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Abendländischer Chiliasmus um 1000?

Zur Rezeption unserer christlichen Ära

A N N A - D O R O T H E E VON DEN BRINCKEN (Köln)

Das P r o b l e m

Der vergangene Jahreswechsel ist — zahlenmäßig irrtümlich, aber der kom-


mende bietet noch einmal Gelegenheit zu derartigen Spekulationen — von den
Medien unserer Tage als eschatologisch brisant erörtert worden. Solchen Aber-
glauben gewissermaßen entschuldigend, wurde vielfach ins Feld geführt, man
folge nur einer Tradition, die sich beim ersten Jahrtausendwechsel unserer Zeit-
rechnung herausgebildet habe.
Bei näherem Hinsehen erweist sich die Argumentation als recht fadenscheinig.
Die folgende Untersuchung befaßt sich daher noch einmal mit der Endzeit-
stimmung im Zusammenhang mit etwaigem Chiliasmus um das Jahr 1000 und
widmet sich vor allem den möglichen Ursachen der damaligen Zurückhaltung.
Chiliasmus, abgeleitet von grch. χιλιάς, eine Anzahl von Tausend, hier tausend
Jahre, lat. millennium, war bereits der jüdischen Apokalyptik vertraut; er spielte
in der christlichen Exegese vorrangig im Zusammenhang mit dem 20. Kapitel
der Johannes-Apokalypse eine Rolle, in der von einer tausendjährigen Herrschaft
Christi mit den Gerechten der ersten Auferstehung die Rede ist; während dieser
Zeit liegt Satan in Ketten, ehe er vor dem Ende nochmals hervorbricht.

1. Z e u g n i s s e f ü r ein E n d z e i t b e w u ß t s e i n um 1000

Zu allen Zeiten haben nachdenkliche Menschen über das mögliche Ende der
Zeiten sinniert. Stets lenkt die Verborgenheit der Zukunft den Blick auf die
Vergangenheit und umgekehrt; Universalgeschichtsschreibung hat daher viel mit
Eschatologie zu tun 1 , insbesondere in Kulturen mit linearen Zeitvorstellungen
wie den Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam. Die Vermutung einer
Intensivierung von Endzeitvorstellungen um 1000 liegt insofern auf der Hand.
Die Diskussion um eine Weltuntergangsstimmung anläßlich der ersten Jahr-
tausendwende unserer Zeitrechnung ist nun keineswegs neu, sondern schon sehr

1 Cf. M. Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik (Beihefte zum
Archiv für Kulturgeschichte 13), Köln - Wien 1980.

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nachdrücklich im 19. Jahrhundert geführt und in jüngster Zeit u. a. von Johan-


nes Fried 2 unter Beibringung diverser Für- und Gegenstimmen belebt worden.
Im folgenden geht es vorrangig um diejenigen Zeugnisse, in denen die Zahl
1000 eine Rolle spielt, es sich also um Chiliasmus im engeren Sinne handelt und
daher die damals gebräuchlichen chronologischen Systeme, insbesondere die
Kennzeichnung der Jahre, einzubeziehen sind.
Ob das Endzeitbewußtsein um 1000 sehr lebendig war, hängt u. a. von der
Frage ab, wie man den Zeitraum absteckt und welche Art Aussagen man ein-
bezieht. Sicherlich war das Endzeitinteresse um 1200 unter dem Einfluß des
Joachim von Fiore wesentlich größer als 200 Jahre zuvor. Um 800 basierten die
eschatologischen Befürchtungen noch auf einer anderen Jahreszählweise, der
hieronymianischen Weltära, belebt u. a. durch den Apokalypsenkommentar des
Beatus von Liébana um 776/786.
Die meisten Studien zum Endzeitbewußtsein um 1000 — insbesondere aus
Frankreich — beziehen den gesamten Bereich der bildenden Kunst von der
Mitte des 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts ein und können reichhaltige
Zeugnisse in Malerei und Plastik beibringen, die allerdings keinerlei Bezug auf
das Jahr 1000 haben, sich aber allgemein mit Fragen der Eschatologie befassen.
Für die deutsche Sicht unserer zu Ende gehenden Jahrhunderthälfte war da
eher die Studie von Bruno Barbatti 3 prägend, der in seiner Untersuchung über
den heiligen Adalbert von Prag vergebens nach einer Weltuntergangsstimmung
jener Zeit fahndete. Bedeutende eschatologische Zeugnisse sind durchaus be-
kannt, aber nicht chronologisch geprägt. So sind im 10. Jahrhundert die Ungarn-
einfälle wiederholt mit den Völkern Gog und Magog und der Ezechiel-Exegese in
Verbindung gebracht worden4, doch spielen Daten dabei keine gewichtige Rolle.
Ein berühmter Zeuge für Eschatologie ist die 954 auf Bitten Gerbergas, der
Gemahlin Ludwigs IV. von Frankreich und Schwester Ottos des Großen, ver-
faßte Schrift „De ortu et tempore Antichristi"5. Ihr Verfasser Adso von Montier-
en-Der, Mönch der Reformbewegung von Gorze und später Abt, erzielte damit
eine außerordentliche Wirkung; ihm ging es vorrangig um den Fortbestand des
Römischen Reiches. Er bezog sich im Text keineswegs auf das Jahr 1000, doch
mag man in seinem literarischen Erfolg während der beiden folgenden Genera-
tionen ein Anzeichen sehen für das Interesse der Zeit an Fragen dieser Art.
Abt Abbo von Fleury (f 1004) erinnerte sich 994 in seinem „Liber Apologe-
ticus", gerichtet an die französischen Könige Hugo und Robert, als blutjunger
Heranwachsender einmal in einer Predigt in Paris gehört zu haben, daß der

2 Cf. J. Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung
des Mittelalters [= DA] 45 (1989), 3 8 1 - 4 7 3 .
3 B. Barbatti, Der heilige Adalbert von Prag und der Glaube an den Weltuntergang im Jahre 1000,
in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (1953), 1 2 3 - 1 4 1 .
4 Cf. R. B. C. Huygens, Un témoin de la crainte de l'an 1000: La lettre sur les Hongrois, in:
Latomus 15 (1956), 2 2 5 - 2 3 8 .
5 Adso Dervensis, De ortu et tempore Antichristi, ed. D. Verhelst, CC CM 45, Turnhout 1976,
20-30.

