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Das P r o b l e m
1. Z e u g n i s s e f ü r ein E n d z e i t b e w u ß t s e i n um 1000
Zu allen Zeiten haben nachdenkliche Menschen über das mögliche Ende der
Zeiten sinniert. Stets lenkt die Verborgenheit der Zukunft den Blick auf die
Vergangenheit und umgekehrt; Universalgeschichtsschreibung hat daher viel mit
Eschatologie zu tun 1 , insbesondere in Kulturen mit linearen Zeitvorstellungen
wie den Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam. Die Vermutung einer
Intensivierung von Endzeitvorstellungen um 1000 liegt insofern auf der Hand.
Die Diskussion um eine Weltuntergangsstimmung anläßlich der ersten Jahr-
tausendwende unserer Zeitrechnung ist nun keineswegs neu, sondern schon sehr
1 Cf. M. Haeusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik (Beihefte zum
Archiv für Kulturgeschichte 13), Köln - Wien 1980.
2 Cf. J. Fried, Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung
des Mittelalters [= DA] 45 (1989), 3 8 1 - 4 7 3 .
3 B. Barbatti, Der heilige Adalbert von Prag und der Glaube an den Weltuntergang im Jahre 1000,
in: Archiv für Kulturgeschichte 35 (1953), 1 2 3 - 1 4 1 .
4 Cf. R. B. C. Huygens, Un témoin de la crainte de l'an 1000: La lettre sur les Hongrois, in:
Latomus 15 (1956), 2 2 5 - 2 3 8 .
5 Adso Dervensis, De ortu et tempore Antichristi, ed. D. Verhelst, CC CM 45, Turnhout 1976,
20-30.
Antichrist, gefolgt vom Jüngsten Gericht, bald nach dem Ablauf von tausend
Jahren erscheinen sollte: Er selbst habe dieser Meinung stets mit Argumenten
aus den Evangelien, .der Apokalypse und dem Propheten Daniel widersprochen6.
Voll in das Bild des Endzeitliteraten freilich paßt der Mönch Rodulfus Glaber
(ca. 980—1046), der in Saint-Bénigne in Dijon, Cluny und Saint-Germain-d'Au-
xerres — allerdings erst lange nach der Jahrtausendwende - wirkte und sich in
seinen fünf Büchern der Geschichte mit der selbsterlebten Zeit befaßte. Er bezog
sich bewußt auf das Millennium von Christi Geburt und Erlösungswerk um
10337, schrieb dies aber erst 1040—46 nieder. Hier ist der Kirchenbau nach 1000
hervorgehoben 8 , nachdrücklicher spielen verschiedentlich Häresien im Abend-
land, die Eroberung von Jerusalem 1009 durch al-Häkim, Kalif von Kairo 9 ,
große Hungersnot 10 , kurz Katastrophen aller Art eine wichtige Rolle. Nach
Rodulfus gab aber weniger das Jahr 1000, als vielmehr das Jahr 1033 zu Auf-
bruchstimmung Anlaß, weil sich Christi Erlösungstat zum tausendsten Male
jährte. Überfluß an Gütern und Friedensbemühungen nahmen damals zu 11 , rie-
sige Pilgerzüge brachen nach Jerusalem auf 12 . Insofern handelt es sich hier um
echten Chiliasmus, nicht im Inkarnationsjahr 1000 wahrgenommen, sondern im
1000. Jahr des vollendeten Heilsgeschehens nicht etwa vorhergesagt, vielmehr
nachträglich berichtet.
Man wird zusammenfassend feststellen dürfen, daß die Jahreszahl 1000 keine
Unruhe über die Zeitgenossen brachte, unbeschadet der generell stets belegten
eschatologischen Interessen. Die Beobachtungen des Rodulfus Glaber betreffen
das Millennium der Erlösung und werden nachträglich referiert.
