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Heinrich · Müller · Graeve

Löffler/Petrides
Biochemie und
Pathobiochemie
9. Auflage
Springer-Lehrbuch
Peter C. Heinrich, Matthias Müller, Lutz Graeve (Hrsg.)

Löffler/Petrides
Biochemie und
Pathobiochemie
9., vollständig überarbeitete Auflage

Mit 1080 farbigen Abbildungen

123
Prof. Dr. Peter C. Heinrich
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 17
79104 Freiburg
E-Mail: peter.c.heinrich@biochemie.uni-freiburg.de

Prof. Dr. Matthias Müller


Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 17
79104 Freiburg
E-Mail: matthias.mueller@biochemie.uni-freiburg.de

Prof. Dr. Lutz Graeve


Institut für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft (140c)
Universität Hohenheim
Garbenstraße 30
70599 Stuttgart
E-Mail: graeve@uni-hohenheim.de

ISBN-13 978-3-642-17971-6 ISBN 978-3-642-17972-3 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-17972-3

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Planung: Christine Ströhla , Heidelberg


Copyedition: Dr. Gaby Seelmann-Eggebert, Limburgerhof
Projektmanagement: Rose-Marie Doyon, Heidelberg
Projektkoordination: Michael Barton, Heidelberg
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Fotonachweis Umschlag: Kristallstruktur erstellt von Dr. Christophe Wirth – Institut für Biochemie und Molekularbiologie,
Universität Freiburg.
Die Abbildung zeigt die Kristallstruktur des aktivierten Komplexes aus Ligand (rot), β2- adrenergem Rezeptor (gelb) und seinem
trimeren Gs- Protein bestehend aus den Untereinheiten α (grün), β (hellblau) und γ (rot) 
(Kristallstruktur erstellt anhand PDB 3SN6 nach: Rasmussen et al. 2011, Nature 477, 549–555).
Grafische Gestaltung: KLEIN medicalARTWORK, Mainz
Zeichnungen: Julius Ecke, München; Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg; Bitmap, Mannheim
Satz und Reproduktion der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg

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V

Der Springer-Verlag dankt seinen langjährigen Herausgebern und Gründervätern


der Biochemie und Pathobiochemie
Professor Georg Löffler und Professor Petro E. Petrides.
Geleitwort

»65 Jahre molekulare Medizin – von Peptiden und später von Proteinen anhand ihrer
wohin führt der Weg?« Sequenz gelegt. Im Jahre 1953 publizierten James
Watson und Francis Crick ihr bahnbrechendes Mo-
40 Jahre Lehrbuch Biochemie und Pathobiochemie ge- dell der Doppelhelix der DNS und lieferten damit eine
ben Anlass zu einem Rückblick über die Entwicklung Erklärung des Mechanismus der Kopierung dieser
einer molekular orientierten Medizin in den letzten Erbsubstanz.
vier Jahrzehnten. In der Einleitung zur 1. Auflage im Mit der Entwicklung der Technik der Sequenzierung
Jahre 1975 war zu lesen, dass »biochemisches Wissen wurde auch die Ermittlung der Primärstruktur des
und Methodik Eingang in nahezu alle Fachgebiete der mutierten Sichelzell-Hämoglobins im Jahre 1957
Medizin gefunden hatten«. Dies war das Ergebnis ei- möglich.
ner Entwicklung, die 30 Jahre zuvor begonnen hatte, Die auf diese Pionierarbeiten folgenden zwei Jahr-
als im Frühjahr 1945 nachts auf dem Weg von Denver zehnte führten zu einem vertieften Verständnis des
nach Chicago William Castle, Hämatologe in Boston, Stoffwechsels von Zellen und Geweben auf dem ein-
und Linus Pauling, Chemiker, damals in Pasadena, geschlagenen methodischen Weg der molekularen
über die Wechselwirkung von Antikörpern mit den Analyse. Der Fortschritt war jedoch trotz allem eine
zugehörigen Antigenen ins Gespräch kamen. In die- »Schnecke«. Noch 1975, als die 1. Auflage des vorlie-
sem Zusammenhang erwähnte Castle, dass bei der genden Lehrbuches erschien, hieß es, dass es »auf-
vererbbaren Sichelzellanämie die Erythrozyten bei grund der Größe und monotonen Sequenz der DNS
Sauerstoffabgabe eine Sichelform ausbilden und dabei noch nicht gelungen sei, die Basensequenz einzelner
im polarisierten Licht eine Doppelbrechung zeigen. Gene zu bestimmen«.
Dies sprach für eine molekulare Umordnung des Hä- Vier Jahre später, in der 2. Auflage (1978), wurden die
moglobins als Träger des Sauerstoffmoleküls. ersten neu entwickelten Sequenzierungsmethoden
Sichelzellen und die Sichelzellkrankheit waren zwar von Frederick Sanger und Alan Coulson bzw. Alan
schon im Jahre 1910 von James Herrick, einem prak- Maxam und Walter Gilbert (Boston) besprochen
tischen Arzt mit wissenschaftlichen Interessen in Chi- (Erste Generation-Sequenzierung). Es waren erstaun-
cago, erstmalig beschrieben worden. Aber erst im liche Verfahren, die sich den Mechanismus der Syn-
Jahre 1946 begann Paulings Arbeitsgruppe mit der these von DNS mit genauer Einhaltung der Nukleo-
Untersuchung des Hämoglobins von Patienten mit tidsequenz einer Vorlage zunutze machten, wie sie
Sichelzellanämie. Für eine Beteiligung des Hämoglo- überall in der Natur stattfindet (katalysiert vom En-
bins an dem pathologischen Geschehen sprach, dass zym DNS-Polymerase). Der geniale Trick, der die
Erythrozyten, aus denen das Hämoglobin entfernt Ablesung der gesuchten Sequenz durch Neusynthese
worden war, bei Entzug von Sauerstoff die Sichelzell- ermöglichte, bestand darin, dass die neugebildeten
form nicht mehr ausbildeten. Im Sommer 1948 ent- Moleküle eine physikalisch nachweisbare Markierung
deckten die Forscher, dass Hämoglobin aus Sichelzel- trugen (radioaktiv, später mit fluoreszierenden Farb-
len bei der Elektrophorese eine veränderte Mobilität stoffmolekülen). Dieses hochspezifische Verfahren
aufwies. Die Untersuchungen ergaben weiterhin, dass wurde immer weiter ausgebaut, vervollkommnet und
viele Individuen sowohl normales wie verändertes miniaturisiert. Weitere 20 Jahre später, fast zeitgleich
Hämoglobin enthielten. Sie waren offensichtlich hete- mit der Jahrhundertwende, wurde die komplette Se-
rozygot für die vermutete Mutation, hatten also ein quenz des menschlichen Genoms in weltweit zugäng-
normales und ein mutiertes Gen. Diese Ergebnisse, lichen Datenbanken eingespeichert.
die 1949 in einem klassisch gewordenen Artikel ver- Seit der letzten Auflage dieses Lehrbuches im Jahre
öffentlicht wurden, offenbarten eine direkte Verbin- 2006 hat sich diese Entwicklung exponentiell be-
dung zwischen der Existenz veränderter Hämoglo- schleunigt. Es blieb nicht bei der Ermittlung der Se-
bin-Moleküle und den entstehenden pathologischen quenz eines einzigen typisch menschlichen Genoms.
Phänomenen. Mit dieser Schlussfolgerung wurde das Vielmehr wurde es zunehmend möglich, die Unter-
Konzept der molekularen Krankheit in die Medizin schiede festzustellen, die der Genomtext zwischen
eingeführt. einzelnen Individuen aufweist. Hatte die Ermittlung
der ersten, sogenannten Referenz-Sequenz noch Jahr-
In den 50er-Jahren gelang es in Cambridge (UK) erst- zehnte internationaler kooperativer Forschung und
mals dem Biochemiker Frederick Sanger, eine exakte den Einsatz von mehr als einer Milliarde Dollar erfor-
Aminosäure-Sequenz eines Polypeptids, nämlich der dert, so machte bereits 10 Jahre danach die Ankündi-
A- und der B-Kette des Insulins, zu bestimmen. Da- gung eines »1000 Dollar Genoms« die Runde. Gegen-
mit war der Grundstein für die molekulare Analyse wärtig ist es möglich, die individuelle Sequenz der
VII
Geleitwort

DNS eines Menschen (mit rund 3 Milliarden Basen- vollständige molekulare Beschreibung den Menschen
paaren) innerhalb von wenigen Tagen zu ermitteln. auf seine biologische Verfassung reduzieren und da-
Beschränkt man die Sequenzierung auf die besonders mit zahlreiche ursächlich wirkende soziale und eth-
wichtigen ca. 180 000 Abschnitte (Exons), die die ca. nisch-kulturelle Faktoren beim Patienten ausblenden
23 000 Codes für die menschlichen Proteine enthalten könnte.
(insgesamt als Exom bezeichnet), dann fallen Kosten Damit ist in den 65 Jahren seit der Erstbeschreibung
von nur noch etwa 2000 Euro an. Diese technische einer molekularen Erkrankung bis zum heutigen Tage
Revolution beruht auf der massiv-parallelen Durch- eine sich zuletzt abrupt beschleunigende Entwicklung
führung der erforderlichen enzymatisch katalysierten abgelaufen. Sie mündet in die Erkennung der moleku-
Synthesen. Mithilfe der Methoden der sogenannten laren Grundlagen unserer persönlichen Individualität
»Nächste Generation Sequenzierung« können heute und der damit verbundenen individuellen Ausprä-
– bei Erscheinen der 9. Auflage – ursächliche Mutati- gung von Krankheiten. So erfreulich diese Entwick-
onen bei angeborenen und erworbenen Erkrankun- lung aus naturwissenschaftlicher Perspektive auch ist,
gen durch Untersuchung großer Kollektive betroffe- darf sie uns den Blick auf die mitlaufenden Risiken
ner Menschen schnell ermittelt werden. einer hochgradig technifizierten zellbiologisch-gene-
tischen Medizin nicht verstellen.
Diese Entwicklung hat die Medikamentenentwick- Es ist ein besonderes Privileg, diese eindrucksvolle
lung in der Krebsmedizin und vielen anderen Fachge- Entwicklung der modernen Biochemie (Zell- und
bieten der Medizin revolutioniert. Heute kann man Molekularbiologie) mit ihrer Bedeutung für die klini-
die intrazellulären Stoffwechselwege von menschli- sche Medizin über die vergangenen 40 Jahre einem
chen Tumoren molekular analysieren und die auftre- großen Leserkreis vermittelt haben zu dürfen.
tenden Mutationen nachweisen. Anschließend wer-
den neu entwickelte Medikamente eingesetzt, die im Petro E. Petrides und Jens Reich
Idealfall spezifisch auf die mutierten Proteine wirken.
Die Untersuchung menschlichen Tumorgewebes hat
damit zur »personalisierten Medizin« geführt. Die Prof. Dr. med. Petro E. Petrides, Arzt und Biochemiker, hat vor
Therapie ist auf die konkreten molekularen Defekte mehr als 40 Jahren die Gründung dieses Lehrbuches angeregt
bestimmter »Tumorgene« des einzelnen Patienten und seitdem mitherausgegeben. Er hat an verschiedenen Uni-
ausgerichtet. Nur dadurch ist eine wirklich wirksame versitäten des In- und Auslandes (Ludwigs-Universität-Mün-
Therapie möglich geworden. Kritische Autoren spre- chen, Salk-Institut La Jolla, und Stanford-Universität, Palo Alto,
chen dagegen von einer Stratifizierung zur Vermei- Kalifornien, Charité Humboldt Universität Berlin) gearbeitet.
dung von Ineffektivität, d. h., bestimmte Therapien An der aktuellen Auflage beteiligt er sich noch mit einzelnen
werden nicht verabreicht, wenn die molekularen Kapiteln. Er ist in eigener Praxis als Arzt und Dozent an der
Voraussetzungen nicht vorliegen. LMU München (Hämatologie/Onkologie) tätig.
Heute ist eine reduktionistische Entwicklung zu be-
obachten, die die Tumorerkrankung auf die Charak- Prof. Dr. med. Jens Reich hat die Weiterentwicklung des Lehr-
terisierung einiger weniger Tumorgene reduzieren buches von Anfang an mit Interesse beobachtet und mit kriti-
möchte. Holistische Ansätze dagegen versuchen, schen Anmerkungen befruchtet. Er hatte den Lehrstuhl für
durch die Untersuchung möglichst vieler Parameter Bioinformatik am Max Delbrück Centrum für Molekulare Me-
(z. B. des Proteoms = Gesamtanalyse des Proteinspek- dizin an der Humboldt-Universität – Charité in Berlin inne und
trums einer Zelle oder eines Gewebes) tiefgreifende war von 2001 bis 2012 Mitglied des Deutschen (vormals Natio-
Unterschiede zu identifizieren, die für die Krank- nalen) Ethikrates.
heitsentstehung von entscheidender Bedeutung sind.

Wir stehen damit am Anfang einer Entwicklung, die


in Zukunft für jeden Menschen innerhalb kurzer Zeit
und zu erträglichen Kosten die Ablesung des indivi-
duellen Genoms ermöglichen wird. Da nahezu alle
Krankheiten durch die Wechselwirkung der geneti-
schen Konstitution mit den Umweltbedingungen, der
Lebensweise und der Einwirkung von Noxen entste-
hen, wird sich eine Medizin der Zukunft nicht mehr
auf den anonymen »Fall« aus einem mehr oder min-
der großen Kollektiv mit derselben Diagnose, son-
dern ganzheitlich auf das konkrete Schicksal der Per-
son richten. Es sind allerdings auch ernst zu nehmen-
de Bedenken formuliert worden, dass eine derart
IX

Vorwort

Gegenstand der Biochemie ist die Aufklärung der verbunden mit größerer Leserfreundlichkeit dienen.
molekularen Grundlagen des Lebens. Insbesondere 17 Kapitel wurden völlig neu geschrieben. Grundle-
auf Grund einer Vielzahl moderner Techniken und gend überarbeitet wurden neun Kapitel der Moleku-
Forschungsansätze hat die Biochemie sehr stark ihre larbiologie. Durch Einbringung zahlreicher neuer
Nachbardisziplinen, wie die Zellbiologie, Molekular- Abbildungen sind die molekularbiologischen The-
biologie, Genetik, Entwicklungsbiologie, Physiologie, men aktualisiert und umfassender behandelt. Auch
Pharmakologie, aber auch die klinische Medizin ge- die 17 Kapitel, die sich mit dem Energiestoffwechsel,
prägt. Die Biochemie hat sich aber wegen ihrer Aus- der Synthese von Speicher- und Baustoffen, sowie der
richtung auf das molekulare Verständnis physiologi- Regulation des Stoffwechsels beschäftigen, wurden
scher Prozesse, wie z. B. der Stoffwechselvorgänge, neu gestaltet. Alle übrigen Kapitel sind in intensiver
stets ihre Individualität erhalten. Zusammenarbeit der Autoren mit den Herausgebern
überarbeitet worden.
Die seit Jahren mit ungebrochener Geschwindigkeit
voranschreitende Zunahme unserer Kenntnisse in Zu allen Kapiteln finden die Leserinnen und Leser
den Biowissenschaften, und hier speziell in der Bio- wichtige und wertwolle Literaturhinweise im Inter-
chemie, Molekular- und Zellbiologie, hat für die net  auf einer Webseite des Springer-Verlags www.
Medizin wichtige Konsequenzen. So haben neue Er- springer.com/978-3-642-17971-6.
kenntnisse zum tieferen Verständnis physiologischer
Vorgänge, wie z. B. der Hormonwirkung, neurobiolo- Die biochemischen Inhalte des neuen Gegenstands-
gischer Prozesse und immunologischer Reaktionen, katalogs des Instituts für Medizinische und Pharma-
aber auch pathobiochemischer Zusammenhänge ge- zeutische Prüfungsfragen (IMPP) von 2014 werden
führt. Wir haben mit der vorliegenden 9. Auflage des mit der vorliegenden 9. Auflage des Lehrbuchs »Bio-
Lehrbuches »Löffler/Petrides Biochemie und Patho- chemie und Pathobiochemie« umfassend abgedeckt.
biochemie« versucht, dieser rasanten Entwicklung Die Benutzung unseres Lehrbuchs wird die Studie-
möglichst weitgehend Rechnung zu tragen. So war es renden der Medizin in die Lage versetzen, den 1. Ab-
uns ein besonderes Anliegen, das moderne biochemi- schnitt der ärztlichen Prüfung erfolgreich zu be-
sche, vor allem aber das molekular- und zellbiologi- stehen.
sche Grundwissen zu aktualisieren und dabei den-
noch kompakt darzustellen. Mit Sektion V »Funktio- Das Lehrbuch »Biochemie und Pathobiochemie« ist
nelle Biochemie der Organe« ist auch die neue Auf- auf ein molekulares Verständnis pathobiochemischer
lage des Lehrbuchs »Biochemie und Pathobiochemie« Zusammenhänge als Grundlage und Vorbereitung für
seiner traditionell starken Vernetzung von Bioche- die ärztliche Tätigkeit ausgerichtet. Mit seiner umfas-
mie/Molekularbiologie mit der Klinik treu geblieben. senden Darstellung biochemischer und molekular-
Wichtige Bezüge von Biochemie/Molekularbiologie biologischer Themen richtet es sich aber auch an
zur Pathobiochemie werden nun entweder in eigenen Biologen, Biochemiker, Ernährungswissenschaftler,
kurzen Kapiteln beschrieben oder sind am Ende der Pharmakologen, Pharmazeuten und Psychologen.
meisten Kapitel hervorgehoben worden. Darüber hinaus ist es als eine Orientierungshilfe für
die in der Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen und
Mit der 9. Auflage hat sich das Herausgebergremium Ärzte gedacht.
verändert. Die Gründerväter des Buches Löffler und
Petrides sind als Herausgeber ausgeschieden, als Ein Buch ist niemals perfekt. Es lebt von der Kritik
Kapitelautoren aber weiterhin präsent geblieben. Als und den Anregungen seiner Leserinnen und Leser.
neue Herausgeberkollegen konnten Matthias Müller Wir sind daher – wie in der Vergangenheit – auch
und Lutz Graeve gewonnen werden, die beide über künftig dankbar für Kommentare, Korrekturen und
jahrelange Erfahrung in der akademischen Lehre und Verbesserungsvorschläge.
Lehrorganisation verfügen.
Unseren Leserinnen und Lesern wünschen wir viel
Was ist außerdem neu an der 9. Auflage? Gegenüber Freude an dem spannenden Fach Biochemie/Patho-
der 8. Auflage mit 35 Kapiteln weist die »Biochemie biochemie.
und Pathobiochemie« jetzt 5 Sektionen mit insgesamt
74 Kapiteln auf. Die inhaltliche Umstrukturierung Die Herausgeber
und Konzentrierung einzelner Themen auf kleinere Februar 2014
Kapitel soll einer besseren Übersicht des Lehrstoffs
Danksagung

Die folgenden Kollegen haben durch kritische und Bei unseren Studierenden bedanken wir uns für
kompetente Durchsicht der verschiedenen Kapitel zahlreiche Kommentare und Vorschläge.
ganz wesentlich zum Gelingen des Buches beigetra-
gen: Christian Bästlein (Freiburg), Willi Bannwarth Ebenso wie für die vergangenen Auflagen war auch
(Universität Freiburg), Wolfgang Bettray (RWTH für die neunte Auflage der unermüdliche Einsatz der
Aachen), Wilhelm Jahnen Dechent (RWTH Aachen), Lehrbuchabteilung des Springer-Verlages von großer
Ernst-Peter Fischer (Universität Konstanz), Otto Hal- Bedeutung: Ganz besonders möchten wir in diesem
ler (Universität Freiburg), Carola Hunte (Universität Zusammenhang Rose-Marie Doyon, Renate Sched-
Freiburg), Katrin Kuscher (Universität Freiburg), din, Christine Ströhla und Dorit Müller danken. Vol-
Christine Lambert (Universität Hohenheim), Chris ker W. Klein (Mainz) sind wir für die graphische Um-
Meisinger (Universität Freiburg), Khosrow Mottaghy setzung des Covers zu Dank verpflichtet. Besonderer
(RWTH Aachen), Tobias Recker (RWTH Aachen), Dank gilt auch unserer Lektorin Gaby Seelmann-
Natalie Rinis (RWTH Aachen), Harald Wajant (Uni- Eggebert.
versität Würzburg),
Sehr zu Dank verpflichtet ist Peter Heinrich dem Di-
Christophe Wirth (Universität Freiburg) danken wir rektor des Instituts für Biochemie und Molekularbio-
für die Hilfe beim Entwurf der Cover-Abbildung und logie der Universität Freiburg, Prof. Nikolaus Pfanner
Ernst-Peter Fischer (Universität Konstanz) für die für die großzügige Unterstützung der Arbeit an dem
Überlassung des Textes in »Übrigens« (Kapitel 10). Lehrbuch. Auch die Hilfe von Wolfgang Fritz und
Hans-Peter Henninger darf nicht unerwähnt bleiben.
Für die unermüdliche Hilfe bei der Anfertigung zahl- Zum Schluss möchten wir unseren Familien für ihre
reicher neuer Abbildungen möchten sich die Autoren Geduld und ihr Verständnis für unsere Arbeit an die-
bei Peter Freyer (Aachen) und zum Kapitel 49 bei sem Buch herzlich danken.
Carlo Maurer (Universität Freiburg) recht herzlich
bedanken. Die Herausgeber
Februar 2014
Ganz besonderer Dank geht an Katrin Kuscher, Seve-
rin Weigend, Matthias Behringer und Markus Bever
für ihren Enthusiasmus und ihre Hilfe bei Literatur-
Recherchen und der Korrespondenz zwischen Auto-
ren, Herausgebern und dem Springer-Verlag.
XI

Die Herausgeber

Peter C. Heinrich
Studierte Chemie an den Universitäten in Frankfurt und Marburg. Promotion bei Karl Dimroth an
der Universität Marburg, research associate an der Yale University (J. S. Fruton), im Anschluss wissen-
schaftlicher Assistent am Biochemischen Institut der Universität Freiburg (H. Holzer). Von 1970–1973
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Firma Hoffmann LaRoche, Basel. 1975 Habilitation für das Fach
Biochemie an der Universität Freiburg. 1980 Professur für Biochemie an der Universität Freiburg.
1986 visiting professor an der Stanford University Medical School (G. Ringold). Von 1987 bis 2007 In-
haber des Lehrstuhls für Biochemie und Molekularbiologie und Geschäftsführender Direktor des
Institutes für Biochemie an der RWTH Aachen. 1994–2004 Sprecher der DFG-Forschergruppe/Son-
derforschungsbereichs 542 »Molekulare Mechanismen Zytokin-gesteuerter Entzündungsprozesse:
Signaltransduktion und pathophysiologische Konsequenzen«. Editorial Board Member: 1994–2001
Biochemical Journal; 1995–2008 Journal of Interferon and Cytokine Research; 2003–2007 Journal of
Biological Chemistry.
Wichtige wissenschaftliche Beiträge: Identifikation des Hepatozyten-stimulierenden Faktors als
Interleukin-6; Entdeckung des Transkriptionsfaktors APRF/STAT3α; Aufklärung der molekularen
Mechanismen der Interleukin-6 Signaltransduktion über den Jak/STAT-Weg und deren Signalab-
schaltung. Seit 2008 Gastprofessor im Institut für Biochemie und Molekularbiologie der Universität
Freiburg. 2012 visiting professor am Beckman Research Institute und der Irell & Manella Graduate
School of Biological Sciences, Pasadena.
Professor Heinrich hat langjährige Erfahrung in der Lehre und Betreuung von Medizin-, Biologie-
und Biochemiestudenten.

Matthias Müller
Studium der Humanmedizin an der Universität Freiburg. Am Biochemischen Institut der Universität
Freiburg Promotion bei Gerhard Schreiber und nach der Approbation Wissenschaftlicher Assistent
bei Helmut Holzer. Anschließend Postdoktorand und später Assistant Professor bei Günter Blobel,
The Rockefeller University, New York. Habilitation für das Fach Biochemie an der Universität Freiburg
(1987). Professor für Biochemie/Molekularbiologie von 1993-1997 an der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität in München, seit 1997 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Neben zahlreichen
anderen nationalen und internationalen Forschungsförderungen, seit 1988 Projektleiter in mehre-
ren Sonderforschungsbereichen. Forschungsschwerpunkte: Sec- und Tat-abhängiger Proteintrans-
port in Bakterien; molekulare Chaperone; Biogenese von α-helikalen und β-tonnenförmigen Mem-
branproteinen; Sekretion von bakteriellen Pathogenitätsfaktoren. Langjähriges und breitgefächer-
tes, transregionales Engagement in der Biochemielehre und deren Organisation.

Lutz Graeve
Studierte Biologie an der Universität Hamburg. Promotion am Institut für Physiologische Chemie,
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bei Joachim Kruppa. Von 1986-1990 als Postdoktorand
bei Enrique Rodriguez-Boulan im Department of Anatomy and Cell Biology an der Cornell Universi-
ty Medical School in New York. Von 1990-2000 als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Bio-
chemie des Klinikums der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen bei Peter
C. Heinrich. 1995 Habilitation für das Fach Biochemie an der Medizinischen Fakultät der RWTH
Aachen. Seit 2000 Professor für das Fachgebiet Biochemie der Ernährung an der Universität Hohen-
heim in Stuttgart. Von 2005–2012 Studiendekan, seit 2013 Studiengangsleiter für die ernährungs-
wissenschaftlichen Studiengänge.
Die Arbeitsgebiete umfassen zelluläre Signaltransduktion insbesondere von Interleukin-6-Typ Cyto-
kinen, Biologie von Lipid Rafts, Rolle von Caveolae und Matrix-Metalloproteinasen in der Tumor-
biologie und Einfluss sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe auf zelluläre Signalvorgänge.
Das Layout

Einleitung: Kurzer Ein-


stieg ins Thema

Abbildungen: Mehr
als 1000 Abbildungen
veranschaulichen
komplexe Zusammen-
hänge

Schwerpunkte:
Zentrale Themen des
Kapitels auf den Punkt
gebracht

Roter Faden:
Zusammenfassende
Kernaussagen

Übrigens: Interessante Zusatzinfos


zum Vertiefen und zum Schmökern
Pathobiochemie:
Erklärt die biochemischen
Grundlagen von Krankheiten

Zusammenfassung:
Das Wichtigste zum
Kapitel in Kürze

Tafelteil:
Wichtige Formeln sind
in einem separaten
Tafelteil am Ende von
Kapitel 3 zusammen-
gestellt

Literatur:
Eine umfassende Literaturliste finden Sie auf der Produktseite unter springer.com/978-3-642-17971-6
XV

Die Autoren

Prof. Dr. Siegfried Ansorge Prof. Dr. Peter Bruckner


IMTM GmbH Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie
ZENIT-Technologiepark Universitätsklinikum Münster
Leipziger Straße 44 Waldeyerstraße 15
39120 Magdeburg 48129 Münster 

Prof. Dr. Cord-Michael Becker Prof. Dr. Leena Bruckner-Tuderman


Institut für Biochemie Klinik für Dermatologie und Venerologie
Universität Erlangen-Nürnberg Universitätsklinikum Freiburg
Fahrstraße 17 Hauptstraße 7
91054 Erlangen 79104 Freiburg

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hubert E. Blum Prof. Dr. Hannelore Daniel
Abteilung Innere Medizin II Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie
Medizinische Universitätsklinik Freiburg Technische Universität München
Hugstetter Straße 55 Gregor-Mendel-Straße 2
79106 Freiburg 85350 Freising-Weihenstephan

Prof. Dr. Hans Bock Prof. Dr. Rainer Deutzmann


Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie Lehrstuhl für Biochemie I
Universitätsklinikum Düsseldorf Universität Regensburg
Moorenstraße 5 Universitätsstraße 31
40225 Düsseldorf 93053 Regensburg

Prof. Dr. Burkhardt Brandt Prof. Dr. Hartmut Follmann †


Institut für Klinische Chemie (ehemals) Biochemie – Institut für Biologie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel Universität Kassel
Arnold-Heller-Straße 3 (Haus 17) Heinrich-Plett-Straße 40
24105 Kiel 34109 Kassel

Prof. Dr. Ulrich Brandt Prof. Dr. Dieter O. Fürst


Nijmegen Centre for Mitochondrial Disorders (NCMD) Institut für Zellbiologie
Department of Pediatrics Universität Bonn
Radboud University Nijmegen Medical Centre Ulrich Haberlandstraße 61a
Geert Groteplein-Zuid 10, Route 772 53121 Bonn
NL-6525 GA Nijmegen
Prof. Dr. Lutz Graeve
Prof. Dr. Regina Brigelius-Flohé Institut für Biologische Chemie
Deutsches Institut für Ernährungsforschung und Ernährungswissenschaft (140c)
Abt. Biochemie der Mikronährstoffe Universität Hohenheim
Potsdam-Rehbrücke Garbenstraße 30
Arthur-Scheunert-Allee 114–116 70599 Stuttgart
14558 Nuthetal
Prof. Dr. Serge Haan
Dr. Jan Brix Life Sciences Research Unit
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ University of Luxembourg
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 162A, Avenue de la Faiencerie
Stefan-Meier-Straße 17 L-1511 Luxembourg
79104 Freiburg
XVI Die Autoren

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Ulrich Häring Prof. Dr. Armin Kurtz
Endokrinologie und Diabetologie, Angiologie, Lehrstuhl f. Physiologie I
Nephrologie und Klinische Chemie Universität Regensburg
Medizinische Universitätsklinik Tübingen Universitätsstraße 31
Otfried-Müller-Straße 10 93053 Regensburg
72076 Tübingen
Prof. Dr. Georg Löffler
Prof. Dr.  Dieter Häussinger Institut für Biochemie
Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie  Universität Regensburg
Universitätsklinikum Düsseldorf Universitätsstraße 31
Moorenstraße 5  93053 Regensburg
40225 Düsseldorf 
Prof. Dr. Monika Löffler
Prof. Dr. Peter C. Heinrich Institut für Physiologische Chemie
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ Universität Marburg
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Karl-von-Frisch-Straße 1
Stefan-Meier-Straße 17 35032 Marburg
79104 Freiburg
Prof. Dr. Petra May
PD Dr. Heike Hermanns Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie
Rudolf-Virchow-Zentrum für Experimentelle Biomedizin Universitätsklinikum Düsseldorf
Universität Würzburg Moorenstraße 5
Josef-Schneider-Straße 2 (D15) 40225 Düsseldorf
97080 Würzburg
Prof. Dr. Joachim Mössner
Prof. Dr. Dr. Hans R. Kalbitzer Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie
Institut für Biophysik und Physikalische Biochemie und Rheumatologie
Universität Regensburg Department für Innere Medizin, Neurologie
Universitätsstraße 31 und Dermatologie
93053 Regensburg Universitätsklinikum Leipzig, AöR
Liebigstraße 20
Prof. Dr. Monika Kellerer 04103 Leipzig
Zentrum für Innere Medizin I
Marienhospital Stuttgart Prof. Dr. Matthias Müller
Böheimstraße 37 Institut für Biochemie und Molekularbiologie; ZBMZ
70199 Stuttgart Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Stefan-Meier-Straße 17
Prof. Dr. Hans-Georg Koch 79104 Freiburg
Institut für Biochemie und Molekularbiologie, ZBMZ
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Gerhard Müller-Newen
Stefan-Meier-Straße 17 Institut für Biochemie und Molekularbiologie
79104 Freiburg RWTH Aachen
Pauwelsstraße 30
Prof. Dr. Josef Köhrle 52057 Aachen
Institut für Experimentelle Endokrinologie
Charité – Universitätsmedizin Berlin Prof. Dr. Petro E. Petrides
Charité Campus Virchow-Klinikum Hämatologisch-onkologische Schwerpunktpraxis
Augustenburger Platz 1 Am Isartor
13353 Berlin Zweibrückenstraße 2
80331 München
Prof. Dr. Thomas Kriegel und
Institut für Physiologische Chemie Medizinische Klinik
Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus Ludwig-Maximilians-Universität München
Technische Universität Dresden
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
XVII
Die Autoren

Prof. Dr. Gabriele Pfitzer Dr. Michael Täger


Institut für Vegetative Physiologie IMTM GmbH
Universität Köln ZENIT-Technologiepark
Robert-Koch-Straße 39 Leipziger Straße 44
50931 Köln 39120 Magdeburg

Prof. Dr. Klaus-Heinrich Röhm Prof. Dr. Uwe Wenzel


Institut für Physiologische Chemie Molekulare Ernährungsforschung
Universität Marburg Justus-Liebig-Universität Gießen
Karl-von-Frisch-Straße 1 IFZ, Heinrich-Buff-Ring 26–32
35032 Marburg 35392 Gießen

Prof. Dr. Fred Schaper


Institut für Biologie 
Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
Forschungsgebäude Systembiologie
Universitätsplatz 2 
39106 Magdeburg  

Prof. Dr. Wolfgang Schellenberger


Institut für Biochemie
Medizinische Fakultät
Universität Leipzig
Johannisallee 30
04103 Leipzig

Prof. Dr. Lutz Schomburg


Institut für Experimentelle Endokrinologie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin

Prof. Dr. Rolf Schröder


Institut für Neuropathologie
Schwabachanlage 6
91054 Erlangen

PD Dr. Ulrich Schweizer


Institut für Biochemie und Molekularbiologie
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Nussallee 11
53115 Bonn

Prof. Dr. Harald Staiger


Endokrinologie und Diabetologie, Angiologie,
Nephrologie und Klinische Chemie
Medizinische Universitätsklinik Tübingen
Otfried-Müller-Straße 10
72076 Tübingen

Prof. Dr. Norbert Stefan


Endokrinologie und Diabetologie, Angiologie,
Nephrologie und Klinische Chemie
Medizinische Universitätsklinik Tübingen
Otfried-Müller-Straße 10
72076 Tübingen
Inhaltsverzeichnis

I Grundlagen der Biochemie und der Molekularen Zellbiologie . . . . . . . . . . . 1

1 Ohne Wasser kein Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Peter C. Heinrich
1.1 Eigenschaften des Wassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.2 Kolligative Eigenschaften des flüssigen Wassers und osmotischer Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Autoprotolyse von Wasser, pH-Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.4 Säuren und Basen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.5 Puffersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2 Vom Molekül zum Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14


Hartmut Follmann †
2.1 Die chemischen Elemente lebender Organismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.2 Charakteristische Eigenschaften organischer Biomoleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.3 Von chemischer Materie zu biologischer Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens . . . . . . . . . . 26


Georg Löffler, Matthias Müller
3.1 Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2 Lipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3.3 Aminosäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.4 Nucleotide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Tafelteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

4 Bioenergetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
4.1 Thermodynamische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
4.2 Energietransformation und energetische Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
4.3 Verbindungen mit hohem Gruppenübertragungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

5 Proteine – Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


Hans R. Kalbitzer
5.1 Aufbau von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
5.2 Konformation von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5.3 Hämoglobin und Myoglobin: Ein wichtiges Beispiel für die Konformationsabhängigkeit
funktioneller Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
5.4 Physiologische und pathologische Faltungsprozesse bei Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
5.5 Proteinevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

6 Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung . . . . . . . . . . . 86


Hans R. Kalbitzer
6.1 Isolation und Reinigung von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
6.2 Charakterisierung von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
6.3 Nachweisverfahren und Identifizierung von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
6.4 Methoden zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
6.5 Proteombestimmung (Proteomik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
6.6 Synthese von Peptiden und Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

7 Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
7.1 Struktur und Funktion der Biokatalysatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
7.2 Nomenklatur und Klassifizierung der Enzyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
XIX
Inhaltsverzeichnis

7.3 Multiple Formen von Enzymen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106


7.4 Ribozyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7.5 Mechanismen der Enzymkatalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
7.6 Definition, Maßeinheiten und Bestimmung der Enzymaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
7.7 Michaelis-Menten-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

8 Regulation der Enzymaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
8.1 Einfluss von Temperatur und pH-Wert auf die Enzymaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8.2 Abhängigkeit der Enzymaktivität von der Enzym- und Substratkonzentration . . . . . . . . . . . . . . . . 116
8.3 Regulation der Enzymaktivität durch Hemmstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
8.4 Kooperativität und allosterische Kontrolle der Enzymaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
8.5 Regulation der Enzymaktivität durch covalente Modifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
8.6 Regulation der Enzymaktivität durch Protein-Protein-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

9 Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger
9.1 Anwendung von Enzymen in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
9.2 Bestimmung von Enzymen in biologischen Flüssigkeiten (Enzymdiagnostik) . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
9.3 Enzyme als Zielstrukturen von Pharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

10 Nucleinsäuren – Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130


Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich
10.1 Struktur und Funktion von DNA und RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
10.2 Die DNA-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
10.3 DNA als Trägerin der Erbinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
10.4 Funktion und Struktur der RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

11 Biomembranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Lutz Graeve, Matthias Müller
11.1 Aufbau und Eigenschaften von Biomembranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
11.2 Membranfluidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
11.3 Lipid rafts oder membrane rafts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
11.4 Membranproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
11.5 Transport durch Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
11.6 Biosynthese von Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

12 Zellorganellen und Vesikeltransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157


Lutz Graeve, Matthias Müller
12.1 Die Zellkompartimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
12.2 Vesikulärer Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
12.3 Proteinsortierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

13 Cytoskelett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Lutz Graeve, Matthias Müller
13.1 Mikro- oder Actinfilamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
13.2 Mikrotubuli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
13.3 Intermediärfilamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
13.4 Motorproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
XX Inhaltsverzeichnis

II Zellulärer Metabolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

14 Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183


Georg Löffler, Matthias Müller
14.1 Katabole Verwertung von Glucose und Fructose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
14.2 Bildung und Verwertung der Glycogenspeicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
14.3 Die Gluconeogenese – endogene Glucoseproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

15 Mechanismen der Glucosehomöostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199


Georg Löffler, Matthias Müller
15.1 Glucosetransport durch Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
15.2 Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
15.3 Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

16 Zucker – Bausteine von Glykoproteinen und Heteroglycanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214


Georg Löffler
16.1 Glucose als Substrat für die Biosynthese anderer Zucker, Aminozucker und Zuckersäuren . . . . . . . . 214
16.2 Die Saccharide von Proteoglycanen, Hyaluronsäure und Peptidoglycan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

17 Pathobiochemie des Kohlenhydratstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222


Georg Löffler
17.1 Erworbene Defekte des Kohlenhydratstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
17.2 Hereditäre Defekte des Kohlenhydratstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

18 Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226


Ulrich Brandt
18.1 Stoffwechselbedeutung des Citratzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
18.2 Einzelreaktionen des Citratzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
18.3 Regulierte Schritte im Citratzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
18.4 Anabole Reaktionen im Citratzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
18.5 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

19 Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235


Ulrich Brandt
19.1 Die mitochondriale Energietransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
19.2 Pathobiochemie der Mitochondrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

20 Oxidoreduktasen und oxidativer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252


Ulrich Brandt
20.1 Katalyse von Redoxreaktionen durch Oxidoreduktasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
20.2 Oxidativer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

21 Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher . . . . . . . . . . . . . . . . 257


Georg Löffler
21.1 Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
21.2 Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
21.3 Regulation von Lipogenese und Lipolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

22 Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279


Georg Löffler
22.1 Synthese und Abbau von Phosphoglyceriden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
22.2 Synthese und Abbau von Sphingolipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
22.3 Funktionelle Metabolite von Membranlipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
XXI
Inhaltsverzeichnis

23 Stoffwechsel von Cholesterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292


Georg Löffler
23.1 Cholesterin – Membranlipid und Ausgangssubstanz von Steroidhormonen und Gallensäuren . . . . . 292
23.2 Synthese von Isoprenlipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
23.3 Cholesterinhomöostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296

24 Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300


Georg Löffler
24.1 Zusammensetzung der Lipoproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
24.2 Funktion und Umsatz einzelner Lipoproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

25 Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307


Georg Löffler
25.1 Störungen des Fettsäurestoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
25.2 Störungen und pharmakologische Beeinflussung des Eicosanoidstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . 308
25.3 Störungen des Stoffwechsels von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
25.4 Störungen des Lipoproteinstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

26 Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313


Klaus-Heinrich Röhm
26.1 Beziehung zwischen Stickstoff, Ammoniak und Aminosäurestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
26.2 Stickstoffumsatz im menschlichen Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
26.3 Enzymatische Mechanismen des Aminosäurestoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
26.4 Prinzipien des Aminosäureabbaus beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

27 Funktioneller Aminosäurestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325


Klaus-Heinrich Röhm
27.1 Organspezifische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
27.2 Stoffwechsel einzelner Aminosäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

28 Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352


Klaus-Heinrich Röhm
28.1 Neurotoxizität von Ammoniak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
28.2 Angeborene Störungen im Aminosäurestoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
28.3 Aminosäurestoffwechsel in Therapie und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

29 Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357


Monika Löffler
29.1 Biosynthese von Purinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
29.2 Regulation der Biosynthese von Purinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
29.3 Wiederverwertung von Purinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
29.4 Abbau von Purinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

30 Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . 365


Monika Löffler
30.1 Biosynthese von Pyrimidinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
30.2 Biosynthese von Desoxyribonucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
30.3 Regulation der Biosynthese von Pyrimidinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
30.4 Wiederverwertung der Pyrimidine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
30.5 Abbau von Pyrimidinnucleotiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

31 Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372


Monika Löffler
31.1 Transport und Wirkung von Hemmstoffen der Purin- und Pyrimidinbiosynthese . . . . . . . . . . . . . . 372
31.2 Störungen im Purinstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
31.3 Störungen im Pyrimidinstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
XXII Inhaltsverzeichnis

32 Porphyrine – Synthese und Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379


Matthias Müller, Hubert E. Blum, Petro E. Petrides
32.1 Die Bildung von Häm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
32.2 Abbau und Ausscheidung von Häm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
32.3 Pathobiochemie des Porphyrinstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

III Zelluläre Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

33 Prinzipien zellulärer Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395


Gerhard Müller-Newen, Peter C. Heinrich, Heike M. Hermanns, Fred Schaper
33.1 Kommunikation zwischen Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
33.2 Extrazelluläre Mediatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
33.3 Rezeptoren als zentrale Signalvermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
33.4 Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

34 Mediatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper
34.1 Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
34.2 Cytokine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408

35 Rezeptoren und ihre Signaltransduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411


Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper
35.1 Nucleäre Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
35.2 Aktivierung membranständiger Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412
35.3 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
35.4 Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
35.5 Rezeptoren mit assoziierten Kinasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
35.6 Spezielle Aktivierungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
35.7 Regulation der Rezeptoraktivierung und -inaktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

36 Insulin – das wichtigste anabole Hormon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442


Harald Staiger, Norbert Stefan, Monika Kellerer, Hans-Ulrich Häring
36.1 Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
36.2 Synthese in den β-Zellen des Pankreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
36.3 Sekretionsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
36.4 Konzentration und Halbwertszeit im Serum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
36.5 Wirkspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
36.6 Signaltransduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
36.7 Pathobiochemie: Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

37 Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458


Harald Staiger, Norbert Stefan, Monika Kellerer, Hans-Ulrich Häring
37.1 Glucagon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
37.2 Katecholamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

38 Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466


Georg Löffler
38.1 Stoffwechsel während des Hungerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466
38.2 Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
38.3 Steuerung der Nahrungsaufnahme über Appetit und Sättigungsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

39 Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483


Josef Köhrle, Lutz Schomburg, Ulrich Schweizer
39.1 Hypothalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
39.2 Hypophyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
39.3 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
XXIII
Inhaltsverzeichnis

40 Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen . . . . . . . . . . . . . . . . 495


Ulrich Schweizer, Lutz Schomburg, Josef Köhrle
40.1 Gemeinsame Schritte bei der Biosynthese von Cortico- und Sexualsteroiden . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
40.2 Das Nebennierenrindenhormon Cortisol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497
40.3 Die Gonadotropine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
40.4 Männliche Sexualsteroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
40.5 Weibliche Sexualsteroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

41 Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum,


Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512
Josef Köhrle, Ulrich Schweizer, Lutz Schomburg
41.1 Regulation der Hormonproduktion der Schilddrüse durch das hypothalamisch-hypophysäre System 512
41.2 Biosynthese der Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516
41.3 Zelluläre Effekte und Wirkungsmechanismen der Schilddrüsenhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
41.4 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524

42 Wachstumshormon und Prolactin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528


Lutz Schomburg, Ulrich Schweizer, Josef Köhrle
42.1 Wachstumshormon (GH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
42.2 Prolactin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
42.3 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532

IV Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

43 Zellzyklus – Koordination der Zellteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535


Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Jan Brix
43.1 Chronologie des Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
43.2 Kontrolle des Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
43.3 Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
43.4 Wachstumsfaktoren und Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

44 Replikation – Die Verdopplung der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545


Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich
44.1 Die DNA-Replikation ist semikonservativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
44.2 Das Replikonmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
44.3 Initiation – Start der Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
44.4 Elongation – Neusynthese der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
44.5 Termination – Beendigung der Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
44.6 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556