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Antichrist, gefolgt vom Jüngsten Gericht, bald nach dem Ablauf von tausend
Jahren erscheinen sollte: Er selbst habe dieser Meinung stets mit Argumenten
aus den Evangelien, .der Apokalypse und dem Propheten Daniel widersprochen6.
Voll in das Bild des Endzeitliteraten freilich paßt der Mönch Rodulfus Glaber
(ca. 980—1046), der in Saint-Bénigne in Dijon, Cluny und Saint-Germain-d'Au-
xerres — allerdings erst lange nach der Jahrtausendwende - wirkte und sich in
seinen fünf Büchern der Geschichte mit der selbsterlebten Zeit befaßte. Er bezog
sich bewußt auf das Millennium von Christi Geburt und Erlösungswerk um
10337, schrieb dies aber erst 1040—46 nieder. Hier ist der Kirchenbau nach 1000
hervorgehoben 8 , nachdrücklicher spielen verschiedentlich Häresien im Abend-
land, die Eroberung von Jerusalem 1009 durch al-Häkim, Kalif von Kairo 9 ,
große Hungersnot 10 , kurz Katastrophen aller Art eine wichtige Rolle. Nach
Rodulfus gab aber weniger das Jahr 1000, als vielmehr das Jahr 1033 zu Auf-
bruchstimmung Anlaß, weil sich Christi Erlösungstat zum tausendsten Male
jährte. Überfluß an Gütern und Friedensbemühungen nahmen damals zu 11 , rie-
sige Pilgerzüge brachen nach Jerusalem auf 12 . Insofern handelt es sich hier um
echten Chiliasmus, nicht im Inkarnationsjahr 1000 wahrgenommen, sondern im
1000. Jahr des vollendeten Heilsgeschehens nicht etwa vorhergesagt, vielmehr
nachträglich berichtet.
Man wird zusammenfassend feststellen dürfen, daß die Jahreszahl 1000 keine
Unruhe über die Zeitgenossen brachte, unbeschadet der generell stets belegten
eschatologischen Interessen. Die Beobachtungen des Rodulfus Glaber betreffen
das Millennium der Erlösung und werden nachträglich referiert.
Unsere Zeit irrte also mit der Vermutung außergewöhnlicher Unruhe um das
Jahr 1000 13. Worin aber liegt die Ursache dafür? Dazu bedarf es einer Betrach-
tung der gebräuchlichen Jahreszählungen um 1000.

2. Die E n t s t e h u n g der c h r i s t l i c h e n Ära

Unsere christliche Ära wird im Jahr 2000 viel erörtert. Schon der Geschichts-
student im Proseminar lernt, daß ihr Schöpfer der in der ersten Hälfte des
ó.Jahrhunderts in Rom wirkende Abt Dionysius Exiguus war, ein fleißiger
Sammler des Kirchenrechtes. Er hat neben Victorius von Aquitanien das Ver-

6 Sancii Abbonis Apologeticus, ed. Migne, PL 139, col. 471 sq.; cf. Barbatti, Weltuntergang (nt. 3),
131-133.
7 Rodulfi Glabri Historiarum Libri Quinqué I, 1, ed. and transi, by J. France (Oxford Medieval
Texts), Oxford 1989, 2.
8 Ibid., III, IV, 1 3 - 1 5 ( 1 1 4 - 1 2 0 ) .
9 Ibid., III, VII, 2 4 - 2 5 ( 1 3 2 - 1 3 6 ) .
10 Ibid., IV, IV, 9 - 1 3 ( 1 8 4 - 1 9 2 ) .
11 Ibid., IV, V, 1 4 - 1 7 ( 1 9 4 - 1 9 8 ) .
12 Ibid., IV, VI, 1 8 - 2 1 ( 1 9 8 - 2 0 4 ) .
13 Cf. S. Gouguenheim, Les fausses terreurs de l'an Mil. Attente de la fin des temps ou approfon-
dissement de la foi?, Paris 1999.