Unsere Zeit irrte also mit der Vermutung außergewöhnlicher Unruhe um das
Jahr 1000 13. Worin aber liegt die Ursache dafür? Dazu bedarf es einer Betrach-
tung der gebräuchlichen Jahreszählungen um 1000.
Unsere christliche Ära wird im Jahr 2000 viel erörtert. Schon der Geschichts-
student im Proseminar lernt, daß ihr Schöpfer der in der ersten Hälfte des
ó.Jahrhunderts in Rom wirkende Abt Dionysius Exiguus war, ein fleißiger
Sammler des Kirchenrechtes. Er hat neben Victorius von Aquitanien das Ver-
6 Sancii Abbonis Apologeticus, ed. Migne, PL 139, col. 471 sq.; cf. Barbatti, Weltuntergang (nt. 3),
131-133.
7 Rodulfi Glabri Historiarum Libri Quinqué I, 1, ed. and transi, by J. France (Oxford Medieval
Texts), Oxford 1989, 2.
8 Ibid., III, IV, 1 3 - 1 5 ( 1 1 4 - 1 2 0 ) .
9 Ibid., III, VII, 2 4 - 2 5 ( 1 3 2 - 1 3 6 ) .
10 Ibid., IV, IV, 9 - 1 3 ( 1 8 4 - 1 9 2 ) .
11 Ibid., IV, V, 1 4 - 1 7 ( 1 9 4 - 1 9 8 ) .
12 Ibid., IV, VI, 1 8 - 2 1 ( 1 9 8 - 2 0 4 ) .
13 Cf. S. Gouguenheim, Les fausses terreurs de l'an Mil. Attente de la fin des temps ou approfon-
dissement de la foi?, Paris 1999.
dienst, der lateinischen Welt den noch heute gültigen 532jährigen Osterzyklus
— er ergibt sich aus einer Multiplikation des 19jährigen Mondzyklus des Meton
von Athen (432 v. Chr.) mit dem 28jährigen julianischen Sonnenzyklus — des
ägyptischen Mönches Annianos vermittelt zu haben.
Bekannt ist seine Ostertafel, mit der er die neue Osterfestberechnung verbrei-
ten helfen wollte, indem er für die nächsten fünf neunzehnjährigen Mondzyklen,
d. h. für 95 Jahre, die Osterfeste im voraus eintrug. Zu diesem Zweck benötigte
er eine Technik der Jahreskennzeichnungen, die auch für künftige Jahre taugte.
Wie kennzeichnete man Jahre im Schrifttum? Man orientierte sich an den be-
deutenden Personen einer Epoche, sog. Eponymen, nämlich an Königen, Kai-
sern, Fürsten, Präsidenten, Kanzlern, Päpsten, Hohenpriestern, Richtern, auch
Zeitbeamten wie Konsuln in Rom, Archonten in Attika und Ephoren in Sparta.
Die aber kannte man für künftige Zeiten nicht im voraus. Immerhin konnte
man sich in einer Kultur mit linearem Zeitverständnis der damals noch nicht so
populären Ären bedienen, wie sie ζ. B. als römische Ära der Jahre ab urbe condita
oder als Seleukidenära ab 312 v. Chr. rechnend bekannt waren. In Rom hatte
sich auch eine Diokletiansära eingebürgert, die mit dem Herrschaftsantritt dieses
Verwaltungsreformators 284 einsetzte. Diokletian aber erregte den Ärger des
Dionysius, weil er ein Christenverfolger gewesen war. So verfiel Dionysius — wie
man aus seinem Brief an den Bischof Petronius weiß 14 - auf eine Rechnung
ab Christi Geburt, wobei er das letzte Jahr des ersten großen Zyklus 532 dem
248. Jahr nach Diokletian gleichsetzte. Er schuf damit eine wenngleich fehler-
hafte Umrechnung - Christus ist mindestens 4, wenn nicht 6 oder 7 Jahre vor
der Zeitenwende geboren —, konnte dies aber auf der ihm damals zur Verfügung
stehenden Grundlage schriftlicher Zeugnisse nicht korrekter lösen.
