenstände der an und für sich seienden Natur Geltung haben? Gleich-
wertig können wir auch sagen: Aus uns selbst und nicht aus der Erfahrung
geschöpfte Begriffe sollen aller möglichen Erfahrung die Regel vorschreiben
und damit dem Gang der Natur. Denn gegeben sind uns Naturgegenstände
durch Erfahrung. Dass unser Denken für Erfahrungsgegenstände Gültigkeit
haben kann, das ist in gewissen Gruppen von Fällen ganz verständlich,
also kein Problem. Das ist der Fall der bloßen Wahrnehmungsurteile und
überhaupt der empirischen Urteile des gemeinen Lebens. Nämlich da wo
unser urteilender Verstand sich nach den erfahrenen Gegenständen richtet,
Bestimmungen, die an ihnen miterfahren sind, begrifflich fasst und sie aussa-
gend, urteilend auf den Gegenstand bezieht. Wie zum Beispiel, wenn ich ein
rotes Ding sehe und sage „Dies ist rot“. Ebenso bei komplizierteren Fällen
und überall da, wo wir mit einem Worte empirische Begriffe bilden und sie
so urteilsmäßig verknüpfen, wie es die Einheit der Erfahrungsgegenständ-
lichkeit und der erfahrenen Beziehungen und Verknüpfungen vorschreibt.1

1 Randbemerkung Die Synthesis unserer Begriffe im Urteil richtet sich nach der Synthesis der

Erfahrung. Keine Schwierigkeit macht auch eine gewisse Klasse apriorischer Urteile, nämlich
die von Kant so genannten analytischen Urteile.
kant 473

Nämlich, wenn ich einmal solche Begriffe gebildet habe und dann, ohne
neue Erfahrungen zu machen, ihren Inhalt auseinanderlege, so ist es klar,
dass dann die Ergebnisse für Erfahrung gelten müssen. Habe ich einmal den
Begriff „Löwe“, so kann ich eine logische Analyse an ihm vollziehen und
gewinne analytische Urteile: zum Beispiel „Ein Löwe ist ein katzenartiges
Raubtier, ein Säugetier“ usw. Die logische Analyse habe ich im bloßen
Denken vollzogen. Aber natürlich gilt jedes solche analytische Urteil auch
in der Erfahrung. Denn es wäre ein Widerspruch den Begriff zu prädizieren
und seine analytischen Teilbegriffe ihm abzuleugnen.
So kann ich überhaupt sagen: Reine Logik kann ich in aller Erfahrung,
bei allem empirischen Denken der Erfahrung anwenden. Ihr Grundprinzip
ist der Satz vom Widerspruch. Die objektive Geltung der reinen oder for-
malen Logik bietet also kein Problem. Das Reich des analytischen Apriori
umspannt aber nicht etwa das gesamte Apriori, wie das der Rationalismus
gemeint hat. Vielmehr es gibt Begriffe und Sätze, die einerseits den of-
fenbaren Charakter der apriorischen Gesetze haben und die andererseits
nicht aus einem bloß analytischen Denken entsprungen sind. Sagen wir aus,
dass jedes Geschehen seine Ursachen hat, dass in allen Veränderungen der
Natur das Quantum der Materie erhalten bleibt, so sind das nicht Sätze, die
der Erfahrung abgenommen sind, wie wenn wir sagen „Im Herbst ziehen die
Schwalben nach dem Süden“. Es sind auch nicht analytische Sätze, wie „Ein
Löwe ist ein Säugetier“, „Ein Körper ist ausgedehnt“ oder wie syllogisti-
sche Schlussgesetze. Die Verknüpfung der Begriffe in solchen Urteilen der
reinen Naturwissenschaft richtet sich nicht nach der empirischen Anschau-
ung und andererseits nicht nach logischer Identität (deren Leugnung also
Widerspruch ergibt). Aber wie steht es mit dem Recht dieser Verknüpfung,
wonach richtet sie sich? Was gibt solchen apriorischen Sätzen ihre objektive
Geltung? Was kümmern sich die Natur selbst und der Naturverlauf um
die Verknüpfungen, die unsere Vernunft, rein, ohne sich nach der Natur
zu richten, ohne sie der Erfahrung abzulesen, vollzieht? Also, wie können
aus reiner Vernunft entsprungene Begriffe und Sätze objektive Bedeutung
haben? Die Frage betrifft also die nicht-analytische Vernunft.
Ein Hauptstück der kantischen Kritik an Hume, aber auch der ganzen
zeitgenössischen rationalistischen Philosophie besteht darin, dass er dieser
vorwirft, dass sie hier eine radikale Scheidung nicht gesehen, dass sie ferner
und in Folge davon die Sphäre der Vernunft mit der des formal-logischen
(des „analytischen“) Denkens identifiziert und somit das Kriterium vom
Widerspruch als Kriterium der Vernunft überhaupt behandelt hätte. Der
Vorwurf trifft sicherlich den Wolff’schen Rationalismus, er trifft sicherlich
474 einleitung in die philosophie