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dienst, der lateinischen Welt den noch heute gültigen 532jährigen Osterzyklus
— er ergibt sich aus einer Multiplikation des 19jährigen Mondzyklus des Meton
von Athen (432 v. Chr.) mit dem 28jährigen julianischen Sonnenzyklus — des
ägyptischen Mönches Annianos vermittelt zu haben.
Bekannt ist seine Ostertafel, mit der er die neue Osterfestberechnung verbrei-
ten helfen wollte, indem er für die nächsten fünf neunzehnjährigen Mondzyklen,
d. h. für 95 Jahre, die Osterfeste im voraus eintrug. Zu diesem Zweck benötigte
er eine Technik der Jahreskennzeichnungen, die auch für künftige Jahre taugte.
Wie kennzeichnete man Jahre im Schrifttum? Man orientierte sich an den be-
deutenden Personen einer Epoche, sog. Eponymen, nämlich an Königen, Kai-
sern, Fürsten, Präsidenten, Kanzlern, Päpsten, Hohenpriestern, Richtern, auch
Zeitbeamten wie Konsuln in Rom, Archonten in Attika und Ephoren in Sparta.
Die aber kannte man für künftige Zeiten nicht im voraus. Immerhin konnte
man sich in einer Kultur mit linearem Zeitverständnis der damals noch nicht so
populären Ären bedienen, wie sie ζ. B. als römische Ära der Jahre ab urbe condita
oder als Seleukidenära ab 312 v. Chr. rechnend bekannt waren. In Rom hatte
sich auch eine Diokletiansära eingebürgert, die mit dem Herrschaftsantritt dieses
Verwaltungsreformators 284 einsetzte. Diokletian aber erregte den Ärger des
Dionysius, weil er ein Christenverfolger gewesen war. So verfiel Dionysius — wie
man aus seinem Brief an den Bischof Petronius weiß 14 - auf eine Rechnung
ab Christi Geburt, wobei er das letzte Jahr des ersten großen Zyklus 532 dem
248. Jahr nach Diokletian gleichsetzte. Er schuf damit eine wenngleich fehler-
hafte Umrechnung - Christus ist mindestens 4, wenn nicht 6 oder 7 Jahre vor
der Zeitenwende geboren —, konnte dies aber auf der ihm damals zur Verfügung
stehenden Grundlage schriftlicher Zeugnisse nicht korrekter lösen.
Diese Ära gilt heute auf der ganzen Welt, seit 1872 in Japan, seit 1927 in der
neuen Türkei und seit 1949 sogar im sozialistischen China, bisweilen als „unsere
Zeitrechnung" gekennzeichnet, wenn man dem Christentum fernsteht. Zur Zeit
des Dionysius aber war es keineswegs so, daß alle Welt auf sie gewartet hätte
und sich ihrer fortan bediente. Allein im lateinischen Westen brauchte sie wohl
ein halbes Jahrtausend, um sich einigermaßen durchzusetzen, denn im Hand-
schriftenzeitalter verlangte dies Weile. Dionysius trat nicht als Kalenderreforma-
tor der Christenheit auf, er schuf nur ein Hilfsmittel für die Kennzeichnung
künftiger Jahre auf Ostertafeln. Er war kein Historiker und ordnete daher auch
keineswegs die Zeitrechnung der Historiographie neu. Nur im Zusammenhang
mit Ostertafeln fand die Ära des Dionysius in den beiden folgenden Jahrhunder-
ten Verwendung, wofür um 626 Fortsetzer wiederum für 95 Jahre tätig wurden.

3. B e d a V e n e r a b i i i s als K n o t e n p u n k t
abendländischen Zeitverständnisses

Der angelsächsische Mönchsgelehrte Beda Venerabiiis (673/4—735), der in


den Klöstern Wearmouth und Jarrow wirkte, wurde im Westen zum Koordinator
14 Epistola ad Petronium episcopum, ed. Migne, PL 67, coli. 1 9 - 2 3 .

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und Vermittler der christlichen Chronologie. Er selbst verstand sich als Bibel-
exeget. In Britannien hatte sich nach dem engen Anschluß an Rom z. Zt.
Gregors des Großen das römische Kalenderwesen gegen die irische Tradition
durchsetzen können. Von Bedas Schriften sind in diesem Zusammenhang das
Handbuch „De temporibus" von 703 15 , enthaltend auch die kleine Weltchro-
nik 16 , die bis 1063 fortgesetzte Ostertafel 17 , die chronologische Enzyklopädie
„De temporum ratione" mit großer Weltchronik um 725 18 und die Kirchen-
geschichte Englands von 731 von Gewicht. 703 erregte Beda gegenüber seinen
Vorgängern vor allem dadurch Aufsehen und auch Anstoß, daß er die Chrono-
logie des Kirchenvaters Hieronymus auf der Grundlage der von diesem selbst
gegen Ende seines Lebens angefertigten Vulgata-Ubersetzung der Bibel mit an-
deren als den gängigen Zahlenüberlieferungen korrigierte secundum hebraicam Ver-
ität em. In das große Handbuch flöß seine Erfahrung an der Ostertafel-Fort-
setzung ein und veranlaßte ihn bereits zu einer kritischen Erörterung der Inkar-
nationsära, die er dann allerdings in der großen Chronik noch überhaupt nicht
anwandte, vielmehr folgte er strikt seiner neuen Weltära. Hingegen finden sich
in der „Kirchengeschichte der Angelsachsen" zahlreiche Belege für die An-
wendung unserer christlichen Ära, sogar schon retrospektiv genutzt. Auch hat
der Gelehrte im Schlußkapitel nochmals die Datierungen nach der offenbar
noch völlig ungewohnten Inkarnationsära zusammengestellt 19 .
Beda hat diese Schritte nicht etwa in Anlehnung an römisches oder auch
nur festländisches Vorbild vollzogen, sondern ganz offensichtlich selbst neu
konzipiert. Seine Arbeiten blieben für fast ein Jahrtausend das allgemeine
chronologische Fundament. An der Verbreitung der christlichen Ära durch die
Ostertafeln im frühmittelalterlichen Annalenwesen hat er entscheidenden Anteil,
doch keineswegs von heute auf morgen. Welcher anderen Jahreskennzeichnun-
gen bediente man sich sonst noch im christlichen Kulturkreis?