Diese Ära gilt heute auf der ganzen Welt, seit 1872 in Japan, seit 1927 in der
neuen Türkei und seit 1949 sogar im sozialistischen China, bisweilen als „unsere
Zeitrechnung" gekennzeichnet, wenn man dem Christentum fernsteht. Zur Zeit
des Dionysius aber war es keineswegs so, daß alle Welt auf sie gewartet hätte
und sich ihrer fortan bediente. Allein im lateinischen Westen brauchte sie wohl
ein halbes Jahrtausend, um sich einigermaßen durchzusetzen, denn im Hand-
schriftenzeitalter verlangte dies Weile. Dionysius trat nicht als Kalenderreforma-
tor der Christenheit auf, er schuf nur ein Hilfsmittel für die Kennzeichnung
künftiger Jahre auf Ostertafeln. Er war kein Historiker und ordnete daher auch
keineswegs die Zeitrechnung der Historiographie neu. Nur im Zusammenhang
mit Ostertafeln fand die Ära des Dionysius in den beiden folgenden Jahrhunder-
ten Verwendung, wofür um 626 Fortsetzer wiederum für 95 Jahre tätig wurden.
3. B e d a V e n e r a b i i i s als K n o t e n p u n k t
abendländischen Zeitverständnisses
und Vermittler der christlichen Chronologie. Er selbst verstand sich als Bibel-
exeget. In Britannien hatte sich nach dem engen Anschluß an Rom z. Zt.
Gregors des Großen das römische Kalenderwesen gegen die irische Tradition
durchsetzen können. Von Bedas Schriften sind in diesem Zusammenhang das
Handbuch „De temporibus" von 703 15 , enthaltend auch die kleine Weltchro-
nik 16 , die bis 1063 fortgesetzte Ostertafel 17 , die chronologische Enzyklopädie
„De temporum ratione" mit großer Weltchronik um 725 18 und die Kirchen-
geschichte Englands von 731 von Gewicht. 703 erregte Beda gegenüber seinen
Vorgängern vor allem dadurch Aufsehen und auch Anstoß, daß er die Chrono-
logie des Kirchenvaters Hieronymus auf der Grundlage der von diesem selbst
gegen Ende seines Lebens angefertigten Vulgata-Ubersetzung der Bibel mit an-
deren als den gängigen Zahlenüberlieferungen korrigierte secundum hebraicam Ver-
ität em. In das große Handbuch flöß seine Erfahrung an der Ostertafel-Fort-
setzung ein und veranlaßte ihn bereits zu einer kritischen Erörterung der Inkar-
nationsära, die er dann allerdings in der großen Chronik noch überhaupt nicht
anwandte, vielmehr folgte er strikt seiner neuen Weltära. Hingegen finden sich
in der „Kirchengeschichte der Angelsachsen" zahlreiche Belege für die An-
wendung unserer christlichen Ära, sogar schon retrospektiv genutzt. Auch hat
der Gelehrte im Schlußkapitel nochmals die Datierungen nach der offenbar
noch völlig ungewohnten Inkarnationsära zusammengestellt 19 .
Beda hat diese Schritte nicht etwa in Anlehnung an römisches oder auch
nur festländisches Vorbild vollzogen, sondern ganz offensichtlich selbst neu
konzipiert. Seine Arbeiten blieben für fast ein Jahrtausend das allgemeine
chronologische Fundament. An der Verbreitung der christlichen Ära durch die
Ostertafeln im frühmittelalterlichen Annalenwesen hat er entscheidenden Anteil,
doch keineswegs von heute auf morgen. Welcher anderen Jahreskennzeichnun-
gen bediente man sich sonst noch im christlichen Kulturkreis?