45 DNA-Mutationen und ihre Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559


Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich
45.1 Mutationen – Veränderungen der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559
45.2 DNA-Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

46 Transkription und Prozessierung der RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567


Jan Brix, Hans-Georg Koch, Peter C. Heinrich
46.1 Grundlegender Mechanismus der Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
46.2 Transkription bei Prokaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
46.3 Transkription bei Eukaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572

47 Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression . . . . . . 588


Jan Brix, Hans-Georg Koch, Peter C. Heinrich
47.1 Kontrolle der Transkription bei Prokaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
47.2 Regulation der Transkription bei Eukaryonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
XXIV Inhaltsverzeichnis

48 Translation – Synthese von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600


Matthias Müller, Lutz Graeve
48.1 Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
48.2 Translationsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
48.3 Modifikation der Translationsaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611

49 Proteine – Transport, Modifikation und Faltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615


Matthias Müller, Lutz Graeve
49.1 Proteinfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
49.2 Transmembraner Proteintransport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
49.3 Covalente Modifikation von Proteinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623

50 Proteine – Mechanismen ihres Abbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629


Matthias Müller, Lutz Graeve
50.1 Proteasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
50.2 Markierung für den Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
50.3 Abbau durch das Proteasom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
50.4 Lysosomale Proteolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631
50.5 Intramembrane Proteolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631

51 Apoptose – Der programmierte Zelltod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633


Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Jan Brix
51.1 Auslöser der Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633
51.2 Effektorcaspasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
51.3 Kontrolle der Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

52 Grundlagen der Tumorentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638


Burkhard Brandt, Petro E. Petrides
52.1 Krebsepidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
52.2 Molekulare Parameter der Malignität von Tumorzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
52.3 Das Genom der Tumorzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
52.4 Transkriptom der Tumorzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
52.5 Funktion des Tumorproteoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

53 Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649


Burkhard Brandt, Petro E. Petrides
53.1 Funktion von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen bei den häufigsten Karzinomen . . . . . . . . . 649
53.2 Bedeutung von Mutationen in Mutator- und Tumorsuppressorgenen für die genetische
Prädisposition der häufigsten Karzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652
53.3 Viren als Auslöser von malignen Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
53.4 Die Tumorprogression: Molekulare Mechanismen der Metastasenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
53.5 Effektive Therapien solider Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

54 Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
Jan Brix, Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Georg Löffler
54.1 Grundlagen der Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
54.2 Vektoren zum Einschleusen fremder DNA in Wirtszellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
54.3 DNA-Bibliotheken (DNA-Banken) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673
54.4 Gentechnik in den Grundlagenwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
54.5 Gentechnisch produzierte Medikamente (Biologicals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676

55 Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . 679


Jan Brix, Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Georg Löffler
55.1 Transgene Tiere als Modellorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
55.2 Knockout-Mäuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
55.3 Genregulation durch RNA-Interferenz: Knockdown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681
55.4 Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
XXV
Inhaltsverzeichnis

V Funktionelle Biochemie der Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

56 Energiebilanz und Ernährungszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687


Hannelore Daniel, Uwe Wenzel
56.1 Die Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
56.2 Der Ernährungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
56.3 Positive und negative Energiebilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693

57 Makronährstoffe und ihre Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696


Hannelore Daniel, Uwe Wenzel
57.1 Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung
an der Homöostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
57.2 Besondere Ernährungserfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703

58 Fettlösliche Vitamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706


Regina Brigelius-Flohé
58.1 Allgemeine Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706
58.2 Vitamin A – Retinol und seine Derivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
58.3 Vitamin D – Calciferole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712
58.4 Vitamin E – Tocopherole und Tocotrienole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714
58.5 Vitamin K . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717

59 Wasserlösliche Vitamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720


Regina Brigelius-Flohé
59.1 Vitamin C – Ascorbinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
59.2 Vitamin B1 – Thiamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723
59.3 Vitamin B2 – Riboflavin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
59.4 Niacin und Niacinamid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724
59.5 Vitamin B6 - Pyridoxin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
59.6 Pantothensäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728
59.7 Biotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729
59.8 Folsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
59.9 Vitamin B12 – Cobalamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
59.10 Biochemischer Nachweis von Mangelzuständen wasserlöslicher Vitamine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734

60 Essentielle Spurenelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736


Regina Brigelius-Flohé, Petro E. Petrides
60.1 Definition, Einteilung und Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
60.2 Chrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
60.3 Cobalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
60.4 Eisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
60.5 Fluor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
60.6 Iod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
60.7 Kupfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
60.8 Mangan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
60.9 Molybdän . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
60.10 Selen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741
60.11 Zink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

61 Gastrointestinaltrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
Georg Löffler, Joachim Mössner
61.1 Verdauungssekrete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
61.2 Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
61.3 Verdauung und Resorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758
61.4 Intestinales Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
XXVI Inhaltsverzeichnis

62 Leber – Zentrales Stoffwechselorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770


Dieter Häussinger, Georg Löffler
62.1 Der Aufbau der Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770
62.2 Stoffwechselleistungen der Hepatocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
62.3 Biotransformation – Metabolisierung von Endo- und Xenobiotica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776
62.4 Gallesekretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
62.5 Charakteristika von Sinusendothelien, Kupffer- und Sternzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
62.6 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783

63 Quergestreifte Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787


Dieter O. Fürst, Rolf Schröder
63.1 Funktioneller Aufbau der Skelettmuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787
63.2 Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788
63.3 Stoffwechsel der Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796
63.4 Besonderheiten der Herzmuskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
63.5 Pathobiochemie angeborener und erworbener Muskelerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801

64 Die glatte Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805


Gabriele Pfitzer
64.1 Aufgaben der glatten Muskulatur und funktionelle Einteilungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805
64.2 Struktur der glatten Muskulatur und Proteine des kontraktilen Apparats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806
64.3 Molekulare Grundlagen der Kontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807
64.4 Erregungs-Kontraktions-Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812
64.5 Relaxation der glatten Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814
64.6 Plastizität der glatten Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 815
64.7 Die glatte Muskulatur ist an vielen Erkrankungen der inneren Organe beteiligt . . . . . . . . . . . . . . . 815

65 Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817


Armin Kurtz
65.1 Funktionen und Aufbau der Nieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817
65.2 Energiestoffwechsel in der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 820
65.3 Endokrine Aktivitäten der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
65.4 Natriumhaushalt und renale Natriumreabsorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822
65.5 Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
65.6 Kaliumhaushalt und renale Kaliumausscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834
65.7 Renale Reabsorption von Monosacchariden, Peptiden und Aminosäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
65.8 Harnpflichtige Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836
65.9 Pathobiochemie des Wasser- und Elektrolythaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836

66 Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840


Armin Kurtz
66.1 Der Säure-Basen-Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 840
66.2 Calcium- und Phosphathaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846
66.3 Pathobiochemie des Säure-Basen- und Mineralhaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853

67 Blut – Bestandteile und Blutplasma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides
67.1 Bestandteile des Blutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
67.2 Elektrolyte und niedermolekulare Bestandteile des Blutplasmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
67.3 Plasmaproteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858
67.4 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862

68 Blut – Hämatopoese und Erythrocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides
68.1 Hämatopoese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863
68.2 Erythrocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865
68.3 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
XXVII
Inhaltsverzeichnis

69 Blut – Thrombocyten und Leukocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides
69.1 Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877
69.2 Leukocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887

70 Immunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
Siegfried Ansorge, Michael Täger
70.1 Rolle des Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
70.2 Unspezifische, angeborene Immunantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894
70.3 Das spezifische, adaptive Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 899
70.4 Instrumente und Mechanismen der Antigenerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
70.5 Prozessierung und Präsentation von Protein-Antigenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
70.6 Zellen der spezifischen Immunantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
70.7 Mechanismen der T-Zell-Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906
70.8 B-Lymphocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911
70.9 Antikörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
70.10 Zirkulation von Lymphocyten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922
70.11 Interaktionen der unspezifischen, angeborenen und spezifischen, adaptiven Immunantwort . . . . . . 923
70.12 Immunabwehr von Mikroorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925
70.13 Pathobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927

71 Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931


Rainer Deutzmann, Peter Bruckner
71.1 Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931
71.2 Abbau der extrazellulären Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
71.3 Pathobiochemie: Angeborene Erkrankungen des Kollagenstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950

72 Knorpel- und Knochengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952


Rainer Deutzmann, Peter Bruckner
72.1 Aufbau und Biosynthese von Knorpel und Knochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
72.2 Regulation der Chondro- und Osteogenese durch Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
72.3 Osteoklasten – Abbau und Umbau von Knochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
72.4 Knochenwachstum bis zur Pubertät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957
72.5 Homöostase von Knochengewebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957
72.6 Knochenumbau durch Cytokine und Steroidhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957
72.7 Pathobiochemie: Knochenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958

73 Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
Leena Bruckner-Tuderman, Peter Bruckner
73.1 Aufbau und Funktionen der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
73.2 Epidermis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961
73.3 Dermoepidermale Junktionszone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962
73.4 Dermis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
73.5 Pathobiochemie der Haut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964

74 Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
Petra May, Cord-Michael Becker, Hans H. Bock
74.1 Neuronen, Erregungsleitung und -übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
74.2 Glia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
74.3 Blutgefäße und Liquor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986
74.4 Stoffwechsel des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988
74.5 Neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
Genetischer Code, Wichtige Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 998
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999
Vorbemerkungen
Maßeinheiten

Die IFCC (International Federation for Clinical Chemistry) und die IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) haben gemeinsame
Empfehlungen zur Vereinheitlichung von Maßeinheiten verabschiedet, die sog. SI-Einheiten (Système International d‘Unités). Das Maßsystem basiert
auf sieben Grundeinheiten: Meter (m), Kilogramm (kg), Sekunde (s), Ampère (A), Kelvin (K), Mol (mol) und Candela (cd) (. Tab. 1).
Die Einheiten für z. B. Volumen, Konzentration, Kraft und Druck werden von diesen Grundeinheiten abgeleitet (. Tab. 2).

. Tabelle 1 SI-Basiseinheiten, Namen und Symbole

SI-Basisgröße Größensymbol Einheitenzeichen SI-Einheit Unübliche Einheiten


Länge l m Meter 1 Ångström (Å) = 10–10 m = 0,1 nm
Masse m kg Kilogramm
Zeit t s Sekunde 1 min = 60 s
1 h = 3600 s
1 d = 86400 s
Stromstärke i A Ampère
Temperatur T K Kelvin Temp. in °C = Temp. in K – 273,2
Stoffmenge 1 mol = 6,022 · 1023 Teilchen n mol Mol
Lichtstärke lV cd Candela

. Tabelle 2 Abgeleitete Basiseinheiten, Namen und Symbole

Abgeleitete Größe Symbol Name der Einheit Definition (in Unübliche, alte Einheiten
Einheit SI-Einheiten)
Volumen V Liter l 10–3 m3 1 dm3 = 1 l
1 cm3 = 1 ml
1 mm3 = 1 µl
Konzentration c Molarität M mol · l–1 1 mol · m–3 = 1 mmol · l–1
1mmol · m–3 = 1 µmol · l–1
Angaben in g%, g/100 ml, mg/100 ml sowie
mol%, mval/l oder äq/l, mäq/l sollten nicht mehr
verwendet werden
Molare Masse, Molmasse Dalton Da g · mol–1 Molekulare Masse (M) =
Wenn ein Atom 1,66 · 10–24 g wiegt, Masse (m) / Stoffmenge (n)
beträgt die Molmasse: (früher: Molekulargewicht)
(1,66 · 10–24)g · (6,022 · 1023) = 0,999652 g
Kraft F Newton N kg · m · s–2 1 dyn = 10–5 N
Druck p Pascal Pa N· m–2 1 bar = 105 Pa = 750 mm Hg
1 mm Hg = 133,3 Pa
1 atm = 1,0133 bar
1 Torr = 1,3332 mbar
1,013 · 105 = 1 atm
Energie, Arbeit, Wärmemenge E, A, Q Joule J N·m 1 Kalorie (cal) = 4,1868 J
1 Elektronenvolt (eV) = 1,602 10–19 J
Frequenz f Hertz Hz s–1
Leistung P Watt W J · s–1 = V · A 1 PS = 735 W
Elektrische Ladung q Coulomb C A·s
Elektrische Spannung U Volt V W · A–1
Reaktionsgeschwindigkeit v – v mol · s–1
Katalytische Aktivität Einheit U µmol · min–1
Katal mol · s–1
Sedimentationskoeffizient Svedberg S 10–13 s
Radioaktivität Bequerel Bq 1 Zerfall · s–1 1 Curie (Ci) = 3,7 · 1010 Bq

. Tabelle 3 Häufig verwendete Zehnerpotenzen, Präfixe und Symbole

Dezimale Vielfache u. Teile Präfix Symbol Dezimale Vielfache u. Teile Präfix Symbol
1015 Peta- P 10–6 Mikro- µ
1012 Tera- T 10–9 Nano- n
9
10 Giga- G 10–12 Pico- p
106 Mega- M 10–15 Femto- f
103 Kilo- k 10–18 Atto- a
10–3 Milli- m
XXIX
Vorbemerkungen

Reaktionsschemata 4 der Golgi-Apparat orange,


4 die Mitochondrien braun,
Es bedeuten: 4 das Cytosol hellblau,
4 DNA-Stränge blau und grau,
C C reguliert die Reaktion von A nach B über
4 RNA-Stränge rot.
eine Aktivierung;
+
D reguliert die Reaktion von B nach A über
A B eine Hemmung.
Normwertbereiche

Da in diesem Buch bei einigen biologisch-chemischen Größen,
D wie z. B. bei der Konzentration der Glucose, den Aminosäuren
oder Lipiden im Blut, quantitative Angaben gemacht werden, soll
Induktion
kurz einiges zum Begriff des Normbereiches gesagt werden.
Repression Bestimmt man in einem größeren, klinisch nichtkranken
Kollektiv z. B. die Blutzuckerkonzentration, so erhält man eine
wichtige Größe, den Mittelwert, als das arithmetische Mittel der
Tafeln Werte aller untersuchten Personen: dabei wird die Summe aller
Einzelwerte durch die Anzahl der durchgeführten Untersuchun-
Die Formeln der wichtigsten Kohlenhydrate, Lipide, Amino- gen dividiert:
säuren und Nucleotide sind in einem Tafelteil am Ende von xi
Kapitel 3 zusammengestellt. –
x=
n
wobei –x (gelesen »x quer«) den Mittelwert, xi die Einzelmessung
Verweise und n die Anzahl der untersuchten Personen (bzw. Untersuchun-
gen) darstellt.
Zahlreiche Querverweise sollen den Lesenden das Verständnis Die Kenntnis des Mittelwertes reicht jedoch nicht aus, da er
einzelner Kapitelthemen auch ohne eine umfassende Kenntnis nichts über die Streubreite, d. h. die Differenz zwischen dem höch-
der im Buch vorausbeschriebenen Sachverhalte ermöglichen. sten und niedrigsten Wert aussagt. Die Angabe der Streu- oder
Variationsbreite ist wiederum unbefriedigend, da 1. nur die bei-
den Extremwerte berücksichtigt werden und 2. die Variations-
Übrigens breite durch die Anzahl der Messungen bestimmt wird. Je mehr
Messwerte vorliegen, desto höher wird die Differenz zwischen den
Wie bereits in der 8. Auflage werden Text und Abbildungen auf- beiden Extremwerten.
gelockert durch sogenannte Übrigens-Boxen, in denen unseren Aus diesen Gründen berechnet man die Standardabwei-
Leserinnen und Lesern in kurzer Form Meilensteine von Ent- chung (s) oder Variabilität nach der Formel:
deckungen – in der Regel mit Nobelpreisen ausgezeichnet – vor-
gestellt werden. Aber auch Anekdotisches und Wissenwertes ist
in den Übrigens-Boxen zu finden. s= ! (xi – –
n–1
x )2

Sie stellt ein Maß für die Streuung der Einzelwerte um den Mit-
Englische Begriffe telwert dar. Ermittelt man die Häufigkeitsverteilung der einzel-
nen Messgrößen in einem Kollektiv, so kann diese eine beliebige
Da für viele Begriffe in der Biochemie/Molekularbiologie keine Kurvenform haben. Im Idealfall gruppieren sich die Messwerte
adäquaten deutschen Übersetzungen geläufig sind, werden sehr in Form einer Normalverteilung (Gauß-Verteilung) um den
oft die englischen Begriffe verwendet, die klein und kursiv ge- Mittelwert (x–). Die Gauß-Verteilung entspricht einer Glocken-
druckt sind. kurve, wobei die beiden Wendepunkte von entscheidender Be-
deutung sind: der Abstand zwischen – x und dem Wendepunkt ist
der Wert s, die Standardabweichung.
Farbklima Um z. B. bei klinischen Studien die Normalwerte von den pa-
thologischen Resultaten deutlich trennen zu können, muss man
4 In Abbildungen vorkommende Enzyme sind weitestgehend auf beiden Seiten der Kurve Grenzen zwischen den bei Gesun-
in hellblauen Kästen mit »runden Ecken« und schwarzer den häufigen bzw. den seltenen Werten ziehen. Als Grenze des
Schrift dargestellt, sog. Normwertbereiches definiert man im Allgemeinen – beim
4 die Plasmamembranen als zwei blaue Linien mit Vorliegen einer Normalverteilung – die Spanne innerhalb der
dazwischenliegendem Gelb, doppelten Standardabweichung (x – ± 2s) zu beiden Seiten des
4 die Zellkerne violett, Mittelwertes. Dieser Bereich schließt die mittleren 95% der Ver-
4 das endoplasmatische Retikulum (ER) grün, teilung ein (Vertrauensbereich oder Normbereich).
1 I

Grundlagen der Biochemie


und der Molekularen
Zellbiologie
Kapitel 1 Ohne Wasser kein Leben –3
P. C. Heinrich

Kapitel 2 Vom Molekül zum Organismus – 14


H. Follmann †

Kapitel 3 Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide –


Bausteine des Lebens – 26
Tafelteil – 47
G. Löffler, M. Müller

Kapitel 4 Bioenergetik – 54
T. Kriegel, W. Schellenberger

Kapitel 5 Proteine – Struktur und Funktion – 61


H. R. Kalbitzer

Kapitel 6 Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden,


Synthese und Isolierung – 86
H. R. Kalbitzer

Kapitel 7 Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse – 101


T. Kriegel, W. Schellenberger

Kapitel 8 Regulation der Enzymaktivität – 115


T. Kriegel, W. Schellenberger

Kapitel 9 Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie – 125


T. Kriegel, W. Schellenberger

Kapitel 10 Nucleinsäuren – Struktur und Funktion – 130


H.-G. Koch, J. Brix, P. C. Heinrich

Kapitel 11 Biomembranen – 149


L. Graeve, M. Müller

Kapitel 12 Zellorganellen und Vesikeltransport – 157


L. Graeve, M. Müller

Kapitel 13 Cytoskelett – 174


L. Graeve, M. Müller
3 1

1 Ohne Wasser kein Leben


Peter C. Heinrich

Einleitung Periodensystems wie Schwefelwasserstoff (H2S) oder Selenwas-


serstoff (H2Se) höhere Schmelz- und Siedetemperaturen sowie
Das Leben auf der Erde hängt von Wasser ab. Es ist die Hauptkomponen- eine höhere Wärmekapazität und Oberflächenspannung auf.
te lebender Organismen. Da reines Wasser transparent, geruchlos, ge- Während Schwefelwasserstoff (H2S) bereits bei –61 °C in den
schmacklos und weit verbreitet ist, wird es oft nicht wirklich wahrge- gasförmigen Zustand übergeht, siedet Wasser erst bei +100 °C.
nommen. Es ist falsch, Wasser nur als inertes Lösungsmittel zu betrach- Dieses unterschiedliche Verhalten beruht auf dem hohen
ten. Wasser transportiert, reagiert, stabilisiert, signalisiert, strukturiert, Dipolmoment des Wassermoleküls und der Fähigkeit, sog.
verteilt. Für all diese Funktionen ist die Dipolstruktur und die Fähigkeit Wasserstoffbrückenbindungen auszubilden (s. u.).
von Wassermolekülen, Wasserstoffbrückenbindungen auszubilden und Das Wassermolekül besteht aus nur zwei Elementen, einem
zu lösen, verantwortlich. Das Leben sollte als eine gleichwertige Partner- Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffatomen. Es ist nicht linear,
schaft von Biomolekülen und Wasser betrachtet werden. sondern gewinkelt aufgebaut, mit einem H‒O‒H-Bindungswinkel
von 104,5° (. Abb. 1.1A, B). Das Wassermolekül hat die Geome-
Schwerpunkte trie eines Tetraeders. Im Inneren des Tetraeders befindet sich das
Sauerstoffatom und an zwei Ecken des Tetraeders je ein H-Atom.
4 Ausbildung von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen
An den zwei anderen Ecken befinden sich die freien Elektronen-
Wassermolekülen (Dipol-Dipol-Wechselwirkungen) und ihr
paare des Sauerstoffs (. Abb. 1.1C). Da der Sauerstoff aufgrund
Einfluss auf die Struktur von Wasser und Eis aber auch auf
seiner hohen Elektronegativität die Elektronen von beiden Was-
kolligative Eigenschaften wie Schmelz- und Siedepunkt,
serstoffkernen wegzieht, sind diese partiell positiv und der Sau-
Verdampfungswärme und Oberflächenspannung
erstoff partiell negativ geladen. Das elektrisch neutrale Wasser-
4 Ausbildung hydrophober Wechselwirkungen
molekül mit seiner ungleichen Ladungsverteilung bezeichnet
4 Bedeutung der Osmose für Aufnahme und Abgabe von
man daher als Dipol (. Abb. 1.1A–C).
Wasser und damit auch für die Formgebung lebender Zellen
4 Wassertransport durch Aquaporine (Wasserkanäle) in Niere,
Das Wassermolekül bildet Wasserstoffbrücken-
Speichel- und Tränendrüsen
bindungen aus
4 pH-Wert, pK-Wert und Puffersysteme in Körperflüssigkeiten
Aufgrund der Dipolstruktur der Wassermoleküle kommt es zur
Ausbildung von Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den
einzelnen Wassermolekülen (. Abb. 1.2A). Das partiell positiv
geladene Wasserstoffatom (Donor) des rechten Wassermoleküls
1.1 Eigenschaften des Wassers wird von einem der zwei freien Elektronenpaare des Sauerstoffs
(Akzeptor) des linken Wassermoleküls angezogen. Wasserstoff-
Ohne Wasser ist Leben nicht vorstellbar brückenbindungen sind relativ schwach. Zur Spaltung einer H-
Während Menschen recht lange Hungerperioden überstehen O-Brücke im flüssigen Wasser müssen nur 23 kJ/mol aufgewen-
können, führt ein völliger Wasserentzug bereits nach wenigen det werden. Im Vergleich hierzu ist die Bindungsenergie einer
Tagen zum Tod durch Verdursten. Der menschliche Körper be- kovalenten H-O-Einfachbindung mit 470 kJ/mol 20-mal höher.
steht zu annähernd 60 Gewichtsprozenten aus Wasser, welches
auf Intra- und Extrazellulärräume verteilt ist. Zwei Drittel der A B C
Wassermenge entfallen auf intrazelluläre Flüssigkeit und etwa
ein Drittel auf extrazelluläre Flüssigkeit. Diese befindet sich im
interstitiellen Raum zwischen den Körperzellen sowie im Blut-
plasma, Gelenkflüssigkeit und Liquor cerebrospinalis.
Wasser ist im biologischen Umfeld das universelle Lösungs-
mittel, in dem sich alle Stoffwechselreaktionen abspielen. Die
Bedeutung des Wassers für das Leben basiert auf einer Reihe . Abb. 1.1 Struktur des Wassermoleküls. A Dipolstruktur; δ+, δ–, positive
ungewöhnlicher Eigenschaften dieses Moleküls. bzw. negative Partialladungen. B Elektrostatische Potentialflächen des Was-
sermoleküls; rot: hohe, blau: geringe Elektronendichte. C Das Wassermole-
kül weist eine tetraedrische Geometrie auf: Im Zentrum des Tetraeders be-
Wasser ist ein polares Molekül findet sich das Sauerstoffatom, an den Ecken die beiden H-Atome und die
Wasser weist im Vergleich zu anderen kleinen, ähnlich aufgebau- zwei freien Elektronenpaare des Sauerstoffatoms. (B, C Adaptiert nach
ten Molekülen mit Elementen der sechsten Hauptgruppe des Müller Esterl 2004)

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
4 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben

A B A
1 B

. Abb. 1.3 Wasserstoffbrückenbindungen in Eis und Wasser. A Eis hat


ein verhältnismäßig voluminöses, hochgeordnetes Kristallgitter aus tetra-
edrisch angeordneten Wassermolekülen. Für ein Wassermolekül ist exem-
plarisch gezeigt, dass dieses mit vier Wassermolekülen über Wasserstoffbrü-
ckenbindungen interagiert (mit 1, 2, 3 und 4 markiert). B Wenn das Eisgitter
. Abb. 1.2 Wasserstoffbrückenbindung zwischen benachbarten Wasser- beim Schmelzpunkt zusammenbricht, bleiben die geordneten Strukturen
molekülen. A Das partiell positiv geladene H-Atom des rechten Wassermole- im flüssigen Wasser zum Teil erhalten, zum Teil entstehen aber auch kom-
küls wird von einem der beiden freien Elektronenpaare des Sauerstoffatoms paktere Anordnungen (flickering cluster, blau unterlegt), sodass das flüssige
des linken Wassermoleküls angezogen. Die Wasserstoffbrückenbindung ist Wasser eine größere Dichte hat als das Eis. Bei Temperatursteigerung lösen
grün gestrichelt. B Das im Zentrum des Tetraeders befindliche Wassermole- sich die Strukturen allmählich auf. Das Dichtemaximum des Wassers liegt
kül bildet zu vier Wassermolekülen (vier Ecken des Tetraeders) Wasserstoff- bei 4 °C. (Adaptiert nach Müller Esterl 2004)
brückenbindungen aus, zwei als Donor und zwei als Akzeptor. (Adaptiert
nach Alberts 2008; mit freundlicher Genehmigung von Taylor u. Francis) bildenden und wieder zerfallenden Clustern (flickering clusters)
vorstellen (. Abb. 1.3B). Die flickering cluster-Struktur des flüssi-
Daher beträgt der Abstand zwischen H-Atom und O-Atom gen Wassers hat bei 0 °C eine Dichte von 1,00 g/ml und ist höher
(H-O) bei Wasserstoffbrückenbindungen 0,18 nm und bei kova- als die Dichte der Wassermoleküle im Eis, welches aufgrund
lenten H-O-Bindungen nur 0,10 nm. seiner ungewöhnlich offenen Struktur nur eine Dichte von
Aufgrund der H-Brückenbindungen entstehen in flüssigem 0,92 g/ml aufweist. Der Unterschied der Dichte von flüssigem
Wasser kurzlebige geordnete Assoziate. Dies erklärt warum Was- Wasser und Eis hat wichtige Konsequenzen für das Leben auf der
ser bei Raumtemperatur flüssig und der dem Wasser verwandte Erde. Wäre Eis dichter als Wasser würde es in Seen und Ozeanen
giftige Schwefelwasserstoff (H2S), der keine Wasserstoffbrücken- auf dem Grund liegen statt zu schwimmen. Von der Sonne
bindungen ausbilden kann, gasförmig ist, obwohl H2S eine fast abgeschirmt wären die Gewässer auf dem Grund dauerhaft
doppelte molekulare Masse (34 Da gegenüber 18 Da*) aufweist. gefroren und Leben hätte sich nicht entwickeln können.

Lebensdauer und Zahl der Wasserstoffbrücken Wasserstoffbrückenbindungen kommen


im Wasser sind temperaturabhängig nicht nur im Wasser vor
Mit zunehmender Temperatur nimmt der Ordnungszustand des Grundsätzlich kann man eine Wasserstoffbrücke als die gemein-
Wassers ab, mit abnehmender Temperatur dagegen zu. Eis besitzt same Nutzung eines Wasserstoffatoms zwischen zwei Molekülen
eine regelmäßige hochgeordnete Kristallstruktur (. Abb. 1.3A), definieren. Somit ist die Ausbildung von Wasserstoffbrückenbin-
in der jedes Wassermolekül tetraedrisch vier Wasserstoffbrücken dungen nicht nur auf Wasser beschränkt.
ausbildet, zwei als Donor und zwei als Akzeptor (. Abb. 1.2B). . Abb. 1.4 zeigt, dass ein Wasserstoffatom in einer Wasser-
Auch im flüssigen Wasser befindet sich noch ein großer Teil der stoffbrückenbindung von zwei elektronegativen Atomen wie
Wassermoleküle in geordneten Strukturen. Bei 37 °C liegen 15 % Stickstoff oder Sauerstoff gemeinsam benutzt werden kann. Des-
der Wassermoleküle mit je vier assoziierten Wassermolekülen vor. halb können Alkohole, Aldehyde, Ketone und Moleküle mit N-H-
Die Halbwertszeit jeder einzelnen Wasserstoffbrückenbindung Bindungen ebenfalls Wasserstoffbrückenbindungen ausbilden.
ist allerdings kürzer als 10 Picosekunden. Dies bedeutet, dass das In Nucleinsäuren und Proteinen stabilisieren Wasserstoff-
durchschnittliche Wassermolekül wandert, sich reorientiert und brückenbindungen die räumliche Anordnung dieser Makromo-
mit neuen Nachbarn Wasserstoffbrücken ausbildet. Man muss leküle. Diese leichte Lösbarkeit von Wasserstoffbrückenbindun-
sich reines flüssiges Wasser als ein Netzwerk aus sich schnell gen ist eine wichtige Voraussetzung sowohl für die Replikation
und Transkription der DNA als auch für Konformationsände-
* Die relative molekulare Masse eines Moleküls ist die Summe der Atom- rungen in Proteinen.
massen. Die Bezeichnung molekulare Masse ersetzt den Begriff Molekular-
gewicht, weil Letzteres von der Erdanziehung (Gravitation) abhängt. Da Die Polarität der Wassermoleküle ist für die Ausbil-
die relative molekulare Masse als Quotient aus der Molekülmasse und
1/12 der Masse eines Atoms des Kohlenstoff-Isotops 12C definiert ist, ist
dung von Hydrathüllen gelöster Ionen verantwortlich
die Masseneinheit dimensionslos. Dennoch hat sich eingebürgert, das Die polare Natur der Wassermoleküle (Dipole) und ihre Fähig-
Dalton als Einheit der molekularen Masse zu benutzen. keit Wasserstoffbrücken auszubilden ist der Grund dafür, dass
1.1 · Eigenschaften des Wassers
5 1

. Abb. 1.4 Wasserstoffbrückenbindungen. Die häufigsten Wasserstoff-


brückenbindungen in biologischen Systemen. Wasserstoffbrückenbindun-
gen sind durch senkrechte grüne Striche dargestellt. Die Donoratome Stick-
stoff und Sauerstoff sind elektronegative Elemente, die dem Wasserstoff
eine positive Partialladung verleihen. Die partiell positiv geladenen H-Ato-
me wechselwirken mit einem freien Elektronenpaar der Akzeptoratome

. Abb. 1.5 Auflösung von Kochsalz (NaCl) in Wasser. Na+ (magenta) und
sich polare anorganische und organische Moleküle in Wasser Cl– (grün) Ionen werden durch elektrostatische Anziehungskräfte zusam-
mengehalten und bilden ein Kristallgitter. Wasserdipole schwächen die
lösen. Polare Moleküle wie Salze lösen sich meist sehr leicht in
elektrostatischen Anziehungskräfte zwischen den positiv und negativ gela-
Wasser auf, obgleich das Kristallgitter z. B. von Kochsalz (NaCl) denen Ionen, und das Kristallgitter wird zerstört. Na+ und Cl– umgeben sich
durch die starken ionischen Wechselwirkungskräfte zwischen mit Hydrathüllen, deren Wechselwirkungen zwischen den Ionen und den
den positiv und negativ geladenen Na+- und Cl–-Ionen zusam- Wassermolekülen durch unterbrochene Linien dargestellt sind. (Adaptiert
mengehalten wird. Das Kristallgitter von NaCl kann sich nur nach Horton 2008, © Pearson Studium)
auflösen, weil die positiv geladenen Na+-Ionen von Wassermole-
külen so umgeben werden, dass das partiell negativ geladene Stoffe keine Wasserstoffbrücken mit den Wasserdipolen ausbil-
Dipolende des Sauerstoffatoms des Wassers an die Na+-Ionen den und deshalb nicht durch Wasserstoffbrückenbindungen in
und das partiell positiv geladene Dipolende der beiden Wasser- das Wassernetzwerk eingebunden werden können, muss das
stoffatome an die Cl–-Ionen binden (Ionen-Dipol-Wechselwir- Wasser seine Struktur reorganisieren. Dazu bilden die Wasser-
kung). Man spricht von Hydratisierung, das heißt es bilden sich moleküle um die hydrophoben Moleküle herum »käfigartige
Hydrathüllen um die Na+- und Cl–-Ionen aus. Wenn die daraus Clathratstrukturen« (lat.: clatratus vergittert) aus, d. h. die hyd-
resultierende Hydratationsenergie die Gitterenergie von NaCl rophoben Moleküle werden von einer Pentagon-/Hexagon-Hy-
übersteigt, löst sich das Salz in Wasser auf (. Abb. 1.5). Die drathülle umgeben. Dies bedeutet, dass die Clathratbildung von
Anzahl der von einem Ion gebundenen Wassermoleküle hängt einer vermehrten Ordnung der Wassermoleküle begleitet ist,
von dessen Radius ab. Die kleineren Ionen, z. B. Na+, binden was einer Verringerung der Entropie entspricht (7 Kap. 4.1).
Wasser stärker als die größeren. Wenn sich zwei nicht-polare Moleküle in ihren Käfigen annä-
Dies bedeutet z. B. dass das hydratiserte Na+-Ion einen grö- hern, führt dies zu einer Aggregation der unpolaren Moleküle
ßeren Radius als das hydratisierte K+-Ion aufweist, obwohl sich und zu einer Freisetzung von Wassermolekülen, die ursprüng-
die Atomradien der nicht hydratisierten Ionen umgekehrt ver- lich mit der nicht-polaren Oberfläche interagiert hatten (. Abb.
halten. Dieses Phänomen erklärt, warum K+-Ionen biologische 1.6). Diese größere Beweglichkeit der Wassermoleküle bedeutet
Membranen leichter überwinden können als Na+-Ionen. eine größere Unordnung und damit eine Zunahme der Entropie.
Somit entsteht die hydrophobe Wechselwirkung infolge eines
Hydrophobe Interaktionen entstehen Entropieeffektes.
aufgrund der Unverträglichkeit hydrophiler Nach der Gibbs-Helmholtz-Gleichung (7 Kap. 4.1):
und hydrophober Gruppen
Nicht-ionische Moleküle mit polaren funktionellen Gruppen ΔG = ΔH – TΔS
wie z. B. Alkohole, Amine und Carbonylverbindungen bilden
Wasserstoffbrücken aus und lösen sich daher leicht in Wasser ΔH = Enthalpiedifferenz und ΔS = Entropiedifferenz
(hydrophile Substanzen; griech: hydor, Wasser; philos, Freund). kommt es bei einer Zunahme der Entropie (ΔS) zu einer
Nicht-polare Substanzen wie z. B. Öl, Fette oder Kohlenwasser- Abnahme der Freien Enthalpie ΔG1. Prozesse, bei denen ΔG <0
stoffe sind in Wasser nicht löslich, d. h. sie meiden den Kontakt ist, laufen spontan ab (exergon). Hydrophobe Effekte sind
mit Wasser (hydrophobe Substanzen, griech: phobos, Angst). demnach nicht auf eine gegenseitige Anziehung/Bindung der
Hydrophobe Substanzen lösen sich dagegen sehr gut in apolaren hydrophoben Moleküle zurückzuführen, sondern auf eine
Lösungsmitteln wie Chloroform, Tetrachlorkohlenstoff oder Abnahme der freien Enthalpie hervorgerufen durch den Anstieg
Hexan (»Gleiches löst sich in Gleichem«). Das Verhalten von der Entropie der umgebenden Wassermoleküle. Der häufig
Wassermolekülen gegenüber hydrophoben Substanzen und verwendete Begriff hydrophobe Bindung ist nicht korrekt, es
nicht-polaren funktionellen Gruppen in biologischen Makro-
molekülen unterscheidet sich von der besprochenen leichten 1 In der Thermodynamik ist ΔG als Freie Enthalpie definiert (s. 7 Kap. 4). Häu-
Wasserlöslichkeit polarer Stoffe wie NaCl. Da die unpolaren fig wird in der angelsächsischen Literatur ΔG als Freie Energie bezeichnet.
6 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben

. Abb. 1.6 Modell zur Erläuterung des hydrophoben Effektes in wässrigen Lösungen. Hydrophobe Moleküle (gelb) können mit Wassermolekülen
keine Wasserstoffbrücken ausbilden. Das sie umgebende Wasser in Form von Pentagon-/Hexagon-Hydrathüllen (nicht gezeigt) zwingt die hydrophoben
Moleküle zur spontanen Aggregation verbunden mit einer Freisetzung von Wassermolekülen (Entropiezunahme). (Adaptiert nach Stryer 2007)

handelt sich vielmehr um hydrophobe Wechselwirkungen, oder der gelösten Substanz abhängen. Kolligative Eigenschaften des
anders formuliert: Wasser zwingt hydrophobe Moleküle in ein Wassers sind der Dampfdruck, der Siedepunkt, der Schmelz-/
sich spontan bildendes Aggregat. Ohne Wasser gibt es keine Gefrierpunkt und der osmotische Druck. Die Eigenschaften des
hydrophoben Effekte. Wassers werden verändert, wenn Substanzen im Wasser gelöst
sind, d. h. wenn die Wasserkonzentration in der Lösung niedriger
Hydrophobe Wechselwirkungen spielen eine ist als in reinem Wasser. Zum Beispiel wird in einer 1 molaren
wichtige Rolle bei der Selbstorganisation Lösung von Glucose (1 mol Glucose gelöst in 1.000 ml Wasser bei
von Makromolekülen und biologischen Strukturen einem Druck von 1 atm) der Gefrierpunkt der Lösung um 1,86 °C
4 Hydrophobe Wechselwirkungen sind für die Ausbildung erniedrigt und der Siedepunkt um 0,54 °C erhöht.
der 3D-Struktur von Proteinen sehr wichtig. Sie sind dafür
verantwortlich, dass das Innere vieler Proteine praktisch Die Diffusion von Wassermolekülen durch selektiv
wasserfrei ist, da hier die hydrophoben Seitenketten dicht permeable Membranen wird als Osmose bezeichnet
gepackt sind. Auf der Proteinoberfläche dagegen befinden Wenn eine wässrige Lösung von Glucose durch eine semiperme-
sich die geladenen und polaren Aminosäuren. Häufig able (lat: semi: halb; permeare: durchwandern) Membran (nur
tragen hydrophobe Wechselwirkungen mehr zur Stabilität durchlässig für Wasser, nicht für Glucose) von reinem Wasser
eines Proteins bei als alle übrigen nicht-kovalenten Wech- getrennt ist, wandern die Wassermoleküle von der hohen
selwirkungen. Wasserkonzentration = reines Wasser durch die Membranbarriere
4 Hydrophobe Wechselwirkungen sind auch von großer Be- in die Glucoselösung mit der niedrigeren Wasserkonzentration,
deutung für die Ausbildung von Quartärstrukturen von die dadurch verdünnt wird (. Abb. 1.7). Man bezeichnet die Lö-
Proteinen, der Organisation von Multienzymkomplexen, sungsmittel (Wasser)-Bewegung vom Ort hoher Konzentration
der Stabilisierung der DNA- Doppelhelix (7 Kap. 10.2.1) zum Ort niedriger Konzentration (Glucoselösung) als Osmose.
und der Assemblierung von biologischen Membranen Unter osmotischem Druck einer Lösung z. B. einer Glucoselö-
(7 Kap. 11.1). sung versteht man den hydrostatischen Druck, der dem Durch-
tritt des Lösungsmittels durch die semipermeable Membran ent-
Nähern sich z. B. eine hydrophobe Gruppe eines Liganden (Hor- gegen wirkt. Der osmotische Druck π wird durch die van’t Hoff-
mone, kompetitiver Inhibitor, Medikament) und eine unpolare Gleichung beschrieben
Rezeptorgruppe, die beide von geordneten Wassermolekülen
umgeben sind, so gehen die Wassermoleküle bei Annäherung Π = n · V–1 · R · T
von Wirkstoff und Rezeptor in einen ungeordneteren Zustand
über. Durch den hiermit verbundenen Entropieanstieg kommt es Dabei stellen n die Teilchenzahl, V das Volumen, R die allgemei-
zu einer Abnahme der Freien Enthalpie, die den Ligand-Rezep- ne Gaskonstante und T die absolute Temperatur dar.
tor-Komplex stabilisiert. Der osmotische Druck π ist proportional zur Konzentration
(n/V) des gelösten Stoffes. Für eine 1 molare Glucoselösung
beträgt der osmotische Druck 2.270 kPa. Eine 1 molare NaCl-
1.2 Kolligative Eigenschaften des flüssigen Lösung weist dagegen einen doppelt so hohen osmotischen
Wassers und osmotischer Druck Druck von 4.540 kPa auf, da die NaCl-Lösung aufgrund der
Dissoziation des Kochsalzes in Na+- und Cl–-Ionen 2 mol/l Teil-
Als kolligative Eigenschaften (kolligativ = miteinander verbunden) chen enthält. Die Anzahl aller osmotisch wirksamen Teilchen in
werden Eigenschaften eines Stoffes bezeichnet, die allein von der mol/l Lösung bezeichnet man als Osmolarität der Lösung, bezo-
Anzahl der gelösten Moleküle/Ionen pro Volumen des Lösungs- gen auf 1 kg Lösungsmittel spricht man von Osmolalität. Die
mittels und nicht von der chemischen Natur (Größe und Ladung) Osmolarität des Blutplasmas hält sich bei Gesunden in einem
1.3 · Autoprotolyse von Wasser, pH Wert
7 1
A B C Um den osmotischen Druck, der von den gelösten Teilchen
im Cytosol von Säugetierzellen ausgeht, zu minimieren,
speichern Hepatocyten und Muskelzellen nicht freie Glucose,
sondern hochmolekulares Glycogen (ca. 50.000 Glucoseeinheiten
in einem Glycogenmolekül!) (7 Kap. 3.1.4). Sie vermeiden so das
Eindringen von Wasser aufgrund osmotischer Effekte. Die in
Adipocyten (Fettzellen) gespeicherten Triglyceride sind auf-
grund ihrer Wasserunlöslichkeit osmotisch nicht wirksam.
Zur Beschleunigung des Wassertransports in und aus Säuge-
tierzellen während der Osmose dienen Wasserkanäle, die 1992
von Peter Agre entdeckt und »Aquaporine« genannt wurden.
Diese Entdeckung wurde 2003 mit dem Nobelpreis für Chemie
gewürdigt. Beim Menschen sind inzwischen 13 Aquaporine
nachgewiesen worden. Sie werden besonders in der Niere, den
. Abb. 1.7 Vorgänge bei der Osmose. A Das Becherglas ist mit reinem Speichel- und Tränendrüsen exprimiert.
Wasser gefüllt, die Glasröhre enthält eine Glucoselösung, die unten mit ei-
Das Aquaporin AQP1 ist ein Homotetramer (. Abb. 1.9). Jede
ner semipermeablen Membran vom umgebenden Wasser abgetrennt ist.
Die Membran ist nur für Wasser, nicht aber für die in Wasser gelöste Glucose Untereinheit besteht aus 6 Transmembranhelices und 2 kurzen
durchlässig. B Wassermoleküle aus dem Becherglas diffundieren durch die Helices. Im Unterschied zu Kaliumkanälen (7 Kap. 74) bildet jede
semipermeable Membran in die Glasröhre und verdünnen die Glucoselö- Aquaporinuntereinheit eine Pore mit einem Durchmesser von
sung. Dabei steigt die Flüssigkeitssäule in der Glasröhre solange an, bis de- 0,3 nm. Der Durchmesser eines Wassermoleküls beträgt 0,28 nm.
ren Schwerkraft = osmotischer Druck das weitere Eindringen von Wasser-
Aquaporine transportieren Wassermoleküle, aber keine Protonen.
molekülen stoppt. C Als osmotischen Druck π bezeichnet man die Kraft auf
den Stempel, die den Ausgangszustand A wiederherstellt. (Adaptiert nach Die Kanäle öffnen sich nach Phosphorylierung spezifischer Ami-
Nelson, Cox 2011) nosäurereste und schließen sich bei Dephosphorylierung. Bei Ein-
tritt in den Aquaporinkanal zeigt das O-Atom des Wassers zu-
Bereich zwischen 290 und 300 Milliosmol (mosmol/l), entspricht nächst zur cytosolischen Seite. Während das Wassermolekül den
also ungefähr der Osmolarität von 0,15 mol/l NaCl. Kanal durchquert, dreht es sich in der Mitte des Kanals um 180°
Für alle lebenden Zellen sind Aufnahme und Abgabe von und die H-Atome zeigen jetzt in Richtung Cytoplasma.
Wasser von großer Bedeutung. Änderungen der extrazellulä-
ren  Osmolarität können in Säugetierzellen zu schnellen
Schrumpfungen oder Schwellungen führen. . Abb. 1.8 zeigt, wie 1.3 Autoprotolyse von Wasser, pH-Wert
Erythrocyten in reinem Wasser (hypotones Milieu) schwellen.
Wasser strömt so lange in das Zellinnere bis die Zellen platzen. Wasser hat eine geringe Tendenz zu dissoziieren. Da Wassermo-
In konzentrierter Kochsalzlösung (hypertones Milieu) wird da- leküle Protonen (H+) untereinander austauschen, kann ein Pro-
gegen eine Schrumpfung der roten Blutzellen beobachtet. Bei ton von einem Wassermolekül auf ein benachbartes Wassermo-
experimentellen Arbeiten mit Säugetierzellen ist es daher wich- lekül übertragen werden und es entstehen Hydronium- (H3O+)
tig, dass diese in einem isotonen Medium gehalten werden, in und Hydroxidionen (OH–) (Gleichung 1)
dem die Osmolarität identisch mit derjenigen im Zellinneren ist.
Deshalb wird auch in der Medizin zur Infusion als Blutersatz H2O + H2O H3O+ + OH‒ (1)
kein reines Wasser, sondern eine isotone Kochsalzlösung (0,9 %
= 9 g/l Wasser) verwendet. Diese Lösung hat praktisch den glei- Das Gleichgewicht für diese sog. Autoprotolysereaktion liegt
chen osmotischen Druck wie das Blutplasma (s. o.). auf der Seite des undissoziierten Wassers.