4. D i e z w i s c h e n 6 0 0 u n d 1 1 0 0 i m W e s t e n g e b r ä u c h l i c h e n W e l t ä r e n

Das Christentum hat — ebenso wie das Judentum und der Islam — ein linea-
res Zeitverständnis auf der gemeinsamen Basis des Alten Testaments. Schon die
Juden errechneten aus der Genesis die Dauer der Welt und beanspruchten vor
den Kulturen des Hellenismus das höchste Alter für sich. Die Christen über-
nahmen diese Denkweise in ihre im 3. Jahrhundert aufkommende Weltchroni-

15
C. W Jones (ed.), Bedae Opera de Temporibus, Cambridge/Mass. 1943, Repr. CC SL 123C,
Turnhout 1980, 579-611.
16
Ed. auch Th. Mommsen, MGH Auct. Ant. 13, 1898, 223-317.
17
Ed. Jones, Bedae Opera (nt. 15), 547-562.
18
Ed. Jones, Bedae Opera (nt. 15); CC SL 123B, Turnhout 1977, 239-544; Mommsen, op. cit.
(nt. 16).
19
V, 24, in: Ch. Plummer (ed.), Venerabiiis Bedae Opera Histórica 1, Oxford 1896, 352-356.

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stik 20 . Auf der Grundlage der damals im Mittelmeerraum verbreiteten griechi-


schen Version des Alten Testaments, der angeblich von 70 Weisen erstellten
Septuaginta, errechnete man grob 5500 Jahre Weltgeschichte von der Schöpfung
bis zu Christus. Die frühchristliche Theologie vermutete in der Schöpfungs-
geschichte gern eine Präfiguration des Weltgeschehens. Den Tagen der Welt-
erschaffung entsprachen nach Psalm 89, 4 jeweils tausend Jahre der Geschichte.
Wie Adam mitten am sechsten Tag erschaffen wurde, so kam Christus mitten
im sechsten Jahrtausend auf diese Welt. Diese Rechenweise hielt sich im byzanti-
nischen und mit kleinen Abweichungen im alexandrinischen Bereich, so ζ. B. in
Rußland bis 1700 und in Griechenland bis 1830.
Die lateinische Welt hatte sich bereits um 381 durch des Hieronymus Bearbei-
tung der Chroniken des Eusebios von dieser Zählweise abgesetzt, weil inzwi-
schen zunehmend Stimmen laut wurden, die für das Jahr 500 die Vollendung der
6000 Jahre annahmen und Endbefürchtungen verlauten ließen 21 . Hieronymus
errechnete 5198 Jahre bis Christi Geburt, die er ins Weltjahr 5199 legte. Derselbe
Hieronymus erstellte rund 25 Jahre später die Vulgata als Ubersetzung der Bibel
aus dem Hebräischen, fand dort viel geringere Lebensdaten für die biblischen
Patriarchen, korrigierte seine Chronik aber keineswegs entsprechend. Die fol-
genden drei Jahrhunderte hindurch blieb die Weltära der Chronik unangefochten
in der Vorherrschaft im lateinischen Westen. Das Jahr 500 verlief daher ohne
jede Merkwürdigkeit.
Zu Bedas Zeiten, am Anfang des 8. Jahrhunderts, änderte sich das, denn nun
begann das Näherrücken des Jahres 800 oder 801 Sorge zu erregen. Da erwies
es sich von großem Nutzen, daß Beda in Wearmouth und Jarrow hervorragende
Handschriftenbibliotheken zur Hand hatte, darunter sowohl die Vulgata als auch
altlateinische Bibeltexte. Schon in seiner kleinen Chronik führte er daher 703
die Vulgata-Chronologie ein, die nur 3951 Jahre vor Christi Geburt kannte und
dieselbe in das Weltjahr 3952 secundum hebraicam veritatem legte. Diese Rechen-
weise wurde gierig von der gesamten Chronographie des frühen und hohen
Mittelalters aufgegriffen, wie sich auf entsprechenden Übersichtstafeln zeigen
läßt 22 : Hieronymus hatte vor Beda etwa zehn Nachfolger in der Benutzung
seiner Weltära, nach Beda folgen fünf fränkische Chronisten mit annalistisch
endenden Werken Beda. Der nur die Vergangenheit behandelnde Frechulf von
Lisieux unter Ludwig dem Frommen hingegen tendiert wieder zu Hieronymus,
ebenso verhält sich die Universalhistoriographie der Iberischen Halbinsel, wäh-
rend die sächsische ebenso wie die schwäbische Universalchronistik mit Anna-
lencharakter im 10. und 11. Jahrhundert Beda folgt. Aus dem Rahmen fällt hier

20 A.-D. von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von
Freising, Düsseldorf 1957.
21 Cf. Q. Julius Marianus (ca. 397), Chronologia sive libellus de duratione mundi, ed. Migne, PL
13, col. 1104 sq. Cf. auch De decursu temporum, ed. C. Frick, Chronica minora I, Leipzig 1892,
171.
22 Cf. Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20), Tab. IV.

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neben der Chronik von St.-Vaast die Chronik von Luxeuil, deren Verfasser 1039
zwar um die Vulgata-Chronologie weiß, aber zum Jahr 801 vermeldet: Hicfiniutt-
tur anni23. Man weiß nicht recht, ob sich der Chronist jenseits der Zeiten dünkt,
eher beherrscht ihn Ironie.
Insgesamt hat Beda mithin das Abendland vor der Weltendfurcht um 800
bewahrt, ausgenommen die Regionen, die er nicht erreichte, z. B. Spanien, wo
etwa Beatus von Liébana um 786 äußert, von der Schöpfung bis zum Jahr der
spanischen Ära 824 (d. i. 786) seien 5986 Weltjahre vergangen; bis zur Voll-
endung des sechsten Millenniums seien es noch 14 Jahre, denn im Jahre der
spanischen Ära 838 ende das sechste Weltalter24, doch — fügt er vorschrifts-
mäßig hinzu — wisse keiner Zeit noch Stunde denn Gottvater allein 25 . Immer-
hin hat Beatus hier mit großer Selbstverständlichkeit Jahrtausend mit Weltalter
Isidors gleichgesetzt 26 .