nicht Hume, den Kant hier nicht verstanden hat und der sicherlich nicht
Relationen zwischen Ideen und analytisch-logische Verhältnisse identifiziert.
Kant legt den größten Wert auf die Lehre, dass die gesamte reine Mathe-
matik zwar Wissenschaft a priori sei, aber nicht eine Wissenschaft, die in
jedem Satze und Fortschritte unter dem Satz vom Widerspruch stehe, also
nicht analytische Wissenschaft sei. Analytische Wissenschaft überhaupt
gibt es nicht. Bloß analytische Urteile sind nur erkenntniserläuternd, nicht
aber erkenntniserweiternd.
Kant nennt nicht-analytische Urteile „synthetisch“, unterscheidet dann
synthetische Urteile a priori und synthetische Urteile a posteriori. Die letz-
teren sind die gewöhnlichen Erfahrungsurteile, die ersteren die rein ma-
thematischen Urteile und die Urteile der reinen Naturwissenschaft. Der
Grundirrtum des Rationalismus und Humes spricht sich darin aus, dass sie
die Existenz synthetischer Urteile a priori noch nicht sahen, dass sie die
Begriffe „apriorisches Urteil“ und „analytisches“ zur Deckung gebracht
hätten. Demgemäß ergibt sich jetzt das Problem etwas differenzierter: 1)
Eine erste Frage ergibt sich „Wie ist reine Mathematik möglich?“, das heißt:
Wie kommen die a priori entsprossenen mathematischen Begriffe und Ur-
teile dazu, mit der ihnen charakteristischen Notwendigkeit und Allgemein-
gültigkeit eine übersubjektive Bedeutung zu beanspruchen, eine unbedingte
und notwendige Geltung für alle Realität, obschon sie doch nichts sagen,
was sich nach der Realität in der Erfahrung richtet?1 2) Fürs zweite und
in gleichem Sinne: „Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?“ 3) endlich:
„Wie ist reine Metaphysik möglich, wenn sie überhaupt möglich ist?“
Genauer besehen, sind diese Fragen für Kant Doppelfragen. Nämlich,
zum Beispiel was die Mathematik anlangt, so gewinnen wir, reine Mathema-
tik an und für sich treibend, Systeme a priori synthetischer Erkenntnis, ohne
irgend an die wirkliche Natur zu denken und an Anwendungen auf sie. Das
rein apriorische Erkennen der Mathematik ist für sich ein Problem: Wie kom-
men wir dazu, die rein mathematischen Begriffe zu Sätzen zu verknüpfen und
für diese Sätze a priori eine Wahrheit zu beanspruchen, eine Art notwendiger
und jedermann verpflichtender Geltung, die zunächst gar nicht danach fragt,
ob es eine seiende Natur gibt und geben kann oder nicht? Wonach richtet
sich die Synthesis, die wir vollziehen? Nach der Erfahrungsanschauung nicht,
denn es sind apriorische Sätze. Wonach also sonst? Es bedarf dafür nur