. Abb. 1.8 Effekt von hypotonem, isotonem und hypertonem Milieu auf rote Blutzellen (Einzelheiten s. Text). Eine physiologische Kochsalzlösung
(= isotones Milieu) enthält 0,154 mol NaCl/l, entsprechend 9 g/l
8 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben

Für reines Wasser gilt somit


1
[H+] = [OH‒] = 10‒7 mol/l

Der pH-Wert ist der negative dekadische


Logarithmus der Wasserstoffionenkonzentration
Da es sehr unbequem ist, mit derart niedrigen Konzentrationen
umzugehen, wurde von Søren Sørensen vorgeschlagen, den ne-
gativen dekadischen Logarithmus der H+-Ionenkonzentration,
den sog. pH-Wert oder das pH (Neutrum!) (potentia hydrogenii
oder auch pondus hydrogenii) zu verwenden:

pH = –log [H+]

. Abb. 1.9 Aquaporin. Dreidimensionale Struktur des tetrameren Aqua- Daraus folgt, je höher die Wasserstoffionenkonzentration (= Pro-
porin AQP1. Die Ansicht von der cytoplasmatischen Seite zeigt, dass jede tonenkonzentration) desto niedriger der pH-Wert und umge-
der vier Untereinheiten eine Pore (schwarze Pfeilspitze) für den Transport kehrt.
eines Wassermoleküls bildet. (Adaptiert nach Sui 2001, mit freundlicher
Die Änderung des pH- Wertes um eine Einheit bedeutet eine
Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd)
10fache Änderung in der Wasserstoffionenkonzentration.
Da die H+-Ionenkonzentration von reinem Wasser 10‒7 mol/l
Es ist bekannt, dass die Wasserstoffionen (Protonen, H+) beträgt, ergibt sich ein pH-Wert von
nicht nur als Hydronium (H3O+)-Ionen, sondern auch als multi-
mere Hydrate wie H+(H2O)2, H+(H2O)3 und H+(H2O)5 vor- pH = –log [10‒7] = –log [1/107] = log [107] = 7,0
liegen.
Zur Vereinfachung hat sich eingebürgert, die Hydronium- Auf einer pH-Skala bedeutet pH 7,0 eine neutrale Lösung, pH-
ionen (H3O+)-Konzentration als H+-Konzentration zu schrei- Werte kleiner 7 bedeuten saure Lösungen, pH Werte über 7 alka-
ben, obgleich in wässriger Lösung keine Protonen vorliegen. lische Lösungen. In . Abb. 1.10 sind die pH-Werte einiger be-
Protonen sind H+-Ionen, die aus H-Atomen entstehen, denen ihr kannter Flüssigkeiten und Körperflüssigkeiten zusammenge-
einziges Elektron entzogen wurde. stellt.
Die Anwendung des Massenwirkungsgesetzes auf das obige Da der pH-Wert die Struktur und Aktivität von Makromole-
Wasserdissoziationsgleichgewicht (Gleichung 1) ergibt külen, z. B. die katalytische Aktivität von Enzymen, stark
beeinflusst, sind pH-Messungen in biochemischen und klini-
K = [H+] · [OH‒]/[H2O]2 . (2) schen Labors sehr wichtig. pH-Messungen können mit Indikato-
ren durchgeführt werden. Dabei handelt es sich um schwache
Die eckigen Klammern symbolisieren Konzentrationen in mol/l.
organische Säuren oder Basen, die bei Base- oder Säurezugabe
Da ein Mol Wasser 18 g wiegt, enthält ein Liter (1.000 g) Was-
ihre Farbe ändern, z. B. Lackmus oder Phenolphthalein. Sehr viel
ser 1.000/18 = 55,6 mol Wasser. Da ferner die molare Konzentra-
präzisere pH-Messungen erfolgen mit Hilfe einer Glaselektrode
tion an Wasser mit 55,6 mol/l viel größer ist als die Konzentratio-
in einem pH-Meter, das eine von der Protonenkonzentration
nen an H+- und OH–-Ionen, wird die Wasserkonzentration als
abhängige elektrische Spannung misst. In der medizinischen
konstant betrachtet und in die Gleichgewichtskonstante K einbe-
Diagnostik werden pH-Messungen von Körperflüssigkeiten wie
zogen. Dadurch ergibt sich die Ionenproduktkonstante Kw des
Blut und Urin durchgeführt. Bei nicht behandelten Diabetikern
Wassers:
können z. B. aufgrund der hohen Ketonkörperkonzentrationen
erniedrigte pH-Werte im Plasma (metabolische Acidose)
Kw = K · [H2O]2 = [H+] · [OH‒]
auftreten (7 Kap. 21.2.2).
Durch Messung der elektrischen Leitfähigkeit wurden die Kon-
zentrationen von H+ und OH– bei 25 °C bestimmt zu:
1.4 Säuren und Basen
[H+] = 10–7 mol/l
Es gibt eine Vielzahl von Verbindungen, die in reinem Wasser
[OH–] = 10–7 mol/l (pH = 7,0) gelöst zu einer Veränderung des pH-Wertes führen.
Die Ionenproduktkonstante des Wassers ist daher Kw = 10–7 ∙ 10–7 Hierbei kann es sowohl zu einer Erhöhung als auch zu einer Er-
= 10–14 mol2/l2 niedrigung der Wasserstoffionenkonzentration in der Lösung
Bei 25 °C (Gleichgewichtskonstanten sind temperaturabhän- kommen.
gig) beträgt der Zahlenwert für das Ionenprodukt des Wassers Säuren und Basen können die Protonen (H+)- und Hydroxid
(OH‒)-Ionenkonzentrationen von reinem Wasser verändern.
[H+] · [OH‒] = 10‒14 mol2/l2 Nach der Definition von Johannes Nicolaus Brønstedt sind Säu-
1.4 · Säuren und Basen
9 1

. Tab. 1.1 Beispiele für konjugierte Säure-Base-Paare

Säure (Protonendonoren) Konjugierte Base (Protonenakzeptor)

HCl Cl–

NH4+ NH3

H2CO3 HCO3–

HCO3– CO32–

H3PO4 H2PO4–

H2PO4 HPO42–

Die Dissoziationskonstante (auch Säurekonstante) ist


der zahlenmäßige Ausdruck der Stärke einer Säure
Die Reaktion einer Säure HA mit der Base Wasser führt zur
Bildung von H3O+-Ionen und der konjugierten Base A‒.

HA + H2O A– + H3O+

oder vereinfacht:

HA + H2O A– + H+

Bei starken Säuren wie Salzsäure (HCl) oder Schwefelsäure


(H2SO4) liegt das Gleichgewicht der Reaktion in wässriger
Umgebung vollkommen auf der rechten Seite. In biologi-
schen Systemen herrschen schwache Säuren, d. h. organische
Säuren mit Carboxylgruppen (–COOH) vor. Ein Maß für die
Stärke einer Säure ist die Gleichgewichts- oder Dissozia-
tionskonstante K’.
Nach dem Massenwirkungsgesetz gilt

sauer K’ = [H+] · [A‒]/[HA] ∙ [H2O]


HCI (1 mol/l)

. Abb. 1.10 pH-Werte verschiedener Flüssigkeiten und Körperflüssig- Da die Konzentration an Wasser praktisch unverändert bleibt,
keiten (rote Schrift)
wird diese konventionsgemäß in die Konstante K’ einbezogen
und das Produkt als Säurekonstante KS definiert.
ren Protonendonoren, die in Anwesenheit eines Protonenak-
zeptors Protonen abgeben. Basen sind Protonenakzeptoren, die K’ · [H2O] = Ks = [H+] · [A‒]/[HA]
Protonen aufnehmen. Verbindungen wie Wasser, welches sowohl
als Protonendonor wie auch als Protonenakzeptor reagieren Der Index s steht für »Säure«, im Englischen ist »a« = acid ge-
kann, werden als Ampholyte bezeichnet. Ein weiteres Beispiel bräuchlich.
sind die Aminosäuren, die sowohl saure wie basische Eigenschaf- Analog lässt sich die Basekonstante KB für eine schwache
ten aufweisen (7 Kap. 3.3). Base B aus der Gleichung
Die allgemeine Darstellung einer Säure-Base-Reaktion
B + H2O BH+ + OH–
HA + B A‒ + BH+
ableiten zu:
zeigt, dass Säuren ihre Wasserstoffionen nur abgeben können,
wenn Basen anwesend sind, d. h. eine Säure HA geht durch Pro- K’ ∙ [H2O] = KB = [BH+] ∙ [OH‒] / [B]
tonenabgabe in ihre konjugierte Base A– über, während die
Base B durch Protonenaufnahme ihre konjugierte Säure BH+ Die Säurekonstante Ks und die Basenkonstante KB sind tempera-
bildet. turabhängig.
. Tab. 1.1 fasst einige Säuren und ihre konjugierten Basen, Da die Angabe der Säurekonstanten in Zehnerpotenzen un-
sog. konjugierte Säure-Base-Paare, zusammen. handlich ist, verwendet man meist den negativen dekadischen
10 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben

1 . Tab. 1.2 pKS-Werte einiger Säure-Base-Paare mit biochemischer Bedeutung in wässriger Lösung bei 25 °C

Säure Konjugierte Base pKS Säurestärke

HCl Cl– –6 Stark

Hydroniumionen (H3 O +) H 2O –1,7 Stark

Phosphorsäure (H3PO4) Dihydrogenphosphat (H2PO4–) 2,1 Mittelstark

Brenztraubensäure Pyruvat 2,5 Mittelstark

Acetessigsäure Acetacetat 3,58 Schwach

β-Hydroxybuttersäure β-Hydroxybutyrat 3,39 Schwach

Milchsäure Lactat 3,9 Schwach

Essigsäure Acetat 4,75 Schwach



Kohlensäure (CO2 + H2O) Hydrogencarbonat (HCO3 ) 6,35 Schwach
– 2–
Hydrogencarbonat (HCO3 ) Carbonat (CO3 ) 10,2 Sehr schwach
– 2–
Dihydrogenphosphat (H2PO4 ) Hydrogenphosphat (HPO4 ) 7,2 Schwach

Ammoniumionen (NH4+) Ammoniak (NH3) 9,3 Sehr schwach

Hydrogenphosphat (HPO42–) Phosphat (PO43–) 12,3 Kaum noch Säure

Logarithmus von Ks, der als pKs- (englisch pKa-) Wert bezeichnet sentliche Verschiebung des pH-Wertes des Blutplasmas durch
wird. die Puffersysteme des Blutes verhindert.

pKs= –log Ks Schwache Säuren und ihre konjugierten Basen


bilden Puffersysteme und halten den pH-Wert im
Dieser ist ein Maß für die Stärke einer Säure. Je kleiner der pKs- Zellinneren und in Körperflüssigkeiten konstant
Wert, umso stärker die Säure. Unter einem Puffersystem oder kurz Puffer versteht man im ein-
In . Tab. 1.2 sind die pKs-Werte einiger in der Biochemie fachsten Fall Lösungen, die sich aus einer schwachen Säure und
wichtiger Säuren in wässriger Lösung (25 °C) aufgeführt. deren konjugierter Base oder umgekehrt aus einer schwachen
Bei mehrprotonigen Säuren wie Kohlensäure oder Phos- Base und deren konjugierter Säure zusammensetzen. Der pH-
phorsäure gibt es für jede Dissoziationsstufe einen pKs-Wert. Wert einer Pufferlösung ändert sich in einem bestimmten Puf-
Dabei wird stets das erste Proton leichter als das zweite und die- ferbereich auch bei Zugabe größerer Mengen an Säure (Proto-
ses leichter als ein drittes abgegeben. nen) oder Base (Hydroxidionen) kaum.
Um die Wirkung eines Puffersystems zu verstehen, ist in
. Abb. 1.11 der Verlauf der Titration einer schwachen Säure, der
1.5 Puffersysteme Essigsäure (CH3COOH, pKs 4,75) mit einer starken Base,
Natronlauge (NaOH) dargestellt.
Die Protonenkonzentration (pH-Wert) wird innerhalb von Zel- In der Abbildung ist der pH-Wert gegen die zugegebene
len und in den meisten Körperflüssigkeiten konstant gehalten. Menge an NaOH – ausgedrückt als Quotient aus den NaOH- und
Abweichungen vom physiologischen pH-Wert wirken sich z. B. Essigsäure (HAc)-Konzentrationen in mol/l – aufgetragen. Zu
auf die Struktur und katalytische Aktivität von Enzymen beson- Beginn der Titration, die mit einem pH-Messgerät verfolgt wird,
ders nachteilig aus. ist die Essigsäure zu einem sehr geringen Teil in H+ und Ace-
tat‒ (Ac‒) dissoziiert:
Im Stoffwechsel werden Protonen produziert
Protonen entstehen einerseits aus dem bei der Oxidation von Ks = [H+] · [Ac‒] / [HAc] = 1,7 · 10–5 mol/l
Energiesubstraten (Kohlenhydrate, Fette) entstehenden Kohlen-
dioxid (CO2 ca. 20 mol/Tag = 880 g), und andererseits aus den Zugesetzte Hydroxid(OH‒)-Ionen fangen die freien Protonen der
Carbonsäureprotonen. Im ersten Fall wird das hauptsächlich aus Essigsäure unter H2O-Bildung ab. Durch den Protonenentzug
dem Citratzyklus stammende CO2 durch das Enzym Carboan- wird das System
hydrase in H+- und HCO3‒-Ionen umgewandelt. Im zweiten Fall
kommen »Carbonsäureprotonen« aus Milchsäure, Acetessigsäu- CH3COOH H+ + CH3COO‒
re und Hydroxybuttersäure, die in der Glycolyse (7 Kap. 14.1.1)
bzw. Ketogenese (7 Kap. 21.2.2) gebildet werden. Die Protonen aus dem Gleichgewicht gebracht. Um das Gleichgewicht wie-
werden zunächst vom Blut aufgenommen. Dabei wird eine we- derherzustellen dissoziiert die Essigsäure und setzt Protonen
1.5 · Puffersysteme
11 1
Auf das Dissoziationsgleichgewicht lässt sich das Massenwir-
kungsgesetz anwenden

K = [H+] · [A‒] / [HA] ∙ [H2O]

Da die Wasserkonzentration durch die Dissoziation der schwa-


chen Säure praktisch nicht beeinflusst wird, kann diese in die
Gleichgewichtskonstante K einbezogen werden. Für die Säure-
konstante Ks gilt dann

Ks = [H+] · [A‒] / [HA] oder


[H+] = Ks · [HA] / [A‒]

Nach Bildung des negativen dekadischen Logarithmus lassen


sich folgende Gleichungen ableiten

– log [H+] = –log Ks – log [HA] / [A‒] bzw.


pH = pKs – log [HA] / [A‒]
pH = pKs + log [A‒] / [HA]

. Abb. 1.11 Titrationskurve der Essigsäure. (Einzelheiten s. Text).


In allgemeiner Form gilt:
(Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
pH = pKs + log [konjugierte Base/Säure]

in dem Maß frei, wie sie durch OH‒-Ionen der Natronlauge zu Diese Gleichung wurde von Lawrence Henderson und Karl Has-
Wasser verbraucht werden, solange, bis die Essigsäure vollständig selbalch erstmals beschrieben. In ihr sind pH- und pKs-Wert
in Natriumacetat umgewandelt ist, d. h. aus der gesamten Essig- sowie das Konzentrationsverhältnis von konjugierter Base und
säure entsteht quantitativ die konjugierte Base Acetat. Als schwacher Säure miteinander verknüpft.
Äquivalenzpunkt wird der Punkt bezeichnet, an dem es bei wei- Wenn die Konzentrationen von konjugierter Base und
terer Zugabe von NaOH zu einem plötzlichen pH- Anstieg schwacher Säure gleich sind, wird der Quotient 1 und der
kommt. Am Halbäquivalenzpunkt ist die Hälfte der ursprüng- Logarithmus 0. Somit gilt pH = pKs. Dies bedeutet, dass der
lichen Säure in die konjugierte Base umgewandelt worden. Bei pKs-Wert dem pH-Wert entspricht, bei dem die Hälfte der Säu-
einem pH-Wert von 4,75, der dem pKs-Wert von Essigsäure ent- re dissoziiert ist.
spricht, ist das Verhältnis der Konzentrationen von Acetat zu Beim Verdünnen des Essigsäure/Acetat-Puffers bleibt der
Essigsäure gleich 1 und der pH gleich dem pKs. Von großer Be- pH-Wert konstant, da sich das Verhältnis von A– und HA nicht
deutung ist, dass über einen relativ weiten Bereich NaOH der ändert, obwohl die absoluten Konzentrationen von A– und HA
Essigsäure zugesetzt werden kann, ohne dass sich der pH-Wert kleiner werden.
stark ändert (in . Abb. 1.11, hellgrün unterlegt). Dieses Phänomen Ist das Verhältnis von konjugierter Base zu Säure gleich 10:1
wird als Pufferung bezeichnet. Diese Eigenschaft bleibt auch bzw. 100:1, so betragen die pH-Werte
nach Verdünnen von Pufferlösungen erhalten.
pKs + 1 bzw. pKs + 2
Die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreibt
den Zusammenhang zwischen pH, pKs und dem Die Pufferkapazität gibt an, wie viele H+ bzw. OH– Ionen einem
Konzentrationsverhältnis von konjugierter Base und Liter einer Lösung zugegeben werden können bis deren pH-
schwacher Säure Wert sich um eine Einheit ändert. Die Kapazität eines Puffers ist
Der Verlauf der Titrationskurven aller schwachen Säuren wird bei pH = pK am größten und nimmt nach kleineren und größe-
durch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschrieben. ren pH-Werten glockenförmig ab. Sie steigt linear mit der Ge-
Diese lässt sich wie folgt ableiten: samtkonzentration des Puffersystems [HA] und [A–] an, d. h. ein
Schwache Säuren wie Essigsäure, Kohlensäure oder Phos- 0,5 mol/l-Puffersystem puffert etwa 5-mal so viele Protonen oder
phorsäure (abgekürzt HA) dissoziieren in Wasser Hydroxidionen ab wie ein 0,1 mol/l Puffersystem.

HA + H2O H3O+ + A‒ Wichtige Puffersysteme im Blutplasma


des menschlichen Organismus sind:
oder vereinfacht 4 das Kohlendioxid/Hydrogencarbonat-System (pK’s = 6,10)*
4 das Dihydrogenphosphat/Hydrogenphosphat-System
HA + H2O H+ + A‒ (pK’s = 6,80)*.
4 die Plasmaproteine
12 Kapitel 1 · Ohne Wasser kein Leben

* In Körperflüssigkeiten weichen die pKs-Werte häufig von de- wirken. Die Erklärung, warum das CO2/HCO3–-System im
1 nen ab, die in verdünnten wässrigen Lösungen gemessen werden Blut dennoch seine Funktion erfüllen kann, ist in der Tatsache
(. Tab. 1.2). Daher die Bezeichnung pKs’. begründet, dass es ein offenes Puffersystem ist. Die CO2- und
HCO3–-Konzentrationen werden unabhängig voneinander in
Das Kohlensäure/Hydrogencarbonat-Puffersystem den Organsystemen Lunge, Niere und Leber reguliert: die CO2-
ist im Extrazellulärraum sehr wichtig Konzentration durch die Atmung über die Lunge, die HCO3–-
Der pH-Wert in Extrazellulärräumen wird im Wesentlichen Konzentration über die Ausscheidung und Reabsorption durch
durch das Kohlendioxid/Hydrogencarbonat-Puffersystem kons- die Nieren (7 Kap. 65.5 und 7 Kap. 27.1.4) sowie über die
tant gehalten (gelegentlich wird für Hydrogencarbonat die Regulation der Harnstoffsynthese in der Leber (7 Kap. 27.1.2).
eigentlich veraltete Bezeichnung Bicarbonat verwendet). Bei einem Abfall des Blut-pH- Wertes, weil z. B. in den Le-
Für dieses Puffersystem müssen die folgenden zwei Gleich- bermitochondrien eine vermehrte Synthese der Ketonkörper
gewichte (s. Gleichungen 3–4) betrachtet werden. Acetessigsäure und Hydroxybuttersäure stattfindet und diese
Das Enzym Carboanhydrase, welches in den meisten Gewe- Ketonkörper ans Blut abgegeben werden, verschiebt sich auf-
ben und in Erythrocyten vorkommt, katalysiert die Hydratation grund des Anstiegs der Wasserstoffionen im Blut das Gleichge-
von Kohlendioxid (CO2) nach der Gleichung wicht von Hydrogencarbonat und CO2 in Richtung Kohlensäure
(Gleichung 5).
CO2 (gelöst) + H2O H+ + HCO3– (3)

Das zweite Gleichgewicht ist das Verhältnis der im Blut/Extrazel- (5)


lulärraum vorhandenen Konzentration an gelöstem CO2 zu gas-
förmigem CO2 in den Lungenalveolen. Die Kohlensäure ist nicht stabil und zerfällt in Wasser und ge-
löstes CO2. Letzteres wiederum steht in den Lungenalveolen im
CO2 (gelöst) CO2 (gasförmig) (4) Gleichgewicht mit gasförmigem CO2, welches abgeatmet wer-
den muss.
Die Anwendung des Massenwirkungsgesetzes auf die Reaktion Bei einer Zunahme des pH-Wertes, d. h. wenn die Wasser-
in Gleichung (3) liefert stoffionenkonzentration abnimmt, kommt es zu einer vermehr-
ten Produktion von Hydrogencarbonat aus Kohlensäure.
K’ = [H+] · [HCO3–] / [CO2(gelöst)] · [H2O]
Pathobiochemie
Da die Wasserkonzentration konstant ist, wird diese in die Es gibt prinzipiell zwei unterschiedliche Störungen des Säure-
Gleichgewichtskonstante einbezogen, es ergibt sich die Säure- Base-Haushalts, die zur Acidose oder Alkalose führen. Sie wer-
konstante Ks den in 7 Kap. 66.1 ausführlich besprochen.
Metabolische Störungen entstehen bei einem Ungleichge-
Ks = K’ · [H2O] = [H+] ∙ [HCO3–] / [CO2(gelöst)] oder wicht zwischen H+-Produktion und Verbrauch, respiratorische
[H+] = Ks · [CO2(gelöst)] / [HCO3–] Störungen entstehen bei abnormaler Lungenfunktion, d. h. bei
verstärkter (Hyperventilation) oder bei verminderter Abat-
Nach Bildung des negativen dekadischen Logarithmus ergibt sich mung des CO2 durch die Lunge (obstruktive Lungenerkran-
kungen, z. B. Asthma, chronic obstructive pulmonary disease,
pH = pKs – log [CO2(gelöst)] / [HCO3–] oder COPD).
pH = pKs + log [HCO3–] / [CO2(gelöst)]
Dihydrogenphosphat/Hydrogenphosphat-System
Der pKs-Wert für das Kohlensäure / Hydrogencarbonat- Puffer- Die mehrprotonige Phosphorsäure, H3PO4, kann in drei Stufen
system beträgt bei 25 °C im wässrigen Milieu 6,4. Aufgrund der deprotoniert werden und besitzt drei Dissoziationskonstanten
Temperaturabhängigkeit der pKs-Werte beträgt der pKs-Wert im und pKs-Werte:
Blut bei 37 °C 6,1.
Bei einem physiologischen Blut-pH-Wert von 7,4 gilt

7,4 = 6,1 + log [HCO3–]/[CO2(gelöst)] oder


7,4 – 6,1 = 1,3 = log [HCO3–]/[CO2(gelöst)] Da der pH-Wert des Blutes 7,4 beträgt, ist das H2PO4–/HPO42–
-Puffersystem mit einem pKs-Wert von 7,2 besonders geeignet.
d. h. der Logarithmus des Quotienten [HCO3–]/[CO2(gelöst)] Aufgrund seiner geringen Konzentration (1 mmolar) und
muss 1,3 sein. damit geringen Pufferkapazität im Blutplasma spielt dieses
Dies ist der Fall bei einem [HCO3–]/[CO2(gelöst)]-Verhältnis Säure-Base-Paar dort allerdings eine eher untergeordnete Rolle
von 20:1 (Logarithmus von 20 ergibt 1,3). bei der Abpufferung von Protonen.
Es ist nicht zu verstehen, dass der CO2/HCO3–-Puffer mit
einem pKs-Wert von 6,1 den Blut-pH von 7,4 konstant halten
kann, da optimale Puffersysteme am besten im pKs ±1-Bereich
1.5 · Puffersysteme
13 1
Plasmaproteine
Die Plasmaproteine und insbesondere das Hämoglobin der Ery- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
throcyten tragen ebenfalls zur Konstanthaltung des Blut-pH’s
bei. Während die sauren Seitengruppen von Glutamat und As-
partat (pK ~ 4) und die basischen Reste von Lysin und Arginin
(pK ~ 10,5) kaum zur Pufferung beitragen, sind der Imidazol-
ring des Histidins (pK ~ 6) und die SH-Gruppe von Cystein
(pK ~ 8) wesentlich für die Pufferung durch Proteine verant-
wortlich.

Puffersysteme im Urin des menschlichen


Organismus sind:
4 das Dihydrogenphosphat/ Hydrogenphosphat-System
(pK’s = 6,80)* (S. 9, rechte Spalte) und
4 das Ammonium/Ammoniak-System (pK’s = 9,30)

Dagegen ist das im Urin reichlich vorhandene Ausscheidungs-


produkt Harnstoff als neutrales Säureamid der Kohlensäure
NH2-CO-NH2 nicht sauer oder basisch und unter physiologi-
schen Bedingungen ohne Einfluss auf den pH-Wert des Urins.

Zusammenfassung
Mit 60 % unseres Körpergewichtes stellt Wasser die Haupt-
komponente des Organismus dar.
Das Wassermolekül ist ein Dipol, der mit sich selbst aber
auch mit anderen polaren Molekülen Wasserstoffbrücken-
bindungen ausbilden kann.
Hydrophile Substanzen, wie polare organische Biomoleküle
und anorganische Salze, lösen sich leicht in Wasser.
Hydrophobe Moleküle oder Molekülgruppen werden von
Wasser in eine spontane Aggregation/Assoziation
gezwungen (Entropieeffekt).
Wassermoleküle wandern durch Osmose von Orten hoher
zu Orten niedriger Wasserkonzentration. Der osmotische
Druck einer Lösung ist der Druck, der aufgewendet werden
muss, um das Einfließen von Wasser zu verhindern.
Wassermoleküle zeigen eine sehr schwache, aber wichtige
Tendenz in Protonen und Hydroxidionen zu dissoziieren. Die
Konzentration an Protonen in einer Lösung wird durch den
pH-Wert beschrieben. Dieser ist als negativer dekadischer
Logarithmus der normierten Wasserstoffionenkonzentration
[H+] definiert.
Säuren sind Protonendonoren, Basen Protonenakzeptoren.
Verbindungen, die sowohl als Säuren wie auch als Basen
fungieren (z. B. Wasser), nennt man Ampholyte. Die Stärke
einer Säure wird durch ihre Dissoziationskonstante Ks bzw.
den pKs-Wert bestimmt. Der negative dekadische Logarith-
mus von Ks wird als pKs bezeichnet.
Ein Puffersystem ist ein Gemisch einer schwachen Säure und
deren konjugierter Base. Es hält den pH- Wert einer Lösung
bei Zugabe von Säure oder Base innerhalb einer pH-Einheit
um den pK der Komponenten konstant. Die Henderson-
Hasselbalch-Gleichung beschreibt den Zusammenhang
zwischen pH, pKs und dem Konzentrationsverhältnis von
konjugierter Base und korrespondierender Säure.
2 Vom Molekül zum Organismus
2
Hartmut Follmann †

Einleitung reich und meist räumlich gerichtet. Gegenüber verdünnten


wässrigen Lösungen (ohne intermolekulare Wechselwir-
»Ohne Wasser kein Leben!« stellt das erste Kapitel dieses Buches fest. Mit kungen) verändern zwischenmolekulare Kräfte innerhalb
gutem Grund: Das Vorkommen von Wasser auf der Erde in allen drei von Zellen die lokale Konzentration von Substraten und
Aggregatzuständen – Eis, flüssig, gasförmig – erlaubt die Existenz sehr oft auch deren Reaktivität.
vieler verschiedener, an große Kälte, gemäßigte Temperaturen oder 4 Die meisten Reaktionen innerhalb einer Zelle werden durch
Hitze angepasster Lebensformen und ist für sie als Lösungsmittel und Enzymkatalyse stark beschleunigt und für bestimmte Re-
Reaktionspartner unentbehrlich. »Aber auch kein Leben ohne tausende aktionen und Substrate spezifisch gestaltet.
organischer und anorganischer Stoffe!« fügen dieses und folgende 4 Durch hydrophobe Membranen, die die Zelle in Komparti-
Kapitel hinzu. Zum Verständnis physiologischer wie pathologischer mente (Reaktionsräume, Zellorganellen) unterteilen, wer-
Zustände soll deutlich werden, warum beides einander bedingt und wie den Konzentrationsgradienten und Ungleichgewichte auf-
es zur Existenz lebender Zellen kommen konnte, die einen Baustein- und recht erhalten, die fern vom thermodynamischen Gleichge-
Energiestoffwechsel unterhalten, replikationsfähig sind und mit ihrer wicht sind.
Umwelt kommunizieren. 4 Regulatorisch wirksame Substanzen (Hormone, Inhibito-
ren, second messenger u.a.m.) können für Anpassung des
Schwerpunkte Zellstoffwechsels an die wechselnden, oft durch die Umwelt
diktierten Bedürfnisse eines Organismus sorgen.
4 Die chemischen Elemente: Häufigkeit und Funktionen in
4 Durch die makromolekulare Struktur und Funktion von
lebenden Organismen
Nucleinsäuren und Proteinen mit ihren spezifischen Was-
4 Stoffklassen und Reaktionsweisen chemischer Zellinhalt-
serstoffbrückenbindungen existiert zwischen ihnen und ggf.
stoffe
zwischen ganzen Zellen ein Austausch und Fluss von Infor-
4 Stereoisomerie und Strukturvielfalt in Biomolekülen
mation.
4 Entstehung des Lebens aus einfachen organischen
Molekülen
Lebensvorgänge wie Stoffwechsel, Zellteilung oder Sinneswahr-
4 Der universelle Stammbaum aller lebenden Organismen
nehmungen lebender Organismen versteht man neben Kenntnis
ihrer chemischen Zusammensetzung nur unter Berücksichti-
gung derartiger Wechselwirkungen zwischen ihren organischen
Eine wichtige Feststellung zu Beginn: Eine spezielle Chemie »des und anorganischen Molekülen. Zumeist sind daran wegen ihrer
Lebens« oder gar »des Menschen« gibt es streng genommen Dipolstruktur (7 Kap.1, 7 Abb.1.1) auch Wassermoleküle betei-
nicht. Überall und immer führen chemische, physikalisch-che- ligt. Die lebensprägende Bedeutung von Wasser für aquatische
mische und somit auch biochemische Vorgänge unter bestimm- Einzeller wie für große Landbewohner vom Säugetier bis zum
ten Bedingungen nach denselben Gesetzen zu vergleichbaren Mammutbaum wird daran noch einmal deutlich. Sogar in der
Zuständen und Produkten. Dass sich Vorgänge im Milieu leben- Raumforschung gilt der (noch nirgends gelungene) spektrosko-
der Zellen oder ganzer Organe (in vivo) von denen rein chemisch pische Nachweis von Wasser als bester denkbarer Hinweis für
definierter Systeme (»im Reagenzglas«, in vitro) oftmals dras- mögliches Leben auf »Exoplaneten« ferner Sterne!
tisch zu unterscheiden scheinen, liegt an der sehr unterschiedli-
chen Komplexität der jeweils herrschenden Bedingungen:
4 Zellen und Zellorganellen enthalten in ihrem kleinen Volu- 2.1 Die chemischen Elemente
men und wasserarmem Milieu ansehnliche Konzentratio- lebender Organismen
nen organischer Stoffe, deren Strukturen meist sog. schwa-
che Wechselwirkungen in und zwischen den Molekülen Im menschlichen Körper kommen 22 verschiedene
ermöglichen. Elemente vor, darunter viele nur als Spurenelemen-
4 Solche spontan existierenden, energetisch günstigen Wech- te für katalytische Funktionen. Die Biochemie
selwirkungen können ionisch sein (polar, –X+ –Y–), dipol- von Zellen ist durch viele sog. schwache
artig wie z. B. die H-Brücken im Wasser (7 Kap. 1), in Pro- Wechselwirkungen der Moleküle untereinander
teinen und Nucleinsäuren (–H ··· O=, 7 Kap. 5 und 10), oder und mit Wasser gekennzeichnet
von hydrophober Natur (wie in Lipiden, 7 Kap. 3.2). Sie Chemische Elemente sind die Grundlage unserer stofflichen
sind einzeln von geringem Energiebetrag, aber sehr zahl- Existenz. Von den auf der Erde natürlich vorkommenden 92 Ele-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
2.1 · Die chemischen Elemente lebender Organismen
15 2

. Abb. 2.1 Periodensystem der Elemente. Die Edelgase (rechte Spalte, von Helium bis Radon) und die der Vollständigkeit halber unten aufgeführten
Lanthaniden (»seltene Erden«, Elemente 58–71) sowie die radioaktiven Actiniden (Elemente 90–103, nach Uran alle künstlich hergestellt) haben – abgese-
hen von möglichen Strahlenschäden – medizinisch keine Bedeutung.
Für den Menschen wichtige Elemente sind farbcodiert: ■ Essentiell für Körperbau und Stoffwechsel; möglicherweise essentiell aber molekulare
Funktion im Detail unbekannt; ■ Verbindungen sind giftig; ■ Verbindungen werden pharmakologisch oder in der Medizintechnik genutzt

menten zwischen Wasserstoff und Uran sind die völlig inerten diagnostik und unlösliches Bariumsulfat als Röntgenkontrast-
Edelgase, die »seltenen Erden« sowie nur in vollkommen unlös- mittel, Lithium in der Psychopharmatherapie, Goldpräparate
lichen Verbindungen vorkommende Schwermetalle von vornhe- gegen Arthritis, Titan- und Platinverbindungen (Budotitan, Cis-
rein ungeeignet für Zellen und zelluläre Funktionen, die ja auf platin) in der Krebsbehandlung. Weitere anorganische Stoffe und
Existenz in und Stoffaustausch mit einem wässrigem Milieu be- kurzlebige Isotope sind in experimenteller Prüfung als Radio-
ruhen. Die für den Menschen nach heutigem Wissensstand pharmaka.
essentiellen 23 Mengenelemente und Spurenelemente (blau) Lebende Zellen setzen sich aus vielfältigen und zahlreichen
sind in . Tab. 2.1 aufgeführt und im Periodensystem der Elemen- Verbindungen der (bio)organischen und (bio)anorganischen
te (. Abb. 2.1) dargestellt. Sechs weitere Elemente – Arsen, Bor, Chemie zusammen. Leben wie wir es kennen, vom Einzeller bis
Brom, Silicium, Vanadium und Zinn – die im menschlichen Kör- zum Menschen, ist auf unserer Erde entstanden (7 Kap. 2.3), und
per nachgewiesen wurden, sind dort ebenfalls markiert. Ob sie hängt in seiner Existenz seitdem und weiterhin von der herr-
eine essentielle Funktion erfüllen ist unklar, denn allein der ana- schenden chemischen und physikalischen Umgebung ab. Es ist
lytische Nachweis eines Elements im Körper und in unserer Nah- aufschlussreich und auch von praktischer Bedeutung, das Vor-
rung beweist noch keine physiologische Funktion. Silicium, das kommen und die Häufigkeit der Elemente im Menschen – reprä-
zweithäufigste Element der Erdkruste, ist z. B. als Kieselsäure in sentativ für höhere landlebende Wirbeltiere – zu betrachten und
Pflanzen weit verbreitet und wird von uns zwangsläufig aufge- mit dem Anteil derselben Elemente an der »anorganischen« Welt
nommen. Eine nützliche Funktion von Arsen ist schwer mit der der Erdkruste zu vergleichen (. Tab. 2.1). Dabei wird klar, dass
Tatsache zu vereinen, dass es auch ein Stoffwechselgift darstellt. irdisches Leben vielfach in krassem Ungleichgewicht mit der
Experimente an Versuchstieren unter Mangelbedingungen bzw. Chemie unseres Planeten steht, wie insbesondere im Fall von
mit dosierter Zufuhr einzelner Elemente sind auf Menschen Kohlenstoff und Stickstoff. Vorhandensein bzw. Mangel mancher
ohnehin nicht übertragbar. mineralischer Elemente im menschlichen Körper sind von Be-
In . Abb. 2.1 sind auch einige für uns toxische Elemente (lila) deutung, wo ihr Einbau als »aktive Zentren« in Proteine (vor al-
aufgeführt, und schließlich solche, die in der Humanmedizin lem Enzyme) oder in Coenzym-Moleküle Lebensfunktionen
technisch und pharmakologisch verwendet werden (grün). Bei- überhaupt erst ermöglicht oder zumindest die Spezifität und
spiele sind ein kurzlebiges Technetium-Isotop in der Radio- Aktivität von Stoffwechselprozessen stark erhöht; das gilt bei-

Hauptgruppenelemente Nebengruppenelemente Übergangselemente Lanthaniden seltene Erden Actiniden


16 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus

. Tab. 2.1 Häufigkeit und wichtige Funktionen der chemischen Elemente in einem menschlichen Körper von 70 kg bzw. der entsprechenden
25 kg Trockenmasse

2 Element Masse pro Massenanteil an Vorkommen, Funktionen im Körper (Auswahl) Massenanteil


Körpermasse (g) Trockenmasse (g) der Erdkruste (%)

Mengenelementea

Sauerstoff (O) 43.000 14.000 Wasser; alle organischen Stoffe 49

Kohlenstoff (C) 16.000 6.000 Alle organischen Stoffe 0,09

Wasserstoff (H) 7.000 2.500 Wasser; organische Stoffe 0,9

Stickstoff (N) 1.800 650 Proteine, Nucleotide, Nucleinsäuren 0,03

Calcium (Ca) 1.200 430 Hydroxylapatit (Knochen, Zähne) 3,4

Phosphor (P) 800 300 Hydroxylapatit, Nucleinsäuren, Coenzyme 0,1

Schwefel (S) 140 50 Thiole und Disulfide in Proteinen, Coenzyme 0,05

Kalium (K) 125 45 Elektrolyt 2,4

Natrium (Na) 100 36 Elektrolyt in Körperflüssigkeiten 2,6

Chlor (Cl) 95 34 Elektrolyt in Körperflüssigkeiten 0,2

Magnesium (Mg) 25 9 Phosphatstoffwechsel, Nucleinsäurefunktionen 1,9

Fluor (F) 5 2 Fluorapatit (Knochen, Zähne) 0,028

Eisenc (Fe) 4 1,5 Sauerstofftransport, Atmung, Redoxzentren in Proteinen, 4,7


Eisentransport und -Speicherung

Spurenelementeb

Zink (Zn) 2,3 Katalytisch und strukturell in Proteinen 0,012

Silicium (Si) 1,0 Funktion ungewiss 25,7

Kupfer (Cu) 0,07 Katalytisch in Enzymen 0,01

Iod (I) 0,015 In Schilddrüsenhormonen 10-5

Selen (Se) 0,014 Reaktive Zentren von Enzymen 0,008

Mangan (Mn) 0,012 Katalytisch in Enzymen 0,1

Nickeld (Ni) 0,01 Indirekt 0,019

Molybdän (Mo) 0,005 Katalytisch in Enzymen 0,007

Chrom (Cr) 0,002 Glucose-Insulin-Wechselbeziehungen 0,019

Kobalt (Co) 0,002 Reaktives Zentrum in Vitamin B12 0,004


a Elemente, die mehr als 50 mg/kg Trockenmasse ausmachen.
b Elemente, die weniger als 50 mg/kg Trockenmasse ausmachen (7 s. auch 7 Kap. 60).
c >50 mg/kg „Häm-Eisen“ und „Nicht-Häm-Eisen“; Eisen wird aber funktionell oft als Spurenelement betrachtet.
d Kein menschliches Zielprotein bekannt aber wahrscheinlich essentiell für bestimmte Darmbakterien.
2.2 · Charakteristische Eigenschaften organischer Biomoleküle
17 2
spielsweise für die Sauerstoffbindung am Eisen der Hämoglo-
bine oder für Zink in Verdauungsenzymen und in Insulin.
Derartige Funktionen hängen kritisch von der Verfügbarkeit und
der Aufnahme des jeweiligen Metalls aus der Nahrung zusam-
men, wie in einem späteren Kapitel im Detail besprochen wird
(7 Kap. 60).