5. Die R e z e p t i o n der c h r i s t l i c h e n Ära in der C h r o n o g r a p h i e

Die christliche Ära ist zweifellos noch nicht von Dionysius Exiguus, sondern
erst von Beda in die Historiographie eingeführt worden. Mit seiner Fortsetzung
der Ostertafeln, die im Rahmen der angelsächsischen Missionierung im Franken-
land in viele Klöster auf dem Fesdand kam, nahm sie in Form der sog. kleinen
Annalen Gestalt an, indem man freie Reste einer jeden Jahreszeile in den Oster-
tafeln zum Eintrag knapper Notizen über Geschehnisse verwandte. Diese An-
nalen setzten zumeist 741 oder zu Anfang des 8. Jahrhunderts ein und wurden
zur auffälligen historiographischen Neuschöpfung der Zeit. Sie bedienten sich
erstmals sämtlich der Jahre nach Christi Geburt. Die Annalen wiederum wurden
dann als Quellen für die Weltchroniken der Karolingerzeit herangezogen.
War das „Chronicon Palatinum" offenbar eine eigenwillige singuläre Abrech-
nung mit Beda auf antiochenischer Grundlage, in dem der Weltsabbat bereits
als angebrochen galt 27 , so setzte mit dem „Chronicon universale bis 741" 28 aus
dem Ende des 8. Jahrhunderts die auf Beda fußende fränkische Weltchronistik
ein, die ab 721 — Beginn der bedanischen Ostertafel! — vereinzelt nach Inkar-
nationsjahren zählte. Diese und andere bescheidene Weltchroniken der Zeit,

23 Chronicon Luxoviense breve, ed. G. H. Pertz, MGH SS III, 1839, 221.


24 IV, 5, 16 sq., in H. A. Sanders (ed.), Beati in Apocalypsin Libri Duodecim (Papers and Mono-
graphs of the American Academy in Rome 7), Rom 1930, 367 sq.
25 Act. 1, 7; Mc. 13, 32.
26 R. Landes, Lest the Millennium be Fulfilled. Apocalyptic Expectations and the Pattern of
Western Chronography 1 0 0 - 8 0 0 CE, in: W. Verbeke/D. Verhelst/A. Welkenhuysen (eds.), The
Use and Abuse of Eschatology in the Middle Ages (Mediaevalia Lovaniensia I, 15), Leuven
1988, 193.
27 Chronicon Palatinum, ed. Th. Mommsen: Laterculus imperatorum Romanorum Malalianus A D
573, MGH Auct. Ant. XIII, 1898, 4 2 4 - 4 3 7 ; cf. Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20),
118-120.
28 Ed. G. Waitz, MGH SS XIII, 1881, 1 - 1 9 .

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wie das „Chronicon breve bis 809"29, das „Chronicon breve Alamannicum bis
814"30, Claudius von Turin um dieselbe Zeit und die Chronik von Moissac um
818, basierten auf Bedas Weltära. Jahre nach Christus nannte für die Zeit nach
Beda sporadisch überhaupt nur die Chronik von Moissac.
Der Chronist Frechulf von Lisieux, der um 827 eine umfangreiche Welt-
geschichte erstellte31, beschränkte sich auf Vergangenheitsgeschichte bis zu Papst
Gregor dem Großen und folgte chronologisch noch der Tradition des Hierony-
mus; von Inkarnations jähren hatte er überhaupt noch nicht gehört.
Erzbischof Ado von Vienne hielt sich in seiner Weltchronik um 866 - 869 an
Beda, strich zwar die Menschwerdung Christi heraus32, verzichtete aber weit-
gehend auf übergreifende Jahreskennzeichnungen und benutzte die Inkarnations-
ära erst ab 708 entsprechend den anderen Chroniken des 9. Jahrhunderts33. Daß
von dem Chronisten aus dem spanischen Alvelda, der um 883 noch ganz in der
Isidor-Nachfolge verharrte und nicht einmal Beda kannte, keine Inkarnationsära
zu erwarten war, wundert nicht, zumal dort als weitere Sicherung der Jahres-
kennzeichnung noch die spanische Ära zur Verfügung stand34.
Geht man daher nicht fehl mit der Behauptung, im 9. Jahrhundert sei die
Inkarnationsära auf dem abendländischen Kontinent nur dann in der Chrono-
graphie verwendet worden, wenn sie in der annalistischen Vorlage für das 8.
und 9. Jahrhundert vorgegeben war, so gibt es eine Ausnahme, nämlich die
„Historia ecclesiastica seu Chronographia tripertita" des Anastasius Bibliothe-
carius um 871/74, die byzantinische Chroniken wie Synkellos und vor allem
Theophanes Confessor bis 813 ins Lateinische übertrug. Hier ist regelmäßig
neben der byzantinischen Weltära auch die Zahl der Inkarnations jähre mit-
geteilt35. Anastasius hatte als Bibliothekar der römischen Kirche eine kirchen-
politisch ambivalente Vergangenheit und wurde für die Kontakte mit Ostrom
nicht zuletzt durch seine Übersetzungen von Konzilsakten und Geschichts-
werken aus dem Griechischen aktiv. Er war nicht der Typ des abendländischen
Chronographen, suchte aber, die östliche Zeitrechnung im Abendland verständ-
lich zu machen und bediente sich da souverän der Inkarnationsära.
Ein neues Kapitel suchte Regino von Prüm im 10. Jahrhundert aufzuschlagen,
indem er als erster seine Weltchronik auf die sechste aetas beschränkte und mit
dem Jahr 1 der Inkarnation begann36. Die Chronik, die weite Verbreitung fand,
wollte sich bewußt der jüngeren Geschichte und der eigenen Zeit zur Belehrung
der Nachwelt widmen. Das Werk ist in zwei Teile aufgeteilt, bezeichnenderweise