4. D i e z w i s c h e n 6 0 0 u n d 1 1 0 0 i m W e s t e n g e b r ä u c h l i c h e n W e l t ä r e n
Das Christentum hat — ebenso wie das Judentum und der Islam — ein linea-
res Zeitverständnis auf der gemeinsamen Basis des Alten Testaments. Schon die
Juden errechneten aus der Genesis die Dauer der Welt und beanspruchten vor
den Kulturen des Hellenismus das höchste Alter für sich. Die Christen über-
nahmen diese Denkweise in ihre im 3. Jahrhundert aufkommende Weltchroni-
15
C. W Jones (ed.), Bedae Opera de Temporibus, Cambridge/Mass. 1943, Repr. CC SL 123C,
Turnhout 1980, 579-611.
16
Ed. auch Th. Mommsen, MGH Auct. Ant. 13, 1898, 223-317.
17
Ed. Jones, Bedae Opera (nt. 15), 547-562.
18
Ed. Jones, Bedae Opera (nt. 15); CC SL 123B, Turnhout 1977, 239-544; Mommsen, op. cit.
(nt. 16).
19
V, 24, in: Ch. Plummer (ed.), Venerabiiis Bedae Opera Histórica 1, Oxford 1896, 352-356.
20 A.-D. von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von
Freising, Düsseldorf 1957.
21 Cf. Q. Julius Marianus (ca. 397), Chronologia sive libellus de duratione mundi, ed. Migne, PL
13, col. 1104 sq. Cf. auch De decursu temporum, ed. C. Frick, Chronica minora I, Leipzig 1892,
171.
22 Cf. Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20), Tab. IV.
neben der Chronik von St.-Vaast die Chronik von Luxeuil, deren Verfasser 1039
zwar um die Vulgata-Chronologie weiß, aber zum Jahr 801 vermeldet: Hicfiniutt-
tur anni23. Man weiß nicht recht, ob sich der Chronist jenseits der Zeiten dünkt,
eher beherrscht ihn Ironie.
Insgesamt hat Beda mithin das Abendland vor der Weltendfurcht um 800
bewahrt, ausgenommen die Regionen, die er nicht erreichte, z. B. Spanien, wo
etwa Beatus von Liébana um 786 äußert, von der Schöpfung bis zum Jahr der
spanischen Ära 824 (d. i. 786) seien 5986 Weltjahre vergangen; bis zur Voll-
endung des sechsten Millenniums seien es noch 14 Jahre, denn im Jahre der
spanischen Ära 838 ende das sechste Weltalter24, doch — fügt er vorschrifts-
mäßig hinzu — wisse keiner Zeit noch Stunde denn Gottvater allein 25 . Immer-
hin hat Beatus hier mit großer Selbstverständlichkeit Jahrtausend mit Weltalter
Isidors gleichgesetzt 26 .
Die christliche Ära ist zweifellos noch nicht von Dionysius Exiguus, sondern
erst von Beda in die Historiographie eingeführt worden. Mit seiner Fortsetzung
der Ostertafeln, die im Rahmen der angelsächsischen Missionierung im Franken-
land in viele Klöster auf dem Fesdand kam, nahm sie in Form der sog. kleinen
Annalen Gestalt an, indem man freie Reste einer jeden Jahreszeile in den Oster-
tafeln zum Eintrag knapper Notizen über Geschehnisse verwandte. Diese An-
nalen setzten zumeist 741 oder zu Anfang des 8. Jahrhunderts ein und wurden
zur auffälligen historiographischen Neuschöpfung der Zeit. Sie bedienten sich
erstmals sämtlich der Jahre nach Christi Geburt. Die Annalen wiederum wurden
dann als Quellen für die Weltchroniken der Karolingerzeit herangezogen.