2.2 Charakteristische Eigenschaften


organischer Biomoleküle

Biomoleküle befolgen allgemeingültige Reaktions-


weisen der organischen Chemie. Sie tragen polare
Substituenten, die Wasserlöslichkeit und ionische
Wechselwirkungen erlauben, oder sie enthalten in
Lipiden unpolare Kohlenwasserstoffreste für die
Bildung von Membranen, oder beides
Alle Lebensvorgänge in einzelnen Zellen und im gesamten Kör-
per – Synthese neuer Zellmasse, Energieproduktion, Informa-
tionsfluss u.a.m. – beruhen auf chemischen Umsetzungen zwi-
schen den jeweils vorhandenen Inhaltsstoffen. »Organisch«
nannte man ursprünglich die in Organen und einem Organis-
mus gebildeten und umgesetzten Substanzen. Ein grundsätzli-
cher Unterschied zwischen physiologisch vorkommenden und . Abb. 2.2 Strukturen und Bezeichnung in Biomolekülen vorhandener
chemisch-synthetisch hergestellten organischen Stoffen besteht funktioneller Gruppen. An den Bindungen links und ggf. rechts der
funktionellen Gruppen stehen i.a. Alkyl- (–C–C–) oder Aryl- (C6H5 –) Reste
allerdings nicht: Diese lange gehegte »vitalistische« Auffassung
(s. auch . Abb. 2.3)
wurde am Beispiel des Harnstoffs (NH2–CO–NH2) schon 1828
von dem deutschen Chemiker Friedrich Wöhler widerlegt.
Angesichts der Vielfalt von Stoffwechselprozessen ist es nö- Organische Chemie ist die Chemie des Kohlenstoffs in den
tig, die Grundstrukturen der häufigsten organischen sowie bio- Verbindungen mit sich selbst und mit anderen Elementen. Sie
anorganischen Stoffe vor Augen zu haben und die Art der zwi- umfasst alle Bausteine für Lebewesen und die von ihnen gebilde-
schen ihnen ablaufenden Reaktionen zu kennen und zu differen- ten »Naturstoffe« ebenso wie die riesige Zahl synthetischer Pro-
zieren. Die folgende Nennung wichtiger Stoffklassen und Reak- dukte, die unser tägliches Leben, Technik, Umwelt und die Me-
tionsweisen soll als Grundlage für deren detaillierte Beschreibung dizin bestimmen. Biologische Prozesse beruhen auf organisch-
in folgenden Kapiteln (7 Kap. 3, 5, 7, 10, 11) dienen. Insbesondere chemischen Reaktionen.
sollte man folgende spezifische Reaktionsmöglichkeiten zur Woher rührt die Sonderstellung des Elements Kohlenstoff?
Kenntnis nehmen: Entsprechend seiner Stellung in der Mitte des Periodensystems
4 Bildung oligomerer und polymerer Kohlenhydate, Pro- (. Abb. 2.1: Hauptgruppe IV, Ordnungszahl 6) besitzt er eine
teine, Nucleinsäuren durch Kondensation von monomeren nicht-abgeschlossene Elektronenkonfiguration mit vier Außen-
Zuckern, Aminosäuren, Nucleotiden, oder Valenzelektronen, die zu vier sog. sp3-Orbitalen »hybridisie-
4 die Oxidation bzw. Reduktion organischer Verbindungen ren«. Sie erlauben die Ausbildung von vier covalenten Bindungen
(durch Sauerstoff bzw. wasserstoffliefernde Coenzyme), ggf. hoher Stabilität zu anderen C-Atomen, zu Wasserstoff ( Koh-
in »Elektronentransportketten«, lenwasserstoffe, »Alkane«) oder »Heteroatomen« wie Sauerstoff
4 die Fähigkeit bestimmter Moleküle als Energielieferant für ( Alkohole und Ether), Stickstoff ( Amine) oder Schwefel
Reaktionen zu dienen, vor allem die Phosphorsäurereste im ( Thiole). Für derartige Kohlenstoffe und Elementkombinatio-
Adenosintriphosphat ATP, nen ist – im ungestörten Idealfall – eine Tetraeder-Geometrie mit
4 die Bildung spezifischer, reaktiver Metallkomplexe Bindungswinkeln von jeweils 109° typisch (. Abb. 2.3).
zwischen organischen Verbindungen und Spurenelementen Mehrere Atome können zu langen Ketten verknüpft sein (mit
4 und »hydrophobe Wechselwirkungen« zwischen Lipiden »freier Drehbarkeit« um die Einfachbindungen), spannungsfreie
oder aromatischen Molekülteilen in wässrigem Milieu als Fünf- oder Sechsringe bilden, oder auch in Vier- oder Dreiringen
Ursache der Bildung von Membranen. mit Bindungswinkeln von 90° bzw. 60° angeordnet sein. Im letz-
teren Fall besitzen die Moleküle eine Ringspannung und erhöhte
Zum besseren Verständnis für die komplexe Materie der Bioche- Reaktivität; in Biomolekülen kann dies funktionell bedeutsam
mie und Molekularbiologie werden hier einige Eigenschaften sein wie z.B. im Antibiotikum Penicillin (. Abb. 2.6a).
und Reaktionsweisen, die auch Gegenstand der folgenden Kapi- Organische Moleküle können Doppelbindungen oder Drei-
tel des Buches sind, exemplarisch erläutert. Die nächsten Seiten fachbindungen enthalten (>C=C<: Alkene; –C C–: Alkine). Um
ersetzen aber kein Lehrbuch der Chemie! derartige Mehrfachbindungen ist im Grundzustand keine freie
18 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus

Drehbarkeit möglich, wohl aber in chemisch oder durch Strah- Kohlenwasserstoffe und Fette sind bekanntlich wasserab-
lung angeregten Zuständen (z. B. Rhodopsin, 7 Kap. 58.2). weisend (hydrophob). Amphiphile Stoffe, die zugleich lipophile
und hydrophile Strukturen enthalten wie z. B. Phospholipide
2 (7 Kap. 3.2.6) ordnen sich in Wasser spontan zu Lipiddoppel-
2.2.1 Funktionelle Gruppen schichten, die wässrige Innenräume umschließen; dabei werden
umgekehrt viele zuvor geordnete Wasserdipole nun ungeordnet,
Die spezifischen Funktionen von Biomolekülen werden über- so dass die Entropie (Unordnung) des Gesamtsystems zunimmt.
wiegend von den an ihren Kohlenstoffketten haftenden »funk- Bildung und Existenz von Membranen und Vesikeln beruhen auf
tionellen Gruppen« bestimmt. . Abb. 2.2 zeigt und benennt die diesem rein physikalisch-chemischen Zusammenhang.
wichtigsten solcher Substituenten und Teilstrukturen.
Alkohole, Aldehyde, Zucker
Alkohole tragen Hydroxylgruppen am Ende bzw. im Inneren
2.2.2 Stoffklassen einer Kohlenstoffkette (primäre bzw. sekundäre oder tertiäre
Alkohole). Durch ihre OH-Gruppen sind sie häufig wasser-
In der folgenden Übersicht und in . Abb. 2.3 sind wichtige Subs- mischbar. Die Substanzen mittlerer Oxidationsstufe zwischen
tanzklassen und deren Strukturen, Eigenschaften und Reak- Alkohol und Carbonsäure heißen Aldehyde (von Alcohol dehy-
tionsweisen innerhalb der Organischen Chemie und Biochemie drogenatus):
zusammengestellt.
–CH2OH –CH=O –COOH
Kohlenwasserstoffe, Alkohole,
Carbonsäuren, Ester, Fette Sie sind reaktive Verbindungen, die wieder zu Alkoholen redu-
Kohlenwasserstoffketten biologischen Ursprungs finden sich – je ziert und leicht (z. B. aerob durch Sauerstoff) zur Säure oxidiert
nach Biosyntheseweg – in unverzweigten Fettsäuren mit bis zu werden können.
30 C-Atomen Länge und der endständigen funktionellen Grup- Zucker (»Kohlenhydrate«, sog. wegen ihrer formalen Zusam-
pe –COOH, oder es sind Terpene mit verzweigten Ketten oder mensetzung [C(H2O)]n) sind Polyalkohole. In natürlich vorkom-
Ringen aus dem C5-Kohlenwasserstoff Isopren. Sie können »ge- menden Hexosen wie Glucose und Fructose, Galaktose oder
sättigt« sein (mit Wasserstoff, ohne Doppelbindungen) oder Mannose (der Zusammensetzung C6H12O6 , n = 6) tragen je fünf
mehr oder weniger stark »ungesättigt« mit Doppelbindungen im der sechs Kohlenstoffatome eine Hydroxylgruppe; sie sind mit
Molekül. Doppelbindungen liegen einzeln (isoliert) in einer C- dieser hydrophilen Struktur sehr leicht wasserlöslich. Am ersten,
Kette vor, oder in mehr oder weniger langen sog. konjugierten endständigen C-Atom der C6 -Kette haben »Aldohexosen« be-
Systemen (–C=C–C=C–C=C–C=). Verbindungen der letzteren dingt durch Details der Biosynthese (z. B. Gluconeogenese in der
Art sind farbig: Sie absorbieren sichtbares Licht weil Lichtquan- Leber; 7 Kap.14.3) eine Aldehydfunktion. Dadurch sind sie »re-
ten passender Energie nicht einzelne Doppelbindungen anre- duzierende Zucker«. Auf ihrer spezifischen Reaktion mit Oxida-
gen, sondern das konjugierte π-Elektronensystem als Ganzes. tionsmitteln beruhen diverse Farbreaktionen zur quantitativen
Physiologisch bedeutsame Verbindungen mit dieser Eigenschaft Glucose-Bestimmung. Durch Kondensation aktivierter mono-
sind z.B. das rote Carotin (Provitamin A) der Nahrung und dar- merer Zucker (s. u.) entstehen Polysaccharide wie Glycogen.
aus entstehendes gelb-orange Retinal (Vitamin A) beim Sehvor-
gang (7 Kap. 58.2). Amine, Aminosäuren, Peptide
Kohlenwasserstoffe sind häufig mit Hydroxylgruppen (–OH) Amine tragen Aminogruppen –NH2 an einem Kohlenstoffgerüst
oder Carboxylgruppen (–COOH) substituiert und dadurch zu und sind dadurch basisch (Protonenakzeptoren). Substitution
Alkoholen bzw. Carbonsäuren (»Fettsäuren«) funktionalisiert. am gleichen endständigen Kohlenstoff (α) mit einer Carboxyl-
Die Reaktion einer Carboxylgruppe mit einem Alkohol unter gruppe führt zur Substanzklasse α-Aminocarbonsäuren mit der
Wasserabspaltung ergibt einen Ester: Struktur NH2 –CHR–COOH (R = weitere Substituenten, s. u.),
den monomeren, »proteinogenen« Bausteinen von Peptiden und
–COOH + HO–R –COOR + H2O Proteinen. Sie sind durch die gleichzeitige Anwesenheit einer
sauren und einer basischen Funktion im Molekül amphoter und
Dieser kann umgekehrt leicht wieder zu den Ausgangskompo- liegen in wässriger Lösung bei physiologischem pH als Zwitter-
nenten hydrolysiert (»verseift«) werden. In der Natur finden sich ionen +NH3–CHR–COO– vor (7 Kap. 1 und 3.3). Mit Ausnahme
Ester in Fetten, Wachsen, flüchtigen Duft- und Aromastoffen von Glycin (R = H) sind die natürlichen α-Aminosäuren chiral
und vielen anderen Stoffklassen. und optisch aktiv (L-Aminosäuren, . Abb. 2.4).
Fette tierischer und pflanzlicher Herkunft enthalten drei Mo- Aminosäuren haben zahlreiche Stoffwechselfunktionen
leküle Fettsäure mit bis zu 20 C-Atomen Kettenlänge, die durch (7 Kap. 26), darunter z. B. die Bildung von biogenen Aminen
Esterbindungen mit dem dreiwertigen Alkohol Glycerin C3H5 durch Decarboxylierung (CO2-Abspaltung) oder Transaminie-
(OH)3 verknüpft sind (»Triglyceride«). Sie sind durch ihren ho- rungen mit Ketosäuren (Austausch zwischen Carbonyl- und
hen Wasserstoffgehalt energiereich. Unter β-Oxidation wird der Aminofunktionen):
Energieinhalt von Fettsäuren für den Stoffwechsel physiologisch
genutzt (7 Kap. 21.2.1). >C=O >CH–NH2
2.2 · Charakteristische Eigenschaften organischer Biomoleküle
19 2

. Abb. 2.3 Aromatische, heterocyclische und andere chemische Strukturen in biochemisch wichtigen Stoffklassen. Substituenten der Molekülgerüste
sind nicht vollzählig gezeigt. Herkunft und Funktion der Substanzen werden in anderen Kapiteln des Buches beschrieben

Vor allem dienen die 20 proteinogenen L-Aminosäuren (7 Kap. ren mit der Nahrung aufgenommen werden. Eine Reihe anderer
3.3) als Substrate für die ribosomale Proteinbiosynthese (7 Kap. heterocyclischer Verbindungen, teils von spezieller Struktur,
48). kommen in Vitaminen und Coenzymen vor (. Abb. 2.3).
Peptidbindungen zwischen der Carboxylgruppe einer und Mit OH-Gruppen substituierte Aromaten – wie in der Amino-
der Aminogruppe einer zweiten Aminosäure (formal unter Was- säure Tyrosin – heißen Phenole. Im Gegensatz zu einfachen Alko-
serabspaltung entstanden) sind resonanzstabilisiert und daher holen sind phenolische OH-Gruppen schwache Säuren weil bei
recht hydrolysestabil: ihrer Deprotonierung das zusätzliche Elektronenpaar des Pheno-
lat-Anions (C6H5-O–) in energetisch günstiger Konjugation mit
dem mesomeren π-Elektronensystem des Aromaten steht.

Zu ihrer enzymatischen Spaltung – etwa zur Inaktivierung oder Nucleotide, energiereiche Verbindungen
Verdauung – existieren eine große Zahl spezifischer Peptidasen Fünf verschiedene Nucleotide mit den Zuckern Ribose bzw.
und Proteasen (7 Kap. 50 und 61.3.2). 2-Desoxyribose sind Bausteine der Nucleinsäuren RNA bzw.
DNA; sie tragen die heterocyclischen Purinbasen Adenin und
Aromatische und heteroaromatische Guanin sowie die Pyrimidine Cytosin und Uracil bzw. Thymin
Verbindungen, Phenole (7 Kap. 3.4). Mit einer Triphosphatstruktur am Molekül-5’-Ende
Mit »aromatischem Charakter« bezeichnet man Benzol (C6H6) fungieren die Nucleotide – unter Abspaltung von Diphosphat –
und andere Ring-Verbindungen, in denen sechs π-Elektronen als Substrate von RNA- bzw. DNA-Polymerasen. Eines der Nuc-
völlig delokalisiert sind (und nicht in drei unterscheidbaren leotide, Adenosin-5’-Triphosphat ATP (. Abb. 2.3) dient außer-
Doppelbindungen). Die aromatischen Substituenten der Amino- dem im gesamten Stoffwechsel als universelle »energiereiche
säuren Phenylalanin, Tyrosin und Tryptophan sowie Nucleotide Verbindung«. Energiereich nennt man ATP mit seinen endstän-
mit den »heteroaromatischen« (Stickstoffatome enthaltenden) digen Phosphorsäureanhydridbindungen, sowie Substrate mit
Pyrimidin- und Purinbasen sind aufgrund derartiger Mesomerie anderen Strukturen (7 Kap. 2.2.3), bei deren Übertragung auf
sehr stabile Substanzen. Sie sind ebenso wie Lipide hydrophob, Wasser (Hydrolyse) oder andere Akzeptoren Energie frei wird
und zusätzlich zu einer energetisch günstigen Übereinandersta- bzw. für andere Reaktionen verfügbar ist.
pelung (»stacking«) der planaren aromatischen Ringe befähigt, die
auch die DNA-Doppelhelix stabilisiert. Manche aromatische Mo-
leküle wie Phenylalanin und Tryptophan können vom Menschen
nicht synthetisiert werden und müssen als essentielle Aminosäu-

Kohlenstoff# Alkan-Kette# gesättigte# Alkene# trans-Doppelbindung# cis-Doppelbindung# Cyclohexan# Inosit# Pyranose-Zucker# β-D-Glucose# Benzol# Phenol#
Pyridin# Nicotinsäure# Pyrimidin# Pteridin# Purin# Pyrrol# Imidazol# Thiazol# Chinon# Naphthochinon#
20 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus

2.2.3 Reaktionsweisen Aldolspaltung bzw. -addition nennt man Reaktionen, in denen


Zucker wie z. B. Fructose-1,6-bisphosphat reversibel gespalten
Zwischen organischen Molekülen einer Zelle bzw. gebildet werden; der Begriff »Aldol« stammt von den Alde-
2 erfolgen Kondensationsreaktionen zum Aufbau hyd-alkohol-Strukturen in Substraten bzw. Produkten. Beson-
Kohlenstoff- und Stickstoff-haltiger Ketten- und ders bekannt ist die Reaktion unter Katalyse durch Fructosebis-
Ringmoleküle sowie Redoxreaktionen (Elektronen- phosphat-Aldolase bei der Umwandlung zwischen C6- und C3-
übertragungen), in denen Energie für den Zellstoff- Zuckern (P = Phosphat):
wechsel gewonnen wird. Moleküle mit Stickstoff-,
Sauerstoff- und Schwefel-Substituenten sind
Komplexliganden in reaktiven Metallzentren der
Bioanorganischen Chemie
Die meisten biochemischen Umsetzungen befolgen aus der orga-
nischen Chemie bekannte einfache Reaktionsweisen, insbeson-
dere beim Aufbau größerer Moleküle aus kleineren Substraten
(Biosynthesen, Bildung von Oligomeren und Polymeren) und in
»Redox«reaktionen, die reduzierende und oxidierende Molekü-
le miteinander kombinieren und den Energiestoffwechsel domi-
nieren. Sie werden in der Zelle durch eine Vielzahl mehr oder
weniger spezifischer Enzyme katalytisch beschleunigt. Viele Kondensationsreaktionen
Stoffwechselreaktionen sind grundsätzlich reversibel. Die in vivo Zahlreiche biologische Substanzen sind aus kleinen Bausteinen
vorherrschende Richtung einer reversiblen Reaktion wird nach entstandene oligo- und polymere Makromoleküle: Fette und
dem Massenwirkungsgesetz durch die aktuellen Stoffkonzentra- Isopren-Lipide, Polysaccharide, Polypeptide (Proteine) und Po-
tionen bestimmt. Unabhängig davon kann eine hormonelle Steu- lynucleotide (Nucleinsäuren). Da in Zellen die technische Art
erung anaboler und kataboler Prozesse den Umsatz von Stoffen der Abspaltung von Wasserstoff, Wasser oder anderen kleinen
bestimmen. Molekülen durch Hitze, starke Säuren oder Metallkatalysatoren
Einige typische Reaktionsmechanismen sind am Beispiel be- nicht möglich ist, werden monomere Substrate auf Kosten des
kannter Substrate und Produkte des Zellstoffwechsels dargestellt. Energie-Stoffwechsels zunächst chemisch aktiviert und dann –
unter Enzymkatalyse und Wiederfreisetzung der aktivierenden
Substitution und Addition Gruppen – miteinander verknüpft. Als Substrate oder Coenzyme
An einzelnen C-Atomen einer Kette oder an zwei Atomen einer nutzen Polymerasen, Ligasen und Synthetasen energiereiche Di-
Doppelbindung werden Substituenten ausgetauscht bzw. addiert; oder Triphosphate und Thiol-(–SH)Funktionen:
dabei sind häufig sterische Verhältnisse zu beachten (hier nicht 4 ATP und andere Nucleosid-Triphosphate Nucleinsäuren
berücksichtigt). Beispiele: 4 ATP Aminoacyl-tRNA ribosomale Proteinsynthese
Unter Substitution einer Austrittsgruppe –X an einem Car- 4 Uridindiphosphat-(UDP-)Glucose Polysaccharide
bonylkohlenstoffatom durch Wasser verlaufen Ester- oder Pep- 4 Isopentenylpyrophosphat Isoprenlipide
tidhydrolysen: 4 Acetyl-Coenzym A Acyl-CoA Fettsäuren

Redoxreaktionen
Viele biologisch-chemische Stoffumwandlungen, sowohl Syn-
thesen wie Abbaureaktionen und insbesondere der Energiestoff-
wechsel beruhen auf Elektronenübertragungen, deren Kompo-
Unter Addition (im Falle von Wasser: Hydratisierung) werden nenten oft in »Elektronentransportketten« physikalisch und
aus ungesättigten C=C-Doppelbindungen gesättigte Strukturen: räumlich aufeinanderfolgend platziert sind. Chemisch einfache-
re Umsetzungen wie Oxidation unter »Verbrennung« (mit star-
ker Temperaturerhöhung) oder Reduktion (»Hydrierung«) mit
starken Reduktionsmitteln (die evtl. Wasser zersetzen) sind ver-
ständlicherweise in lebenden Zellen nicht möglich.
Allgemein gilt:
Reaktionen an und in Kohlenstoffgerüsten 4 Reduktion : Aufnahme von Elektronen (Wasserstoff)
Die Decarboxylierung von Carbonsäuren ist durch die Abspal- 4 Reduktionsmittel : Elektronendonor
tung des stabilen Moleküls Kohlendioxid (CO2) begünstigt. Sie 4 Oxidation : Entzug von Elektronen (Wasserstoff) oder
wird im Stoffwechsel durch Decarboxylasen wie z. B. Pyruvatde- Aufnahme von Sauerstoff
carboxylase katalysiert: 4 Oxidationsmittel : Elektronenakzeptor

An komplexen Redoxvorgängen sind oft verschiedene Vorgänge


beteiligt und zu differenzieren. Z. B. bei der Atmung sind Eisen
in Cytochromen und die Sauerstoff-Aufnahme durch Cytochro-

Fumarsäure# Apfelsäure# Brenztraubensäure# Acetaldehyd# Dihydroxyaceton-phosphat# Glyerinaldehyd-3-phosphat# Fructose-1,6-bisphosphat#


2.2 · Charakteristische Eigenschaften organischer Biomoleküle
21 2
moxidase im Enzym zu unterscheiden. Ein augenfälliges Beispiel 7 Kap. 19.1) ist Grundlage der Existenz aerober Lebewesen
von Redoxchemie an einer unveränderten C6-Kohlenstoffkette schlechthin.
bei unverändertem Sauerstoffgehalt ist dagegen die Biosynthese
von Vitamin C: Die formale Oxidation der Ausgangssubstanz Radikalreaktionen
(Zunahme des Sauerstoffanteils im Produkt) beruht hier nicht In bestimmten Fällen können organische Moleküle existieren, in
auf der Zufuhr von Sauerstoff, sondern resultiert aus einer mehr- denen nicht alle vier Valenzelektronen eines C-Atoms Bindun-
fachen Dehydrierung (Entzug von Wasserstoff): gen zu Reaktionspartnern eingegangen sind sondern nur drei,
und das vierte Elektron ungepaart bleibt; es wird in einer Struk-
C6H12O6 C6H10O6 *C6H8O6 C6H6O6 turformel i. Allg. mit » « gekennzeichnet. Derartige, meist
D-Glucose Gulonolacton L-Ascorbinsäure Dehydroascorbat sehr reaktionsfähige und kurzlebige Species nennt man »(freie)
(Vitamin C)
organische Radikale«. Auch an Sauerstoff- oder Schwefelato-
*Anmerkung: Dieser Schritt der Redoxkette kann von Mensch men  kann ein freies Elektron lokalisiert sein (–O bzw. –S ).
und Meerschweinchen nicht katalysiert werden; daher muss von Die Bildung der 2’-Desoxyribonucleotide als Substrate der
ihnen die im Stoffwechsel als Antioxidationsmittel benötigte DNA-Replikation in der S-Phase des Zellzyclus (7 Kap. 30.2,
Ascorbinsäure als Vitamin aufgenommen werden. 7 Kap. 43) verläuft beispielsweise nach einem derartigen Mecha-
nismus; therapeutisch kann sie daher durch chemische »Radikal-
Im Folgenden sind einige biologisch, biochemisch und che- fänger« (z. B. Derivate von Hydroxylamin oder Hydroxamsäu-
misch bedeutsame Redoxreaktionen genannt. Bei Betrachtung ren, R–NH-O-H) unterdrückt werden.
der Substrate und Produkte und mit den oben gegebenen Defi-
nitionen ist leicht zu erkennen, welche Prozesse eine Reduktion Bildung von Metallkomplexen:
des Ausgangsmaterials darstellen und welche Schritte Oxidatio- Bioanorganische Chemie
nen sind: Die meisten vom menschlichen Körper benötigten Spurenele-
mente sind Metalle aus dem Bereich der »Übergangselemente«
CO2 + 4 H2 CH4 + 2 H2O des Periodensystems (. Abb. 2.1). In dieser Reihe sind die außen-
(Methanogenese in anaeroben Bakterien) liegenden fünf d-Atomorbitale nicht voll mit Elektronen besetzt;
sie treten daher leicht mit Liganden zusammen, die freie Elekt-
2 CO2 + [8 H] (Coenzyme) CH3COOH + 2 H2O ronenpaare besitzen und bilden mit ihnen stabile Komplexe. Bio-
(Essigsäurebildung) moleküle (insbesondere Aminosäuren und Coenzyme) besitzen
zahlreiche funktionelle Gruppen die als Komplexliganden fun-
6 CO2 + 6 H2O + Licht C6 H12 O6 + 6 O2 gieren können: Carbonyl- (>C=O) und Carboxylatgruppen
(oxygene Photosynthese, Pflanzen) (–COO–), Amino- (–NH2), Imino- (=NH) und heterocyclische
Stickstofffunktionen (=N– in Pyrrol oder Histidin) sowie Schwe-
CH4 (Methan, Biogas) + 2 O2 CO2 + 2 H2O + Wärme felatome (–SH bzw. –S– im Cystein). In Proteinen werden auf
(Verbrennung) diese Weise Metalle räumlich und chemisch definiert gebunden
und für physiologische Wechselwirkungen (Bindung von Subst-
C6H12O6 + 6 O2 Glycolyse, Citratcyclus, Atmungskette raten, Redoxwechsel, Katalyse u. a.) verfügbar.
6 CO2 + 6 H2O (Atmung, Energie) Etwa die Hälfte aller bekannten Enzyme und vergleichbarer
Proteine enthält Metallionen als unentbehrliche Komponenten.
Auch an anderen Elementen als Kohlenstoff kann Redoxchemie Darunter befinden sich zentrale biologische Systeme wie der
von Bedeutung sein. So gibt es reversible Wechsel zwischen Thi- Sauerstofftransport an Eisenzentren, die kupferhaltige Cyto-
olgruppen und »Disulfidbrücken« der Aminosäure Cystein im chrom-c-Oxidase der mitochondrialen Atmungskette (7 Kap. 19.1)
Tripeptid Glutathion (GSH bzw. GSSG = Glutaminyl-cysteinyl- und die Kontrolle der Genexpression durch »Zinkfinger« in
glycin in reduzierter bzw. oxidierter Form, 7 Kap. 27.2.4), die ein Transkriptionsfaktoren (7 Kap. 46–47), sowie außerhalb des
Puffersystem zur Regulation des Redoxzustandes der Zelle dar- Tierreiches die Wasserspaltung im Mangan-Zentrum der pflanz-
stellen: lichen Photosysteme oder die mikrobielle Stickstoff-Fixierung an
Eisen-Molybdän-Cofaktoren. Besonders zahlreich, strukturell
2 Cystein–SH + Akzeptor und funktionell vielseitig sind Eisenkomplexe. Sie begegnen uns
Cystein-S–S-Cystein + Akzeptor-H2 (Regulation) mit dem Porphyrinstickstoff-Ringsystem im Hämoglobin
(. Abb. 2.5) und in Cytochromen, mit Schwefelliganden in red-
Die »Stärke« (Oxidationskraft bzw. Reduktionskraft) von orga- oxaktiven Ferredoxinen (7 Kap. 20), und Sauerstoff-koordiniert
nischen Redoxsystemen und von redoxaktiven Metallen (z. B. im Eisenspeicherprotein Ferritin (7 Kap. 60.2.3).
zweiwertiges/dreiwertiges Eisen) definiert man im bioche-
mischen Bereich durch ihre Standard-Redoxpotentiale Eo’
bei pH 7 (7 Kap. 4). Die Kopplung zwischen elektrochemi-
schem Potential der Atmungskette und dem Gewinn chemi-
scher Energie im energiereichen Adeninnucleotid ATP in den
Mitochondrien (oxidative Phosphorylierung, »OXPHOS«,
22 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus

2.2.4 Stereoisomerie in organischen Molekülen

In »optischen Antipoden« bestimmt die räumliche


2 Asymmetrie der D- bzw. L-Stereoisomeren von Ami-
nosäuren, Zuckern und anderen Biomolekülen de-
ren spezifische Stoffwechselaktivitäten
Die tetraedrische Anordnung von vier verschiedenen Substitu-
enten mit Bindungswinkeln von je 109° um ein sp3-hybrisiertes, . Abb. 2.4 Raumstruktur (schematisch) der Stereoisomeren einer
α-Aminosäure (Alanin) und einer α-Hydroxycarbonsäure (Milchsäure)
»asymmetrisches« Kohlenstoffatom herum (. Abb. 2.3) hat eine
links und rechts einer Spiegelebene
unter Biomolekülen weit verbreitete Konsequenz: Die Existenz
von zwei Isomeren gleicher chemischer Zusammensetzung aber
von unterschiedlicher Raumstruktur (»Chiralität« oder »Hän-
digkeit«), die sich wie Bild und Spiegelbild unterscheiden. In 2.2.5 Strukturkomplexität und Strukturvielfalt
. Abb. 2.4 ist diese Situation für zwei bekannte Stoffe, Alanin
(eine Aminosäure) und Milchsäure (ein Stoffwechselprodukt) Die meisten Biomoleküle besitzen komplexe Strukturen mit
dargestellt. Derartige Substanzpaare heißen »Enantiomere« oder mehreren Bindungstypen und Reaktionsmöglichkeiten. Das ei-
»optische Antipoden«. Sie sind »optisch aktiv«, weil ihre Lösun- senhaltige, sauerstoffbindende Häm – die prosthetische Gruppe
gen – wie von Louis Pasteur und J.H. van’t Hoff im 19. Jahrhun- des Blutfarbstoffs Hämoglobin (7 Kap. 32) – vereinigt beispiels-
dert erkannt – bei Durchstrahlung mit polarisiertem Licht des- weise sechs chemisch unterscheidbare Teilstrukturen in einem
sen Ebene nach rechts (Drehwinkel >0 °) bzw. nach links (Dreh- Molekül (. Abb. 2.5).
winkel <0 °) drehen. Eine 1:1-Mischung zweier Enantiomere Die in allen Substraten und Produkten des Zellstoffwechsels
nennt man Racemat oder racemisches Gemisch; dessen Lösung erkennbare Strukturkomplexität ist eine wesentliche, funktio-
dreht die Ebene polarisierten Lichts nicht, weil sich die beiden nell wichtige Eigenschaft von Biomolekülen. In komplexeren
entgegengesetzten Drehwinkel kompensieren. In bestimmten Strukturen wie Multienzymkomplexen, Ionenkanälen, Rezepto-
Reaktionsweisen (z. B. Substitution, s. o.) werden reine Enantio- ren oder Zellorganellen herrscht ein noch viel stärkerer Grad an
mere zum Gemisch »racemisiert«. Komplexität. Es kann hilfreich sein, auch das Verhalten von
In der biochemisch gebräuchlichen Darstellung nach
Emil Fischer ordnet man die Kohlenstoffatome eines Moleküls
senkrecht in einer Kette an mit dem am stärksten oxidierten C-
Atom (hier COOH) oben und dem wasserstoffreichsten (hier
CH3) unten. Durch die Stellung des für den Stoff charakteristi-
schen Substituenten (NH2 bzw. OH) am asymmetrischen Koh-
lenstoffatom (C) links bzw. rechts der C-Kette (laevus bzw. dexter)
wird die Substanz als L- oder D-Isomeres definiert. Den experi-
mentell bestimmten Drehwinkel kennzeichnet man durch (+)
bzw. (–). Man beachte, dass zwischen Drehwinkel (+) bzw. (–)
und der Konfiguration D bzw. L keine Korrelation besteht. Die
Enantiomeren sehr kompliziert gebauter chiraler Naturstoffe wie
Antibiotika oder Steroide werden besser nach den sog. »CIP-
Regeln« mit R (rectus) und S (sinister) beschrieben. Dabei ent-
spricht R nicht immer D der Fischer-Definition.
Die meisten natürlich vorkommenden Aminosäuren, Hyd-
roxycarbonsäuren, Zucker (Kohlenhydrate) und andere chirale
Stoffe liegen nicht als Racemat vor, sondern als reine Enantiome-
re. Ursache dieser Stereoselektivität ist, dass die zur Produktbil-
dung benötigten Enzyme (7 Kap. 7) ausschließlich aus L-Amino-
säuren bestehen – also selbst chiral sind – und daher in ihren
räumlich hoch geordneten katalytischen Zentren jeweils nur eins
. Abb. 2.5 Ein Häm-Molekül besitzt C–C-Einfachbindungen 1 ,
von beiden Stereoisomeren als »passendes« Substrat umgesetzt
C=C-Doppelbindungen 2 , ein Tetrapyrrol-Ringsystem mit konjugierten
bzw. Produkt gebildet werden kann. Zwar findet man nicht selten C=C- und C=N-Bindungen 3 , zwei ionische bzw. ionisierbare Carbon-
beide Enantiomere in der Natur (. Abb. 2.4), aber diese entstam- säure-Substituenten 4 und einen 6-zähnigen Eisen-Komplex mit fünf
men dann ganz unterschiedlichen Stoffwechselprozessen unter- koordinativen Bindungen zwischen dem zentralen Metall-Ion und Stick-
schiedlicher Lokalisation: L-Alanin ist Bestandteil aller Stan- stoff-Liganden 5 (vier vom Tetrapyrrol und eine von Imidazol, der Sei-
tenkette eines Histidin-Restes im Globin). Eine sechste Position am Eisen
dardproteine, D-Alanin dagegen im Murein der Bakterienzell-
6 (hier unbesetzt) ermöglicht die reversible Bindung von Sauerstoff, aber
wände zu finden; L-Milchsäure kommt in Blut, Muskel und an- auch von toxischen Liganden wie Blausäure HCN oder Kohlenmonoxid CO.
deren tierischen Organen vor, D-Milchsäure entsteht bei der Eisen und das konjugierte π-Elektronensystem sind Ursache der »blutroten«
Vergärung von Glucose durch Mikroorganismen. Farbe, die jedoch als solche physiologisch nicht von Bedeutung ist
2.3 · Von chemischer Materie zu biologischer Vielfalt
23 2

. Abb. 2.6 Biosyntheseprodukte des tierischen, pflanzlichen oder mikrobiellen Stoffwechsels. Die gezeigten physiologisch aktiven Moleküle a bis f
entstanden entweder durch chemische Modifizierung (»Funktionalisierung«) einer einfacheren Vorstufe vergleichbarer Größe, oder (in vier Fällen) durch
Kondensation von zwei oder mehr zunächst unabhängigen Substanzen

solch spezialisierten Zellkompartimenten unter dem Blickwin- vor knapp 4 Milliarden Jahren einfache organische Moleküle von
kel der in ihren molekularen Komponenten schon vorgegebe- selbst entstanden sind und sich unter bestimmten äußeren Be-
nen Wechselwirkungen zu verstehen. Dazu wiederum ist es dingungen – in Eis, in verdunstenden Tümpeln, durch Adsorpti-
nützlich, die Erkennung von komplexen Molekülen aus ihren on an Tonmineralien – anreichern und dabei auf einfache Weise
Substrukturen zu trainieren. »replizieren« konnten. Schon Charles Darwin (1809–1882) sin-
Zur Gewöhnung an solch eine molekulare Betrachtungswei- nierte 1871 in einem berühmten Brief über den »warm little
se sind in . Abb. 2.6 die Strukturformeln einiger physiologisch pond, mit allen Arten Ammoniak und Phosphaten, in Gegen-
wichtiger Moleküle ohne Namen wiedergegeben. Deren Aus- wart von Licht, Hitze, Elektrizität etc. ... zur chemischen Bildung
gangsstoffe sind gängige Metabolite der betreffenden Tiere, proteinartiger Substanz«.
Pflanzen oder Bakterien. Kann man a bis f durch Betrachtung Aber früher war alles anders: Die kosmisch bedingte Ur-At-
der Strukturen bestimmten Stoffgruppen zuordnen? Ein Versuch mosphäre der Erde enthielt die Elemente überwiegend in redu-
lohnt sich. Hinweise geben die Existenz und Verknüpfung ver- zierter, wasserstoffreicher Form und noch keinen freien Sauer-
schiedener unterscheidbarer Molekülteile, die Natur und Posi- stoff. Stanley Miller (1930–2007), Doktorand der Chemie in
tion von Heteroatomen (= Elemente zusätzlich zu C, H und O; Chicago, hat 1953 solche Szenarien als Erster experimentell ge-
Spurenelemente nicht vergessen), häufige bzw. seltene Verzwei- prüft. Er setzte Gasgemische aus heißem Wasserdampf, Wasser-
gungsmuster oder gespannte Ringstrukturen in den Molekülen. stoff, Ammoniak (NH3), Methan (CH4) und ggf. Schwefelwas-
Unter den gezeigten Substanzen sind ein bekanntes Antibioti- serstoff (H2S) – aber ohne Sauerstoff – tagelang elektrischen
kum (7 Kap. 16.2.4), ein Gewebshormon (7 Kap. 22.3.2) und ein Entladungen und UV-Licht aus und konnte aus den abgekühlten
Hormon der Schilddrüse (7 Kap. 41.1.1), ein Phospholipid Lösungen ansehnliche Mengen neu gebildeter α-Aminosäuren
(7 Kap. 22.1.1), die lichtabsorbierende Komponente eines Seh- isolieren. »Miller-Experimente« sind seitdem in großer Zahl
pigments (7 Kap. 58.2) und ein sehr häufiger Zucker. variiert und auf weitere Stoffklassen (beispielsweise Blausäure
HCN) ausgedehnt worden. Oft entstehen auch Oberflächenfilme
aus hydrophoben Fettsäuren.
2.3 Von chemischer Materie zu biologischer Eine andere, wasserfreie Variante abiotischer Chemie, die
Vielfalt »Eisen-Schwefel-Welt« verdanken wir dem Münchener
Chemiker Günter Wächtershäuser (ab 1988). Er zeigte, dass sich
Biomoleküle und einfachste membranumhüllte, beim Kontakt einfacher Gase wie Kohlenmonoxid oder -dioxid
replikationsfähige Zellen sind auf dem Planeten (CO, CO2) mit heißen Eisensulfid-Oberflächen (FeS), wie sie an
Erde sehr früh entstanden. Ribosomale RNA ist ein Vulkanflanken vorkommen, bekannte Metabolite wie Ameisen-
molekularer Ahnenpass für die heutigen Reiche säure, Essigsäure und Brenztraubensäure (Pyruvat) bilden.
der Archaebakterien, (Eu)Bakterien und der einen Auch für empfindlichere Biomoleküle, deren Bildung unter
Zellkern enthaltenden Eukaryonten (Pilze, Pflanzen den chemischen Bedingungen auf einer frühen Erde bislang
und Tiere) schwerer verständlich war (z. B. Zucker, Pyrimidin- und Purin-
Woher kommt das Leben? Es kann kaum mehr Zweifel daran nucleotide, energiereiche Phosphate von der Art des ATP) sind
bestehen, dass »hier bei uns«, auf dem noch heißen, aber schon chemisch und geochemisch plausible abiotische Reaktionswege
von Ur-Ozeanen mit flüssigem Wasser bedeckten Planeten Erde gefunden worden. Fast alle vermuteten Bestandteile und stoff-
24 Kapitel 2 · Vom Molekül zum Organismus

wechselähnliche Umsetzungen einer Urzelle lassen sich inzwi-


schen in vitro realisieren.
Altbekannt ist, dass beim Mischen von wässrigen Lösungen
2 mit Lipiden spontan Membranvesikel entstehen, die einen vom
äußeren Milieu abgetrennten Innenraum bilden (Liposomen,
7 Kap. 3.2). Manche Eigenschaften einfacher Zellen – z. B. Stoff-
austausch zwischen außen und innen – lassen sich damit simu-
lieren.
Membranumhüllte Klümpchen heterogener organischer
Substanz sind noch keine lebenden Zellen, die spontan als Amö-
be davonkriechen. Aber wenn man sehr viele solcher Mole-
külanhäufungen unter sehr vielen verschiedenen äußeren Be-
dingungen (fluktuierende Temperatur, pH-Wert, Licht-Dunkel-
Wechsel, Zufuhr von Substraten u. a.) betrachtet, so werden ei-
nige davon mit Sicherheit einmal zur Selbstreplikation fähig
. Abb. 2.7 Big tree: Schematische Darstellung des Stammbaums sämt-
sein. Physikochemiker wie Hans Kuhn und Manfred Eigen ha- licher Lebewesen auf der Basis von rRNA- und anderen Gensequenzen.
ben gezeigt, dass derartige molekulare Vorgänge in vielen kleinen 1 bezeichnet die Aufnahme von frühen aeroben, über Cytochrome
Schritten in langen Zeiträumen (Millionen Jahren) tatsächlich (7 Kap. 19) zur Sauerstoffatmung fähigen Bakterien als Endosymbionten
eintreten müssen. Die experimentelle Bestätigung (im Reagenz- (spätere Mitochondrien) in bis dahin anaerobe eukaryontische Zellen,
2 die Integration von photosynthetischen Bakterien vom Typ der Cyano-
glas und im Zeitraffer) wird immer vollständiger: Man beginnt
bakterien (blaugrüne Algen mit Chlorophyllen) als Vorläufer der Chloro-
die abiotische Kondensation von Aminosäuren zu funktions- plasten in anderen Eukaryonten. Mitochondrien und Chloroplasten besit-
fähigen Polypeptiden (Proteinen) mit spezifischer Struktur oder zen noch heute spezifische, von den Vorläufern mitgebrachte Gene
Enzymaktivität (7 Kap. 7) zu verstehen, und ebenso die von
Nucleotiden zu katalytischen RNAs (»Ribozymen«) (7 Kap. 10.1
und 48.1.4) und Information-codierenden kleinen RNA-Genen.
Von hier an erforderte der Weg zu »lebenden«, sich vermeh- An der Wurzel des Stammbaums steht mit »LUCA«, dem »last
renden und mit der anorganischen Umwelt interagierenden Pro- universal common ancestor« der drei Ur-Reiche eine hypotheti-
tozellen die Vernetzung mit ersten Stoffwechselprozessen zur Be- sche aber physiologisch-chemisch beschreibbare Population von
reitstellung weiterer monomerer Bausteine sowie von energierei- Minimalzellen, die mit G-C-reicher RNA und allenfalls 200 En-
chen organischen Molekülen. Zusätzlich zur Aufnahme von unter zym- und anderen Proteinen chemotroph in heißem Milieu ve-
Hitze und energiereicher Strahlung gebildeter organischer Subs- getierten. Über lange Zeiträume hinweg, unter wechselnden
tanz von außen werden einfache energieliefernde Folgereaktionen geochemischen Verhältnissen unterlag ihr Gen-Pool ständig
wie Glycolyse und Decarboxylierung (7 Kap. 2.2.3) zu einem eige- Zufallsmutationen, und durch Selektion von in Stoffwechselwe-
nen chemotrophen Stoffwechsel beigetragen haben. Die ebenfalls gen oder in Replikationschritten besser an die jeweilige Umwelt
gut dokumentierte chemische Bildung lichtabsorbierender Pig- angepassten Zellen kam es zur zunehmenden Diversität von
mente (Vorstufen von Chlorophyllen) und deren Nutzung in ei- LUCA’s Nachfolgern in verschiedenen Reichen des Lebens. In
nem einfachen phototrophen Energiestoffwechsel wurde wahr- diese frühe Phase der Evolution wird auch das Auftreten von
scheinlich schon in frühesten Lebensformen produktiv. DNA-Genomen zusätzlich zu RNA fallen: DNA konnte erst mit
Gibt es einen Zusammenhang zwischen solchen niedersten dem komplexen Bildungsweg für 2’-Desoxyribonucleotide ent-
Lebensformen und heute existierenden »höheren« Organismen? stehen (7 Kap. 30.2) und dann ihre universelle Funktion als Hy-
Der amerikanische Mikrobiologe Carl Woese erkannte, dass alle drolyse-stabiles genetisches Material einnehmen. Der Weg von
Zellen in der RNA ihrer Protein-synthetisierenden Ribosomen chemischer zu biologischer Vielfalt war vorgegeben.
(ribosomale oder rRNA, 7 Kap. 48) ein Molekül von wenig mehr Ein Beleg für diese Vorstellungen wäre der Fund oder die
als 1.500 Nucleotiden in hoch konservierter Sequenz besitzen, das Rekonstruktion LUCA-ähnlicher, chemoheterotroph »leben-
leicht zu analysieren ist und sich als perfekter »Ahnenpass« eig- der« Minimalzellen mit Mini-Genom. Moderne parasitär-intra-
net. Die inzwischen von vielen hundert Organismen, von primi- zellulär existierende Bakterien wie Mycoplasmen besitzen zwar
tivsten Einzellern bis zu Pflanzen und Tieren analysierten rRNA- ebenfalls nur sehr wenige Gene (7 Kap. 10.3.2) aber erlauben als
Sequenzen erlauben widerspruchsfrei eine Einordnung in drei »heutige« Zellen keinen direkten Vergleich. Ob aktuelle
»Ur-Reiche«: Archaebakterien und Eubakterien (ohne Zellkern) Forschungsprogramme zum Konzept »Synthetische Biologie«
sowie kernhaltige Eukaryonten (. Abb. 2.7). Die Entdeckung und einmal selbständig lebens- und entwicklungsfähige Minizellen
Analyse vieler zuvor unbekannter sog. hyperthermophiler, acido- im Reagenzglas zeugen werden ist eine spannende Frage.
philer und anderer »extremophiler« Archaebakterien aus Sauer-
stoff-freien, schwefelsauren, sehr heißen Lebensräumen, wie sie
wohl auf der frühen Erde allenthalben vorkamen, ist deutschen
Wissenschaftlern um Karl Otto Stetter zu verdanken.
2.3 · Von chemischer Materie zu biologischer Vielfalt
25 2

Zusammenfassung
Der menschliche Körper besteht aus 22 chemischen Elemen-
ten, unter denen die Nichtmetalle C, H, O, N, S, P sowie (in
geringerer Menge) F, Cl, I und Se den Hauptanteil »organi-
scher« Stoffe ausmachen.
12 verschiedene Metalle sind für Strukturen (Ca), als Elektro-
lyte (Na- und K-Ionen) sowie als Spurenelemente (Fe, Cu, Zn
u. a.) in katalytischen Funktionen essentiell.
Biochemische Reaktionen laufen zumeist in wässrigem
Medium und bei annähernd neutralen pH-Werten ab; sie
werden durch spezifische und für verschiedene Zellkom-
partimente typische Enzyme katalytisch beschleunigt.
Eine Besonderheit organischer Naturstoffe, die C-Atome mit
vier verschiedenen Substituenten enthalten, ist ihre mögli-
che Existenz in zwei Stereoisomeren, die sich zueinander wie
Bild und Spiegelbild verhalten und von unterschiedlicher
physiologischer Aktivität sind.
Es besteht kein Zweifel, dass physiologische Vorgänge stets
auf molekulare Mechanismen zurückzuführen sind. Als Bei-
spiel für schwindende Wissenslücken sei der Kenntnisfort-
schritt »epigenetischer« Reaktionen bei der Modulation von
Genexpression ohne Änderung einer Gensequenz (7 Kap.
47.2) genannt.
Zelluläres Leben begann vor etwa 4 Milliarden Jahren mit
einfachsten Gasen und Mineralien und entwickelte sich über
lange Zeiträume zu den drei Reichen der Archaebakterien
und Eubakterien (Prokaryonten ohne Zellkern) sowie der eu-
karyontischen Pilze, Tiere und Pflanzen, die einen Zellkern
und aus frühen Prokaryonten übernommene Mitochondrien
und ggf. Chloroplasten enthalten.