29 Ed. Th. Mommsen, MGH Auct. Ant. XIII, 1898, 3 4 6 - 3 5 4 .


30 Cf. zu dieser und den beiden folgenden Chroniken Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20),
1 1 5 - 1 1 8 mit Nachweisen.
31 Ed. Migne, PL 106, coli. 9 1 7 - 1 2 5 8 .
32 Ed. Migne, PL 123, col. 75; Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20), 128, irrt hier für die
frühe Zeit; die Beobachtung gilt erst ab dem 8. Jahrhundert.
33 Migne, PL 123, col. 119.
34 Ed. Migne, PL 129, coli. 1 1 2 3 - 1 1 4 6 .
35 Ed. C. de Boor, in: Theophanes Confessor II, Leipzig 1885.
36 Ed. F. Kurze, MGH SSrG [50], 1890.

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mit dem Einschnitt zu 741, dem Anfangsjahr der Annalistik in Nachfolge Bedas
wie etwa auch der Fränkischen Reichsannalen. Man erwartet hier nicht ohne
Grund die erste volle Verarbeitung der nachchristlichen Zeit auf der Basis der
Inkarnationsära, was Regino wohl auch beabsichtigte, was ihm aber gründlich
mißlang, denn mit der Chronologie stand er schlicht generell auf Kriegsfuß. Im
ersten Teil suchte er die Regierungsjähre mit den Jahren Christi wenig gekonnt
in Ubereinstimmung zu bringen, verrechnete sich unentwegt, addierte auch die
Papstregierungsjahre und lieferte zu 741 37 eine mehr als verworrene Schluß-
komputation, gestand endlich kleinlaut seine Fehler angesichts der Problematik
der Inkarnations ära ein. Zu seiner Entschuldigung ist zu sagen, daß er unter
seinen Vorgängern außer bei Beda noch keinerlei Vorbild für die Berechnung
der Ära für die Vergangenheit finden konnte.
In die Mitte des 10. Jahrhunderts gehört das bis zum Ende des 9. Jahr-
hunderts reichende „Chronicon Vedastinum" 38 . Hier tauchen bei den Datierun-
gen seit der Mitte des 7. Jahrhunderts neben Inkarnationsjahresangaben auch
Zählungen nach den 19jährigen Mondzyklen aus des Dionysius Ostertafelwerk
auf. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts geht der Chronist dann in bedanischer Tra-
dition streng annalistisch vor, folgt aber Isidors Weltärenrechnung. Hier ist die
neue Jahreskennzeichnung also keineswegs erfolgreicher integriert als bei Regino.
Ein Blick auf den einzigen italienischen Beitrag zur Universalgeschichte im
10. Jahrhundert, nämlich auf das Werk des Benedikt von St. Andreas auf dem
Berg Soracte 39 , erübrigt sich insofern, als Benedikt sich für Jahreszahlen über-
haupt nicht interessierte und keine verwandte, obwohl ihm seine Vorlagen dazu
Anregungen boten.
Endlich entstanden im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts in einigen führen-
den sächsisch-thüringischen Klöstern Annalenwerke mit Weltchronik-Charakter,
so in Hersfeld und Hildesheim, von denen drei Ableitungen in Quedlinburg 40
um 1030, Hildesheim 41 um 1040 und bei Lampert von Hersfeld um 1077 über-
lebten. Während die Quedlinburger Annalen und Lampert Bedas Weltära folg-
ten, legten die Hildesheimer Isidor zugrunde. Beide Chronikenstränge nannten
nur vereinzelt Inkarnationsjahre für die Zeit vor der Karolingerzeit. Eine durch-
gängige Verarbeitung der Inkarnationsära sucht man daher im dunklen 10. Jahr-
hundert und seinen Folgewerken weiter vergebens.
Erst aus dem Umkreis der schwäbischen Weltchroniken hob sich dann Her-
mann von Reichenau heraus 42 , der sein Geschichtswerk 1048—1054 mit Christi
Geburt beginnen ließ und in der Tat als erster die Inkarnationsjahre durchgängig
als chronologisches Gerüst verwandte 43 . Er wuchs hier auch über verwandte

37 Ibid., 40, cf. Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20), 131 sq.
38 Ed. G. Waitz, MGH SS XIII, 1881, 6 7 4 - 7 0 9 .
39 Ed. G. Zucchetti (Fonti per la storia d'Italia 55), Rom 1920.
40 Annales Quedlinburgenses, ed. G. H. Pertz, MGH SS III, 1839, 1 8 - 9 0 .
41 Annales Hüdesheimenses ed. G. Waitz, MGH SSrG [8], 1878.
42 Hermann von Reichenau, Chronicon, ed. G. H. Pertz, MGH SS V, 1844, 6 7 - 1 3 3 .
43 E. Boshof in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (1995), 1443.