War das „Chronicon Palatinum" offenbar eine eigenwillige singuläre Abrech-
nung mit Beda auf antiochenischer Grundlage, in dem der Weltsabbat bereits
als angebrochen galt 27 , so setzte mit dem „Chronicon universale bis 741" 28 aus
dem Ende des 8. Jahrhunderts die auf Beda fußende fränkische Weltchronistik
ein, die ab 721 — Beginn der bedanischen Ostertafel! — vereinzelt nach Inkar-
nationsjahren zählte. Diese und andere bescheidene Weltchroniken der Zeit,
wie das „Chronicon breve bis 809"29, das „Chronicon breve Alamannicum bis
814"30, Claudius von Turin um dieselbe Zeit und die Chronik von Moissac um
818, basierten auf Bedas Weltära. Jahre nach Christus nannte für die Zeit nach
Beda sporadisch überhaupt nur die Chronik von Moissac.
Der Chronist Frechulf von Lisieux, der um 827 eine umfangreiche Welt-
geschichte erstellte31, beschränkte sich auf Vergangenheitsgeschichte bis zu Papst
Gregor dem Großen und folgte chronologisch noch der Tradition des Hierony-
mus; von Inkarnations jähren hatte er überhaupt noch nicht gehört.
Erzbischof Ado von Vienne hielt sich in seiner Weltchronik um 866 - 869 an
Beda, strich zwar die Menschwerdung Christi heraus32, verzichtete aber weit-
gehend auf übergreifende Jahreskennzeichnungen und benutzte die Inkarnations-
ära erst ab 708 entsprechend den anderen Chroniken des 9. Jahrhunderts33. Daß
von dem Chronisten aus dem spanischen Alvelda, der um 883 noch ganz in der
Isidor-Nachfolge verharrte und nicht einmal Beda kannte, keine Inkarnationsära
zu erwarten war, wundert nicht, zumal dort als weitere Sicherung der Jahres-
kennzeichnung noch die spanische Ära zur Verfügung stand34.
Geht man daher nicht fehl mit der Behauptung, im 9. Jahrhundert sei die
Inkarnationsära auf dem abendländischen Kontinent nur dann in der Chrono-
graphie verwendet worden, wenn sie in der annalistischen Vorlage für das 8.
und 9. Jahrhundert vorgegeben war, so gibt es eine Ausnahme, nämlich die
„Historia ecclesiastica seu Chronographia tripertita" des Anastasius Bibliothe-
carius um 871/74, die byzantinische Chroniken wie Synkellos und vor allem
Theophanes Confessor bis 813 ins Lateinische übertrug. Hier ist regelmäßig
neben der byzantinischen Weltära auch die Zahl der Inkarnations jähre mit-
geteilt35. Anastasius hatte als Bibliothekar der römischen Kirche eine kirchen-
politisch ambivalente Vergangenheit und wurde für die Kontakte mit Ostrom
nicht zuletzt durch seine Übersetzungen von Konzilsakten und Geschichts-
werken aus dem Griechischen aktiv. Er war nicht der Typ des abendländischen
Chronographen, suchte aber, die östliche Zeitrechnung im Abendland verständ-
lich zu machen und bediente sich da souverän der Inkarnationsära.
Ein neues Kapitel suchte Regino von Prüm im 10. Jahrhundert aufzuschlagen,
indem er als erster seine Weltchronik auf die sechste aetas beschränkte und mit
dem Jahr 1 der Inkarnation begann36. Die Chronik, die weite Verbreitung fand,
wollte sich bewußt der jüngeren Geschichte und der eigenen Zeit zur Belehrung
der Nachwelt widmen. Das Werk ist in zwei Teile aufgeteilt, bezeichnenderweise
mit dem Einschnitt zu 741, dem Anfangsjahr der Annalistik in Nachfolge Bedas
wie etwa auch der Fränkischen Reichsannalen. Man erwartet hier nicht ohne
Grund die erste volle Verarbeitung der nachchristlichen Zeit auf der Basis der
Inkarnationsära, was Regino wohl auch beabsichtigte, was ihm aber gründlich
mißlang, denn mit der Chronologie stand er schlicht generell auf Kriegsfuß. Im
ersten Teil suchte er die Regierungsjähre mit den Jahren Christi wenig gekonnt
in Ubereinstimmung zu bringen, verrechnete sich unentwegt, addierte auch die
Papstregierungsjahre und lieferte zu 741 37 eine mehr als verworrene Schluß-
komputation, gestand endlich kleinlaut seine Fehler angesichts der Problematik
der Inkarnations ära ein. Zu seiner Entschuldigung ist zu sagen, daß er unter
seinen Vorgängern außer bei Beda noch keinerlei Vorbild für die Berechnung
der Ära für die Vergangenheit finden konnte.