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3 Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide –
Bausteine des Lebens
3 Georg Löffler, Matthias Müller

Einleitung 3.1 Kohlenhydrate

Lebende Organismen synthetisieren und verwerten Kohlenhydrate, 3.1.1 Einteilung und Funktionen
Lipide, Aminosäuren und Nucleotide. Die Funktionen dieser Verbindun- der Kohlenhydrate
gen sind vielfältig.
Kohlenhydrate kommen als rasch metabolisierbare Substrate oder als Kohlenhydrate oder Saccharide sind mengenmäßig die häufigs-
Speicherstoffe hoher Energiedichte vor. Sie sind Gerüstsubstanzen, ten von Lebewesen synthetisierten Verbindungen unseres Plane-
bilden wichtige Komponenten der extrazellulären Matrix und sind ten. Im Vergleich zu Lipiden und Aminosäuren ist das Prinzip
Bestandteil vieler Proteine. ihres Aufbaus vergleichsweise einfach, da sie alle Abkömmlinge
Lipide bilden eine besonders vielfältige Gruppe von Verbindungen. von Verbindungen der Grundstruktur
Triacylglycerine sind die energiedichtesten Speicherverbindungen.
Die amphiphilen Phospholipide und Sphingolipide bilden Membran- (HCOH)n
strukturen von Zellen. Wegen ihrer Fähigkeit zur Polymerisation sind
Isoprene zur Bildung der besonders umfangreichen Gruppe der sind, wobei n ≥3 sein muss.
Isoprenlipide imstande. Zu diesen gehören u. a. fettlösliche Vitamine,
Cholesterin, die von Cholesterin abgeleiteten Steroidhormone und die Je nach ihrer Zusammensetzung werden
für die Fettverdauung wichtigen Gallensäuren. Kohlenhydrate in Monosaccharide, Di-, Oligo-
Als α-Aminocarbonsäuren sind Aminosäuren formal Derivate von und Polysaccharide eingeteilt
Fettsäuren. Von den etwa 100 bekannten Aminosäuren kommen stan- Monosaccharide Monosaccharide sind durch Hydrolyse nicht
dardmäßig 20 als sog. proteinogene Aminosäuren in Proteinen vor. mehr weiter zerlegbare Kohlenhydrate. Formal handelt es sich
Zusätzlich erfüllen Aminosäuren vielfältige Funktionen im Stoffwechsel um Aldehyde bzw Ketone mehrwertiger Alkohole, also um Al-
oder dienen als Signalstoffe. dosen bzw. Ketosen. Wegen des gehäuften Vorkommens asym-
Nucleotide sind Verbindungen aus einer heterozyklischen Base, einer metrischer C-Atome gibt es eine große Zahl von stereoisomeren
Pentose (Ribose oder Desoxyribose) und einer Phosphatgruppe. Formen von Monosacchariden (Einzelheiten s. Lehrbücher der
In Form ihrer Triphosphate stellen sie eine universelle Form von organischen Chemie).
Energie dar. Die Nucleotide sind außerdem an der Regulation vieler
enzymatischer Reaktionen beteiligt. Nucleotide sind die Bausteine von Di-, Oligo- und Polysaccharide Monosaccharide enthalten eine
DNA und RNA und bilden aktivierte Zwischenprodukte bei der Biosyn- besonders reaktionsfähige Aldehyd- bzw. Ketogruppe. Deshalb
these von Proteinen, Kohlenhydraten und Lipiden. Sie kommen als haben sie die Fähigkeit, weitere Monosaccharide mit Hilfe glyco-
Bestandteile von Coenzymen vor oder fungieren selbst als Signal- sidischer Bindungen (7 Kap. 3.1.2) anzulagern und auf diese
moleküle. Weise eine Vielzahl der verschiedensten Verbindungen zu bilden.
So entstehen u. a. Di- bzw Oligosaccharide und als Makromo-
Schwerpunkte leküle die Polysaccharide.
4 Mono-, Oligo- und Polysaccharide, Heteroglycane
Kohlenhydrate sind Energielieferanten,
4 Glycosidische Bindungen
Energiespeicher und Strukturbestandteile
4 Lipidklassen
Die Funktionen von Kohlenhydraten sind außerordentlich viel-
4 Lipidmembranen, Micellen, Detergenzien
fältig. Schon lange ist bekannt, dass sie nahezu allen Organismen
4 Proteinogene und nicht-proteinogene Aminosäuren
als rasch zur Verfügung stehende Energielieferanten dienen. Dies
4 Physikochemische Eigenschaften von Aminosäuren
gilt vor allem für Glycogen bzw. Stärke, die in tierischen und
4 Aufbau und Funktion von Nucleosiden und Nucleotiden
pflanzlichen Zellen als Energiespeicher verwendet werden.
Andere Polysaccharide sind Bestandteile der extrazellulären
Matrix der Gewebe aller höheren Lebewesen. Sie sind an der für
vielzellige Organismen besonders wichtigen Zell-Zell-Kommu-
nikation beteiligt (7 Kap. 71).
Außerdem ist eine große Zahl von Proteinen, die
Glykoproteine, mit spezifischen Oligosaccharidstrukturen

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
3.1 · Kohlenhydrate
27 3

. Tab. 3.1 Biochemisch wichtige Hexosen (Auswahl) . Tab. 3.2 Biochemisch wichtige Pentosen (Auswahl)

Bezeichnung Vorkommen und biologische Bedeutung Bezeichnung Vorkommen und biologische Bedeutung

D-Glucose Fruchtsäfte; Bestandteil von Stärke, Glycogen, D-Ribose Vorkommen in Ribonucleinsäuren (RNA) und Ribo-
Saccharose, Lactose nucleotiden (z. B. ATP)
Wichtigstes vom Organismus verwertetes Mono- Strukturelement von Coenzymen; Biosynthese aus
saccharid; Blutzucker Glucose

D-Galactose Bestandteil von Lactose, des wichtigsten Kohlen- D-Desoxy- Vorkommen in Desoxyribonucleinsäuren (DNA) und
hydrats der Milch ribose Desoxyribonucleotiden (z. B. dATP)
Wird vom Organismus in Sphingolipide und Glyko- Biosynthese aus Ribose
proteine eingebaut. Abbau nur nach Umwandlung
D-Ribulose Stoffwechselzwischenprodukt im Glucoseabbau
in Glucose möglich
über Pentosephosphatweg
D-Mannose Bestandteil von tierischen und pflanzlichen Glyko-
D-Arabinose, Vorkommen in Proteoglycanen
proteinen
D-Xylose
Dient zur Sortierung lysosomaler Proteine. Abbau
erst nach Umwandlung in Glucose

D-Fructose Fruchtsäfte; Bestandteil von Saccharose


Biosynthese aus Glucose in verschiedenen Gewe-
ben; Abbau erst nach Umwandlung in Glucose, in aus der Nahrung stammenden Nucleosiden im Dünndarm
der Leber jedoch direkter Abbau möglich resorbiert (7 Kap. 29.3 und 30.4). Wichtig ist, dass sie im Verlauf
des Glucosestoffwechsels intrazellulär synthetisiert und dann
als Bestandteile von Nucleotiden und Nucleinsäuren ver wen-
ausgestattet, die für die Proteinfunktion von Bedeutung sind. Im det werden (7 Kap. 3.4). Die Struktur von D-Ribose und
Wesentlichen handelt es sich hierbei um Membranproteine und D-Desoxyribose ist in . Tafel IV.2 dargestellt.
sezernierte Proteine (7 Kap. 49.3).
Die OH-Gruppen von Monosacchariden werden in
vielfältiger Weise modifiziert
3.1.2 Monosaccharide – Pentosen und Hexosen Alle Hexosen und Pentosen können vielfältig modifiziert wer-
den, wie es in . Abb. 3.1 am Beispiel der Glucose dargestellt ist:
Bezüglich ihrer Umsatzraten und ihrer quantitativen Bedeutung 4 In wässriger Lösung stellt sich durch Mutarotation ein
spielen die Hexosen und Pentosen im Stoffwechsel die größte Gleichgewicht zwischen zwei anomeren Formen der Gluco-
Rolle. Außerdem kommen in geringem Umfang als Zwischenpro- se ein. Dabei beträgt der Anteil der β-D-Glucose 63,9% und
dukte des Pentosephosphatweges (7 Kap. 14.1.2) der aus derjenige der α-D-Glucose 36% (. Abb. 3.1 1 ).
4 C-Atomen bestehende Zucker Erythrose und der aus 7 C-Ato- 4 Durch Reduktion am C-Atom 1 entstehen aus Mono-
men bestehende Zucker Sedoheptulose vor, jeweils in Form von sacchariden die entsprechenden mehrwertigen Alkohole
Phosphorsäureestern. (aus Glucose Sorbitol, aus Mannose Mannitol etc.)
(. Abb. 3.1 2 ).
Hexosen sind wichtige Bestandteile 4 Durch Oxidation der endständigen -CH2-OH-Gruppe von
von Nahrungskohlenhydraten Monosacchariden entstehen Uronate (Uronsäuren),
Die für den tierischen Stoffwechsel wichtigsten Hexosen sind in die u. a. Bestandteile wichtiger Polysaccharide sind
. Tafel I.1 und in . Tab. 3.1 zusammengestellt. Unter ihnen (7 Kap. 3.1.4). An Glucuronat werden ausscheidungspflich-
kommt der Glucose die größte Bedeutung zu (7 Kap. 14 und tige körpereigene und auch körperfremde Substanzen
7 Kap. 16): gekoppelt (. Abb. 3.1 3 ; 7 Kap. 62.3.1).
4 Fast alle mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate 4 Hydroxylgruppen von Monosacchariden können verestert
müssen in Glucose umgewandelt werden, bevor sie unter werden (s. Lehrbücher der organischen Chemie). Von bio-
Energiegewinn abgebaut werden können. chemischem Interesse sind die Phosphorsäureester, da int-
4 Alle im Organismus vorkommenden Monosaccharide razellulär hauptsächlich phosphorylierte Monosaccharide
können aus Glucose synthetisiert werden. umgesetzt werden (7 Kap. 14.1.1) (. Abb. 3.1 4 ).
4 Das Kohlenstoffskelett der Glucose kann als Ausgangs- 4 Aminozucker entstehen durch den Ersatz einer Hydroxyl-
material für die Synthese der nicht-essentiellen Aminosäure gruppe durch eine Aminogruppe. Bei den physiologischer-
Glutamat (7 Kap. 26.2.2) und von Fettsäuren und weise vorkommenden Aminozuckern Glucosamin, Galac-
Cholesterin (7 Kap. 21.2.3) verwendet werden. tosamin und Mannosamin ist die Aminogruppe mit dem
C-Atom 2 des Monosaccharids verbunden (. Abb. 3.1 5 ).
Pentosen sind Bestandteile von Nucleotiden Häufig ist die NH2-Gruppe acetyliert (. Abb. 3.1 6 ). Die
und Nucleinsäuren Aminozucker und ihre N-acetylierten Derivate kommen in
. Tab. 3.2 fasst die am häufigsten vorkommenden Monosaccha- verschiedenen Glykoproteinen, als Bestandteile der Proteo-
ride mit 5 C-Atomen zusammen. Pentosen werden in Form von glycane, in bakteriellen Zellwänden und im Chitin vor.
28 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

4 Handelt es sich dagegen um Nicht-Kohlenhydrate, so ent-


stehen Substanzen, die als O- bzw. N-Glycoside bezeichnet
werden.
4 Die Verbindung wird nach dem die glycosidische Bindung
eingehenden Zucker benannt (Glucosid, Galactosid etc.),
der Nicht-Kohlenhydratanteil der entstehenden Verbin-
3 dung wird auch als Aglycon bezeichnet.
4 Der α- und β-Anomerie bei den Monosacchariden
(. Tafel I.2) entspricht die α- und β-Isomerie bei den
Glycosiden. Allerdings ist hier nicht mehr das Phänomen
der Mutarotation (s. Lehrbücher der organischen Chemie)
möglich, da die Hydroxylgruppe am C-Atom 1 durch den
angelagerten Rest blockiert ist (. Abb. 3.2).
4 Natürlich vorkommende O- und N-Glycoside werden zum
Teil als Pharmaka verwendet. So werden beispielsweise die

. Abb. 3.1 Die wichtigsten Derivate der α-D-Glucose. 1 Durch Mutarota-


tion entsteht β-D-Glucose. 2 Durch Reduktion am C-Atom 1 entsteht Sorbi-
tol. 3 Durch Oxidation am C-Atom 6 entsteht Glucuronat (Glucuronsäure). . Abb. 3.2 Entstehung von α-Methylglucosid und β-Methylglucosid.
4 Durch Veresterung der OH-Gruppe am C-Atom 6 mit Phosphorsäure ent- α-und β-Glucose stehen durch Mutarotation miteinander im Gleichgewicht.
steht Glucose-6-Phosphat. 5 Ersatz der Hydroxylgruppe am C-Atom 2 Durch Umsetzung mit Methanol entsteht unter den entsprechenden Bedin-
durch eine Aminogruppe führt zum Glucosamin. 6 Glucosamin kann an gungen α- bzw. β-Methylglucosid, die allerdings nicht mehr ineinander
der Aminogruppe acetyliert werden, sodass N-Acetylglucosamin entsteht. überführt werden können
7 Durch Oxidation am C-Atom 1 entsteht Gluconolacton, welches hydroly-
tisch zu Gluconat (Gluconsäure) gespalten werden kann ( 8 )

4 Durch Oxidation am C-Atom 1 wird die halbacetalische


Hydroxylgruppe zum Lacton dehydriert (. Abb. 3.1 7 ),
das durch Wasseranlagerung in die entsprechende
Carbonsäure übergeht. Diese wird i. Allg. durch die En-
dung –on gekennzeichnet (aus Glucose entsteht Gluconat)
(. Abb. 3.1 8 ).

Die halbacetalische Hydroxylgruppe


am C-Atom 1 von Monosacchariden geht
glycosidische Bindungen ein
Analog der Bildung eines Vollacetals kann die Hydroxylgruppe des
halbacetalischen C-Atoms 1 von Monosacchariden mit OH- bzw.
NH2-Gruppen unterschiedlichster Verbindungen unter Wasser-
. Abb. 3.3 Struktur der Herzglycoside Digitoxin und Digoxin. Die phar-
abspaltung reagieren, wobei sog. Glycoside gebildet werden: makologisch wirksame Komponente ist das Pflanzensteroid Digitoxigenin.
4 Stammt die OH-Gruppe von einem weiteren Monosaccha- Mit einer glycosidischen Bindung ist dieses mit drei Molekülen Digitoxose
rid, so entstehen Di-, Oligo- oder Polysaccharide. verknüpft

Sorbitol# α-D-Glucurenat# β-D-Glucose# α-D-Glucose# α-D-Glucose-6-Phosphat# Gluconolacton# α-D-Glucosamin# γ-Lacton ungesättigtes#


Gluconat# α-D-N-Acetyl-Glucosamin#
3.1 · Kohlenhydrate
29 3
weite Verbreitung. Sie werden bei den Heteroglycanen bespro-
. Tab. 3.3 Charakterisierung von natürlich vorkommenden Oligo- chen (. Tab. 3.4).
und Polysacchariden
Polysaccharide setzen sich aus einer großen Zahl gly-
Oligosaccharide Polysaccharide
cosidisch verknüpfter Monosaccharide zusammen
Homoglycane Amylose, Amylo- Polysaccharide sind Verbindungen, die sich aus einer großen
pectin, Glycogen, Zahl von Monosacchariden zusammensetzen, wobei das schon
Cellulose, Dex-
bei den Disacchariden verwendete Bauprinzip der Verknüpfung
trane, Inulin
über glycosidische Verbindungen beibehalten wird. Man unter-
Frei In der Milcha Hyaluronsäureb scheidet:
Heteroglycane Gebun- In Glykoprotei- In Proteoglyca- 4 Homoglycane, die nur ein Monosaccharid als Baustein ent-
den nen und Glykoli- nenb und Peptido- halten.
pidena glycanenb 4 Heteroglycane, Oligo- bzw. Polysaccharide, die aus mehre-
a
Diese Oligosaccharide haben in der Regel verzweigte Strukturen. ren unterschiedlichen Monosaccharidbausteinen zusam-
b Diese Polysaccharide sind unverzweigt und werden auch als mengesetzt sind.
Glycosaminoglycane oder Mucopolysaccharide bezeichnet.
Homoglycane sind wichtige zelluläre Energiespeicher
Stärke und Glycogen Beide Verbindungen dienen als zelluläre
Kohlenhydratspeicher:
sog. herzwirksamen Glycoside für die Therapie der Herz- 4 Amylose macht 20–30 % der pflanzlichen Stärke aus. Sie ist
insuffizienz eingesetzt (. Abb. 3.3). ein aus mehreren tausend Glucoseresten bestehendes
Kettenmolekül. Die Glucosereste sind wie bei der Maltose
durch α-(1 4)-glycosidische Bindungen verknüpft
3.1.3 Disaccharide – glycosidisch verknüpfte (. Tafel I.4). Dadurch ergibt sich eine schraubenförmige
Monosaccharide Windung des Amylosemoleküls mit ca. 6 Glucoseeinheiten
pro Schraubengang (. Abb. 3.4).
Disaccharide entstehen durch Knüpfung einer glyco- 4 Amylopectin stellt den größeren Bestandteil pflanzlicher
sidischen Bindung zwischen zwei Monosacchariden Stärke dar. Es besteht ebenfalls aus α-(1 4)-glycosidisch
Disaccharide entstehen dadurch, dass eine glycosidische Bin- verknüpften Glucoseresten. Es enthält jedoch zusätzlich
dung zwischen der besonders reaktionsfähigen Hydroxylgruppe Verzweigungsstellen über die Hydroxylgruppe am C-
am halbacetalischen C-Atom 1 eines Monosaccharids mit einer Atom 6 (α-(1 6)-glycosidische Bindung) (. Tafel I.4). Da
Hydroxylgruppe eines weiteren Monosaccharidmoleküls ge- sich die Seitenketten ihrerseits wieder verästeln können,
knüpft wird. Man unterscheidet Disaccharide vom Maltose- bzw. bilden sich stark verzweigte Riesenmoleküle (. Abb. 3.4).
Trehalosetyp (. Tafel I.3). Im Amylopectin kommt es im Mittel an jedem 25. Glucose-
rest zu einer Verzweigung. Die molekulare Masse des Amy-
lopectins ist mit etwa 106 Da sehr hoch.
3.1.4 Oligosaccharide und Polysaccharide – 4 Glycogen ist das tierische Reservekohlenhydrat. In seiner
Homo- und Heteroglycane Struktur entspricht es weitgehend dem Amylopectin, aller-
dings ist es mit einer Verzweigung pro 6–10 Glucoseresten
Unter den Begriffen Oligo- bzw. Polysaccharide versteht man noch stärker verzweigt. Die Molekülmasse des Glycogens
kettenförmige, häufig auch verzweigte Moleküle, die durch Kon- kann zwischen 1∙106 und 20∙106 Da schwanken.
densation mehrerer, z. T. noch modifizierter Monosaccharide
gebildet werden. Diese Verbindungen sind von großer biologi- Cellulose Cellulose ist die auf der Erde am weitesten verbreitete
scher Bedeutung, eine Einteilung findet sich in . Tab. 3.3. organische Substanz. Sie besteht aus Glucosemolekülen, die
β-(1 4)-glycosidisch miteinander verknüpft sind. Infolge der
Oligosaccharide sind Verbindungen, β-glycosidischen Bindungen liegt das Molekül als fadenförmiges
die 3 bis maximal 20 glycosidisch verknüpfte Kettenmolekül vor, das lange Fasern ausbildet, die durch Wasser-
Monosaccharide enthalten stoffbrückenbindungen verknüpft sind. Cellulose ist die wich-
Freie Oligosaccharide kommen im Pflanzenreich vor, im Tier- tigste pflanzliche Stützsubstanz.
reich trifft man sie nur in geringen Konzentrationen an. Eine
Ausnahme machen die 4–6 Monosaccharide enthaltenden Oli- Dextrane Dextrane sind aus Glucose bestehende Homoglycane,
gosaccharide der Milch, welche die charakteristischen Struktu- die von Bakterien gebildet werden. Die Glucosereste sind
ren des Kohlenhydratanteils der Blutgruppenglykoproteine ent- (1 6)-glycosidisch verbunden, wobei (1 2)-, (1 3)- oder
halten und in geringen Mengen auch im Urin ausgeschieden (1 4)-Verzweigungen vorkommen. Dextrane werden vor allem
werden. als Molekularsieb bei der Gelchromatographie (Gelfiltration,
In gebundener Form haben Oligosaccharide dagegen als Be- s. 7 Kap. 6.1.1) verwendet. Außerdem dient Dextran als Blut-
standteile der Glykoproteine (s. u.) und der Ganglioside eine plasmaersatz bei starken Blutverlusten.
30 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

A Heteroglycane sind Oligo- bzw. Polysaccharide


aus mehreren unterschiedlichen
Monosaccharidbausteinen
Heteroglycane enthalten neben verschiedenen einfachen Mono-
sacchariden auch Derivate von Monosacchariden wie Aminozu-
cker und Uronsäuren.
3 Heteroglycane kommen in Form von Oligosacchariden oder
sog. Glycosaminoglycanen vor. Während die Oligosaccharidket-
ten von Glykoproteinen meist verzweigt vorliegen, werden als
Glycosaminoglycane lange, unverzweigte Heteroglycanketten
bezeichnet, die aus repetitiven identischen Disaccharideinheiten
zusammengesetzt sind (. Tab. 3.5, . Tafel I.5). Diese Disaccha-
B
ride bestehen typischerweise aus
4 einem Hexosamin bzw. dessen N-acetyliertem Derivat und
4 einer Uronsäure, meist Glucuronsäure (Keratansulfat ent-
hält statt einer Uronsäure Galactose).

Zusätzliche Sulfatgruppen sind über Esterbindungen mit ver-


schiedenen Hydroxylgruppen der Monosaccharide verknüpft.
Eine ältere, heute weniger gebräuchliche Bezeichnung für Glyco-
saminoglycane ist Mucopolysaccharide.
Fast ausnahmslos treten Heteroglycane in covalenter Ver-
knüpfung, meist mit Proteinen, aber auch mit Lipiden auf. Hete-
roglycane werden eingeteilt in:
4 Glykoproteine
4 Proteoglycane
4 Peptidoglycane
4 Glykolipide
. Tab. 3.4 fasst wichtige Eigenschaften der Heteroglycane zusam-
men.
Glykoproteine Es handelt sich um Proteine, an die über N- bzw.
O-glycosidische Bindungen Oligosaccharide geknüpft sind
(. Tafel I.6; über Biosynthese und Funktion von Glykoproteinen
s. 7 Kap. 49.3.3).
Die Glycanketten von Glykoproteinen eukaryontischer Zel-
len bestehen aus folgenden Monosacchariden bzw. Monosaccha-
C ridderivaten:
4 Glucose
4 Galactose
4 Mannose
4 N-Acetylglucosamin
4 N-Acetylgalactosamin
4 L-Fucose
4 Neuraminsäure

Bezogen auf die Masse kann der Kohlenhydratanteil der Glyko-


proteine von weniger als 5 % (Immunglobulin G) bis zu 85 % (bei
Blutgruppensubstanzen) betragen.
Glykoproteine sind sehr weit verbreitet. Viele Export- und
Membranproteine sind Glykoproteine. Von den menschlichen
Plasmaproteinen tragen nur Albumin und Transthyretin (Präal-
bumin) keine Zuckerreste.
. Abb. 3.4 Aufbau von Stärke und Glycogen. A Amylose, B Glycogen, Beispiele von Glykoproteinen sind:
c Ausschnitt eines Amylopectin- bzw. Glycogenmoleküls mit einer Verzwei-
4 Strukturproteine (z. B. Kollagen)
gungsstelle
4 Enzyme (z. B. pankreatische Ribonuclease, Amylase,
Acetylcholinesterase, Glucocerebrosidase)
3.1 · Kohlenhydrate
31 3

. Tab. 3.4 Einteilung der Heteroglycane

Bezeichnung Kohlenhydrat Nicht-Kohlenhydrat Funktion

Glykoproteine Oligosaccharide aus 2–20 unterschied- Verschiedenste Proteine Vielseitig, vom Protein abhängig, z. B.
lichen Monosacchariden Proteinfaltung, -sortierung

Proteoglycane Glycosaminoglycane mit sich wieder- Einfach aufgebaute Proteinskelette Bestandteil der extrazellulären Matrix
holenden Disacchariden; Molekülmasse (core-Protein)
2∙103 bis 3∙106 Da

Peptidoglycane Disaccharid aus N-Acetylglucosamin Peptide aus 4–5 Aminosäuren Bildung der bakteriellen Zellwand
und N-Acetylmuraminsäure

Glykolipide Oligosaccharide Ceramid, Polyisoprenol, Bauteile zellulärer Membranen, Zwischen-


Phosphatidylinositol produkt bei der Glykoproteinbiosynthese,
Membrananker von Proteinen (GPI-Anker)

4 Transportproteine (z. B. Caeruloplasmin, Transferrin) ketten erfolgt O-glycosidisch über ein Serin und beginnt mit der
4 Peptidhormone (z. B. Luteinisierungshormon, follikelsti- Zuckersequenz: Xylose-Galactose-Galactose-Glucuronat (7 Kap.
mulierendes Hormon) 16.2.2), an die sich die Disaccharidkette anschließt.
4 Immunglobuline Die wichtigsten in Proteoglycanen nachweisbaren Glycosa-
4 Fibrinogen minoglycane sind in . Tab. 3.5 aufgelistet.
4 Blutgruppenantigene Mit Ausnahme von Heparin kommen Proteoglycane aus-
schließlich in der extrazellulären Matrix vor und ihre Variabilität
Proteoglycane Mit Ausnahme der Hyaluronsäure sind die Gly- ist für deren funktionelle Vielfalt verantwortlich (7 Kap. 71.1).
cosaminoglycane an sog. core-Proteine gebunden und werden Proteoglycane haben die Fähigkeit zu assoziieren und geordnete
deswegen als Proteoglycane bezeichnet. Die Verknüpfung der Strukturen auszubilden (7 Kap. 71.1.5). Als Polyanionen binden
repetitiven Disaccharideinheiten mit den zugehörigen Peptid- sie Kationen (Ca2+, Mg2+), Wasser, Peptidhormone und Cytokine

. Tab. 3.5 Disaccharide der Glycosaminoglycane

Bezeichnung Molekülmasse Hexosen Stellung Bindung Vorkommen


(Da) des Sulfats

Hyaluronsäurea 1–3 ∙ 106 N-Acetylglucosamin – β(1 4) Synovialflüssigkeit, Glaskörper, Nabel-


Glucuronsäure β(1 3) schnur

Chondroitin-4-Sulfat 2–5 ∙ 104 N-Acetylgalactosamin 4 β(1 4) Knorpel, Aorta


(Chondroitinsulfat A) Glucuronsäure β(1 3)

Chondroitin-6-Sulfat 2–5 ∙ 104 N-Acetylgalactosamin 6 β(1 4) Herzklappen


(Chondroitinsulfat C) Glucuronsäure β(1 3)

Dermatansulfat 2–5 ∙ 104 N-Acetylgalactosamin 4, 6 β(1 4) Haut, Blutgefäße, Herzklappen


(Chondroitinsulfat B) Iduronsäure 2 α(1 3)b
oder Glucuronsäure 2 β(1 3)

Heparin 0,5–3 ∙ 104 Glucosamin 6, Nc α(1 4) Kein Bestandteil der extrazellulären


Glucuronsäure oder 2 β(1 4) Matrix. Wird in Mastzellen gespeichert.
Iduronsäure 2 α(1 4)b Wirkt gerinnungshemmend
(7 Kap. 69.1.4)

Heparansulfat 2–10 ∙ 103 Glucosamin oder 6, Nc α(1 4) Blutgefäße, Zelloberfläche


N-Acetylglucosamin
Glucuronsäure 2 β(1 4)
oder
Iduronsäure 2 α(1 4)b

Keratansulfat 5–20 ∙ 103 N-Acetylglucosamin 6 β(1 3) Cornea, Nucleus pulposus, Knorpel


Galactose β(1 4)
a Eine Bindung von Hyaluronsäure an Protein ist nicht nachgewiesen.
b Diese glycosidische Bindung der L-Iduronsäure entspricht sterisch der β-glycosidischen Bindung der D-Glucuronsäure, wird jedoch wegen der
L-Konfiguration der Iduronsäure als α-glycosidisch bezeichnet.
c Die Sulfatierung erfolgt nach Deacetylierung am N-Atom der Aminozucker.
32 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

(7 Kap. 34.2). Außerdem nehmen sie wichtige Funktionen im


Rahmen von Wachstums- und Differenzierungsvorgängen wahr säuren eingesetzt werden, getrennt werden. Für die Identifi-
(7 Kap. 71.1.5). Die core-Proteine bilden eine umfangreiche Gen- kationen der einzelnen Bestandteile komplexer Kohlenhyd-
familie aus mehr als 100 Mitgliedern. Störungen der Biosynthese rate eignet sich die Kernspinresonanzspektroskopie und die
und des Abbaus von Proteoglycanen führen zu schweren Abnor- Massenspektrometrie (s. Lehrbücher der biochemischen
mitäten (7 Kap. 71.1.5). Analytik).
3
Peptidoglycane Über Aufbau und biologische Bedeutung der
Peptidoglycane als Bestandteil der bakteriellen Zellwand s.
7 Kap. 16.2.4. Zusammenfassung
Alle Kohlenhydrate leiten sich von Aldehyden bzw. Ketonen
Glykolipide Als Glykolipide werden Verbindungen von meist mehrwertiger Alkohole ab, die als Aldosen bzw. Ketosen
komplex aufgebauten Oligosacchariden mit Lipiden bezeichnet, bezeichnet werden. Sie sind imstande, miteinander Verbin-
die überwiegend als Membranbestandteile vorkommen. Unter- dungen einzugehen und auf diese Weise Makromoleküle zu
schieden werden in tierischen Zellen Sphingoglykolipide bilden. Im Einzelnen unterscheidet man:
(7 Kap. 3.2.4) und Polyprenolglykolipide (7 Kap. 3.2.5). 4 Monosaccharide
4 Disaccharide
4 Oligo- und Polysaccharide
Übrigens
Analytik von Kohlenhydraten Von besonderer Bedeutung im Stoffwechsel sind:
Indische, chinesische und japanische Ärzte kannten schon 4 Hexosen (Glucose, Galactose, Mannose, Fructose)
vor mehr als 2000 Jahren eine Krankheit, die süßen Harn er- 4 Pentosen (Ribose, Desoxyribose, Ribulose, Xylose)
zeugt. Es wurde beobachtet, dass dieser süße Urin den Hun-
den schmeckte, Fliegen wurden angelockt und man nannte Monosaccharide können unter Ausbildung glycosidischer
die Krankheit »Honigharn«. Der Ausdruck »Diabetes« (griech. Bindungen mit OH- bzw. NH2-Gruppen reagieren. Die dabei
das Hindurchgehende) wurde von Aretheios aus Kappadoki- entstehenden Verbindungen werden Glycoside genannt.
en (81–128 n. Chr.) in den medizinischen Sprachgebrauch Wird die glycosidische Bindung zwischen 2 Monosacchari-
eingeführt, um die großen Harnmengen, den Harndrang den geknüpft, entstehen Disaccharide (Maltose, Lactose,
und das häufige Wasserlassen zu charakterisieren. Das Prü- Saccharose).
fen des süßen Geschmacks von Diabetikerharn wurde noch Saccharide aus 3–20 Monosacchariden werden als Oligo-
im 20. Jahrhundert den Studenten in der Vorlesung ein- saccharide, solche mit mehr als 20 als Polysaccharide be-
drucksvoll demonstriert. Der Professor ließ sich ein mit Harn zeichnet:
gefülltes Glas reichen, steckte einen Finger hinein, zog die 4 Homoglycane enthalten nur ein einziges Monosaccharid
Hand wieder zurück und kostete am Finger. Es ging alles 4 Heteroglycane dagegen mehrere unterschiedliche
ziemlich schnell und die Zuschauer waren fassungslos. Erst Monosaccharide
später wurde geklärt, was geschehen war. Der Professor
hatte den Zeigefinger in das Uringlas gesteckt, aber seinen Das wichtigste tierische Homoglycan ist das Glycogen.
Mittelfinger abgeschleckt. Niemand im Zuhörerkreis hat das Heteroglycane kommen v. a. in Glykoproteinen und Proteo-
bemerkt. glycanen der extrazellulären Matrix vor.
Die heute gebräuchlichen Verfahren zum Glucosenachweis
in Körperflüssigkeiten verlangen vom Untersucher weniger
Einsatz und sind deutlich weniger störanfällig. Die Glucose-
bestimmung erfolgt im Allgemeinen mit Hilfe optisch-enzy- 3.2 Lipide
matischer Tests (7 Kap. 7.6), meist mit Hilfe von Hexokinase
(1) und Glucose-6-Phosphatdehydrogenase (2): 3.2.1 Einteilung und Funktionen der Lipide

(1) Glucose + ATP Glucose-6-Phosphat + ADP Die Klassifizierung von Lipiden erfolgt nach dem
Vorkommen von Esterbindungen
(2) Glucose-6-Phosphat + NADP+ Eine gebräuchliche Klassifizierung für die chemisch sehr
6-Phosphogluconat + NADPH + H+ unterschiedlichen Lipide teilt diese in zwei Hauptgruppen ein,
die einfachen, nicht-hydrolysierbaren Lipide und die zu-
Messgröße ist dabei die spezifische Absorption von NADPH sammengesetzten, Esterbindungen bzw. Amidbindungen ent-
bei 340 nm (7 Abb. 7.5 in 7 Kap. 7.6). haltenden und damit hydrolysierbaren Lipide (. Tab. 3.6 und
Gemische komplexer Kohlenhydrate können durch Techni- . Tab. 3.7).
ken, die auch bei der Trennung von Proteinen und Amino-
6
3.2 · Lipide
33 3
Orbita) gespeichert. Durch die Fettspeicherung im Fettgewebe
. Tab. 3.6 Klassifizierung von einfachen, nicht-hydrolysierbaren ist über längere Zeit die Unabhängigkeit von der Nahrungszu-
Lipiden fuhr gewährleistet.
Lipidklasse Beispiele
Ein Erwachsener speichert etwa 10.000 g Fett (bei Überge-
wicht wesentlich mehr!), aber maximal nur etwa 500 g Kohlen-
Fettsäuren Gesättigte, einfach und mehr- hydrate in Form von Glycogen.
fach ungesättigte

Fettsäurederivate Prostaglandine, Leukotriene Membranaufbau Eine besondere Bedeutung haben Phospho-


glyceride, Sphingolipide und Cholesterin als Bausteine der
Polyisoprene Ubichinon, Dolichol, Vitamine
A, E, K Plasmamembran und der intrazellulären Membranen, z. B. der
Isoprenderivate Mitochondrien, der Lysosomen und des endoplasmatischen Re-
Steroide Cholesterin, Steroidhormone,
Vitamin D
tikulums (7 Kap. 11.1).

Signalvermittlung Lipide sind an der Regulation des Stoffwech-


sels, des Wachstums und der Differenzierung beteiligt. Die Ste-
roidhormone der Nebennierenrinde und der Gonaden
. Tab. 3.7 Klassifizierung von zusammengesetzten, hydrolysier-
baren Lipiden (7 Kap. 40) sind ebenso Lipide wie Prostaglandine und Leuko-
triene, die als Gewebshormone weit verbreitet sind (7 Kap. 22.3.2).
Lipidklasse Komponenten Darüber hinaus sind Lipide als second messenger für die Sig-
naltransduktion außerordentlich wichtig (7 Kap. 33.4.2).
Acyl- Alkohol Weitere
reste Bestandteile

Triacylglycerine 3 Glycerin (Glycerol) 3.2.2 Gesättigte und ungesättigte Fettsäuren


Phosphoglyceride 2 Glycerin-3-Phos- Ethanolamin,
phat Cholin, Inositol, Fettsäuren bestehen aus einer Kohlenwasserstoff-
Serin kette und einer Carboxylgruppe
Sphingomyelin 1a Sphingosin Phosphoryl- Der allgemeine Aufbau von Fettsäuren und die Regeln für ihre
cholin, Phos- Benennung sind in . Tafel II.1 dargestellt. Entsprechend ihrer
phorylethanol- Biosynthese aus Acetylresten enthalten die Fettsäuren tierischer
amin Organismen meist eine Alkankette mit einer geraden Anzahl von
Cerebroside, 1a Sphingosin Zucker C-Atomen.
Ganglioside In der chemischen Nomenklatur werden Fettsäuren nach
Cholesterinester 1 Cholesterin den analogen Kohlenwasserstoffen mit gleicher Kettenlänge
(Cholesterol) benannt. So heißt beispielsweise eine gesättigte Fettsäure mit
a
Acylrest ist über Amidbindung mit dem Aminoalkohol Sphingosin 6 C-Atomen Hexansäure, eine mit 18 C-Atomen Octadecansäure.
verknüpft. Für die meisten Fettsäuren sind jedoch Trivialnamen üblich, die
häufig den Organismus oder das Gewebe wiedergeben, aus dem
die Fettsäure ursprünglich isoliert worden ist (. Tab. 3.8).
Fettsäuren sind Bausteine von Acylglycerinen, Phosphogly-
Lipide dienen der Energiespeicherung, cerinen, Sphingolipiden und Cholesterinestern. Als unveresterte
dem Membranaufbau und der Signaltransduktion sog. freie Fettsäuren kommen sie in den Geweben in geringen
Lipide haben eine Vielzahl von Funktionen, besonders bei Mengen vor, im Blutplasma beträgt ihre Konzentration etwa
4 der Energiespeicherung 0,5–1 mmol/l.
4 beim Aufbau von Membranen und
4 bei der Signalvermittlung Gesättigte Fettsäuren enthalten nur Einfach-
bindungen, ungesättigte Fettsäuren eine oder
Energiespeicherung Lipide sind ein wichtiger Nahrungsbe- mehrere Doppelbindungen
standteil. Die Fettverbrennung ergibt im Vergleich mit anderen Mehr als die Hälfte der in tierischen bzw. pflanzlichen Zellen
Nahrungsstoffen die höchste Energieausbeute (38–39 kJ/g Fett) vorkommenden Fettsäuren enthalten eine oder mehrere Dop-
(7 Kap. 56.1). Neben ihrem energetischen Wert haben Nahrungs- pelbindungen. Diese Tatsache ist von erheblicher biologischer
lipide auch Bedeutung, weil sie die essentiellen Fettsäuren und Bedeutung, da i. Allg. das Vorhandensein von Doppelbindun-
die fettlöslichen Vitamine Retinol, Calciferole, Tocopherole und gen den Schmelzpunkt einer Fettsäure beträchtlich absenkt
Phyllochinone enthalten (7 Kap. 58). (. Tab. 3.8). Dies wird bei den in Speicher- und in Membran-
Im tierischen Organismus findet sich die höchste Lipidkon- lipiden häufig vorkommenden Fettsäuren mit 16 und 18 C-Ato-
zentration im Fettgewebe Hier werden Triacylglycerine als men besonders deutlich. Ohne das Vorhandensein von Doppel-
Energiespeicher, zur Wärmeisolierung (subkutanes Fettgewebe) bindungen wären diese Lipide bei physiologischen Temperatu-
oder als Druckpolster (Fett der Nierenlager, der Fußsohle, der ren starr.
34 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

. Tab. 3.8 Wichtige Fettsäuren

Trivialname Chemischer Name Formel Schmelzpunkt Vorkommen


(°C)

3 A. Gesättigte Fettsäuren

Essigsäure Ethansäure C 2H 4O 2 16 Endprodukt des bakteriellen Kohlenhydratabbaus; als


Acetyl-CoA im Intermediärstoffwechsel

Propionsäure Propansäure C3H 6O 2 –24 Endprodukt des bakteriellen Kohlenhydratabbaus; als


Propionyl-CoA im Intermediärstoffwechsel; Endprodukt
beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren und bestimmer
Aminosäuren

Buttersäure Butansäure C 4H 8O 2 –8 In Fetten, z. B. Butter; Endprodukt des bakteriellen Abbaus


von z. B. Cellulose (»Ballaststoffe«); fördert Proliferation der
Darmmukosa

Isovaleriansäure Isopentansäure C5H10O2 –33 Als Isovaleryl-CoA-Intermediat beim Abbau verzweigtketti-


ger Aminosäuren

Myristinsäure Tetradecansäure C14H28O2 53,9 Anker für Membranproteine

Palmitinsäure Hexadecansäure C16H32O2 62,8 Bestandteil tierischer und pflanzlicher Lipide

Stearinsäure Octadecansäure C18H36O2 69,6 Bestandteil tierischer und pflanzlicher Lipide

Lignocerinsäure Tetracosansäure C24H48O2 84 Bestandteil von Cerebrosiden und Sphingomyelin

B. Einfach ungesättigte Fettsäuren

Crotonsäure trans-Butensäure C 4H 6O 2 71,6 Als Crotonyl-CoA Metabolit beim Fettsäureabbau

Palmitoleinsäure cis-Δ9-Hexadecensäure C16H30O2 1 In Pflanzenölen, Bestandteil tierischer Lipide

Ölsäure cis-Δ9-Octadecensäure C18H34O2 16 Hauptbestandteil aller Fette und Öle

Nervonsäurea cis-Δ15-Tetracosensäure C24H46O2 42 In Cerebrosiden

C. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren

Linolsäurea Δ9,12-Octadecadiensäure C18H32O2 –5 In Pflanzenölen


a
α Linolensäure Δ9,12,15- C18H30O2 –11 In Pflanzenölen
Octadecatriensäure

Arachidonsäure Δ5,8,11,14- C20H32O2 –49 In Fischölen; Bestandteil vieler Phosphoglyceride


Eicosatetraensäure

EPA Δ5,8,11,14,17- C20H30O2 –54 In Fischölen; Vorläufer von Prostaglandinen der Serie 3
Eicosapentaensäure (7 Kap. 22.3.2); antiinflammatorisch, antiatherogen

DHA Δ4,7,10,13,16,19- C22H32O2 –44 In Phosphatidylserin neuronaler Zellmembranen; verhindert


Docosahexaensäure Apoptose, unterstützt neuronale Differenzierung
a Essentielle Fettsäuren.

Wegen des Fehlens einer entsprechenden Enzymausstattung (. Tafel II.1) wegen der Lage ihrer am weitesten von der
können mehrfach ungesättigte Fettsäuren, deren Doppelbindun- Carboxylgruppe entfernten Doppelbindung als ω-3-Fettsäure
gen mehr als 9 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt sind, bezeichnet (über die ernährungsphysiologische Bedeutung von
vom tierischen Organismus nicht synthetisiert werden ω-6- und ω-3-Fettsäuren 7 Kap. 57.1.3).
(7 Kap. 21.2.4). Da sie jedoch eine Reihe wichtiger Funktionen Wichtige Fettsäurederivate sind Prostaglandine, Thrombo-
erfüllen, müssen sie mit der Nahrung zugeführt werden und xane und Leukotriene. Sie entstehen aus mehrfach ungesättig-
werden deshalb auch als essentielle Fettsäuren bezeichnet ten Fettsäuren, besonders der Arachidonsäure (20 C-Atome)
(. Tab. 3.8). Eine wichtige essentielle Fettsäure ist die Linolsäure und werden deswegen auch als Eicosanoide (griech. eikosa = 20)
(. Tafel II.1) mit 18 C-Atomen. Die zweite Doppelbindung ist hier bezeichnet. Wegen ihrer Wirkung auf den Zellstoffwechsel in
12 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt und liegt geringsten Konzentrationen (10–10–10–8 mol/l) werden sie zu
demzufolge 6 C-Atome vor dem endständigen ω-C-Atom. Man den Gewebshormonen gerechnet. Über Biosynthese, Struktur
bezeichnet die Linolsäure daher auch als ω-6-Fettsäure. Im und Wirkungsweise der Eicosanoide s. 7 Kap. 22.3.2.
Gegensatz dazu wird die ebenfalls essentielle Linolensäure
3.2 · Lipide
35 3
3.2.3 Triacylglycerine und Phosphoglyceride

Glycerinlipide enthalten als gemeinsame Struktur den dreiwerti-


gen Alkohol Glycerin. Wenn mindestens eine der drei Hydroxyl-
gruppen des Glycerins mit Fettsäuren verestert ist, handelt es sich
um Acylglycerine.