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188 Anna-Dorothee von den Brincken

Werke wie die sogenannte Schwäbische Weltchronik hinaus, die in seinem eng-
sten Umkreis entstand, mit der Schöpfung einset2te, aber wesentlich knapper
und gröber angelegt war als beispielsweise auch das verwandte „Chronicon Wir-
ziburgense". Gestützt auf den Reichtum der Klosterbibliothek gelang ihm, was
Regino erstrebt, aber verfehlt hatte, sieht man hier einmal von Anastasius Biblio-
thecarius ab.
Die christliche Ära brauchte mithin ein halbes Jahrtausend, um sich in der
Chronographie voll für die Zeit vor Beda zu etablieren. Dies gelang erst um
1050 einem astronomisch und chronologisch geschulten Historiker wie Her-
mann und fiel in die Zeit, als im Rahmen der Fortsetzungsarbeiten an den
Ostertafeln für den dritten großen Zyklus von 532 Jahren die bereits von Beda
kritisierte Inkarnationsära nach Kritikansätzen bei Abbo von Fleury bei Maria-
nus Scottus ins Kreuzfeuer der Diskussion geriet.

6. Die V e r w e n d u n g der christlichen Ära


im g e s c h ä f t l i c h e n S c h r i f t v e r k e h r

Jeder Brief bedient sich heute der Inkarnationsära, schon weil die moderne
Automatik den Schreiber damit verfolgt. Wie datierte man aber zwischen Diony-
sius und Marianus in Briefen und vor allem in Urkunden? Die erhaltenen Brief-
sammlungen lehren, daß exakte Zeitangaben selten gebräuchlich waren; für
Urkunden, die auf Dauer Geltung erlangen sollten, war eine ordnungsgemäße
Datierung vorgeschrieben44.
Im Rahmen der Geschichte der Jahreskennzeichnung im Schriftverkehr wird
von Diplomatikern erstaunt darauf aufmerksam gemacht, daß die Inkarnations-
ära in der Frühzeit vergebens gesucht wird, so etwa in langobardischen, mero-
wingischen und frühkaroüngischen Königsurkunden45. Wenn allerdings die Be-
obachtung richtig ist, daß erst Beda die Ära des Dionysius auf den Kontinent
brachte, ist das Fehlen der Anni Domini vor der Mitte des 8. Jahrhunderts hier
nur stimmig.
These: Die christliche Ära fand im Urkundenwesen — ähnlich wie in der
Chronographie — von Bedas England her über das Frankenreich erst langsam
Eingang in den romanischen Raum und eroberte die römische Kirche — parallel
zur Fortsetzung der Ostertafeln für den dritten großen Zyklus — erst im
11. Jahrhundert im Rahmen des wachsenden Universalitätsanspruchs.
Für England ist die christliche Ära seit Bedas Zeit zu erwarten, und sie ist
denn auch im gesamten angelsächsischen Urkundenwesen, das zudem der For-
schung bis 1066 gut erschlossen vorliegt46, eine Selbstverständlichkeit.

44
H. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. II, 2, Berlin 4 1968,
393.
45
Ibid., 427.
46
Cf. W. de Gray Birch, Cartularium Saxonicum. A collection of charters relating to Anglo-Saxon
history, 1 - 3 , London 1885-1899; cf. English Historical Documents I, 500-1042, ed. D. White-
lock, London - New York 1955.

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Abendländischer Chiliasmus um 1000? 189

Für das Frankenreich beobachtet Bresslau47, daß zuerst die Kapitularien in


der Mitte des 8. Jahrhunderts ab 742 4 8 die christliche Ära verwenden; in Ur-
kunden bleibt sie Ausnahmefall49. Die Reichskanzlei geht — das lernt sogar der
Proseminarist50 - erst 876 mit dem Regierungsantritt Ludwigs III. des Jüngeren
zur Verwendung der Inkarnationsära über.
Das westliche Frankenreich kennt die christliche Ära nicht, wird aber durch
Karl III., der 885 — 887/8 das Karolingerreich nochmals für ganz kurze Zeit
vereinigen konnte, mit ihr bekanntgemacht. Heimisch wird sie nicht, aber ζ. B.
bedient sich Ludwig der Blinde von Italien ihrer 896 bis 904, sonst hin und
wieder, Odo (888-898) in 30%, Karl d. Einfältige ( 8 9 3 - 9 1 1 ) in 5%, Robert
und Rudolf (923-936) überhaupt nicht, Ludwig IV. in 1 0 % der Fälle, Lothar
und Ludwig V. in 25 % der Fälle51.
Was Spanien anbelangt, werden die Datierbräuche Frankreichs von der Graf-
schaft Barcelona und von Katalanien übernommen52, wo sich die Regierungs-
daten der französischen Könige und so gut wie keine Inkarnationszahlen finden.
Asturien 53 und Galizien54 bedienen sich stets der spanischen Ära, die ein der
Inkarnationsära vergleichbar zuverlässiges Gerüst abgab. Dasselbe Bild ergibt
sich für das übrige christliche Spanien55.
In Italien sind Urkundenwerke aus dem dunklen Jahrhundert kaum faßbar,
kommunale Schriftlichkeit wird erst mit dem 11. Jahrhundert geordnet greifbar.
Die Inkarnationsära wird in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts gebräuch-
lich etwa in Pisa oder Siena, beeinflußt vom kirchlichen Urkundenwesen.