1 Randbemerkung Notwendige Geltung einerseits für alle erkennenden Subjekte, andererseits

unbedingte.
kant 475

Aufklärung darüber, wonach sich die unbedingt allgemeine und notwendig


vollzogene Synthesis eines rein mathematischen Satzes richtet. Gesetzt die-
ses Problem wäre gelöst, so wäre damit nach Kant noch nicht verständlich
das Recht der Anwendung solcher rein apriorischen Wahrheiten. Es würde
nur verständlich, wie die Subjektivität, vor aller Gegebenheit der Natur, bei
sich selbst dazu kommt, die Verknüpfung als eine notwendige zu machen.
Was braucht sich die Natur selbst aber darum zu kümmern? Warum müssen
rein subjektiv entsprungene Begriffe und ihre Verknüpfung, die sich in reiner
Subjektivität nach etwas richtet, nun auch Richtigkeit haben für die Natur
selbst und notwendige Richtigkeit?
Genau diese Doppelfrage gilt auch für „reine“ naturwissenschaftliche
Urteile: Wonach richten wir, a priori denkend, die Synthesis der Begriffe,
die nur Denknotwendigkeit in der reinen Subjektivität ergibt, und warum
muss oder inwiefern kann die subjektive Notwendigkeit der Verknüpfung,
orientiert nach einem subjektiven Verknüpfungsgrund, eine unbedingte Gel-
tung für die Natur selbst beanspruchen? Das Vorgehen Kants in der Lösung
ist regressiv. Das Ausgangsfaktum ist: Wir erkennen die Welt durch die
Wissenschaften. Die echten und strengen Wissenschaften im Prinzipiellen
ihrer Methode beruhen auf apriorischen Erkenntnissen. Diese apriorischen
Erkenntnisse konstituieren rein für sich apriorische Wissenschaften wie die
Mathematik und die „reine“ Naturwissenschaft, die sich nach keiner gege-
benen Natur richten, sondern eben rein a priori verfahren. Aber hinterher
kommt die Anwendung, die als selbstverständlich mögliche angenommen
wird. Also das ist das zu erklärende Faktum. Was müssen wir nun unbedingt
annehmen, wenn diese Sachlage bestehen und verständlich werden bzw.
möglich sein soll? Was müssen wir unbedingt annehmen, wenn rein apriori-
sche Erkenntnisse möglich sein sollen, und fürs zweite, wenn das Recht der
Anwendung auf die faktische Natur verständlich sein soll?
In der Lösung der Fragen muss, wie sich herausstellt, nach Kant eine
bestimmte systematische Ordnung eingeschlagen werden: reine Mathema-
tik, reine Naturwissenschaft, Metaphysik. Und dem entsprechen die tran-
szendentalen Disziplinen: transzendentale Ästhetik, Analytik, Dialektik, die
Disziplinen dieser transzendentalen Aufklärung.
Was die Mathematik anlangt, so läuft die Untersuchung so. Geometrie
verfährt anschaulich; wie allgemein bekannt spricht man von geometri-
scher Anschauung. Aber diese Anschauung ist nicht Wahrnehmung, ist
nicht empirische Anschauung. Dies kann nicht das sein, wonach die geo-
metrische Synthesis sich orientiert, sonst wären die geometrischen Urteile
empirische Urteile. Es müsste also eine reine Anschauung, eine apriorische
476 einleitung in die philosophie