Bei Triacylglycerinen sind alle drei Hydroxylgruppen


des Glycerins mit Fettsäuren verestert
Sind alle drei Hydroxylgruppen des Glycerins mit Fettsäuren ver-
estert, spricht man von Triacylglycerinen (Triglyceriden)
(. Tafel II.2). Monoacyl- bzw. Diacylglycerine (nur eine oder
zwei der drei OH-Gruppen des Glycerins sind verestert) kom-
men in geringen Mengen in den Geweben als Zwischenprodukte
beim Auf- und Abbau der Triacylglycerine vor.
In der höchsten Gewebskonzentration kommen Triacylgly-
cerine im Speicherfett des Fettgewebes vor. Die Zusammenset-
zung der Triacylglycerine ist von großer Bedeutung für ihre Kon-
sistenz:
4 Je länger die Kohlenwasserstoffketten der Fettsäurereste
sind, umso höher liegt der Schmelzpunkt der Triacyl-
glycerine.
4 Je mehr Doppelbindungen die Fettsäurereste in Triacyl-
glycerinen enthalten, umso niedriger liegt der Schmelz-
punkt.

Dementsprechend findet man beispielsweise einen besonders


hohen Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren mit beson-
ders niedrigem Schmelzpunkt im subkutanen Fettgewebe von
Meeressäugern. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Tranöl der Wale.

Phosphoglyceride sind Derivate


. Abb. 3.5 Aufbau von GPI(Glycosyl-Phosphatidylinositol)-Ankern. Die-
des Glycerin-3-Phosphats se Verankerung von Proteinen in der Membran erfolgt durch ein Phosphati-
Phosphoglyceride sind die mengenmäßig bedeutendsten Mem- dylinositolmolekül, an welches ein Tetrasaccharid aus Glucosamin und
branbestandteile tierischer Gewebe (7 Kap. 11.1). Ihre Struktur- 3 Mannoseresten geknüpft ist. Der terminale Mannoserest trägt ein Ethano-
merkmale finden sich in . Tafel II.3. laminphosphat, welches über eine Säureamidbindung mit dem C-Terminus
des jeweiligen Proteins verbunden ist. Dieses Grundgerüst ist bei den ver-
Von besonderer Bedeutung für den Aufbau von Membranen
schiedenen GPI-Ankern modifiziert. Mit der OH-Gruppe am C-Atom 3 des
eukaryontischer Zellen sind Phosphatidylcholin, Phosphatidy- Inositols kann ein weiterer Fettsäurerest verestert sein (wie dargestellt);
lethanolamin, Phosphatidylserin und Phosphatidylinositol. R1: die erste Mannose kann zusätzlich mit Phosphoethanolamin, Galactose
oder N-Acetylgalactosamin verknüpft sein; R2: die zweite Mannose kann
Phosphatidylcholin Phosphatidylcholin (Lecithin) ist mengen- zusätzlich einen Phosphoethanolaminrest tragen; R3: ein weiterer
Mannoserest
mäßig das häufigste Phosphoglycerid. Es ist ein Phosphorsäure-
diester der Phosphatidsäure mit dem Aminoalkohol Cholin.
welches schon in geringen Mengen hämolytisch wirkt, d. h. eine
Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylserin Beide Phos- Auflösung der Erythrocytenmembran bewirkt. Phospholipasen
phoglyceride entsprechen strukturell dem Phosphatidylcholin, kommen u. a. in Bienen- und Schlangengiften vor und sind mit
jedoch ist das Cholin durch Ethanolamin bzw. Serin ersetzt. ein Grund für die Gefährlichkeit dieser Gifte (7 Kap. 22.1.2).

Phosphatidylinositol Im Phosphatidylinositol, dem eine beson- Glycosyl-Phosphatidyl-Inositol-Anker Glycosyl-Phosphatidyl-


dere Bedeutung im Rahmen der Signaltransduktion zukommt Inositol-Anker oder GPI-Anker sind wichtige Membranbestand-
(7 Kap. 33.4.2), ist der Phosphorsäurediester mit dem zyklischen teile, die auf der Grundstruktur des Phosphatidylinositols basie-
sechswertigen Alkohol Inositol verknüpft. ren (. Abb. 3.5). Sie dienen der Verankerung von Rezeptoren
oder Enzymen, z. B. der Acetylcholinesterase, der alkalischen
Lysophosphoglyceride Unter Einwirkung von Phospholipasen Phosphatase oder des Prionproteins (7 Kap. 49.3.5) in der Mem-
entstehen aus Phosphoglyceriden durch Abspaltung einer Fett- bran. Für den Aufbau des GPI-Ankers werden Glucosamin und
säure die entsprechenden Lysophosphoglyceride. Der bekann- 3 Mannosen mit glycosidischen Bindungen an das Inositol ge-
teste Vertreter dieser Gruppe ist das Lysophosphatidylcholin, knüpft, das mit einer dritten Fettsäure verestert sein kann. Die
36 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

. Abb. 3.6 Struktur des Cardiolipins . Abb. 3.7 Aufbau von Plasmalogenen

terminale Mannose trägt einen Phosphoethanolaminrest, der lären Membranen mit Ausnahme der mitochondrialen Innen-
mit dem C-Terminus des jeweiligen Proteins über eine Säure- membran. In besonders hoher Konzentration kommen sie im
amidbindung verbunden ist. Die Mannosereste können weitere Zentralnervensystem vor. So leitet sich der Name Sphingomyelin
Ethanolamine und andere Saccharide tragen. vom typischen Vorkommen dieser Lipide in den Myelinscheiden
des Nervengewebes ab.
Cardiolipin Cardiolipin oder Diphosphatidylglycerin ist ein ty-
pisches Phosphoglycerid der bakteriellen Plasmamembran und
findet sich bei Eukaryonten entsprechend der Endosymbionten- 3.2.5 Isoprenoide
entwicklung in der inneren Mitochondrienmembran wieder
(. Abb. 3.6). Auch hier ist das Rückgrat des Moleküls ein Glyce- Der Grundbaustein der Isoprenlipide ist das Isopren (2-Me-
rin, bei dem die Hydroxylgruppen der C-Atome 1 und 3 mit je thyl-1,3-Butadien . Durch Polymerisation mehrerer Isoprenres-
einer Phosphatidsäure verestert sind. te entstehen einkettige Moleküle, die ggf. zyklisieren können
(. Tafel II.5). Sie bilden die Grundlage einer großen Zahl von
Plasmalogene Plasmalogene stehen strukturell dem Phosphati- Naturstoffen.
dylcholin bzw. dem Phosphatidylethanolamin nahe. Sie machen
z. B. 20–30 % der Phospholipide des Gehirns und der Muskeln Polyisoprene sind lineare Polymerisationsprodukte
aus. Der Unterschied zu den eigentlichen Phosphoglyceriden be- von Isoprenresten
ruht darauf, dass am C-Atom 1 des Glycerins anstelle einer Fett- 4 Terpene sind Verbindungen aus 10 C-Atomen, die formal
säure ein Fettsäurealdehyd als Enolether gebunden ist. Die durch Polymerisation zweier Isoprenreste entstanden sind.
zweite, als Ester gebundene Fettsäure ist immer ungesättigt. Als Viele pflanzliche ätherische Öle gehören in die Gruppe der
stickstoffhaltige Alkohole dienen in der Regel Ethanolamin oder Terpene.
Cholin (. Abb. 3.7). 4 Sesquiterpene sind Verbindungen mit 15 C-Atomen, die
aus drei Isoprenen zusammengesetzt sind.
4 C20-Verbindungen werden als Diterpene bezeichnet,
3.2.4 Sphingo- und Glykolipide C30-Verbindungen als Triterpene.
4 Isoprenoide mit besonderer Bedeutung für den tierischen
Die Strukturen der wichtigsten Sphingolipide sind in . Tafel II.4 Organismus sind die fettlöslichen Vitamine Retinal
zusammengefasst. Sphingolipide sind wie Phosphoglyceride (. Tafel II.5), Tocopherol und Phyllochinon (7 Kap. 58).
amphiphile Moleküle. Sie finden sich in wechselnden Konzen- 4 Dolichol besteht aus 19 Isopreneinheiten (. Tafel II.5).
trationen als Bestandteile der Lipiddoppelschichten aller zellu- Als Dolicholphosphat dient es bei der Biosynthese von
3.2 · Lipide
37 3
Glykoproteinen im endoplasmatischen Retikulum dazu, Phosphoglyceride und Sphingolipide
die synthetisierten Oligosaccharidketten in der Membran bilden an Grenzflächen oder in Wasser
des endoplasmatischen Retikulums zu verankern geordnete Strukturen aus
(7 Kap. 49.3.3). Im Gegensatz zu den Triacylglycerinen enthalten Phosphoglyce-
ride und Sphingolipide viele geladene bzw. polare Gruppen:
Steroide entstehen durch Zyklisierung 4 Alle Phosphoglyceride tragen eine negative Ladung an der
des Triterpens Squalen Phosphatgruppe (pKS = 1–2).
Steroide sind ebenfalls Derivate des Isoprens, da sie durch Zykli- 4 Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylcholin haben
sierung des Triterpens Squalen entstehen. Chemisch leiten sie bei physiologischem pH-Wert zusätzlich eine positive La-
sich vom Cyclopentanoperhydrophenanthren (Steran oder dung am Stickstoff (. Tafel II.3) und werden deswegen als
Gonan) ab. neutrale Phospholipide bezeichnet.
Ausgangspunkt aller in tierischen Organismen vorkom- 4 Phosphatidylserin (. Tafel II.3) besitzt zwei negativ und
menden Steroide ist Cholesterin (. Tafel II.5). eine positiv geladene Gruppe, Phosphatidylinositol
Cholesterin hat eine Reihe wichtiger Funktionen: (. Tafel II.3) und Cardiolipin (. Abb. 3.6) besitzen nur ne-
4 Es ist Bestandteil aller zellulären Membranen mit Ausnah- gativ geladene Phosphatgruppen. Diese Verbindungen re-
me der mitochondrialen Innenmembran. präsentieren die Gruppe der anionischen (sauren) Phos-
4 Es ist die Muttersubstanz für die Biosynthese der zahlrei- pholipide.
chen Steroidhormone, die in der Nebennierenrinde und in
den Gonaden gebildet werden (7 Kap. 40). Ähnliche Eigenschaften haben die geladenen »Kopfteile« des
4 Aus einem Synthesevorläufer (7-Dehydrocholesterin) Sphingomyelins. Kohlenhydratreste von Glycosphingolipiden
entstehen die D-Hormone (D-Vitamine) (7 Kap. 58.3). (. Tafel II.4) haben zwar keine elektrische Ladung, sind jedoch
4 Es ist der Ausgangspunkt für die Biosynthese der für die wegen ihrer vielen Hydroxylgruppen polar und ebenfalls
Verdauungsvorgänge unerlässlichen Gallensäuren (7 Kap. hydrophil.
61.1.4 und 62.4). Da die sowohl bei den Phosphoglyceriden als auch den
Sphingolipiden vorkommenden Kohlenwasserstoffketten der
Anstelle des Cholesterins enthalten Pflanzen v. a. β-Sitosterol, langkettigen Fettsäuren hydrophob sind, gehören Phospho-
das sich von diesem nur durch seine aliphatische Seitenkette glyceride und Sphingolipide zu den sog. amphiphilen (oder auch
unterscheidet (. Tafel II.5). Über die Resorption von Cholesterin amphipathischen) Verbindungen. Auch die sog. Detergenzien
und β-Sitosterol s. 7 Kap. 61.3.3. Ergosterol ist ein Steroid, das (. Abb. 3.8) gehören in diese Klasse. Für amphiphile Verbindun-
von Pilzen und Mycoplasmen anstelle von Cholesterin synthe- gen ist typisch, dass in einem Molekül hydrophobe wie auch hy-
tisiert wird. Es dient als Provitamin für die Synthese des drophile Regionen vorkommen.
Vitamin D2 (7 Kap. 58.3). Von besonderem pharmakologischem Amphiphile Lipide ordnen sich an Grenzflächen oder im
Interesse sind die vielen Pflanzensteroide, die neben Hydroxyl- Wasser in typischer Weise an (. Abb. 3.9 A–D):
gruppen auch Ether- und Lactongruppierungen enthalten 4 An Wasser-Luft-Grenzschichten breiten sich amphiphile
können und häufig als Glycoside vorkommen. Beispiele hierfür Lipide in Form von monomolekularen Filmen aus, in
sind die Herzglycoside (. Abb. 3.3). denen der polare Anteil des Moleküls ins Wasser ragt,
während sich die hydrophoben Kohlenwasserstoffreste zur
Luft hin orientieren (. Abb. 3.9A).
3.2.6 Lösungsverhalten von Lipiden 4 Eine ähnliche Orientierung findet sich an Wasser-Öl-
Grenzschichten, wobei der polare Anteil dem Wasser
Triacylglycerine sind apolar und in Wasser unlöslich zugewandt ist, während die apolare, hydrophobe Gruppe in
Triacylglycerine mit langkettigen Fettsäuren, die den Hauptteil der Ölphase steckt.
des sog. Speicherfettes des Fettgewebes darstellen, sind wasser- 4 In bestimmten Konzentrationsbereichen ordnen sich am-
unlöslich, da alle drei Hydroxylgruppen des Glycerins verestert phiphile Lipide in wässrigen Lösungen in Form von Micel-
sind. Aus diesem Grund sind sie nicht imstande, an wässrigen len an (. Abb. 3.9B). Die hydrophoben Anteile sind dabei
Grenzflächen geordnete Strukturen (s. u.) auszubilden. gegeneinander gerichtet und nach außen zur wässrigen
Im Gegensatz zu den Triacylglycerinen verfügen Mono- bzw. Phase hin durch die polaren, hydrophilen Anteile der
Diacylglycerine über freie Hydroxylgruppen. Deshalb sind sie Moleküle abgeschirmt. Dieses Verhalten trifft v. a. für die
z. B. imstande, an Grenzflächen Micellen zu bilden und spielen in . Abb. 3.8 dargestellten Detergenzien zu. Andere Lipide,
eine wichtige Rolle bei der Emulgierung von Lipiden während die selbst nicht in der Lage sind, Micellen zu bilden (Cho-
der intestinalen Resorption (7 Kap. 61.3.3). lesterin, fettlösliche Vitamine), können mit amphiphilen
Lipiden assoziieren und bilden so gemischte Micellen.
Diese sind eine entscheidende Voraussetzung für die Lipid-
resorption im Dünndarm (7 Kap. 61.3.3).
4 Amphiphile Lipide mit umfangreicheren hydrophoben
Anteilen wie Phosphoglyceride und Sphingolipide bilden
typischerweise sog. Doppelschichten oder lipid bilayers
38 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

A
Weise als Vehikel benutzt, mit denen Arzneimittel, Enzyme,
DNA u. a. in den intrazellulären Raum transportiert werden
können.

Über den Aufbau biologischer Membranen aus amphiphilen Li-


piden s. 7 Kap. 11.1.
3
Übrigens
Analytik von Lipiden
Da Lipide wasserunlöslich sind, erfordert ihre Extraktion aus
Geweben und die anschließende Fraktionierung die Anwen-
dung organischer Lösungsmittel. Ester- bzw. amidgebun-
dene Fettsäuren können durch Hydrolyse abgetrennt und
anschließend analysiert werden.
Für die Auftrennung der einzelnen Komponenten von Lipid-
gemischen verwendet man Adsorptionschromatographie,
häufig in Form von Dünnschichtchromatographie, wobei die
stationäre Phase Kieselsäuregel ist. Als mobile Phase dienen
Gemische unterschiedlicher organischer Lösungsmittel.
Einzelne Lipide werden anhand ihrer Beweglichkeit bei der-
artigen chromatographischen Verfahren identifiziert, ein
apparativ aufwendigeres, aber wesentlich empfindlicheres
modernes Verfahren ist die Massenspektrometrie von Lipi-
den (s. Lehrbücher der biochemischen Analytik).

Zusammenfassung
Zu den einfachen, nicht-hydrolysierbaren Lipiden gehören:
B
4 Fettsäuren und deren Abkömmlinge wie Prostaglandine,
Thromboxane und Leukotriene
4 Isoprenlipide wie Cholesterin und seine Abkömmlinge,
die Vitamine A, E, K, sowie viele andere Naturstoffe

Hydrolysierbare Lipide werden nach ihrer Alkohol-


komponente eingeteilt. Man unterscheidet:
4 Acylglycerine
4 Phosphoglyceride
. Abb. 3.8 Strukturen von Detergenzien. A Die dargestellten Detergenzi-
4 Sphingolipide
en können in bestimmten Konzentrationsbereichen in wässrigem Milieu
spontan Micellen bilden. Da Micellen viele apolare Verbindungen einschlie- 4 Cholesterinester
ßen können, sind sie die Grundlage für die fettlösende Wirkung von Seifen
und Reinigungsmitteln. B Cholat ist eine wichtige Gallensäure (7 Kap. 61.1.4 Wichtige Funktionen von Lipiden sind:
und 62.4) und spielt bei der intestinalen Lipidresorption eine entscheidende 4 Bereitstellung von Substraten für die Energiegewinnung
Rolle. Hydrophile Anteile sind blau, hydrophobe gelb hervorgehoben
4 Speicherung von Energie, vor allem in Form von Triacyl-
glycerinen
4 Aufbau von Membranen, vor allem durch Phospho-
(. Abb. 3.9C) aus. Dieses Phänomen beruht auf der Tatsache, glyceride, Sphingolipide und Cholesterin
dass sich die hydrophoben Kohlenwasserstoffketten der Fett- 4 Bereitstellung von Signalmolekülen, vor allem Steroid-
säurereste gegeneinander orientieren, während die hydrophi- hormone, Prostaglandine, Leukotriene, Thromboxane
len Teile sich zur wässrigen Phase hin ausrichten.
4 Werden Lipiddoppelschichten mit Ultraschall behandelt,
entstehen Liposomen (. Abb. 3.9D), die wegen ihrer struk-
turellen Ähnlichkeit mit zellulären Membranen leicht mit
den Plasmamembranen vieler Zellen fusionieren können.
Liposomen werden deshalb gelegentlich mit normalerweise
nicht-membrangängigen Wirkstoffen beladen und auf diese

SDS# Octylglucosid# MEGA-8# Triton^R^^X-100# Cholat#


3.3 · Aminosäuren
39 3

A B

C D

. Abb. 3.9 Möglichkeiten der Anordnung von amphiphilen Lipiden. A In Grenzschichten, B–D im Wasser. Die blau hervorgehobenen Teile der Phospho-
lipidmoleküle stellen die hydrophilen Bereiche, die gelb gezeichneten die hydrophoben Bereiche dar

3.3 Aminosäuren sind Dreibuchstabenabkürzungen üblich, für die Notierung


längerer Proteinsequenzen auch Einbuchstabensymbole
3.3.1 Einteilung und Funktionen (. Tafel III).
der Aminosäuren
Aminosäuren sind die Bausteine der Proteine,
Aminosäuren sind Derivate gesättigter erfüllen aber auch zahlreiche andere Funktionen
Carbonsäuren im Stoffwechsel
Aminosäuren sind Derivate von Carbonsäuren, die typischer- Von über 100 bekannten Aminosäuren kommen in der Natur nur
weise an dem auf das Carboxyl-C-Atom folgenden α-C-Atom 20 als Bausteine von Proteinen vor. Diese Aminosäuren bilden die
mit einer Aminogruppe substituiert sind (. Abb. 3.10). Es han- Gruppe der proteinogenen Aminosäuren. Viele Organismen be-
delt sich also um α-Aminocarbonsäuren. Das α-C-Atom trägt nutzen darüber hinaus die erst während der Proteinbiosynthese
außerdem den als Seitenkette bezeichneten Rest (R in . Abb. aus Serin gebildete Aminosäure Selenocystein (. Tafel III, 7 Kap.
3.10), der bei jeder Aminosäure verschieden ist und ihre indivi- 48.1.1 und 7 Kap 60.2.9), Archäen außerdem Pyrrolysin (ein mo-
duellen physikochemischen Eigenschaften wie z. B. Ladung und difiziertes Lysin) (. Abb. 3.11) als Proteinbausteine, sodass man
chemische Reaktivität bestimmt. heute genau genommen von 22 proteinogenen Aminosäuren
Viele Aminosäuren werden mit Trivialnamen bezeichnet, sprechen muss. Die Zahl der in Proteinen tatsächlich vorkom-
z. B. Alanin anstelle der chemischen Bezeichnung α-Amino- menden Aminosäuren ist allerdings größer als 22, da einige
propionat etc. Für die proteinogenen Aminosäuren (s. u.) Aminosäuren noch posttranslational modifiziert werden.

. Abb. 3.11 Struktur von Pyrrolysin (Pyl). Der Name leitet sich von dem
. Abb. 3.10 Allgemeine Struktur der α-Aminosäuren. R: Seitenkette Pyrrolinring ab

Micellen# Liposomen#Lysin#
40 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

. Tab. 3.9 Wichtige Eigenschaften von 20 proteinogenen Aminosäuren. (Nach Kyte u. Doolittle 1982)

Aminosäure Abkürzungen Molekülmassea Ungefähre Häufigkeit in Proteinen Isoelektrischer Punkt Hydropathie-Index


(Da) (%)

3 Isoleucin Ile I 131 5,8 6,02 4,5

Valin Val V 117 6,6 5,97 4,2

Leucin Leu L 131 9,5 5,98 3,8

Phenylalanin Phe F 165 4,1 5,48 2,8

Cystein Cys C 121 1,6 5,07 2,5

Methionin Met M 149 2,4 5,74 1,9

Alanin Ala A 89 7,6 6,02 1,8

Glycin Gly G 75 6,8 5,97 –0,4

Threonin Thr T 119 5,6 5,87 –0,7

Serin Ser S 105 7,1 5,68 –0,8

Tryptophan Trp W 204 1,2 5,89 –0,9

Tyrosin Tyr Y 181 3,2 5,66 –1,3

Prolin Pro P 115 5,0 6,48 –1,6

Histidin His H 155 2,2 7,59 –3,2

Asparagin Asn N 132 4,3 5,41 –3,5

Glutamin Gln Q 146 3,9 5,65 –3,5

Aspartat Asp D 133 5,2 2,97 –3,5

Glutamat Glu E 147 6,5 3,22 –3,5

Lysin Lys K 146 6,0 9,74 –3,9

Arginin Arg R 174 5,2 10,8 –4,5

Die Aminosäuren sind in der Tabelle nach ihrem Hydropathie-Index geordnet. Isoleucin ist die hydrophobste, Arginin die hydrophilste Aminosäure.
a
Bei der Berücksichtigung von Molekülmassen einzelner Aminosäuren im Proteinverband müssen 18 Da (H2O) abgezogen werden.

Als nicht-proteinogene Aminosäuren werden alle Amino- Neun Aminosäuren mit apolaren Seitenketten:
säuren bezeichnet, die nicht über eine spezifische tRNA in neu- 4 Glycin, Alanin, Valin, Leucin, Isoleucin, Methionin und
synthetisierte Proteine eingebaut werden. Im Prinzip lassen sie Prolin mit einer aliphatischen Seitenkette
sich einteilen in Aminosäuren, die 4 Phenylalanin und Tryptophan mit einer aromatischen Sei-
4 zwar auch im Proteinverband vorkommen, aber erst durch tenkette
posttranslationale Modifikation entstehen (7 Kap. 3.3.3),
4 außerhalb des Proteinverbandes spezifische Stoffwechsel- Sieben Aminosäuren mit ungeladenen polaren Seitenketten:
funktionen erfüllen (7 Kap. 26.1.4). 4 Tyrosin, Serin und Threonin mit einer OH-Gruppe in der
Seitenkette
4 Cystein und Selenocystein mit einer SH- bzw. SeH-Gruppe
3.3.2 Proteinogene Aminosäuren in der Seitenkette
4 Asparagin und Glutamin mit einer Säureamidgruppe in
Die proteinogenen Aminosäuren werden aufgrund der Seitenkette
der chemischen Eigenschaften ihrer Seitenketten in
unterschiedliche Gruppen eingeteilt Fünf Aminosäuren mit geladenen polaren Seitenketten:
Nach Aufbau und Eigenschaften der Seitenketten, die weitere 4 Aspartat und Glutamat mit einer Carboxylgruppe in der
funktionelle Gruppen (OH-, SH-, Carboxyl- oder Guanidino- Seitenkette
gruppen) enthalten können, werden proteinogene Aminosäuren 4 Lysin mit einer Aminogruppe in der Seitenkette
nach Gruppen zusammengefasst (. Tafel III): 4 Arginin mit einer Guanidinogruppe in der
Seitenkette
4 Histidin mit einer Imidazolgruppe in der Seitenkette
3.3 · Aminosäuren
41 3
Die Hydrophobizität der Aminosäureseitenketten
ist eine wesentliche Determinante für Struktur und
Funktion von Proteinen
In . Tab. 3.9 sind weitere Eigenschaften der klassischen 20 prote-
inogenen Aminosäuren aufgelistet, u. a. der Hydropathie-Index.
Dieser ist ein relatives Maß für die Hydrophobizität einer Ami-
nosäure. Er variiert von +4,5 für die hydrophobste Aminosäure
Isoleucin bis –4,5 für die hydrophilste Aminosäure Arginin.
Ein Vergleich mit . Tafel III verdeutlicht, dass sich 6 der
9 Aminosäuren mit apolaren Seitenketten durch einen positiven
Hydropathie-Index auszeichnen, also besonders hydrophob
sind. Umgekehrt sind alle 5 Aminosäuren mit geladenen
Seitenketten besonders hydrophil. Proteinregionen, an denen
diese Aminosäuren gehäuft vorkommen, werden für Wechsel-
wirkungen mit einer wässrigen Umgebung verantwortlich sein,
Regionen mit hydrophoben Aminosäuren werden dagegen
bevorzugt an Stellen des Proteins lokalisiert sein, an denen
Wasser keinen Zutritt haben soll.

Abgesehen von Glycin ist bei allen


proteinogenen Aminosäuren das α-C-Atom
asymmetrisch substituiert
Bei allen Aminosäuren, außer bei Glycin, trägt das α-C-Atom vier
unterschiedliche Liganden und bildet deswegen ein Asymmetrie-
zentrum. Dies ist in 7 Abb. 2.4 am Beispiel des L- bzw. D-Alanins
dargestellt. Wegen der tetraedrischen Anordnung der Bindungs-
orbitale am α-C-Atom kommen zwei stereoisomere Formen des
Alanins vor, die sich wie Bild und nicht deckungsgleiches Spiegel-
bild verhalten. Beim L-Alanin steht in der üblichen Darstellungs-
weise die Aminogruppe links vom α-C-Atom, wenn die Carb- . Abb. 3.12 Posttranslational modifizierte Aminosäuren
oxylgruppe nach oben zeigt. Alle proteinogenen Aminosäuren
sind L-α-Aminosäuren. Die Translationsmaschinerie (7 Kap. 48.2)
hat sich in der Evolution so entwickelt, dass nur L-α-Aminosäuren
für die Proteinsynthese Verwendung finden. Ein plausibler Grund Die meisten derartigen Seitenkettenmodifikationen sind irrever-
hat sich hierfür bisher nicht finden lassen. sibel. Reversible Modifikationen, wie z. B. die von Proteinkina-
Einige D-α-Aminosäuren (D-Alanin, D-Glutamin) kommen sen katalysierte Phosphorylierung, haben meist regulatorische
in bakteriellen Zellwänden (7 Kap. 16.2.4) und außerdem als Bedeutung (7 Kap. 33.4.1 und 35).
Bestandteile mancher Antibiotika und Pilzgifte vor.
Viele nicht-proteinogene Aminosäuren
werden im Rahmen des Aminosäurestoffwechsels
3.3.3 Nicht-proteinogene Aminosäuren gebildet
Nicht-proteinogene Aminosäuren sind häufig Derivate von pro-
Bestimmte Aminosäuren werden posttranslational teinogenen Aminosäuren mit bestimmten Stoffwechselfunktio-
modifiziert nen (7 Kap. 27).
Einige Aminosäuren sind das Produkt von Modifikationen an
den Seitenketten proteinogener Aminosäuren wie Phosphorylie- Beispiele hierfür sind:
rung, Hydroxylierung, Methylierung, Acetylierung, γ-Carboxy- 4 Ornithin und Citrullin als Intermediate der Harnstoffsyn-
lierung oder intramolekulare Cyclisierung. Diese Modifikatio- these
nen finden erst nach dem Einbau der proteinogenen Aminosäu- 4 Homocystein als Zwischenprodukt im Stoffwechsel der
ren in Proteine statt. Beispiele von modifizierten Aminosäuren proteinogenen Aminosäure Methionin
sind (. Abb. 3.12): 4 3,4-Dihydroxyphenylalanin (DOPA) als Vorstufe von Pig-
4 Pyroglutamat menten und biogenen Aminen
4 γ-Carboxyglutamat 4 γ-Aminobutyrat (GABA) als Neurotransmitter
4 γ-Hydroxyprolin und δ-Hydroxylysin
4 N-ε-Acetyllysin
4 Phosphoserin, Phosphothreonin und Phosphotyrosin
(. Abb. 33.6)

Pyro-(Cyclo-)-Glutamat# γ-Carboxy-Glutamat# γ-Hydroxy-Prolin# δ-Hydroxy-Lysin# N-ε-Acetyl-Lysin#


42 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

3.3.4 Aminosäuren als Ampholyte


. Tab. 3.10 pKS-Werte von Aminosäuren. (Nach Fersht 1999)
Aminosäuren haben amphotere Eigenschaften
Dissoziierbare Gruppe pKS-Werte freier pKS-Werte im
Die NH2-Gruppen von Aminosäuren sind Protonenakzeptoren, Aminosäuren Proteinverband
ihre COOH-Gruppen Protonendonoren. Aminosäuren haben
damit die Eigenschaften sowohl von Basen als auch von Säuren, -COOH-Gruppe 1,8–2,4 2–5,5
3 d. h. sie gehören zu den amphoteren Verbindungen (7 Kap. 1.4). -NH2-Gruppe 8,8–10,5 ca. 8
Die pKS-Werte (7 Kap. 1.4) der α-Carboxylgruppen von Amino-
COOH-Gruppe der Aspartat- 3,9 2–5,5
säuren liegen im Bereich von 2, die der α-Aminogruppen um Seitenkette
9–10 (. Tab. 3.10). Auch die Aminosäureseitenketten haben häu-
COOH-Gruppe der Gluta- 4,1 2–5,5
fig dissoziierbare Gruppen (. Tab. 3.10). mat-Seitenkette
Im Proteinverband hängen die pKS-Werte aller dissoziierba-
NH2-Gruppe der Lysin- 10,8 ca. 10
ren Gruppen stark von der molekularen Umgebung durch die
Seitenkette
benachbarten Seitenketten ab (. Tab. 3.10). Protonierungsvor-
gänge innerhalb eines Proteins spielen bei der Enzymkatalyse NH2-Gruppe der Arginin- 12,5
Seitenkette
eine herausragende Rolle (7 Kap. 7.5).
Wie aus . Tab. 3.10 ersichtlich wird, liegen die meisten OH-Gruppe von Tyrosin 9,1 9–12
pKS-Werte der dissoziierbaren Gruppen von Aminosäuren deut- SH-Gruppe von Cystein 8,4 8–11
lich außerhalb des physiologischen pH-Wertes von 7,0–7,4
NH-Gruppe im Imidazolring 6 5–8
(7 Kap. 66.1.2). Eine Ausnahme stellt das Histidin dar, dessen von Histidin
Imidazolring ein protonierbares N-Atom mit einem pKS-Wert
von ungefähr 6 enthält. Tatsächlich tragen deswegen Proteine
mit ihren Histidinresten wesentlich zur Pufferkapazität im Kör-
per bei. seine α-Aminogruppe schon deprotoniert ist, die endständige
ε-Aminogruppe aber noch ein Proton gebunden hat. In diesem Fall
Der Ladungszustand von Aminosäuren liegt der pI zwischen den pKS-Werten der beiden Aminogruppen.
ist abhängig vom pH-Wert
Der Zusammenhang zwischen dem pH-Wert einer Lösung und
dem Dissoziationsgrad von Säure- und Basengruppen wird Zusammenfassung
durch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschrieben Formal sind Aminosäuren Derivate von Fettsäuren, die am
(7 Kap. 1.5). Danach gilt, dass die α-Carboxyl- und α-Amino- α-C-Atom eine Aminogruppe tragen. Nach der Wasserlös-
gruppen von Aminosäuren in den pH-Bereichen ihrer jeweiligen lichkeit ihrer Seitenketten kann zwischen hydrophilen und
pKS-Werte zu 50 % dissoziiert vorliegen. Laut . Tab. 3.10 ist das hydrophoben Aminosäuren unterschieden werden.
für die α-Carboxylgruppen bei pH = 1,8–2,4 und für die Aminosäuren sind amphotere Verbindungen (Ampholyte).
α-Aminogruppen bei pH = 8,8–10,5 der Fall. Wie in . Abb. 3.13 Bei neutralem pH-Wert liegen ihre Carboxyl- und Amino-
für die Aminosäure Valin dargestellt, sind die α-Carboxylgruppen gruppen in der Regel im geladenen Zustand vor. Die 22 pro-
bei pH-Werten unterhalb ihres pKS-Wertes von ca. 2,3 weitge- teinogenen Aminosäuren sind die primären Proteinbau-
hend protoniert (–COOH) und Valin liegt damit positiv geladen steine. Nicht-proteinogene Aminsosäuren entstehen durch
vor. Bei Anstieg des pH-Wertes über den pKS der α-Carboxyl- Modifikationen an den Seitenketten proteinogener Amino-
gruppe dissoziiert diese und Valin nimmt zunehmend eine zwit- säuren oder sie spielen eine spezifische Rolle im Amino-
terionische Form an. Der pH-Wert, bei dem alle Valinmoleküle säurestoffwechsel (z. B. Harnstoffzyklus).
je eine positive (–NH3+)- und eine negative (–COO–)-Gruppe
besitzen, wird als isoelektrischer Punkt (pI, IP, IEP) bezeichnet
(7 Kap. 5.2.5). Für Valin liegt dieser beim Mittelwert aus seinen
beiden pKS-Werten (ca. 2,3 und 9,7), also bei pH = 6.0 (. Tab. 3.4 Nucleotide
3.9). Steigt der pH über den pI von 6,0 hinaus, wird die
α-Aminogruppe zunehmend deprotoniert, bis Valin bei pH- 3.4.1 Struktur von Nucleosiden und Nucleotiden
Werten oberhalb des pKS seiner α-Aminogruppe (ca. 9,7) nur
noch die negative Ladung der COO–-Gruppen trägt. Nucleotide sind die Bausteine der Nucleinsäuren DNA (deoxyri-
Anders verlaufen die Titrationskurven von Aminosäuren, die bonucleic acid) und RNA (ribonucleic acid) (7 Kap. 10), die dem-
zusätzliche Carboxyl- oder Aminogruppen in ihren Seitenketten zufolge auch als Polynucleotide bezeichnet werden.
tragen. Dies wird in . Abb. 3.13 an den Beispielen von Glutamat Wie aus . Abb. 3.14 hervorgeht, sind Nucleotide aus drei
und Lysin gezeigt. Glutamat hat dann keine Nettoladung, wenn die verschiedenen Komponenten aufgebaut:
α-Carboxylgruppe schon dissoziiert, die endständige γ-Carboxyl- 4 einer stickstoffhaltigen, heterozyklischen Base, entweder
gruppe aber noch protoniert vorliegt. Der pI von Glutamat ent- einem Purin- oder Pyrimidinderivat,
spricht also dem Mittelwert aus den pKS-Werten der beiden Car- 4 einer Pentose, entweder Ribose oder Desoxyribose,
boxylgruppen. Analog ist Lysin dann elektrisch neutral, wenn 4 einem oder mehreren Phosphatresten.
3.4 · Nucleotide
43 3

. Abb. 3.13 Ladungsverhalten der Aminosäuren Valin, Glutamat und Lysin in Abhängigkeit vom pH-Wert
44 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

Nucleotide ohne Phosphatreste werden als Nucleoside be-


zeichnet.

Die Basen der Nucleotide


sind Purin- oder Pyrimidinderivate
Die häufigsten in Nucleotiden und Nucleosiden vorkommen-
3 den Purinbasen sind Adenin (A) und Guanin (G), die häufigs-
ten Pyrimidinbasen Cytosin (C), Thymin (T) und Uracil (U)
(. Tafel IV.1):
4 Thymin kommt überwiegend in DNA vor,
4 Uracil physiologischerweise nur in RNA, . Abb. 3.14 Aufbau von Nucleosiden und Nucleotiden
4 Cytosin, Adenin und Guanin sind Bestandteile von DNA
wie auch von RNA.

Darüber hinaus kommen vor allem in ribosomalen RNAs und in


Transfer-RNAs (7 Kap. 10.4 und 48.1.2) sog. seltene Purin- und
Pyrimidinbasen vor. Häufig handelt es sich hierbei um chemisch
veränderte Basen, deren Modifikation (z. B. Methylierung) erst
posttranskriptional erfolgt. Zu den seltenen Basen von Transfer-
RNAs gehört auch das Pseudouridin (s. u.).
. Abb. 3.15 Keto-Enol-Tautomerie von Thymin
Oxopurine und Oxopyrimidine zeigen das Phänomen der
Keto-Enol-Tautomerie, wie in . Abb. 3.15 am Beispiel des Thy-
mins dargestellt ist. Das Gleichgewicht liegt dabei stark auf der
Seite der Ketoform. Für die korrekte Informationsübertragung
bei Replikation und Transkription (7 Kap. 44 und 46) muss die
Ketoform vorliegen, da durch die Enolform Fehlablesungen
zustande kommen können.

Zuckerbestandteile der Nucleotide


sind Ribose oder Desoxyribose
Als Zuckerbestandteil finden sich in Mono- bzw. Polynucleoti-
den und in Nucleosiden ausschließlich die Pentosen D-Ribose
bzw. die am C-Atom 2 reduzierte Pentose 2-Desoxy-D-Ribose . Abb. 3.16 Pseudouridin
(. Tafel IV.2). Dementsprechend werden Nucleoside in Ribo-
bzw. Desoxyribonucleoside und Nucleotide in Ribo- bzw.
Desoxyribonucleotide eingeteilt.
tose; 3’-Nucleotide kommen als Hydrolyseprodukte von einzel-
In Nucleotiden und Nucleosiden ist die nen Nucleasen vor (. Tafel IV.3). Die Nomenklatur der Nucleotide
Base durch eine N-glycosidische Bindung mit der wird aus . Tab. 3.11 ersichtlich. In . Tafel IV.3 sind die Strukturen
Pentose verknüpft einiger häufiger Mononucleotide dargestellt.
Zwischen der halbacetalischen Hydroxylgruppe am C-Atom 1’
einer Pentose (Ribose bzw. Desoxyribose) und einem N-Atom
der heterozyklischen Purin- oder Pyrimidinbasen kommt es zur 3.4.2 Rolle von Nucleosiden und Nucleotiden
Ausbildung einer typischen N-glycosidischen C-N-Bindung. Im im Stoffwechsel
Allgemeinen binden die Purinbasen über das N-Atom 9, die Py-
rimidinbasen über das N-Atom 1 an das C-Atom 1’ der Ribose Nucleoside entstehen im Intestinaltrakt beim
(. Tafel IV.3). Eine ungewöhnliche C-C-Bindung findet sich bei Abbau der Nucleinsäuren der Nahrung und in den
dem seltenen Nucleosid Pseudouridin (Ψ), bei dem die Ribose Geweben beim Abbau von Nucleotiden
mit dem C-Atom 5 von Uracil verbunden ist (. Abb. 3.16). Nucleoside entstehen im Intestinaltrakt bei der Verdauung der
Die Benennung der Nucleoside ist in . Tab. 3.11 zusammen- in den Nahrungsstoffen enthaltenen Nucleinsäuren, sind jedoch
gestellt. Generell gilt, dass bei Pyrimidinbasen meist die Endung zum Teil auch in erheblicher Konzentration bereits in bestimm-
–idin, bei Purinbasen die Endung –osin angehängt wird. ten Nahrungsmitteln enthalten. Besonders nucleosidreich ist
z. B. die Muttermilch. Durch spezifische Transportsysteme im
Nucleotide sind die Phosphatester von Nucleosiden Intestinaltrakt werden diese Nucleoside resorbiert. Sie dienen
Durch Veresterung einer Hydroxylgruppe der Pentose eines Nu- hauptsächlich der Synthese von Nucleotiden und Nucleinsäuren,
cleosids mit Phosphat entsteht aus einem Nucleosid ein Nucleo- vor allem in den Epithelzellen des Intestinaltraktes. Diese Funk-
tid (. Abb. 3.14). Die Veresterung erfolgt am C-Atom 5’ der Pen- tion ist besonders bei Säuglingen von Bedeutung. Purinnucleo-

Nucleosidmonophosphat#
3.4 · Nucleotide
45 3

. Tab. 3.11 Nomenklatur von Nucleosiden und Nucleotiden

Base Nucleosida Nucleotidb Abkürzungc

Adenin Adenosin Adenosin-5’-Mono- A


phosphat (AMP)

Guanin Guanosin GMP G

Uracil Uridin UMP U

Thymin Thymidin dTMPd T

Cytosin Cytidin CMP C

Hypoxanthin Inosin IMP I . Abb. 3.17 3’-Phosphoadenosyl-5’-Phosphosulfat (PAPS). Der aktivierte


Sulfatrest ist rot hervorgehoben
Xanthin Xanthosin XMP X
a Aufgelistet sind die Ribonucleoside; Desoxyribonucleoside werden
entsprechend als Desoxyadenosin etc. bezeichnet.
b Neben den aufgeführten Nucleosidmonophosphaten gibt es Di-
und Triphosphate (z. B. ADP, ATP).
c Die Einbuchstabenabkürzungen werden wahlweise für Basen,
Nucleoside und Nucleotide (z. B. bei der Notierung von DNA- bzw.
RNA-Sequenzen) verwendet.
d Als DNA-Baustein liegt TMP nur als Desoxynucleotid vor.

side und hierbei besonders das Adenosin spielen eine wichtige


Rolle als extrazelluläre Signalmoleküle. Adenosin führt zu einer . Abb. 3.18 Cytidindiphosphat-Cholin
Relaxation der glatten Gefäßmuskulatur und steigert die Durch-
blutung vieler Gewebe.
Die Tatsache, dass viele Zellen spezifische Transportsysteme
(Carrier) für die Aufnahme von Nucleosiden besitzen, hat erheb- gie für alle zellulären Aktivitäten, z. B. Biosynthesen, Trans-
liche medizinische Bedeutung. Derartige Carrier sind nämlich portvorgänge oder Motilität.
imstande, auch chemisch modifizierte Nucleoside aufzunehmen 4 Sie sind die aktivierten Vorstufen für die DNA- und RNA-
und dann intrazellulär in die entsprechenden Nucleosidtriphospha- Biosynthese (7 Kap. 44 und 46).
te umzuwandeln. Diese dienen dann häufig als Hemmstoffe der 4 Nucleosidtriphosphate sind an der Regulation zahlreicher
Purin- bzw. Pyrimidinsynthese und der Nucleinsäuresynthese. enzymatischer Reaktionen beteiligt (Proteinkinasen 7 Kap.
Deshalb werden derartige Verbindungen zur Therapie von Tumor- 33.4.1, G-Proteine 7 Kap. 33.4.4).
oder Viruserkrankungen eingesetzt (7 Kap. 31.1.1). 4 Nucleotide bilden die für viele Biosynthesen benötigten ak-
tivierten Zwischenprodukte. Beispiele sind UDP-Glucose
Nucleotide sind Träger energiereicher für die Glycogenbiosynthese, 3’-Phosphoadenosyl-5’-Phos-
Phosphatbindungen phosulfat für Sulfatierungen (. Abb. 3.17), CDP-Cholin
Durch Anlagerung weiterer Phosphatmoleküle entstehen aus (. Abb. 3.18) für die Phospholipidsynthese und das Amino-
Nucleosidmonophosphaten Nucleosiddiphosphate und acyl-Adenylat für die Proteinbiosynthese (7 Kap. 48.1.3).
Nucleosidtriphosphate. Eine besondere Bedeutung als univer- 4 Adeninnucleotide sind Bestandteile der Coenzyme
seller Energiedonor für eine Vielzahl von Reaktionen hat das in 5 Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid (NAD+)
. Tafel IV.3 dargestellte Adenosin-5’-Triphosphat (ATP). Die 5 Flavin-Adenin-Dinucleotid (FAD)
Bindung zwischen dem α- und β- sowie dem β- und γ-Phosphat 5 Coenzym A (CoA-SH) (7 Kap. 59.6)
des ATP ist energiereich, da es sich jeweils um eine Phosphor-
säureanhydridbindung handelt. Nucleosidcyclophosphate sind intrazelluläre
Signalmoleküle
Nucleotide sind an einer Vielzahl biochemischer Wichtige Derivate von ATP und GTP sind das cyclische Adeno-
Prozesse beteiligt sin-3’,5’-Monophosphat ’,5’-cyclo-AMP, cAMP, . Tafel IV.3)
Nucleotide haben eine außerordentliche Bedeutung für die Auf- und das cyclische Guanosin-3’,5’-Monophosphat ’,5’-cyclo-
rechterhaltung der Lebensvorgänge in Zellen, da sie an vielen GMP, cGMP . Beide Nucleotide entstehen intrazellulär unter Py-
entscheidenden biochemischen Vorgängen beteiligt sind: rophosphatabspaltung durch die Einwirkung spezifischer Cycla-
4 Sie sind universelle Energieträger, da durch Substratket- sen. Sie dienen als intrazelluläre Signalmoleküle second messen-
tenphosphorylierung und bei der oxidativen Phosphorylie- ger) und haben wichtige Funktionen bei der Regulation von
rung ATP oder GTP entstehen. Diese liefern dann die Ener- Zellstoffwechsel, Wachstum und Differenzierung (7 Kap. 33.4.2).
46 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

Zusammenfassung
Nucleoside bestehen aus je einer von vier Basen, die über
N-glycosidische Bindungen mit Ribose bzw. Desoxyribose
verknüpft sind.
Durch Veresterung der Hydroxylgruppe, in der Regel am
3 C-Atom 5’ der Ribose bzw. Desoxyribose, mit Phosphorsäure
werden aus Nucleosiden die entsprechenden Nucleotide
gebildet.
Durch die Anlagerung weiterer Phosphate entstehen aus
Nucleosidmonophosphaten die entsprechenden Di- und Tri-
phosphate. Sie enthalten energiereiche Phosphorsäure-
anhydridbindungen, deren Hydrolyse endergone Reaktio-
nen ermöglicht.
Durch Verbindungen mit Nucleosiddiphosphaten werden
Zwischenprodukte des Intermediärstoffwechsels aktiviert.