47 Bresslau, Urkundenlehre (nt. 44), 427-428.


48 Cf. MGH Cap. I, nn. 10 und 12, 24 und 29.
49 MGH D. Karol. I, ed. E. Mühlbacher, 1906, n. 199, 268,31.
50 E. Boshof, in: E. Boshof/K. Düwell/H. Kloft, Geschichte (Böhlau Studienbücher, Grundlagen
des Studiums), Köln - Weimar - Wien 4 1994, 164.
51 Cf. Chartes et diplômes relatifs à l'histoire de France, publiées par l'Académie des Inscriptions
et Belles-Lettres, Paris 1908 sqq. Die westlichen Karolinger liegen bis 987 gedruckt vor, erst
1059 setzen die Kapeünger-Bände ein.
52 Exemplarisch - besonderer Dank für hilfreiche Hinweise gilt Ursula Vones-Liebenstein! -
wurden an neueren Urkundenbüchern überprüft: E Udina Martorell, El Archivo Condal de
Barcelona de los siglos I X - X , Barcelona 1951, und J. M. Font Rius, Cartas de población y
franquicia de Cataluña, Madrid - Barcelona 1969.
53 Antonio C. Floriano, Diplomatica Española del periodo Astur: Reino de Asturias 718 — 910,
Oviedo 1949-1951.
54 L. Sanche2 Belda, Documentos reales de la edad media referrentes a Galicia, Madrid 1953, mit
Jahren Christi 922 η. 31 und 927 η. 37.
55 Stichproben in modernen Urkundenbüchern führen zu diesem Ergebnis: A. Urbieta Arteta,
Cartulario de San Millan de la Cogolla 759-1076, Valencia 1976; J. Rodriguez de Lama, Colec-
ción Diplomatica Medieval de la Rioja 923—1168, Logroño 1976 (mit Ausnahme des ersten
Stücks von 923 mit Doppeldatierung); Pilar Loscertales de G. de Valdeavellano, Tumbos del
Monasterio de Sobrado de los Monjes, Madrid 1976; L. Sanchez Belda, Cartulario de Santo
Toribio de Liébana, Madrid 1948; Juan del Alamo, Colección Diplomatica de San Salvador de
Oña 822-1284, Madrid 1950; J. M. Minguez Fernandez, Colección Diplomatica del monasterio
de Sahagun (siglos IX y X), León 1976.

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Von ganz entscheidendem Gewicht im romanischen Raum ist aber natürlich


das Brauchtum der päpstlichen Kanzlei, das uns dank des Einsatzes von Harald
Zimmermann 56 gerade für die in Rede stehende Zeit um 1000, nämlich 896 bis
1046, im Extenso-Druck vorliegt. Natürlich basiert es zwangsläufig — von we-
nigen sehr bekannten Ausnahmen abgesehen, die natürlich keinerlei Spuren der
christlichen Ära aufweisen — auf sekundärer Überlieferung, die oft erst in die
Neuzeit gehört und bei der bei Verfälschungen die gewohnte Jahreszählung dem
Bearbeiter sehr leicht in die Feder flöß. Hier finden sich vereinzelte erste Spuren
bei Leo VIII. (963 — 965) in gefälschten Urkunden 57 , bei Johann XIII. aber
968-970 5 8 in unzweifelhaften Stücken unter dem Einfluß Ottos des Großen.
Christi Inkarnation spielt bei seinem Stellvertreter auf Erden für die Datierung
einstweilen noch kaum die Rolle, die man erwartet hätte. Die Päpste orientieren
sich stets an der eigenen Regierungszeit 59 , die Ausnahmen machen kaum mehr
als 1 % aus. Erst die Reform Leos IX. (1049 — 54) fuhrt die Inkarnationsära in
die sog. große Datierung der feierlichen Privilegien ein, wo sie seit Nikolaus II.
(1058 — 61) ihren festen Platz erhält. Litterae und Brevia nehmen sie überhaupt
erst 1431 unter Eugen IV. auf. Um 1000 ist Rom freilich gerade nicht der Nabel
der Welt, und auch Silvester II. hatte als Papst keinen aus dem Rahmen fallenden
Einfluß 60 .

Zusammenfassung

Unsere christliche Ära, konstruiert, um Jahreskennzeichnungen für künftige


Zeiten zu ermöglichen, aber nicht primär, um das Zeitverständnis zu christiani-
sieren, benötigte ein halbes Jahrtausend, um die Welt des christlichen Abend-
landes im Bereich der Datierung sowohl im geschäftlichen Schriftverkehr als
auch in der Historiographie, die Vergangenheit betreffend, zu durchdringen.

56 Papsturkunden 896-1046, 3 Bde., Österr. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denk-
schriften 174, 177, 198, Wien 2 1988, 1985, 1989.
57 Ibid., nn. 160, 168 und 169 (vol. 1, 296-298, 327-333).
58 Ibid., nn. 185, 190, 197, 198 (362-364, 374-376, 389-393), und - weniger unzweifelhaft! -
n. 204 (402-404).
59 Ibid., Benedikt VII. nn. 252 (496-498), weniger gesichert nn. 247 und 290; Johann XV. nn. 290,
301, 317 ungesichert, desgleichen Gregor V. nn. 326, 330, 343, 353 und 358 ungesichert; Silvester
II. n. 373 (724 sq.), fraglich hingegen nn. 368 und 397; Sergius IV. n. 451 (857 sq.), ungesichert
nn. 447 und 460, desgleichen ungesichert Benedikt VIII. nn. 535 und 545 sowie Johann XIX.
n. 575.
60 H.-H. Kortüm, Gerbertus qui et Silvester. Papsttum um die Jahrtausendwende, in: DA 53 (1999),
29-62.

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