angenommen werden, als eine notwendige Ausstattung des menschlichen


Subjekts. Das kann man auch durch direkte Argumente nachweisen. Zum
Beispiel, dass, wenn wir alle Sinnendinge wegdenken, alles was der äußere
Sinn uns vermittelt, immer nur der Raum als leerer übrig bleibt. Ihn können
wir nicht wegdenken. Und das wird verständlich, wenn wir ihn als apriorische
Ausstattung unseres Subjekts erkennen, unaufhebbar zu ihm gehörig. Wollte
man es leugnen, dass der Raum in reiner Anschauung gegeben ist, und
versuchen, ihn als Begriff aufzufassen, so lässt sich das widerlegen, denn
ein aus Begriffen entwickelndes rein apriorisches Verfahren kann nur ana-
lytische Urteile ergeben, die Geometrie aber ist synthetisch. Andererseits
kann man auch direkt durch Argumente die begriffliche Natur des Raumes
widerlegen.
Wie kommen wir aber dazu, den reinen Raum, dieses in reiner Subjek-
tivität Erschaute, für etwas Objektives zu halten? Wie kommen wir dazu,
reine Geometrie auf die Natur anzuwenden und somit dieser selbst eine
Räumlichkeit zuzuschreiben, genau unter den Gesetzen stehend, die die
Geometrie lehrt? Die Antwort lautet: Der Raum ist die notwendige Form
der Natur, des Alls der Gegenstände wirklicher und möglicher Erfahrung.
Sie sind notwendig Gegenstände im Raum. Das erklärt sich jetzt leicht. Die
im Gemüt a priori bereitliegende Form nimmt die Sinneseindrücke auf und
spannt sie in seine Gesetzmäßigkeit ein und dadurch erwachsen die raum-
dinglichen Erscheinungen. Es ist eine zur menschlichen Subjektivität ihrer
allgemeinen Artung nach gehörige Eigentümlichkeit, sinnliches Material
„von außen her“ zu empfangen und nicht als ein Sammelsurium zu haben,
sondern sie innerlich, gemäß dieser apriorischen Form zu ordnen, zu ge-
stalten. Die objektive Geltung der Geometrie erklärt sich nun vollkommen.
Sie erklärt sich aber nur dann, wenn wir die Dinge der Natur nicht als Be-
wusstseinstranszendenzen annehmen, sondern als Gebilde der Subjektivität,
hier zunächst als die sinnlichen Erscheinungen, die durch Raumformung des
empfangenen sinnlichen Materials erwachsen sind. Die Dinge, von denen
die Naturwissenschaft spricht, sind erfahrbare Dinge, empirisch angeschaute
oder anzuschauende. Als das sind sie zunächst sinnliches Material in räum-
licher Gestalt. Die Geometrie erhebt die Prätention, mit ihren Sätzen, die
unangesehen aller Fakta der Wahrnehmung, der Erfahrung gewonnen sind,
den Gegebenheiten wirklicher Erfahrung unbedingte Regelen vorzuschrei-
ben. Das erklärt sich, wenn die Apriorität gedeutet wird derart, dass unsere
Subjektivität ursprünglich und unaufhebbar mit der Raumform ausgestattet
ist und jedes sinnliche Material, das uns empirisch zufließt, in diese Form
eingebettet, eingestaltet sein muss. Dann ist es selbstverständlich, dass die
kant 477

rein geometrischen Gesetze als Gesetze dieser Form für alle besonderen
Dinge, für alles Geformte Geltung haben müssen, also für alle erfahrbaren
Dinge, sofern sie als solche notwendig räumliche Erscheinungen sind. Hin-
gegen über Dinge an sich, die wir als Gründe der sinnlichen Affektionen
in die Transzendenz versetzen, lehren wir durch die Geometrie gar nichts.
Ihnen können wir keinen Raum zuschreiben, das hieße, ihnen ohne leises-
ten Anhalt eine Verdopplung der zu unserer Subjektivität und zu unseren
Erscheinungen gehörigen Formen andichten.1

1 Die Fortsetzung des Textes findet sich als Beilage xxi in Edmund Husserl, Erste Philosophie

(1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte, hrsg. Rudolf Boehm, Husserliana vii, Nijhof,
Den Haag, 1956 – Anm. der Hrsg.
NACHWEIS DER ORIGINALSEITEN

In der linken Kolonne findet sich die Angabe von Seite und Zeile im
gedruckten Text, in der rechten Kolonne die des Manuskriptkonvoluts und
der Blattzahlen im Manuskript nach der offiziellen Signierung und Numme-
rierung des Husserl-Archivs.