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Tafeln Kohlenhydrate
47 3

Tafelteil

I. 1 Häufige Monosaccharide I .2 Glucose

. Tafel I.2 Anomerie der Glucose. Oben: offene Kette; Mitte: in wässriger Lö-
sung erfolgt durch Reaktion der C-Atome 1 und 5 der Glucose die Ausbildung
eines intramolekularen Halbacetals (Pyranosering). Dadurch entsteht am C-
Atom 1 ein weiteres Asymmetriezentrum mit den beiden Anomeren (Diaste-
reomeren) α-D- und β-D-Glucose. Unten: Die thermodynamisch begünstigten
Sesselformen der beiden Anomeren

. Tafel I.1 Häufige Monosaccharide. Die in Form ihrer β-Anomeren


(Diastereomeren) dargestellten Monosaccharide werden nicht nur zur
Energiegewinnung abgebaut, sondern auch zum Aufbau von Oligo- und
Polysacchariden verwendet

β-D-Glucose# β-D-Galactose# β-D-Mannose# β-D-Fructose# Neuraminsäure# β-D-N-Acetyl-Glusosamin#


β-D-N-Acetyl-Galactosamin# β-D-N-Acetyl-Mannosamin# L-Fucose# α-D-Glucose# β-D-Glucose#
48 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

. Tafel I.3 Struktur wichtiger Disaccharide. Bei Disacchariden vom Mal-


tosetyp (Maltose, Lactose) ist die glycosidische Bindung zwischen dem
I .3 Struktur wichtiger Disaccharide
Halbacetal-C-Atom 1 eines Zuckermoleküls und einer alkoholischen Hydro-
xylgruppe des zweiten Zuckermoleküls geknüpft. Diese Disaccharide ent-
halten noch eine freie halbacetalische Hydroxylgruppe. Dadurch haben sie
reduzierende Eigenschaften und können weitere glycosidische Bindungen
eingehen. Dies ist bei Disacchariden vom Trehalosetyp (Trehalose, Saccha-
3 rose) nicht der Fall, da hier die glycosidische Bindung zwischen zwei halb-
acetalischen Hydroxylgruppen ausgebildet wurde

I .5 Struktur der wichtigsten Glycosaminoglycane

I .4 Aufbau von Stärke und Glycogen

. Tafel I.4 A, B Aufbau von Stärke und Glycogen. A Amylose. Die


Glucosereste sind wie bei der Maltose durch α-(1 4)-glycosidische Bin-
dungen verknüpft. B Amylopectin und Glycogen. Sie bestehen ebenfalls
aus glycosidisch verknüpften Glucoseresten, enthalten jedoch zusätzlich
Verzweigungsstellen über die Hydroxylgruppe am C-Atom 6 (α-(1 6)- . Tafel I.5 Struktur der wichtigsten Glycosaminoglycane. Die funktio-
glycosidische Bindung) nellen Gruppen sind rot hervorgehoben

α-Glucosyl-(1 4)-Glucosid# Maltose# β-Galactosyl-(1 4)-Glucosid# Lactose# α-Glucosyl-(1 1)-α-Glucosid# Trehalose# α-Glucosyl-(1 2)-β-
Fructosid# Saccharose# Amylose# Amylopectin# Glycogen# Hyaluronsäure# Chondroitin-6-Sulfat# Chondroitin-4-Sulfat# Dermatansulfat#
Tafeln Lipide
49 3
. Tafel I.6 A, B Glycoproteine mit O- bzw. N-glycosidisch verknüpften
Zuckerresten. A Bei O-glycosidisch verknüpften Glycoproteinen erfolgt die
I .6 Glycoproteine mit O- bzw. N-glycosidisch Bindung eines Zuckermoleküls an die Hydroxylgruppe eines Serin- bzw. sel-
verknüpften Zuckerresten tener Threoninrestes. B Bei N-glycosidisch verknüpften Glycoproteinen er-
folgt die Bindung über die NH2-Gruppe eines Asparaginrestes
A B

I I.1 Aufbau von Fettsäuren

. Tafel II.1 Aufbau von Fettsäuren. Links: Beispiele einer gesättigten und einer einfach ungesättigten Fettsäure in der cis- und trans-Konformation (Z- bzw. E-
Isomere). Die Kohlenstoffatome von Fettsäuren werden, beginnend mit der Carboxylgruppe, mit arabischen Ziffern nummeriert. Ein alternatives Zählverfahren
benennt die einzelnen CH2-Gruppen von Fettsäuren mit griechischen Buchstaben. Die der Carboxylgruppe benachbarte CH2-Gruppe wird mit α bezeichnet,
die nächstfolgende mit β usw. Die CH3-Gruppe am Ende einer Fettsäure ist immer das ω-C-Atom. Die Stellung einer Doppelbindung in einer Fettsäure wird
durch ein Delta angegeben (Δ). So bezeichnet Δ9 eine Doppelbindung zwischen den C-Atomen 9 und 10 einer Fettsäure. Doppelbindungen in cis-Konforma-
tion führen zu einem Knick in der Alkankette. Fast alle in der Natur vorkommenden ungesättigten Fettsäuren liegen in der cis-Konformation vor. Rechts: wich-
tige ungesättigte Fettsäuren. Sind zwei oder mehr Doppelbindungen in einer Fettsäure enthalten, so sind diese immer durch zwei C-C-Bindungen getrennt, es
handelt sich also um isolierte Doppelbindungen
Serin# Asparagin# N-Acetyl-Galactosamin# N-Acetyl-Glucosamin# gesättigte Fettsäuren# Stearinsäure# Octandecansäure# ungesättigte Fettsäuren# Ölsäure#
<k>cis<kk>-Δ^9^^-Octandecensäure# Elaidinsäure# <k>trans<kk>-Δ^9^^-Octandecensäure# Ölsäure# <k>cis<kk>-Δ^9^^-Octadecensäure# Linolsäure#
<k>cis<kk>-Δ^9,12^^-Octadiensäure# α-Linolensäure# <k>cis<kk>-Δ^9,12,15^^-Octatriensäure# Arachidonsäure# <k>cis<kk>-Δ^5,8,11,14^^-Eicosatetraensäure#
50 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

. Tafel II.2 Tripalmitoylglycerin als Beispiel für ein Triacylglycerin. Die


Fettsäurereste (Acylreste) sind schwarz, der Glycerinanteil blau dargestellt.
I I.2 Tripalmitoylglycerin
Gemischte Triacylglycerine mit Fettsäuren verschiedener Kettenlänge und
als Beispiel für
unterschiedlichem Sättigungsgrad kommen allerdings in tierischen Gewe-
ein Triacylglycerin
ben wesentlich häufiger vor. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren finden sich
dabei häufig in der Position 2 von Glycerin

I I.3 Aufbau von Phosphoglyceriden

. Tafel II.3 Aufbau von Phosphoglyceriden. Wie bei Triacylglycerinen ist das Rückgrat der Phosphoglyceride der dreiwertige Alkohol Glycerin. Zwei der
Hydroxylgruppen des Glycerins sind mit langkettigen Fettsäuren verestert (zur Vereinfachung in der Abbildung Myristylreste), die dritte mit Phosphorsäu-
re. Deshalb können Phosphoglyceride auch als Derivate des Glycerin-3-Phosphats angesehen werden. Die Ketten der Fettsäuren sind für die hydrophoben,
die übrigen Teile der Phosphoglyceride für die hydrophilen Eigenschaften verantwortlich. Phosphatidsäure (Phosphatidat) kommt im Wesentlichen nur als
Zwischenprodukt bei der Synthese von Triayclglycerinen und Phosphoglyceriden vor. Alle anderen Phosphoglyceride sind Phosphorsäurediester, da der
Phosphatrest der Phosphatidsäure mit einem weiteren Alkohol verknüpft ist

Phosphatatidat# Phosphatidylcholin# Phosphatidylethanolamin# Phosphatidylserin# Phosphatidylinositol#


Tafeln Aminosäuren
51 3

I I.4 Sphingolipide B

A C

. Tafel II.4 Sphingolipide. A Sphingolipide sind Verbindungen des Aminodialkohols Sphingosin. Wenn die Aminogruppe des Sphingosins mit einer Fett-
säure in Säureamidbindung verknüpft ist, entsteht Ceramid. B Sphingomyeline tragen an der endständigen Hydroxylgruppe des Ceramidanteils einen
Phosphorylcholin- oder einen Phosphorylethanolaminrest. Häufig kommen ungesättigte Fettsäuren vor, u.a. die Lignocerinsäure mit 24 C-Atomen und ihre
ungesättigten Derivate. Im Gegensatz zum Sphingomyelin ist bei den Cerebrosiden die terminale Hydroxylgruppe des Ceramids glycosidisch an das C-
Atom 1 einer Galactose oder Glucose gebunden (Galactosyl- bzw. Glucosylceramid). Sulfatide sind Cerebroside, bei denen der Galactosylrest am C-Atom 3
mit Schwefelsäure verestert ist. C Ganglioside enthalten anstelle eines Monosaccharids einen komplexen, häufig verzweigten Oligosaccharidanteil. Als
Kohlenhydratreste kommen Glucose, Galactose, Galactosamin und N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure) vor. Das abgebildete Gangliosid GM-1 ist eines von
etwa 60 Mitgliedern dieser Lipidklasse. Alle kohlenhydrathaltigen Sphingolipide werden unter dem Begriff Glycosphingolipide zusammengefasst

I I.5 Isoprenderivate

. Tafel II.5 Isoprenderivate. Durch Polymerisation von Isoprenresten entstehen einkettige Moleküle, die zyklisieren können. Steroide sind zyklische
Isoprenderivate, die sich vom Steran (die ersten 17 C-Atome von Cholesterin ohne die Doppelbindung) ableiten

Sphingosin# Ceramid# N-Acylsphingosin# Sphingomyelin# Galactosylcerebrosid# D-Galactose# N-Acetyl-D-Galactosamin# D-Galactose# D-Glucose# Ceramid#
N-Acetylneuraminsäure# Sialinsäure# Gangliosid GM-1# Isopren# Dolichol# Retinal# Cholesterin# β-Sitosterol# Ergosterol#
52 Kapitel 3 · Kohlenhydrate, Lipide, Aminosäuren und Nucleotide – Bausteine des Lebens

III Proteinogene Aminosäuren

. Tafel III Proteinogene Aminosäuren. Die Aminosäuren sind nach chemischen Eigenschaften ihrer Seitenketten geordnet. Unter den Formeln
stehen jeweils die Trivialnamen sowie die 3- und 1-Buchstabenabkürzungen.
* Glycin besitzt keine eigentliche Seitenkette und wird deswegen oft als eigene Gruppe betrachtet.
** Tryptophan kann auch zu den Aminosäuren mit polarer Seitenkette gerechnet werden (s. Hydrophathieindex in . Tab. 3.9)

Aminosäuren# Seitenketten# apolare# Glycin# Alanin# Valin# Leucin# Isoleucin# Methionin# Prolin# Aminosäuren# Seitenketten# ungeladene polare#
Phenylalanin# Tryptophan# Tyrosin# Serin# Threonin# Cystein# Selencystein# Aminosäuren# Seitenketten# saure# Aminosäuren# Seitenketten# basische#
Asparagin# Glutamin# Aspartat# Glutamat# Lysin# Arginin# Histidin#
Tafeln Nucleotide
53 3

I V.1 Pyrimidin- und Purinderivate I V.3 Nucleotide

I V.2 Ribose und Desoxyribose

. Tafel IV.1 Pyrimidin- und Purinderivate. Uracil, Thymin, Cytosin, Adenin und Guanin
sind die wichtigsten Basen von DNA und RNA. Orotsäure, Xanthin, Hypoxanthin und Harn-
säure sind Zwischenprodukte bei deren Synthese und Abbau

. Tafel IV.2 Ribose und Desoxyribose. Nur wenn diese Zucker Bestandteile von Nucleo-
tiden und Nucleosiden sind, werden ihre C-Atome mit apostrophierten Zahlen markiert
(1’ etc. s. . Tafel IV.3)

. Tafel IV.3 Nucleotide. ATP, CDP und dTMP als Beispiele für ein Nucleosid-5’-Triphosphat,
ein Nucleosid-5’-Diphosphat und ein Nucleosid-5’-Monophosphat. Als DNA-Baustein ist
dTMP ein Vertreter der Desoxynucleotide. Die zyklischen Nucleosidmonophosphate cAMP
und cGMP kommen als second messenger vor. Nucleosid-3’-Monophosphate, wie das abge-
bildete 3’-GMP, entstehen als Spaltprodukte bestimmter Nucleasen aus Nucleinsäuren
Uracil# Adenin# Thymin# Guanin# Cytosin# Xanthin# Orotsäure# Hypoxanthin# Harnsäure# D-Ribose# 2-Desoxy-D-Ribose# Adenosin-5’-Triphosphat (ATP)#
Cytosin-5’-Diphosphat (CDP)# Desoxythymidin-5’-Monophosphat (dTMP)# cyklisches Adenosin-3’,5’-Monophosphat (3’,5’-cyclo AMP, cAMP)# cAMP (cyklisches Adenosin-3’,5’-
Monophosphat)# Guanosin-3’-Monophosphat (3’-GMP)#
4 Bioenergetik
Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger

4
Einleitung tisch-autotroph gebildeter komplexer organischer Moleküle
(Kohlenhydrate, Fette, Proteine).
Die Stoffwechselprozesse in Lebewesen folgen denselben physikalisch-
chemischen Gesetzmäßigkeiten, die auch in der unbelebten Natur wirk- Die Hauptsätze der Thermodynamik beschreiben
sam sind. Der Energieaustausch eines Organismus mit seiner Umgebung die Erhaltung und Transformation von Energie
lässt sich durch die Hauptsätze der Thermodynamik beschreiben. Auf Die Gesetzmäßigkeiten der Energieerhaltung und der Energie-
diese Weise ist es möglich vorauszusagen, ob eine biochemische Reak- transformation sind in den Hauptsätzen der Thermodynamik
tion freiwillig (spontan) abläuft oder nicht. formuliert. Eine thermodynamische Analyse erfordert, zwischen
einem System und seiner Umgebung zu unterscheiden. Unter
Schwerpunkte einem System ist das im Zentrum der Betrachtung stehende Ob-
jekt, z. B. eine Zelle, zu verstehen. Seine Umgebung besteht (for-
4 Lebewesen als thermodynamisch offene Systeme, die sich
mal) aus dem Rest des Universums. Ein System kann offen, ge-
nie im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung befinden
schlossen oder abgeschlossen (isoliert) sein. Offene Systeme
4 Freie Enthalpie als thermodynamische Zustandsgröße und
können Materie und Energie mit der Umgebung austauschen,
Triebkraft biochemischer Reaktionen
während geschlossene Systeme nur zum Energieaustausch befä-
4 Energietransformation, endergone und exergone Reaktionen
higt sind. Abgeschlossene Systeme tauschen weder Energie noch
und energetische Kopplung
Materie mit der Umgebung aus.
4 Verbindungen mit hohem Gruppenübertragungspotenzial
(energiereiche Verbindungen)
Erster Hauptsatz der Thermodynamik:
4 Adenosintriphosphat (ATP) als Überträger Freier Enthalpie
Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden
im Zellstoffwechsel
Innere Energie Während eines physikalischen oder chemischen
Vorganges können offene und geschlossene Systeme Energie an
die Umgebung abgeben oder von ihr aufnehmen. Dies kann durch
4.1 Thermodynamische Grundlagen Wärmeaustausch (ΔQ) und/oder dadurch geschehen, dass das
System Arbeit leistet bzw. Arbeit am System geleistet wird (ΔA).
Die Energie zur Aufrechterhaltung Die Folge eines Austausches von Wärme bzw. Arbeit ist eine Än-
der Lebensvorgänge auf unserem Planeten derung der inneren Energie (ΔU) des Systems. Entsprechend gilt:
entstammt der Sonnenstrahlung
Das Leben auf der Erde wird durch die in . Abb. 4.1 schematisch ΔU = ΔA + ΔQ (1)
dargestellten Energieflüsse und Energietransformationen er-
möglicht und bestimmt. Durch Kernfusion entsteht in der
Sonne Energie, die zu einem großen Teil in Form von Licht ab-
gestrahlt wird. Auf der Erde kann die Lichtenergie zur Biosyn-
these der verschiedenen Bausteine lebender Organismen ver-
wendet werden. Zu diesem als Photosynthese bezeichneten
Prozess sind chlorophyllhaltige Pflanzen und einige Mikroorga-
nismen befähigt. Die Leistung dieser photosynthetisch-auto-
trophen (altgriech. autotroph – »sich selbst ernährend«) Orga-
nismen besteht darin, mit Hilfe von Sonnenlicht biologische
Makromoleküle aus einfachen Substanzen wie Kohlendioxid
und Wasser herzustellen und gleichzeitig molekularen Sauer-
stoff zu erzeugen.
Ein anderes Stoffwechselprinzip ist bei den heterotrophen
(altgriech. heterotroph – »sich von anderen ernährend«) Organis-
. Abb. 4.1 Quelle der biochemischen Energie in lebenden Systemen
men verwirklicht, zu denen neben Bakterien, Pilzen und Tieren
und Energiefluss zwischen autotrophen und heterotrophen Organismen.
auch der Mensch gehört. Heterotrophe Organismen gewinnen Der Stoffwechsel autotropher und heterotropher Organismen führt zu
die zur Aufrechterhaltung ihrer Lebensfunktionen benötigte einem Entropieexport. Entropie kann sowohl in Form von Wärme als auch
Energie aus der sauerstoffabhängigen Oxidation photosynthe- in Form von Stoffen exportiert werden

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
4.1 · Thermodynamische Grundlagen
55 4
Es ist üblich, den Energiefluss vom System aus zu betrachten. Die ist. Die Entropie eines offenen Systems nimmt dann ab
Abgabe von Wärme bzw. die Leistung von Arbeit wird dabei mit (ΔSSystem < 0), wenn der Export von Entropie den Betrag der
einem negativen, die Aufnahme von Wärme bzw. von Arbeit mit Entropieproduktion im System übersteigt. Nach Erwin Schrö-
einem positiven Vorzeichen versehen. dinger (1944) besteht das Wesen des Stoffwechsels in einem
Entropieexport, dessen Betrag die Entropieerzeugung im Sys-
Reaktionsenthalpie tem übertreffen muss. Für diesen Entropieexport benötigen
Nach dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik muss eine Verringe- Organismen Energie, die sie ihrer Umgebung entnehmen. Erst
rung der inneren Energie bei der Oxidation komplexer organi- der Austausch von Energie und Materie mit der Umgebung
scher Moleküle mit einer Freisetzung von Energie in Form von ermöglicht die Entstehung und Erhaltung komplexer biologi-
Wärme bzw. Arbeit einhergehen. Die dabei gebildete Wärmemen- scher Systeme.
ge ist von der Art der Energieübertragung abhängig. Mit der En-
thalpie (H) wurde eine thermodynamische Zustandsgröße einge- Die Freie Enthalpie zeigt an, ob ein
führt, die den Energieumsatz bei konstantem Druck durch Eigen- biochemischer Prozess freiwillig (spontan)
schaften des Systems beschreibt. Die Änderung der Enthalpie ei- ablaufen kann oder nicht
ner Reaktion (Reaktionsenthalpie, ΔH) kann durch kalorimetrische Freie Enthalpie Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik gibt Ant-
Untersuchungen bestimmt werden. ΔH gibt die maximale Reak- wort auf die Frage nach der Freiwilligkeit des Ablaufes eines bio-
tionswärme an, die unter isobaren Bedingungen frei wird oder chemischen Prozesses. Bei der Anwendung des 2. Hauptsatzes
zugeführt werden muss. Exotherme Reaktionen (ΔH < 0) finden auf offene Systeme muss die Entropieänderung des Systems und
unter Wärmefreisetzung statt, während der Ablauf endothermer die der Umgebung betrachtet werden. In der Gibbs-Helmholtz-
Reaktionen (ΔH > 0) die Zufuhr von Wärme erfordert. Gleichung (Gleichung 3) wird mit der Freien Enthalpie (G) eine
thermodynamische Zustandsgröße eingeführt, die unter iso-
Spontan ablaufende Prozesse sind mit einer therm-isobaren Bedingungen stattfindende Veränderungen aus-
Zunahme der Entropie verbunden schließlich durch Veränderungen von Zustandsgrößen des Sys-
Entropie Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik liefert mit der tems beschreibt:
Energiebilanz eine Rahmenbedingung für physikalische Prozesse
und chemische Reaktionen. Er trifft jedoch keine Aussage darü- ΔG = ΔH – T · ΔS (3)
ber, ob ein Vorgang stattfindet und welcher von vielen möglichen
Zuständen gleicher Energie der wahrscheinlichste ist. Der von ΔH bezeichnet die Reaktionsenthalpie, T die absolute Tempera-
Rudolf Clausius bereits 1865 eingeführte Begriff der Entropie (S) tur und ΔS die Änderung der Entropie des Systems (Reaktions-
als Maß für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Zustan- entropie). Die thermodynamischen Zustandsgrößen ΔG, ΔH
des hat sich als ein wertvolles Instrument zur Beantwortung die- und ΔS einer Reaktion werden auf die umgesetzte Stoffmenge
ser Frage erwiesen. Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik besagt, bezogen und in der Maßeinheit kJ/mol angegeben.
dass in einem abgeschlossenen System nur solche Prozesse frei-
willig stattfinden, bei denen die Entropie zunimmt. Die Entropie Bei freiwillig ablaufenden Reaktionen ist
erreicht ihren Maximalwert, wenn das thermodynamische die Änderung der Freien Enthalpie negativ
Gleichgewicht erreicht ist. Ein einprägsames Beispiel für Prozesse, Eine Reaktion läuft unter isotherm-isobaren Bedingungen nur
die mit einer Zunahme der Entropie verbunden sind, ist der durch dann freiwillig ab, wenn die freie Reaktionsenthalpie ΔG einen
Diffusion eintretende Konzentrationsausgleich in zwei durch eine negativen Wert annimmt. Man bezeichnet eine solche Reaktion
permeable Membran voneinander getrennten Lösungen mit ini- als exergon. Nimmt ΔG einen positiven Wert an, liegt eine
tial unterschiedlicher Konzentration einer diffusiblen Substanz. endergone Reaktion vor, die nicht freiwillig stattfindet. Im
thermodynamischen Gleichgewicht ist ΔG = 0. Der Betrag von
Biologische Systeme sind notwendigerweise ΔG lässt erkennen, ob eine exergone Reaktion den Ablauf eines
thermodynamisch offene Systeme endergonen biologischen Prozesses – z. B. die Kontraktion eines
Ein strukturiertes System wie eine Zelle enthält im Vergleich zu Actomyosinkomplexes im Muskel – energetisch ermöglicht
einem homogenen System gleichartiger Zusammensetzung ein oder nicht. Die Begriffe »exergon« und »freiwillig« bzw. »spon-
geringeres Maß an Entropie. Diese Situation ist das Ergebnis ei- tan« bedeuten, dass eine Reaktion thermodynamisch möglich
nes Entropie-Exportes in Form von Wärme und/oder Stoffen ist. Sie erlauben keine Aussage über die Geschwindigkeit des
(. Abb. 4.1). Dabei kann man die Entropieänderung, die durch Reaktionsablaufes.
einen Prozess im System verursacht wird, in einen Anteil, der die
Veränderung der Entropie des Systems und in einen weiteren Die Änderungen der Freien Enthalpie sind additiv
Anteil, der die Veränderung der Entropie der Umgebung be- Da es sich bei der Freien Enthalpie um eine thermodynamische
schreibt, zerlegen: Zustandsgröße handelt, kann die Änderung der Freien Enthalpie
eines biochemischen Reaktionssystems als Summe der Ände-
ΔSGesamt = ΔSSystem + ΔSUmgebung (2) rungsbeträge der Freien Enthalpie der einzelnen Reaktions-
schritte berechnet werden. So ist der ΔG-Wert für die Oxidation
In einem offenen System läuft ein Prozess dann freiwillig (d. h. der Glucose zu CO2 und H2O unabhängig davon, ob diese
ohne Investition von Energie bzw. Arbeit) ab, wenn ΔSGesamt > 0 Umwandlung im Zellstoffwechsel durch eine Vielzahl von Ein-
56 Kapitel 4 · Bioenergetik

zelreaktionen erreicht wird oder ob sie durch direkte Verbren-


nung im Reagenzglas erfolgt. . Tab. 4.1 Standardpotenziale (E’0) biochemischer Redoxpaare
(Auswahl)
Die Änderung der Freien Enthalpie hängt von der
Korrespondierendes n (Anzahl übertra- E’0 (V)
Gleichgewichtskonstanten der Reaktion und von Redoxpaar gener Elektronen)
der Zusammensetzung des Reaktionsgemisches ab
Standardbedingungen Der Standardzustand ist ein hypotheti- ½ O2/O2– 2 +0,82
scher Referenzzustand, in dem alle Reaktionspartner bei einer Cytochrom a (Fe 3+/Fe2+) 1 +0,29
4 Temperatur von 25 °C und einem Druck von 1 bar in einer Kon-
Cytochrom c (Fe3+/Fe2+) 1 +0,22
zentration von 1 mol/l vorliegen. Eine unter diesen Bedingungen
erfolgende Veränderung der Freien Enthalpie trägt das Sym- Ubichinon/Ubihydrochinon 2 +0,10
(Ubichinol)
bol ∆G0 und wird als Freie Standardreaktionsenthalpie
bezeichnet. Da in biologischen Systemen viele Reaktionen bei Cytochrom b (Fe3+/Fe2+) 1 +0,08
neutralem pH-Wert stattfinden, wird in der Biochemie ein Dehydroascorbat/Ascorbat 2 +0,06
Standardzustand als Bezugssystem verwendet, für den eine
Fumarat/Succinat 2 +0,03
Protonenkonzentration von 10–7 mol/l (pH 7) und – einer Emp-
fehlung der IUBMB (International Union of Biochemistry and FMN/FMNH2 2 –0,12

Molecular Biology) folgend – auch die Ionenstärke und die Kon- NAD+/NADH + H+ 2 –0,32
zentrationen verschiedener Ionen festgelegt sind. Die Freie Stan- 2H+/H2 2 –0,42
dardreaktionsenthalpie unter »biochemischen Standardbedin-
gungen« wird mit dem Symbol ΔG’0 bezeichnet. ΔG0 und ΔG’0
unterscheiden sich u. a. dann, wenn Protonen als Substrat oder
Produkt der Reaktion auftreten. Freie Standardreaktionsenthalpie bei einer bestimmten Tempe-
ratur ein logarithmischer Ausdruck der Gleichgewichtskonstan-
Konzentrationsabhängigkeit der Freien Enthalpie Ausgangs- ten ist. Je stärker negativ ΔG’0 ist, desto größer ist die Gleichge-
punkt der Betrachtung ist eine Reaktion mit zwei Ausgangsstof- wichtskonstante K’ und umso mehr liegt das Reaktionsgleichge-
fen (A, B) und zwei Reaktionsprodukten (C, D): wicht auf der Seite der Reaktionsprodukte.

aA + bB cC + dD (4) Reduktions-Oxidations-Reaktionen Eine Vielzahl biochemi-


scher Reaktionen geht mit einer Elektronenübertragung einher.
Die Änderung der Freien Enthalpie (ΔG) dieser Reaktion wird
Reduktion und Oxidation finden dabei immer gleichzeitig statt
durch Gleichung 5 beschrieben:
und lassen sich als die Summe von zwei Halbreaktionen be-
⎛ [C]c ⋅ [D]d ⎞ schreiben. Man spricht deshalb von Redoxreaktionen. Das Re-
∆G = ∆G ¢0 + R ⋅ T ⋅ ln(Q R) mit Q R = ⎜ a ⎟ (5) duktionsmittel und dessen oxidierte Form sowie das Oxidations-
⎝ [A] ⋅ [B]b ⎠ mittel und dessen reduzierte Form bilden jeweils ein korrespon-
dierendes Redoxpaar. Liegen zwei korrespondierende Redox-
R ist die Gaskonstante (8,314 J mol–1 K–1), T die absolute Tempe- paare in einer Lösung nebeneinander vor, kann es zu einer
ratur. [A], [B], [C] und [D] bezeichnen die Konzentrationen der Elektronenübertragung vom Elektronendonor des einen Paares
Reaktionspartner. Die Freie Standardreaktionsenthalpie (ΔG’0) ist auf den Elektronenakzeptor des anderen Paares kommen. Die
eine reaktionsspezifische Konstante. Der Reaktionsquotient QR Richtung des Elektronenflusses wird dabei durch die Elek-
berücksichtigt die Abhängigkeit der Freien Enthalpie von der Zu- tronenaffinitäten der beteiligten Redoxpaare bestimmt, die
sammensetzung des Reaktionsgemisches. Wenn Wasser in biolo- durch Redoxpotenziale (E) quantitativ charakterisiert werden.
gischen Systemen als Reaktant auftritt, wird dessen Konzentrati- Elektronen fließen stets vom Redoxpaar mit dem negativeren
on (55,5 mol/l) durch die Reaktion nicht signifikant beeinflusst. zum Redoxpaar mit dem positiveren Redoxpotenzial. Das Be-
Deshalb wird in der Biochemie die H2O-Konzentration im Aus- zugssystem zum Vergleich von Elektronenaffinitäten verschiede-
druck für die Freie Standardreaktionsenthalpie berücksichtigt ner Redoxpaare ist die Standardwasserstoffelektrode. Redoxpo-
und nicht in den Reaktionsquotienten QR aufgenommen. tenziale von Redoxpaaren, die an dieses Bezugssystem Elektro-
nen abgeben (von diesem aufnehmen), erhalten ein negatives
Thermodynamisches Gleichgewicht Befindet sich eine Reaktion (positives) Vorzeichen. Misst man Redoxpotenziale unter bio-
im thermodynamischen Gleichgewicht (ΔG = 0), folgt aus Glei- chemischen Standardbedingungen, erhalten diese das Sym-
chung 5 die Beziehung: bol E’0. In . Tab. 4.1 sind die Standardpotenziale E’0 ausge-
wählter biochemischer Redoxpaare zusammengestellt.
(6)
Nernst-Gleichung Das für Redoxprozesse entscheidende aktuel-
le Redoxpotenzial (E) wird vom Standardpotential (E’0), aber
Der Reaktionsquotient QR entspricht dann der Gleichgewichts- auch von den Konzentrationen der oxidierten und reduzierten
konstanten K’ der Reaktion. Gleichung 6 demonstriert, dass die Form des korrespondierenden Redoxpaares (cox, cred) sowie von
4.2 · Energietransformation und energetische Kopplung
57 4
der Zahl der übertragenen Elektronen (n) und von der absoluten Glc + Pi + H+ Glc-6-P + H2O
Temperatur (T) bestimmt. Dieser Zusammenhang wird durch ΔG1’0 = +13,8 kJ/mol (9)
die Nernst-Gleichung beschrieben:
Das Vorzeichen der Freien Standardreaktionsenthalpie ΔG1’0
R ⋅T ⎛c ⎞ zeigt an, dass diese Reaktion unter Standardbedingungen nicht
E = E ¢0 + ⋅ ln ⎜ ox ⎟ (7)
spontan abläuft. Im Gegensatz dazu erfolgt die Hydrolyse von
n⋅F ⎝ cred ⎠
Adenosintriphosphat (ATP) zu Adenosindiphosphat (ADP)
R ist die Gaskonstante (8,314 J mol–1 K–1), F die Faraday-Kons- und anorganischem Phosphat (Pi) unter Standardbedingungen
tante (96,5 kJ mol–1 V–1). exergon:
Die Potenzialdifferenz (ΔE) einer Redoxreaktion ergibt sich
als Differenz der Redoxpotenziale der beteiligten Redoxpaare. ATP + H20 ADP + Pi + 2 H+
ΔE ist mit der Freien Enthalpie (ΔG) gemäß Gleichung 8 ver- 0
ΔG2’ = –30,6 kJ/mol (10)
knüpft:
In einem System, in dem beide Reaktionen gleichzeitig stattfin-
ΔG = – n · F · ΔE (8) den, berechnet sich die Freie Standardreaktionsenthalpie der
gekoppelten Reaktion als Summe der ΔG-Werte der Einzelreak-
Die durch die Gleichungen 7 und 8 beschriebenen Zusammen- tionen. Dementsprechend könnte die Gesamtreaktion durchaus
hänge sind für das Verständnis der energetischen Aspekte der freiwillig ablaufen. Voraussetzungen hierfür sind jedoch:
biologischen Oxidation, bei der Elektronen über eine Vielzahl 4 eine direkte Übertragung der γ-Phosphatgruppe des ATP
von Redoxsystemen auf Sauerstoff als terminalen Elektronenak- auf Glucose, sodass die Hydrolyseenergie des ATP nicht in
zeptor übertragen werden, von zentraler Bedeutung. Die Freie Form von Wärme freigesetzt, sondern für chemische Arbeit
Enthalpie dieses exergonen Prozesses wird bei der Atmungs- verfügbar gemacht wird und
kettenphosphorylierung zur Regenerierung von Adenosintri- 4 ein Konzentrationsverhältnis der Reaktionspartner, das die
phosphat (ATP) aus Adenosindiphosphat (ADP) und anorgani- Einhaltung der Bedingung ΔG < 0 gemäß Gleichung 5
schem Phosphat (Pi) genutzt (7 Kap. 19.1). sicherstellt.

In der Zelle wird der Phosphoryltransfer von ATP auf Glucose


4.2 Energietransformation durch Hexokinasen (7 Kap. 14.1) katalysiert:
und energetische Kopplung
Glc + ATP Glc-6-P + ADP+ H+
Der physiologische Zustand einer Zelle 0
ΔG’ = –16,8 kJ/mol (11)
wird durch die Kopplung endergoner
und exergoner Reaktionen aufrechterhalten Beispielgebend für die Verbindung von Reaktionen in Reaktions-
Aus den Gesetzen der Thermodynamik folgt, dass die in einem ketten soll die Biosynthese des Glucosespeichermoleküls Glyco-
Organismus stattfindenden Prozesse insgesamt exergon ablaufen gen betrachtet werden, bei der die exergone Hydrolyse von Pyro-
müssen. Viele Teilprozesse, die zur Erzeugung, Erhaltung und phosphat (PPi) genutzt wird, um die Bildung von UDP-Glucose
Funktion biologischer Strukturen beitragen, sind jedoch ender- aus Glucose-1-Phosphat (Glc-1-P) und Uridintriphosphat
goner Natur. Beispiele hierfür sind Biosynthesereaktionen, der (UTP) zu ermöglichen (7 Kap. 14.2):
aktive Transport durch biologische Membranen und die Muskel-
kontraktion. Diese lebensnotwendigen Vorgänge beziehen ihre Glc-1-P + UTP UDP-Glc + PPi
Energie aus einer Kopplung an exergone Reaktionen. Die Zelle G1’0 = 0 kJ/mol (12)
wirkt dabei als Energietransformator.
Die Energietransformation in biologischen Systemen ba- Das in der Reaktion gebildete Pyrophosphat wird in Säugerzellen
siert auf zwei prinzipiell unterschiedlichen Mechanismen: durch Pyrophosphatasen enzymatisch hydrolysiert:
4 einer chemischen Kopplung exergoner und endergoner
Reaktionen unter Beteiligung »energiereicher Verbindun- PPi + H2O Pi + Pi + 2H+
gen« und 0
ΔG2’ = –33,5 kJ/mol (13)
4 einer chemiosmotischen Kopplung durch die Erzeugung
eines Membranpotenzials mit Hilfe einer exergonen Reak- Die stark exergone Hydrolyse des Pyrophosphates bewirkt, dass
tion, dessen Abbau eine endergone Reaktion ermöglicht. die Gesamtreaktion in vivo nur in der beschriebenen Richtung
ablaufen kann. Im Zellstoffwechsel werden eine Reihe wichtiger
Eine chemische Kopplung kann durch Enzyme (7 Kap. 7) oder Biosynthesereaktionen durch die enzymatische Hydrolyse von
durch die Verbindung von Reaktionen in Reaktionsketten erfol- Pyrophosphat durch Pyrophosphatasen thermodynamisch er-
gen. Die erstgenannte Möglichkeit soll am Beispiel der Phospho- möglicht.
rylierung der Glucose (Glc) zu Glucose-6-Phosphat (Glc-6-P)
erläutert werden:
58 Kapitel 4 · Bioenergetik

4.3 Verbindungen mit hohem Gruppen-


übertragungspotenzial

Für die Übertragung Freier Enthalpie werden


energiereiche Phosphate genutzt
Energiereiche Phosphate Phosphoryltransferreaktionen sind in
biologischen Systemen weit verbreitet und erfüllen zentrale
Funktionen im intermediären Stoffwechsel. Ist Wasser der Phos-
4 phorylakzeptor, wird die Reaktion als Hydrolyse bezeichnet. Die
für diesen Reaktionstyp geschaffene thermodynamische Skala
. Abb. 4.2 Struktur des Magnesium-ATP-Komplexes MgATP2–. Die Phos-
der Phosphorylgruppenübertragungspotenziale charakteri-
phatgruppen werden – vom C5-Atom der Ribose ausgehend – mit α, β und
siert die Änderung der Freien Standardenthalpie, die bei der γ bezeichnet. Die Bindung zwischen α-Phosphatgruppe und Adenosin ist
Hydrolyse von 1 Mol einer Phosphorylverbindung erfolgt. An- eine Phosphorsäureesterbindung, während die Phosphatgruppen durch
hand ihrer Phosphorylgruppenübertragungspotenziale werden energiereiche Phosphorsäureanhydridbindungen verbunden sind
die biochemisch bedeutsamen Phosphorylverbindungen (. Tab.
4.2) formal in zwei Gruppen eingeteilt: Bei energiereichen Ver-
bindungen ist die Änderung der Freien Standardenthalpie ΔG’0 wertigen Kationen lösliche Komplexe bilden kann. In der Zelle
der Hydrolyse stärker negativ, bei energiearmen Verbindungen kommt das Nucleotid überwiegend in Form von Komplexen mit
weniger negativ als –25 kJ mol–1. Mg2+-Ionen vor.
Der Begriff »energiereich« sagt aus, dass die Substanz eine Obwohl die Hydrolyse des ATP stark exergon verläuft
stark exergone Reaktion mit Wasser (Hydrolyse) eingehen kann. (ΔG’0 = –30,6 kJ/mol), erfolgt sie wegen der hohen Aktivie-
Bei biochemischen Phosphorylgruppenübertragungsreaktionen rungsenergie (7 Kap. 7.1) der Reaktion spontan nur sehr lang-
fungieren jedoch in der Regel andere Moleküle als Phosphoryl- sam. Diese kinetische Stabilität des ATP ist für seine biochemi-
akzeptoren. Der Ausdruck »Verbindung mit hohem Gruppen- sche Funktion als Energieüberträger von größter Bedeutung. Im
übertragungspotenzial« beschreibt deshalb die biochemischen Zellstoffwechsel wird ATP nur enzymatisch zu ADP oder AMP
Funktionen und die energetischen Eigenschaften der als »ener- hydrolysiert.
giereich« bezeichneten Phosphorylverbindungen besser als der
im biochemischen Sprachgebrauch verwurzelte Begriff der
»energiereichen Verbindung«. Neben den Phosphorylverbin- Übrigens
dungen kommen im Zellstoffwechsel weitere Metabolite mit ho- Energetik der zellulären ATP-Hydrolyse
hem Gruppenübertragungspotenzial vor, die andere funktionel- Die Freie Standardreaktionsenthalpie (ΔG’0) der durch Glei-
le Gruppen auf eine Vielzahl von Akzeptoren übertragen. Bei- chung 10 beschriebenen ATP-Hydrolyse beträgt –30,6 kJ/
spiele hierfür sind die Acyl-CoA-Verbindungen, in denen Fett- mol. Die für die Energetik der Reaktion entscheidende Freie
säuren durch eine energiereiche Thioesterbindung an Coenzym A Reaktionsenthalpie (ΔG) hängt von den Konzentrationen
gebunden sind (7 Kap. 21.2.1). von ATP, ADP, Pi und dem pH-Wert ab. Gemäß Gleichung 5
In . Abb. 4.2 ist die Struktur des Adenosintriphosphates dar- ergibt sich für die Änderung der Freien Reaktionsenthalpie
gestellt. Das ATP-Molekül enthält zwei energiereiche Phosphor- bei pH 7:
säureanhydridbindungen. Da bei physiologischem pH-Wert die ⎛ [ ADP ] ⋅ [ Pi ] ⎞
Phosphatgruppen des ATP vollständig dissoziiert sind, handelt ∆G = ∆G ¢0 + R ⋅ T ⋅ ln ⎜ 0 ⎟
⎝ [ ATP ] ⋅ cH2O ⎠
es sich um ein vierfach negativ geladenes Molekül, das mit zwei-