In die Mitte des 10. Jahrhunderts gehört das bis zum Ende des 9. Jahr-
hunderts reichende „Chronicon Vedastinum" 38 . Hier tauchen bei den Datierun-
gen seit der Mitte des 7. Jahrhunderts neben Inkarnationsjahresangaben auch
Zählungen nach den 19jährigen Mondzyklen aus des Dionysius Ostertafelwerk
auf. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts geht der Chronist dann in bedanischer Tra-
dition streng annalistisch vor, folgt aber Isidors Weltärenrechnung. Hier ist die
neue Jahreskennzeichnung also keineswegs erfolgreicher integriert als bei Regino.
Ein Blick auf den einzigen italienischen Beitrag zur Universalgeschichte im
10. Jahrhundert, nämlich auf das Werk des Benedikt von St. Andreas auf dem
Berg Soracte 39 , erübrigt sich insofern, als Benedikt sich für Jahreszahlen über-
haupt nicht interessierte und keine verwandte, obwohl ihm seine Vorlagen dazu
Anregungen boten.
Endlich entstanden im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts in einigen führen-
den sächsisch-thüringischen Klöstern Annalenwerke mit Weltchronik-Charakter,
so in Hersfeld und Hildesheim, von denen drei Ableitungen in Quedlinburg 40
um 1030, Hildesheim 41 um 1040 und bei Lampert von Hersfeld um 1077 über-
lebten. Während die Quedlinburger Annalen und Lampert Bedas Weltära folg-
ten, legten die Hildesheimer Isidor zugrunde. Beide Chronikenstränge nannten
nur vereinzelt Inkarnationsjahre für die Zeit vor der Karolingerzeit. Eine durch-
gängige Verarbeitung der Inkarnationsära sucht man daher im dunklen 10. Jahr-
hundert und seinen Folgewerken weiter vergebens.
Erst aus dem Umkreis der schwäbischen Weltchroniken hob sich dann Her-
mann von Reichenau heraus 42 , der sein Geschichtswerk 1048—1054 mit Christi
Geburt beginnen ließ und in der Tat als erster die Inkarnationsjahre durchgängig
als chronologisches Gerüst verwandte 43 . Er wuchs hier auch über verwandte
37 Ibid., 40, cf. Von den Brincken, Weltchronistik (nt. 20), 131 sq.
38 Ed. G. Waitz, MGH SS XIII, 1881, 6 7 4 - 7 0 9 .
39 Ed. G. Zucchetti (Fonti per la storia d'Italia 55), Rom 1920.
40 Annales Quedlinburgenses, ed. G. H. Pertz, MGH SS III, 1839, 1 8 - 9 0 .
41 Annales Hüdesheimenses ed. G. Waitz, MGH SSrG [8], 1878.
42 Hermann von Reichenau, Chronicon, ed. G. H. Pertz, MGH SS V, 1844, 6 7 - 1 3 3 .
43 E. Boshof in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (1995), 1443.
Werke wie die sogenannte Schwäbische Weltchronik hinaus, die in seinem eng-
sten Umkreis entstand, mit der Schöpfung einset2te, aber wesentlich knapper
und gröber angelegt war als beispielsweise auch das verwandte „Chronicon Wir-
ziburgense". Gestützt auf den Reichtum der Klosterbibliothek gelang ihm, was
Regino erstrebt, aber verfehlt hatte, sieht man hier einmal von Anastasius Biblio-
thecarius ab.