1,4–4,4 f i 40 8a–10a 101,10–103,12 104a–105a


4,5–10,7 11a–15b 103,12–104,24 106
10,8–19,30 17a–25a 104,26–119,3 108a–119a
19,31–21,9 26 119, Anm. 1 119b
20 f., Anm. 1 27a 119,4–120,27 120a–121a
21,10–27, 39 28a–33a 120 f., Anm. 1 121b
28,2–35,36 34a–40b 121,1–125,4 122a–124a
35,36–40,5 42a–45b 125,4–127,14 125a–126b
39 f., Anm. 2 41 127, Anm. 2 127a
41,1–41,9 46a 127,14–132,4 128a–131a
41,9–48,4 47a–52b 132, Anm. 1 131b
47, Anm. 1 53 132,5–134,5 132a–133a
48,5–50,32 54a–56a 134, Anm. 1 133b
50,32–55,31 57a–61a 134,6–138,26 134a–137a
55,31–60,23 62a–65b 138,27–147,1 138a–143b
60,23–61,2 67a 146, Anm. 1 144a–145a
61, Anm. 1 67b 147,1–149,3 146a–147b
61, Anm. 2 66a 149,4–150,23 149a–150a
61,3–63,13 68a–69a 150 f., Anm. 2 150b
63,13–66, 23 70a–72a 150 f., Anm. 2 151b
66 f., Anm. 2 72b 150 f., Anm. 2 151a
67,1–69,34 73a–75a 151,1–151,10 151a
69,34–86,19 76a–90a 152,1–153,7 152
86,19–92,2 91a–94b 153 f., Anm. 1 153
92,2–93,14 96 154,1–157,14 154a–156b
93, Anm. 1 95 156, Anm. 1 148a
93,14–101,9 97a–103a 157,14–169,7 157a–166a

H. Jacobs (ed.), Einleitung in die Philosophie Vorlesungen 1916–1920, 479


Husserliana: Edmund Husserl – Materialien IX, DOI 10.1007/978-94-007-4659-6,
© Springer Science+Business Media Dordrecht 2012
480 nachweis der originalseiten

169,7–175,23 167a–172a 303,26–316,3 128a–138a


175,24–176,4 173a 316,4–319,16 139a–141b
176,5–179,4 174a–176a 319,16–320,19 143
179,5–180,3 177 320,19–321,30 142
180, Anm. 1 178a 321,31–322,9 164
180,4–185,3 179a–182b 322,10–329,6 144a–149b
184 f., Anm. 1 183 329,6–329,26 150b
185,3–215,13 184a–209b 329,27–330,5 151a
215, Anm. 1 216b 330,6–337,39 152a–158b
215,15–222,39 210a–215a 338,1–339,6 113
223,1–223,28 216a 339,7–344,12 159a–163b
223,28–235,16 217a–227b 344,13–350,8 165a–169a
235,16–236,4 233a 350,9–351,13 170
236 f., Anm. 1 228a–232b 351,13–353,30 197a–198b
237,1–240,6 234a 353,30–364,6 171a–179a
240,7–247,20 235a–240a 364,7–370,33 180a–186a
247,20–263,13 241a–255a 371,1–371,22 187a
263,13–266,8 256a–257b 371,23–381,5 188a–196b
266, Anm. 1 258 381,5–388,10 199a–204b
267,1–275,4 259a–265b 388,11–396,5 f i 30 2a–8b
275,4–276,20 267 396,5–397,6 10a
276,20–277,17 266 396, Anm. 2 9a
277 f., Anm. 2 268 397,7–401,3 10b–12b
278,1–281,13 269a–271a 400, Anm. 1 13
281,14–287,4 272a–276b 401,3–439,21 14a–46b
288,4–292,19 f i 42 114a–117b 439, Anm. 1 47a
292,20–293,20 118 440,1–468, 33 48a–70b
293,31–294,10 117b 468 f., Anm. 2 71a
294,11–303,9 119a–126a 469,1–477,8 71b–77b
303,10–303,26 127a
NAMENREGISTER

Achill 24, 26, 44 343, 346, 359 f., 369, 374–376,


Anaxagoras 10, 192 f., 194 396 f. Anm. 2, 398 f., 419, 424,
Anm. 1 426, 431, 434–436, 445 f., 463,
Anaximander 10 468 f. Anm. 2
von Aquin, Th. 435 Duns Scotus 435
Aristippos 140, 158
Aristoteles 7, 49, 86–89, 91, 94, Empedokles 10, 192 f., 194
99, 104, 160, 210–213, 219, 229 f., Anm. 1
235 Anm. 1, 236 f. Anm. 1, 264, Epikur 140
342, 345, 368, 427, 435, 450, 452– Eudoxus 160
456, 458 Euklid 53, 239, 358, 425, 427

Bacon 221, 230 Anm. 1, 318 f. Fechner 161


Bolzano 87
Brentano 146 Anm. 1 Galilei 225, 236 f. Anm. 1, 320,
Bentham 161 369
Berkeley 234, 275, 318, 351, 375, Gauss 167
378, 383 Anm. 1, 384, 387–405, Geiger 146 Anm. 1
408, 416, 421, 424, 436 Anm. 1, Goethe 105, 167
444, 448 Anm. 1 Gorgias 12 f., 15–19, 21, 23, 30,
249 f. Anm. 1, 303 Anm. 2
Christus 144 Anm. 1 Graßman 462
Cicero 300
Comte 4 Anm. 1, 189 f. Heraklit 10 f., 24, 191
Crusius 469 Herodot 6
Hobbes 225, 230 Anm. 1, 231,
Demokrit 193–196, 200, 213 233, 277, 318–320, 375 f. Anm. 1,
Descartes 225, 233, 235, 236 f. 424
Anm. 1, 238, 241 Anm. 3, 243 f., Hume 243, 318, 351, 377, 392,
246–252, 256, 271–274, 276, 400 f., 405 f., 408 f., 411 f., 415–
280 f., 285, 288–290, 293, 297 f., 422, 424, 427 Anm. 1, 437, 469–
301 Anm. 1, 303, 305, 311, 313 474
Anm. 2, 314–316, 319 f., 328,

H. Jacobs (ed.), Einleitung in die Philosophie Vorlesungen 1916–1920, 481


Husserliana: Edmund Husserl – Materialien IX, DOI 10.1007/978-94-007-4659-6,
© Springer Science+Business Media Dordrecht 2012
482 namenregister

Kant 23, 121, 166 f., 206, 268, 103 f., 123, 167, 187, 194–196,
274, 316, 318, 321, 405, 424, 431, 198–201, 204, 210, 211 Anm. 1,
463, 468–471, 472 Anm. 1, 474 f. 213, 219, 230, 241 Anm. 2, 299,
Kepler 320 368, 435
Krösus 6 Protagoras 12–16, 18, 21–23, 25,
30 Anm. 2, 63, 195
Lambert 431, 463
Leibniz 59, 233, 275, 314, 316, Rüdiger 469
375, 424, 431, 435–438, 439
Anm. 1, 441 f., 442, 444, 446 f., Schopenhauer 174
449, 462, 466, 469 f. Sokrates 16, 22, 24–26, 28–30,
Leukipp 10, 192 Anm. 3, 193 33 f., 36–38, 39 f. Anm. 2, 41 f.,
Locke 243, 286, 317–321, 330, 46, 48, 73, 75–77, 158, 194, 196,
332–340, 343–347, 350 f., 354 f., 200
360, 376–388, 392, 398–402, 405, Solon 6–8
413, 435–437, 469 Spinoza 227 f. Anm. 3, 235, 236 f.
Lotze 272 Anm. 1, 239 f., 243, 314, 316,
319, 424–426, 426–429, 431–436,
Mach 4, 5 Anm. 1, 398 439 Anm. 1
Malebranche 388, 392, 433
Michelangelo 167 Thales 7 f., 10
Mill 161
Vives 320
von Ockham 219
Windelband 192 Anm. 1
Paulsen 4, 5 Wolff 316, 469
Parmenides 10, 24 Wundt 5
Patroklos 44
Platon 19, 24, 28–30, 33–36, 39 Xenophon 191
Anm. 2, 41–44, 46, 48–51, 53–
55, 57, 59 f., 63, 65, 67, 85 f., 88, Zenon 24

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