Die christliche Ära brauchte mithin ein halbes Jahrtausend, um sich in der
Chronographie voll für die Zeit vor Beda zu etablieren. Dies gelang erst um
1050 einem astronomisch und chronologisch geschulten Historiker wie Her-
mann und fiel in die Zeit, als im Rahmen der Fortsetzungsarbeiten an den
Ostertafeln für den dritten großen Zyklus von 532 Jahren die bereits von Beda
kritisierte Inkarnationsära nach Kritikansätzen bei Abbo von Fleury bei Maria-
nus Scottus ins Kreuzfeuer der Diskussion geriet.
Jeder Brief bedient sich heute der Inkarnationsära, schon weil die moderne
Automatik den Schreiber damit verfolgt. Wie datierte man aber zwischen Diony-
sius und Marianus in Briefen und vor allem in Urkunden? Die erhaltenen Brief-
sammlungen lehren, daß exakte Zeitangaben selten gebräuchlich waren; für
Urkunden, die auf Dauer Geltung erlangen sollten, war eine ordnungsgemäße
Datierung vorgeschrieben44.
Im Rahmen der Geschichte der Jahreskennzeichnung im Schriftverkehr wird
von Diplomatikern erstaunt darauf aufmerksam gemacht, daß die Inkarnations-
ära in der Frühzeit vergebens gesucht wird, so etwa in langobardischen, mero-
wingischen und frühkaroüngischen Königsurkunden45. Wenn allerdings die Be-
obachtung richtig ist, daß erst Beda die Ära des Dionysius auf den Kontinent
brachte, ist das Fehlen der Anni Domini vor der Mitte des 8. Jahrhunderts hier
nur stimmig.
These: Die christliche Ära fand im Urkundenwesen — ähnlich wie in der
Chronographie — von Bedas England her über das Frankenreich erst langsam
Eingang in den romanischen Raum und eroberte die römische Kirche — parallel
zur Fortsetzung der Ostertafeln für den dritten großen Zyklus — erst im
11. Jahrhundert im Rahmen des wachsenden Universalitätsanspruchs.
Für England ist die christliche Ära seit Bedas Zeit zu erwarten, und sie ist
denn auch im gesamten angelsächsischen Urkundenwesen, das zudem der For-
schung bis 1066 gut erschlossen vorliegt46, eine Selbstverständlichkeit.
44
H. Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. II, 2, Berlin 4 1968,
393.
45
Ibid., 427.
46
Cf. W. de Gray Birch, Cartularium Saxonicum. A collection of charters relating to Anglo-Saxon
history, 1 - 3 , London 1885-1899; cf. English Historical Documents I, 500-1042, ed. D. White-
lock, London - New York 1955.
Zusammenfassung
56 Papsturkunden 896-1046, 3 Bde., Österr. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denk-
schriften 174, 177, 198, Wien 2 1988, 1985, 1989.
57 Ibid., nn. 160, 168 und 169 (vol. 1, 296-298, 327-333).
58 Ibid., nn. 185, 190, 197, 198 (362-364, 374-376, 389-393), und - weniger unzweifelhaft! -
n. 204 (402-404).
59 Ibid., Benedikt VII. nn. 252 (496-498), weniger gesichert nn. 247 und 290; Johann XV. nn. 290,
301, 317 ungesichert, desgleichen Gregor V. nn. 326, 330, 343, 353 und 358 ungesichert; Silvester
II. n. 373 (724 sq.), fraglich hingegen nn. 368 und 397; Sergius IV. n. 451 (857 sq.), ungesichert
nn. 447 und 460, desgleichen ungesichert Benedikt VIII. nn. 535 und 545 sowie Johann XIX.
n. 575.
60 H.-H. Kortüm, Gerbertus qui et Silvester. Papsttum um die Jahrtausendwende, in: DA 53 (1999),
29-62.