Konventionsgemäß ist dabei die Konzentration des Wassers


. Tab. 4.2 Phosphorylgruppenübertragungspotenziale biochemi- (55,5 mol/l) im Wert für die Freie Standardreaktionsenthalpie
scher Phosphorylverbindungen (Auswahl) bereits berücksichtigt. Der Reaktionsquotient wird jedoch
durch formales Einsetzen einer Wasserkonzentration von
Phosphorylverbindung ΔG’0 (kJ/mol) c0H2O = 1 mmol/l dimensionslos gehalten.
Phosphoenolpyruvat –61,9
In menschlichen Erythrocyten betragen die Konzentrationen
von ATP, ADP und Pi etwa 2,25 mmol/l, 0,25 mmol/l und
1,3-Bisphosphoglycerat –49,4
1,65 mmol/l. Durch Einsetzen dieser Zahlenwerte erhält man
ATP ( AMP + PPi) –45,5 bei 37 °C (310 K) eine Änderung der Freien Enthalpie von
Kreatinphosphat –43,1
∆G = −30 ,6 kJ / mol + 8 ,315 J / (mol ⋅ K ) ⋅ 310 K
Pyrophosphat (PPi) –33,5
⎛ 0 ,25 mmol / l ⋅165
, mmol / l ⎞
⋅ ln ⎜
ATP ( ADP + Pi) –30,6 ⎝ 2,25 mmol / l ⋅1mmol / l ⎟⎠
= −52,8 kJ / mol
Glucose-6-Phosphat –13,8
6
Fructose-1,6-Bisphosphat –8,6
4.3 · Verbindungen mit hohem Gruppenübertragungspotenzial
59 4
Phosphorylierung von ADP durch Reaktionen mit anderen
Dieses Beispiel zeigt, dass unter zellulären Bedingungen der energiereichen Phosphorylverbindungen erlaubt (. Tab. 4.2).
Betrag der Änderung der Freien Enthalpie für die Umwand- Die Regenerierung des ATP aus ADP und anorganischem Phos-
lung von ATP in ADP deutlich größer ist als unter Standard- phat erfolgt generell durch eine Kopplung der ADP-Phosphory-
bedingungen. Umgekehrt ergibt sich daraus, dass für die lierung an exergone Reaktionen. Man spricht von einer
Neubildung von ATP aus ADP und Pi ein entsprechend höhe- Substrat(ketten)phosphorylierung, wenn die Phosphoryl-
rer Betrag an Freier Enthalpie erforderlich ist. gruppe eines energiereichen Intermediates (Substrates) auf ADP
übertragen wird. Beispiele hierfür sind die durch Phosphogly-
ceratkinase und Pyruvatkinase katalysierten Reaktionen der
ATP ist ein universeller Überträger Freier Enthalpie Glycolyse (7 Kap. 14.1). Auch die durch Kreatinkinasen kataly-
im Zellstoffwechsel sierte Übertragung der Phosphorylgruppe des Kreatinphospha-
Die Freie Enthalpie der ATP-Hydrolyse wird durch eine energe- tes auf ADP (7 Kap. 63.3) trägt zur ATP-Regenerierung bei. Der
tische Kopplung an endergone Prozesse für die Zelle nutzbar größte Teil des täglich synthetisierten ATP entsteht jedoch wäh-
gemacht. Im Zellstoffwechsel können Phosphatgruppen des rend der Oxidation von Substratwasserstoff mit Sauerstoff im
ATP auf Akzeptoren übertragen werden, wenn die Gesamtreak- Rahmen der Atmungskettenphosphorylierung in den Mito-
tion exergon verläuft (ΔG < 0). Eine Vielzahl ATP-abhängiger chondrien (7 Kap. 19.1). Anders als bei der Substrat(ketten)
Phosphorylierungsreaktionen ist mit der Bildung von Reaktions- phosphorylierung erfolgt die Energiekonservierung hierbei
produkten verbunden, deren Hydrolyseenergien beträchtlich durch die Erzeugung eines chemiosmotischen Potenzials an
weniger negativ sind als die des ATP. In biologischen Systemen der inneren Mitochondrienmembran, das die Energie für die
sind diese Reaktionen oftmals irreversibel. Der Begriff »irrever- Regenerierung von ATP aus ADP und anorganischem Phosphat
sibel« drückt hierbei nicht die grundsätzliche Irreversibilität ei- bereitstellt.
ner Reaktion aus, sondern besagt, dass die Reaktion aufgrund der
großen Veränderung der Freien Standardenthalpie (ΔG’0 ! 0) ATP wirkt auch als Überträger von Pyrophosphat-
und bei physiologischen Konzentrationen von Substraten und und Adenylatgruppen sowie als Neurotransmitter
Produkten nur in einer Richtung ablaufen kann. Die durch In einigen Reaktionen des Zellstoffwechsels fungiert ATP als Do-
Hexokinase, Phosphofructokinase und Pyruvatkinase katalysier- nor von Pyrophosphat- und Adenylatgruppen. Zu den Reaktio-
ten Reaktionen der Glycolyse (7 Kap. 14.1) sind Beispiele für nen, bei denen eine Pyrophosphatgruppe übertragen wird, ge-
irreversible enzymatische Transphosphorylierungen, während hört die durch Phosphoribosylpyrophosphatsynthetase kataly-
die schnelle Regenerierung von ATP aus ADP im Muskel durch sierte Initiation der Biosynthese der Purinnucleotide (7 Kap.
Kreatinkinasen auf reversible Weise erfolgt (7 Kap. 63.3.1). 29.1). Bei Adenylierungsreaktionen erfolgt eine Übertragung der
Adenylatgruppe (5’-AMP) des ATP auf ein Akzeptormolekül.
Beispiele einer physiologisch bedeutsamen Adenylierung sind
Übrigens die Biosynthese der Nucleinsäuren (7 Kap. 44.4 und 46.2) und die
ATP ist der wichtigste Überträger Freier Enthalpie Aminosäureaktivierung bei der Translation (7 Kap. 48.1.3). Dar-
Die zellbiochemische Funktion des ATP soll anhand einer über hinaus wirkt ATP durch Bindung an Membranrezeptoren
vereinfachenden energetischen Betrachtung verdeutlicht der P2-Familie als Neurotransmitter (7 Kap 74.1.12). Zu diesen
werden: Der Grundenergieumsatz eines 75 kg schweren Rezeptoren gehören sowohl ligandengesteuerte Ionenkanäle
Menschen beträgt ca. 6.000 kJ pro Tag. Nimmt man an, dass (P2X-Rezeptoren) als auch G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
die Energietransformation im Organismus stets mit einer (P2Y-Rezeptoren).
Hydrolyse von ATP verbunden ist, entspricht dies bei Zu-
grundelegung der Freien Standardreaktionsenthalpie der
ATP-Hydrolyse von –30,6 kJ/mol einem Umsatz von etwa Zusammenfassung
200 mol bzw. 100 kg ATP pro Tag. Geht man außerdem da- Die strukturelle und funktionelle Komplexität biologischer
von aus, dass der Gesamtbestand des Organismus an Ade- Systeme kann nur durch eine kontinuierliche Zufuhr Freier
ninnucleotiden (ATP + ADP + AMP) etwa 0,2 mol (ca. 100 g) Enthalpie (ΔG) erzeugt und aufrechterhalten werden.
beträgt, so folgt daraus, dass jedes ATP-Molekül täglich Wichtigste Quelle der erforderlichen Freien Enthalpie ist die
mehr als 1.000-mal zu ADP hydrolysiert wird und nachfol- sauerstoffabhängige Oxidation komplexer organischer
gend regeneriert werden muss. Verbindungen. Nur exergone Reaktionen (ΔG < 0) laufen
freiwillig (spontan) ab und können Arbeit leisten.
In der Zelle werden endergone Reaktionen durch eine Kopp-
ATP entsteht im Zellstoffwechsel durch lung an exergone Prozesse ermöglicht. Die energetische
die Kopplung der ADP-Phosphorylierung Kopplung wird wirkungsvoll durch Verbindungen mit
an exergone Reaktionen hohem Gruppenübertragungspotenzial (energiereiche Ver-
Regenerierung des ATP aus ADP ATP kann eine zentrale Funk- bindungen) vermittelt. Adenosintriphosphat (ATP) ist die
tion im Energiestoffwechsel vor allem deshalb erfüllen, weil sein wichtigste Verbindung mit hohem Gruppenübertragungs-
Phosphorylgruppenübertragungspotenzial sowohl den Transfer 6
der γ-Phosphatgruppe auf Akzeptorverbindungen als auch die
60 Kapitel 4 · Bioenergetik

potenzial und erfüllt im Zellstoffwechsel die Funktion eines


Überträgers Freier Enthalpie.
Die Regenerierung des ATP erfolgt überwiegend im Mito-
chondrium durch die Nutzung von exergonen Redoxreaktio-
nen zur Ausbildung eines chemiosmotischen Membran-
potenzials, das die endergone Phosphorylierung des ADP
antreibt (Atmungskettenphosphorylierung). Demgegenüber
4 ermöglicht die ATP-Regenerierung durch Substrat(ketten)-
phosphorylierung eine Energiebereitstellung auch unter
anaeroben Stoffwechselverhältnissen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


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5 Proteine – Struktur und Funktion


Hans R. Kalbitzer

Einleitung Schwerpunkte

Proteine (Eiweiße) stellen diejenige Klasse von biologischen Makro- 4 Aufbau der Proteine
molekülen dar, die in der Zelle mengenmäßig bei Weitem dominiert. 4 Peptidbindung
Wenn man einmal von spezialisierten Zellen wie Fettzellen absieht, stellt 4 Sekundär- und Tertiärstruktur
die Gruppe der Proteine mit mehr als 20 % des Feuchtgewichts die größ- 4 Proteinfaltung
te Fraktion organischer Moleküle in menschlichen Zellen und Geweben 4 Hämoglobin und Myoglobin als Sauerstofftransporter
dar. Der Prototyp des Eiweißstoffes ist das Hühnereiweiß (engl. egg albu- 4 Fehlfaltung von Proteinen als Ursache menschlicher Erkran-
min). Historisch hat es lange gedauert, bis man zur Erkenntnis kam, dass kungen
es sich hier um eine ganze Stoffklasse handelt. Allerdings wurde die
Proteinurie (Eiweiß im Urin) schon früh als Symptom einer Nierenschä-
digung beobachtet, ohne zu wissen, dass es sich hier um Protein handel-
te (der Begriff war noch gar nicht erfunden). So beschrieb Paracelsus 5.1 Aufbau von Proteinen
(1493–1541) einen Stoff im Urin von Nierenkranken, der beim Erhitzen
und Säurebehandlung ausfällt, bezeichnete ihn aber als Milch der Niere. Proteine werden in der Regel in der Zelle am Ribosom gemäß der
Erst 1765 berichtete Domenico Cotugno, dass er im Urin eines Soldaten in der mRNA codierten Aminosäuresequenz durch Verknüp-
nach Erhitzen einen Stoff gefunden habe, der dem Hühnereiweiß glei- fung der natürlichen proteinogenen Aminosäuren synthetisiert.
che. Die korrekte wissenschaftliche Bezeichnung Protein wurde erst Am Ribosom entstehen lineare Ketten von Aminosäuren, die
1838 von Jöns Jakob Berzelius vorgeschlagen, die er vom dem griechi- durch Peptidbindungen (Säureamidbindungen) miteinander
schen Wort πρωτεı̂ος (proteios, »grundlegend«) ableitete. Sie bezog sich verknüpft sind. Bei der Biosynthese am Ribosom werden unter
auf alle Stoffe, die dem Hühnereiweiß ähnlich sind. Gerardus Johannes normalen Umständen nur die 20 kanonischen proteinogenen
Mulder benutzte dann den Begriff Protein erstmals 1839 in einer Veröf- L-Aminosäuren und die beiden relativ seltenen nicht-kanoni-
fentlichung zur Elementaranalyse von Albumin. Erst 40 Jahre später schen proteinogenen Aminosäuren Selenocystein und Pyrroly-
(1902) wurde schließlich das noch heute gültige Bild von Franz Hof- sin miteinander verknüpft. Prolin ist im Gegensatz zu den ande-
meister und Emil Fischer entwickelt, dass Proteine aus einer Kette von ren primären Aminosäuren, d. h. Aminosäuren mit einer primä-
Aminosäuren aufgebaut sind. ren Aminogruppe, eine sekundäre Aminosäure und wird oft in
Im Erbgut von allen Lebewesen wird als zentrale Information der Aufbau biochemischen Textbüchern chemisch nicht korrekt als Imino-
seiner Proteine gespeichert. Das menschliche Genom enthält etwa säure bezeichnet. Nach der Biosynthese am Ribosom können
30.000 für Proteine codierende Nucleotidsequenzen (Gene). Die Anzahl diese Ketten modifiziert und zusätzlich miteinander oder mit
der im Menschen vorkommenden verschiedenartigen Proteine ist aber anderen organischen Molekülen verknüpft werden. Unter geeig-
wesentlich höher, da alternatives Spleißen der Gene zu einer Vielzahl neten experimentellen Bedingungen kann man das Ribosom
zusätzlicher Proteinvarianten führt. dazu bringen, auch nicht-natürliche Aminosäuren gezielt in die
Im Genom ist nur die Sequenz der Aminosäuren gespeichert, die die Polypeptidkette einzubauen.
Proteine aufbauen. Obwohl nur 22 verschiedene Aminosäuren direkt in
der DNA codiert werden, kann durch deren Kombination und Verknüp- Proteine werden je nach Größe als Oligopeptide
fung über Peptidbindungen eine Vielfalt von verschiedenen Proteinen oder Polypeptide bezeichnet
für alle nur denkbaren Funktionen aufgebaut werden. Posttranslationale Peptide können sich in ihrer Kettenlänge beträchtlich unter-
Modifikationen der Proteine und die Assoziation mit Nicht-Protein- scheiden. Bis zu einer Länge von 10 Aminosäuren spricht man
komponenten wie Metallionen erhöhen weiter die funktionelle Diversi- von Oligopeptiden, längere Peptide werden als Polypeptide
tät. Für die ungestörte biologische Funktion ist in vielen Fällen die drei- bezeichnet. Ein Protein ist nichts anderes als ein großes Polypep-
dimensionale Struktur (Konformation) der Proteine von entscheidender tid, wobei die Grenze zwischen Protein und Peptid üblicherwei-
Bedeutung, die im Allgemeinen nicht statisch ist, sondern sich den se bei 100 Aminosäureresten liegt. Polypetide mit weniger als
wechselnden Anforderungen dynamisch anpasst. 100 Aminosäuren werden jedoch dann Proteine genannt, wenn
sie proteintypische Funktionen wie die von Enzymen erfüllen.
Oligopeptide werden häufig nach der Anzahl ihrer Aminosäuren
benannt, wie z. B. Dipeptid, Tripeptid oder Dekapeptid, wenn
sie aus 2, 3 oder 10 Aminosäuren aufgebaut sind.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
62 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

Viele Proteine besitzen Nicht-Proteinanteile re auf. Das folgende Peptid kann man daher entweder in der
Da Proteine aus Aminosäuren aufgebaut sind, führt deren hyd- Form von
rolytische Spaltung wieder ausschließlich zur Entstehung von +
L-α-Aminosäuren oder deren Derivaten. Da die Polypeptidkette H3N-Ala-Gly‒Ser-Met‒Asp‒Phe-COO–
auch covalente oder nicht-covalente Bindungen mit anderen
Molekülen der Zelle eingehen kann, findet man neben den ein- oder
fachen Proteinen zusätzlich eine heterogene Gruppe von Protei- +
nen, die man zusammengesetzte Proteine nennt. H3N-A-G‒S–M‒D‒F-COO–
Entsprechend ihrem Nicht-Proteinanteil bezeichnet man sie
dann als Nucleoproteine, wenn sie zusätzlich Nucleinsäuren schreiben.
5 enthalten, oder als Glykoproteine, wenn sie zusätzlich Zucker-
ketten enthalten. Lipoproteine enthalten Lipide, Metallopro-
teine Metalle und Chromoproteine chromophore Gruppen wie Zusammenfassung
Porphyrine. Entsprechend ihrer vielfältigen Funktionen stellen die Prote-
Der Nicht-Proteinanteil variiert bei den zusammengesetzten ine in den meisten Zellen und Geweben mengenmäßig mit
Proteinen sehr stark. Sind kleinere Liganden, die für die Funk- ca. 20 % des Feuchtgewichts die Hauptgruppe biologischer
tion des Proteins wichtig sind, an das Protein gebunden, nennt Makromoleküle dar.
man sie Cofaktoren. Diese findet man insbesondere bei den ka- Die zur Erfüllung dieser Funktionen notwendige strukturelle
talytisch aktiven Proteinen, den Enzymen. Sind sie fest (in der Vielfalt wird durch unterschiedliche Kombinationen der
Regel covalent) an Proteine gebunden, bezeichnet man sie auch 22 proteinogenen Aminosäuren ermöglicht, wobei die Rei-
als prosthetische Gruppen, handelt es sich um locker gebunde- henfolge der Aminosäuren in der Aminosäuresequenz die
ne, organische Moleküle und sind sie an der Katalyse beteiligt, spezifischen Eigenschaften eines Proteins bestimmt. Peptid-
heißen sie Coenzyme. Typische Cofaktoren sind neben kleinen bindungen verknüpfen die einzelnen Aminosäuren eines
organischen Molekülen wie Pyridoxalphosphat (7 Kap. 59.5) Proteins miteinander.
Metallionen wie Magnesium, Mangan, Eisen und Kupfer
(7 Kap. 7.5; Kap. 60.2). Das Protein, das seine Cofaktoren enthält,
bezeichnet man als Holoprotein oder Holoenzym, den reinen
Proteinanteil als Apoprotein oder Apoenzym. 5.2 Konformation von Proteinen

Es gibt eine große Vielfalt von Proteinen Nicht die Kenntnis der Sequenz der Aminosäuren in einer Poly-
Jedes Protein ist durch die individuelle Reihenfolge (Sequenz) peptidkette, sondern erst die Kenntnis der räumlichen Struktur
seiner Aminosäuren definiert. Sie ist in der Abfolge der Basen in oder Konformation eines Proteins ermöglicht ein vollkommenes
den Nucleinsäuren festgelegt, die im Erbgut für das jeweilige Pro- Verständnis seiner biologischen Funktion.
tein codieren. Die Bildung von Peptidbindungen bei der Biosyn- Traditionell nimmt man eine Einteilung der Proteinstruktu-
these von Proteinen wird in 7 Kap. 48.2.2 beschrieben, die che- ren in vier verschiedenen Organisationsebenen mit steigender
mische Synthese in 7 Kap. 6. Komplexität vor:
Aus den 22 proteinogenen Aminosäuren lässt sich theore- 4 Die Primärstruktur entspricht der Aminosäuresequenz.
tisch eine gewaltige Anzahl von Proteinen bilden, die sich 4 Die Sekundärstruktur beschreibt die lokale räumliche
in ihrer Aminosäuresequenz und damit in ihren Eigenschaften Anordnung des Rückgrats von Polypeptidketten.
unterscheiden. Selbst wenn man sich auf die 20 kanonischen 4 Als Tertiärstruktur bezeichnet man die räumliche (3D-)
proteinogenen Aminosäuren beschränkt, sind schon für ein Struktur einer gefalteten Polypeptidkette.
relativ kleines Protein aus 100 Aminosäuren 20100 (etwa 4 Die Quartärstruktur gibt die Anordnung mehrerer Poly-
1,3∙10130) verschiedene Kombinationsmöglichkeiten denkbar. peptidketten in einem Proteinkomplex wieder.
Schon mit 100 Aminosäuren lassen sich also theoretisch mehr
verschiedene Proteinmoleküle erzeugen als vermutlich Atome
im Universum vorkommen (ungefähre Abschätzung 3∙1078). 5.2.1 Aminosäuresequenz (Primärstruktur)
Allerdings findet sich in der Natur eine viel kleinere Anzahl und Peptidbindung
verschiedener Proteine. Daher entstehen neue Proteine in der
Evolution fast nur durch Variation und Kombination schon Die Abfolge der Aminosäuren (Aminosäuresequenz) in einem
existierender, bewährter Sequenzen, und nur die für das Über- Protein wird als Primärstruktur bezeichnet. Wenn die Poly-
leben der Organismen essentiellen Proteine bleiben langfristig peptidkette nicht posttranslational modifziert wird (7 Kap. 49.3),
erhalten. bestimmt die Primärstruktur vollständig alle Eigenschaften eines
Die Abfolge der Aminosäuren in Aminosäuresequenzen Proteins, insbesondere auch die räumliche Struktur, die unter
wird im Dreibuchstabencode oder im Einbuchstabencode gegebenen äußeren Bedingungen vom Protein eingenommen
(7 Kap. 3, Tafel III) dargestellt. Dabei beginnt man konventions- wird.
gemäß mit der N-terminalen (aminoterminalen) Aminosäure
und hört mit der C-terminalen (carboxyterminalen) Aminosäu-
5.2 · Konformation von Proteinen
63 5

. Abb. 5.1 Bildung der Peptidbindung. Aus zwei Aminosäuren (hier Gly- . Abb. 5.3 Mesomerie der Peptidbindung. Oben: die beiden Grenzstruk-
cin und Alanin) ensteht durch Wasserabspaltung eine Peptidbindung. Die turen; unten: der mesomere Zwischenzustand mit der trans-Stellung der
Bindung kann durch Wassereinbau (Hydrolyse) wieder gespalten werden. Peptidbindung (braun). δ+, δ–:Partialladungen
Die neu entstandene Peptidbindung und die Atome, aus denen sie gebildet
wird, sind hellgrün unterlegt

Die Peptidbindung ist die für Proteine spezifische barkeit um alle drei Bindungen einer Aminosäureeinheit. Tat-
Verknüpfung der Aminosäurebausteine sächlich ist die freie Drehbarkeit um die Peptidbindung selbst
Die einzelnen Aminosäuren sind durch eine für Proteine spezifi- erheblich eingeschränkt, da die Peptidbindung den Charakter
sche Bindung, die Peptidbindung, verknüpft. Dabei handelt es sich einer partiellen Doppelbindung hat, bei der die vier Atome der
um eine Säureamidbindung, die die α-Carboxylgruppe der voran- Peptidbindung in einer Ebene liegen (. Abb. 5.3). Die partielle
gehenden Aminosäure mit der α-Aminogruppe der nachfolgenden Doppelbindung wird am besten durch zwei mesomere Grenz-
Aminosäure (bei der Aminosäure Prolin der sekundären Amino- strukturen beschrieben, bei denen die freien Elektronenpaare
gruppe) verknüpft. Die Ausbildung einer Peptidbindung geht zwischen dem Stickstoff- und dem Sauerstoffatom oszillieren.
mit der Abspaltung von H2O einher (Kondensationsreaktion, Neben der Grenzstruktur, die der klassischen Einfachbindung
. Abb. 5.1). Durch Wiederholung dieses Vorgangs entsteht eine entspricht, existiert eine zweite Grenzstruktur, bei der aufgrund
Peptidkette, die nur noch eine freie α-Aminogruppe am Anfang der Elektronegativität des Sauerstoffes ein Elektronenpaar der
und eine freie α-Carboxylgruppe am Ende besitzt. Peptidketten C=O-Doppelbindung zum Sauerstoff wandert. Der Sauerstoff
sind aus einer wechselnden Folge (. Abb. 5.2) von N-Atomen (aus erhält dadurch eine negative Ladung, und das freie Elektronen-
den Aminogruppen), Cα-Atomen, von denen die Seitenketten paar des Stickstoffs wird zwischen die C-N-Bindung verschoben,
abgehen, und C-Atomen (aus den Carbonylgruppen) nach dem wobei das Stickstoffatom eine positive Ladung erhält. In dieser
sich wiederholenden Muster –N–Cα–C–N–Cα–C–N–Cα–C– aufge- Grenzstruktur ist die Länge der C-N-Bindung gegenüber einer
baut, bei der sich immer wieder das Muster der drei Atome –N– Einfachbindung von 0,147 auf 0,127 nm verkürzt. Wie immer bei
Cα–C– wiederholt (Polypeptidkette). Dieses Rückgrat der Peptid- Resonanzstrukturen liegt der tatsächlich beobachtete Zustand
kette ist allen Proteinen gemeinsam. Die dreidimensionale Struk- zwischen diesen beiden Extremen, die reale Länge der C-N-Bin-
tur und die spezifischen Eigenschaften eines Proteins werden durch dung, die die Röntgenstrukturanalyse von Proteinen experi-
die variable Abfolge seiner Aminosäureseitenketten bestimmt. mentell ergibt, liegt bei etwa 0,133 nm.
Eine praktisch genutzte Folge der Resonanzstruktur der Pep-
Die Peptidbindung ist planar und hat den Charakter tidbindung ist ihre Absorption von ultraviolettem Licht mit ei-
einer partiellen Doppelbindung nem Maximum von etwa 210 nm. Die Messung der Ultraviolett-
Das Rückgrat der Polypeptidketten wird auf den ersten Blick aus absorption bei dieser Wellenlänge erlaubt die quantitative Kon-
Einfachbindungen gebildet, daher erwartet man eine freie Dreh- zentrationsbestimmung von Proteinen in Lösungen.

. Abb. 5.2 Beispiel für eine Aminosäuresequenz. Die Hauptkette ist orange dargestellt und Seitenketten sind gelb hinterlegt. Die einzelnen Peptid-
bindungen sind rot umrandet
64 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

. Abb. 5.4 Cis- und trans-Konfiguration der Peptidbindung. Linke Reihe: Peptidbindung zwischen zwei primären Aminosäuren (hier Ala-Ala),
rechte Reihe: Peptidbindung mit der sekundären Aminosäure Prolin (hier Ala-Pro). Bindungslängen und -winkel. (Adaptiert nach Engh u. Huber (1991)
und Ramachandran u. Sasisekharan 1968). (Mit freundlicher Genehmigung von John Wiley & Sons und Elsevier)

Eine cis-Konfiguration der Peptidbindung findet einer einheitlichen Konformation wie sie typisch für wohlgefal-
man gewöhnlich nur vor Prolylresten tete Proteine ist.
Grundsätzlich gibt es wie immer bei Doppelbindungen zwei An-
ordnungen der Atome um die C-N-Bindung, die sich durch eine Peptidbindungen werden unter
Rotation um 180° unterscheiden, die cis- und die trans-Stellung. Energieaufwand geknüpft
In der trans-Stellung liegen die beiden Cα-Atome auf verschiede- Die Spaltung der Peptidbindung erfolgt durch den Einbau eines
nen Seiten in der Bindungsebene, bei der cis-Stellung auf der Wassermoleküls, der Hydrolyse. Im wässrigen Milieu biologi-
gleichen Seite (. Abb. 5.4). Aus sterischen Gründen ist die trans- scher Systeme ist in der Reaktion von . Abb. 5.1 die Hydrolyse
Stellung energetisch begünstigt und wird normalerweise in Pro- bevorzugt; die Ausbildung einer Peptidbindung ist deswegen
teinen vorgefunden. Eine Ausnahme bildet die Peptidbindung eine energieverbrauchende Reaktion, ihre Spaltung durch
mit der sekundären Aminogruppe von Prolylresten, bei welcher spezifische Enzyme, die Proteasen, hingegen nicht.
der Amidwasserstoff durch das Cδ der Seitengruppe ersetzt ist
(. Abb. 5.4). In ungefalteten Proteinen kommt hier die trans-
Konfiguration etwa 5-mal häufiger vor als die cis-Konfiguration, 5.2.2 Lokale Struktur der Polypeptidhauptkette
in gefalteten Proteinen ist die cis-Konfiguration noch etwas sel- (Sekundärstruktur)
tener. In Lösung stehen beide Konfigurationen in einem dynami-
schen Gleichgewicht und gehen ununterbrochen ineinander Die lokale räumliche Struktur der Polypeptidhauptkette wird
über. durch die Größe der Torsionswinkel (dihedralen Winkel, Di-
Trotz der eingeschränkten Rotation um die Peptidbindung ederwinkel) φ, ψ und ω bestimmt (. Abb. 5.5) und wird auch als
führt die freie Drehbarkeit um die beiden anderen Einfachbin- Sekundärstruktur bezeichnet. Der Winkel ω ist 180°, wenn sich
dungen (Cα–C und N–Cα) dazu, dass die meisten kleinen Peptide die Peptidbindung in einer perfekten trans-Konfiguration befin-
in der Lösung eine Vielzahl verschiedener Konformationen ein- det. Er ist 0° in der cis-Konfiguration der Peptidbindung. Für den
nehmen, die miteinander in einem schnellen Gleichgewicht ste- φ- und den ψ-Winkel entsprechen 180° einer maximalen
hen. Ihre »Struktur« wird als statistisches Knäuel (»random- Streckung der Hauptkette.
coil«) beschrieben, bei dem alle thermodynamisch möglichen
Konformationen vorkommen. Erst spezifische Interaktionen
zwischen Aminosäureresten der Kette stabilisieren das Peptid in
5.2 · Konformation von Proteinen
65 5

. Tab. 5.1 Kanonische Sekundärstrukturen

Sekundärstruk- φa ψa Wasserstoff-
tureinheit brückenmusterb

α-Helix –57 –47 COi–NHi+4


(rechtsgängig)

310-Helix –76 –5 COi–NHi+3


(–49) (–26)

α-Helix (links- +57 +47 COi–NHi+4


gängig)

π-Helix –57 –70 COi–NHi+5

Kollagentripel- –51 +153 COi–NHj–1 und NHi–1–COk


. Abb. 5.5 Definition der dihedralen Winkel in Polypeptiden. Die dihe- helix –76 +127
dralen (Torsions-)Winkel der Hauptkette sind φ (phi), ψ (psi) und ω (omega), –45 +148
die der Seitenketten werden mit dem griechischen Buchstaben χ (chi) be-
zeichnet. Beginnend mit ci, dem durch die Cα-Cβ-Bindung (im Bild Cα-Ri) defi- β-Faltblatt –119 +113 COi–1–NHj und NHi+1–COj
nierten Winkel, werden die Seitenkettenwinkel fortlaufend (ci+1 etc.) durch- (parallel) oder
nummeriert. Die Kette ist in ihrer maximalen Streckung (φ, ψ, ω = 180°) dar- COj–1–NHi und NHj+1-COi
gestellt. Die jeweils vier mit einem Grünraster hinterlegten Atome liegen we-
β-Faltblatt –139 +135 COi–NHj und NHi–COj oder
gen der Mesomerie der Peptidbindung (rote Umrandung) in einer Ebene.
(antiparallel) COi–1–NHj+1 und NHi+1–
Der Abstand der nicht in dieser Ebene liegenden Cα-Atome beträgt 0,36 nm
COj–1
a
Die angegebenen Winkel sind die energetisch günstigsten Werte,
in realen Strukturen finden sich deutliche Abweichungen von
Wasserstoffbrückenbindungen spielen eine zentrale diesen Idealwerten durch intramolekulare Wechselwirkungen mit
Rolle für die Ausbildung von Sekundärstrukturen dem Rest des Proteins. Insbesondere bei der 310-Helix weichen die
Bei der Strukturanalyse von Proteinen trifft man häufig auf Be- idealen Werte weit von den gewöhnlich experimentell gefundenen
reiche, die durch periodische Muster von Torsionswinkeln cha- Werten (in Klammern) ab.
b
COi–NHi+4 bezeichnet eine Wasserstoffbrücke zwischen der Carbo-
rakterisiert sind. Sie entstehen durch die Bildung von Wasser-
nylgruppe der Aminosäure in der Position i und der Amidgruppe
stoffbrücken zwischen dem Wasserstoff einer Amidgruppe (Do- der Aminosäure in Position i+4. Die Suffixe i, j, k bezeichnen die Posi-
natoren) und dem Sauerstoffatom einer Carbonylgruppe (Ak- tion der Aminosäure in verschiedenen Strängen der Peptidkette.
zeptoren) verschiedener Aminosäurereste der Hauptkette,
wodurch die Proteine eine höhere Stabilität erhalten (. Tab. 5.1).
Diese Strukturbereiche werden als die Sekundärstrukturele-
mente eines Proteins bezeichnet. Die wichtigsten Sekundär- zwei Windungen beträgt 0,54 nm, entspricht also genau der
strukturelemente, die in Proteinen vorkommen, sind die α-Helix Entfernung, die mit Röntgenbeugungsuntersuchungen be-
und das β-Faltblatt. Eine Zusammenstellung der kanonischen stimmt wurde. Aus diesen beiden Werten kann man dann den
Sekundärstrukturen von Proteinen, die durch typische Wasser- Abstand der Cα-Atome von zwei benachbarten Aminosäuren
stoffbrückenmuster charakterisiert sind, zeigt . Tab. 5.1. in Richtung der Helixachse bestimmen, er beträgt 0,54 nm/3,6,
also 0,15 nm.
α-Helix Die auffälligste Eigenschaft der α-Helix ist eine Ausrichtung
Röntgenstreuungsexperimente an Haaren in den 30er Jahren der Carbonyl- und der Amidgruppen parallel zur Helixachse, die
hatten gezeigt, dass die darin enthaltenen fibrillären Proteine, die erlaubt, stabile Wasserstoffbrücken zwischen jeder vierten Ami-
α-Keratine, aus Einheiten aufgebaut sind, die sich im Abstand nosäure zu bilden (. Abb. 5.6).
von 0,5–0,55 nm entlang ihrer Längsachse wiederholen. Mit dem Die Stabilität von Sekundärstrukturen wird auch von den Sei-
ursprünglichen einfachen Modell, bei dem das Haar aus paralle- tenketten der Aminosäuren beeinflusst. So wird die Bildung einer
len, ausgestreckten Polypeptidketten aufgebaut war, war ein wie- α-Helix besonders durch die Aminosäure Prolin gestört, dessen
derkehrender Atomabstand von 0,5–0,55 nm nicht zu erklären. Stickstoffatom in die Seitenkette eingebunden ist. Daher steht
Linus Pauling und Robert Corey schlugen 1951 ein Modell vor, kein Wasserstoffatom zur Ausbildung einer Wasserstoffbrücke
das im Einklang mit den experimentellen Daten war: In diesem zur Verfügung (. Abb. 5.4). Zusätzlich schränkt die Ringbildung
Strukturmodell ist die Polypeptidkette von α-Keratin in Form die freie Drehbarkeit um die N-Cα-Bindung ein, der φ-Winkel
einer rechtsgängigen Schraube (Helix) angeordnet, bei der die kann nicht den für die α-Helix idealen Wert von –57° (. Tab. 5.1)
Atome des Peptidrückgrats im Inneren der Helix lagern und die annehmen. Da jedoch erst ab der 4. Aminosäure eine Amidgrup-
Seitenketten nach außen zeigen. pe für eine Wasserstoffbrücke in der α-Helix zur Verfügung ste-
In dieser helicalen Anordnung der Atome der Peptidhaupt- hen muss, findet man Prolin noch relativ häufig am Beginn von
kette, die als Strukturelement des α-Keratins als α-Helix bezeich- α-Helices. Auch die kleine Aminosäure Glycin destabilisiert
net wurde, kommen 3,6 Aminosäuren auf eine 360°-Windung α-Helices. Demgegenüber findet man Alanin und Aminosäuren
der Helix. Die Ganghöhe der Helix, d. h. der Abstand zwischen wie Methionin und Glutaminsäure gehäuft in α-Helices.
66 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

lich. Die rechtsgängige 310-Helix (3 Aminosäuren pro Win-


dung, die einen 10-gliedrigen Ring bilden) findet man häufiger
an den Enden von α-Helices und macht etwa 10 % aller Helices
aus, die man in globulären Proteinen findet. Sie ist durch Was-
serstoffbrücken zwischen jeder dritten Aminosäure charakteri-
siert und ist damit dünner und steiler als die α-Helix. Sehr selten
ist die rechtsgängige π-Helix mit Wasserstoffbrücken zwischen
jeder fünften Aminosäure und 4.4 Aminosäuren pro Windung.
Sie ist dicker und flacher als die α-Helix. Die linksgängige α-Helix
ist für L-Aminosäuren energetisch ungünstig, da sich die Seiten-
5 ketten sterisch behindern.
Die rechtsgängige α-Helix wurde zwar im α-Keratin ent-
deckt, ist aber nicht auf dieses Protein beschränkt, sondern in
den meisten Proteinen zu finden. Ihr α-helicaler Anteil ist sehr
variabel. Es gibt Proteine, die keine α-Helices haben, oder Prote-
ine wie das Myoglobin mit einem α-Helixgehalt von etwa 70 %
(7 Kap. 5.3). Die α-Keratine selbst sind faserförmige (fibril-
läre) Proteine und Hauptbestandteile der Haut (Keratinocyten),
Haare und Nägel. Zwei Keratinhelices sind umeinander gewun-
den und bilden eine sog. coiled-coil-Struktur. Aus diesen Basis-
einheiten wird dann letztlich ein Intermediärfilament mit 10 nm
Durchmesser aufgebaut. Diese hierarchische Architektur ist in
7 Kap. 13.3 detaillierter beschrieben.

β-Faltblatt
Wie die α-Helix wurde auch das β-Faltblatt (β-pleated sheet) als
die zweite fundamentale Sekundärstruktureinheit durch die
Röntgenstrukturanalyse eines faserförmigen Proteins, der Seide,
entdeckt. Die Seide gehört zur Familie der β-Keratine, daher lei-
tet sich dann auch der Name dieser Struktur ab. Im Gegensatz zu
den α-Keratinen lassen sich β-Keratine kaum in der Längsachse
dehnen. Dies beruht darauf, dass die einzelnen Stränge einer
Faltblattanordnung schon fast maximal gestreckt sind, die φ- und
ψ-Winkel nehmen sehr große Werte an und ähneln damit der
maximal ausgestreckten Polypeptidkette (extended strand)
(. Tab. 5.1). Die N-H- und C=O-Gruppen einer Aminosäure-
einheit zeigen in die entgegengesetzte Richtung und liegen fast
auf einer Ebene (. Abb. 5.7, graue Flächen). Diese Anordnung
erlaubt die Bildung von stabilen Wasserstoffbrücken zwischen
zwei benachbarten β-Strängen, führt aber auch zu einer regelmä-
ßigen Knickung der Peptidkette. Die Atome der Hauptkette der
verschiedenen Stränge bilden eine Struktur, die mit einem gefal-
teten Blatt Papier (Faltblatt!) Ähnlichkeiten hat (. Abb. 5.7).
. Abb. 5.6 Räumlicher Aufbau einer rechtsgängigen α-Helix. Benachbar- Aminosäuren, die häufig in β-Faltblättern gefunden werden,
te Aminosäuren sind durch schwarze und gelbe Atombindungen gekenn- sind Isoleucin, Valin und Tyrosin.
zeichnet, die Peptidbindungen sind rot dargestellt. Der N-Terminus der Po-
lypeptidkette befindet sich in der Zeichnung oben, der C-Terminus unten.
Im idealen β-Faltblatt würde der φ- und ψ-Winkel jeweils
(Adaptiert nach Pauling 1968) 135° und –135° annehmen, da dann die Amid- und Carbonyl-
gruppen genau auf einer Ebene liegen würden. Bei realen Falt-
blättern wie sie in Proteinen gefunden werden, weichen die Win-
Das wichtigste helicale Sekundärstrukturelement kel leicht von den idealen Werten ab. Hierdurch kann die steri-
in Proteinen ist die rechtsgängige α-Helix sche Behinderung der Seitenketten an den Cα-Atomen verringert
Für die klassische α-Helix (. Tab. 5.1) werden die Wasserstoff- werden. Dies führt dazu, dass die Faltblätter nicht komplett eben
brücken zwischen der Amidgruppe einer Peptidbindung und der sind, sondern die β-Stränge ein rechtsgängige Verdrillung auf-
Carbonylgruppe der vierten darauf folgenden Aminosäure ge- weisen (s. z. B. . Abb. 5.13).
bildet. Obwohl die rechtsgängige α-Helix bei weitem die häu-
figste helicale Struktur in Proteinen ist, sind auch andere Wasser-
stoffbrückenmuster und damit auch andere Helixformen mög-
5.2 · Konformation von Proteinen
67 5

. Abb. 5.7 Paralleles (A) und antiparalleles β-Faltblatt (B). Beim parallelen Faltblatt bildet eine Aminosäure (j) Wasserstoffbrücken mit zwei Amino-
säuren (i–1; i+1) des Nachbarstranges, beim antiparallelen Faltblatt nur mit einer benachbarten Aminosäure (i)

Es gibt parallele oder antiparallele β-Faltblätter Die kanonischen Sekundärstrukturelemente


Die Lage der Wasserstoffbrückendonatoren (Amidgruppen) werden durch Schleifen verbunden
und Wasserstoffbrückenakzeptoren (Carbonylgruppen) in einer Um eine kompakte räumliche Faltung zu erreichen, müssen die
Ebene erlaubt zwei grundsätzlich unterschiedliche Anordnun- relativ starren kanonischen Sekundärstruktureinheiten mit
gen der einzelnen Stränge im β-Faltblatt. Die benachbarten Pep- nicht-periodischen Schleifenregionen (coils, loops) verbunden
tidketten können in dieselbe oder in die entgegengesetzte Rich- werden. Der Anteil von Sekundärstrukturelementen variiert von
tung bezüglich ihres N- und C-Terminus verlaufen. Sie sind Protein zu Protein. Typische globuläre Proteine sind gewöhnlich
dann parallel oder antiparallel angeordnet. Wenn alle β-Stränge aus einem hohen Anteil kanonischer Sekundärstrukturen aufge-
parallel angeordnet sind, spricht man von einem parallelen baut, die durch enge Schleifen miteinander verbunden werden.
β-Faltblatt, im anderen Fall von einem antiparallelen β-Faltblatt Diese Schleifenregionen haben in der Regel ebenfalls eine wohl-
(. Abb. 5.7). Die meisten β-Faltblätter bestehen aus mehr als definierte räumliche Struktur. Die Stränge in einem antiparalle-
zwei Strängen, die sowohl parallel als auch antiparallel angeord- len β-Faltblatt sind oft mit kurzen Schleifen verbunden, die sinn-
net sein können. In diesem Fall spricht man von einem gemisch- gemäß β-Kehren (β-turns) genannt werden. Sie bestehen meist
ten β-Faltblatt. aus nur 4 Aminosäuren. Wie die kanonischen Sekundärstruktur-
elemente besitzen auch sie charakteristische Torsionswinkel und
Wasserstoffbrückenmuster (. Abb. 5.8). Parallele β-Stränge kön-
nen natürlich nicht durch diese kurzen Schleifen verbunden wer-
den, da ihre Enden räumlich weit auseinander liegen. Sie werden
68 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

A B der Längsachse ist nicht mehr 0,15 nm wie bei der α-Helix, son-
dern 0,286 nm. Im Gegensatz zur klassischen α-Helix ist sie
linksgängig, die Carbonyl- und Amidgruppen stehen nicht par-
allel zur Helixachse, sondern stehen beinahe senkrecht zu ihr,
sodass keine Wasserstoffbrücken innerhalb der Kollagenhelix
gebildet werden können. Allerdings können Wasserstoffbrücken
gebildet werden, wenn sich drei Kollagenhelices zusammenla-
gern und zusammen eine rechtsgängige Helix bilden (. Abb.
5.9). Jede dritte Aminosäure im Kollagen liegt im Zentrum der
Tripelhelix. Aus sterischen Gründen muss es ein Glycin sein, da
5 sonst die Seitengruppen die Zusammenlagerung der Einzelsträn-
ge behindern würden. Die generalisierte Sequenz des Kollagens
ist daher (Gly-X-Y)n. Die drei Einzelstränge, die sich zusammen-
lagern, müssen aber nicht genau dieselbe Sequenz haben. Sie sind
so aneinander gelagert, dass das Glycin eines Strangs eine Was-
serstoffbrücke mit der Aminosäure X des benachbarten Strangs
ausbilden kann. Stabilisiert wird die Tripelhelix außerdem durch
. Abb. 5.8 β-Kehren Typ I (A) und Typ II (B). Die Abbildung stellt die aus je hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Seitenketten der
4 Aminosäuren gebildeten β-Kehren dar. Typ I und Typ II unterscheiden sich
lediglich in den φ- und ψ-Winkeln zwischen den Aminosäuren 2 und 3. An
anderen Aminosäuren. Kollagen hat eine besonders große Zug-
den Aminosäuren 1 und 4 enden bzw. beginnen Faltblattstrukturen. Die Cα- festigkeit, da eine Kraft in Richtung der Längsachse nur zu einer
Atome der 4 Aminosäuren sind durchnummeriert leicht kompensierbaren Querkraft führt, die die Einzelstränge
der Tripelhelix zusammenpresst.

daher oft mit längeren Schleifenregionen verbunden, die zusätz- Im Ramachandran-Diagramm wird die lokale
lich α-helicale Bereiche enthalten. Struktur der Polypeptidkette dargestellt
Schleifenregionen haben oft eine höhere Beweglichkeit als der Da zwischen den Atomen aufeinanderfolgender Aminosäuren
Rest der Struktur und sind oft Teil von Regionen, die funktionell sterische Behinderungen auftreten können, sind nicht alle Kom-
ihre Struktur bei der Bindung von Liganden anpassen müssen. binationen von φ- und ψ-Winkeln in Proteinen möglich. Stellt
Da wohlgeordnete, kompakt gefaltete Proteine besonders gut man alle Kombinationen der dihedralen Winkel der Hauptkette
kristallisieren, glaubte man lange Zeit, dass alle Proteine in ihrem in einem zweidimensionalen Diagramm dar, so gibt es Regionen,
nativen Zustand solche kompakten Strukturen annehmen. In- die energetisch günstig (erlaubt) sind, und Regionen, die energe-
zwischen weiß man, dass ein erheblicher Anteil von Proteinen tisch ungünstig (verboten) sind (. Abb. 5.10). Die kanonischen
ungeordnete Bereiche mit hoher Flexibilität enthält oder sogar Sekundärstrukturen sind in den erlaubten Bereichen des Rama-
gänzlich ungefaltet ist (intrinsically unfolded proteins). Eine Ana- chandran-Diagramms zu finden. Wenn in einem Protein Tor-
lyse des menschlichen Genoms sagt voraus, dass etwa 30 % der sionswinkel in den verbotenen Bereichen des Ramachandran-
dort codierten Proteine zur Gruppe der intrinsisch ungefalteten Diagramms zu finden sind, deutet dies entweder auf eine wich-
Proteine gehören. tige strukturelle Besonderheit hin oder ist oft nur ein Zeichen für
Wenn die Werte, die die Torsionswinkel von aufeinanderfol- eine fehlerhafte 3D-Strukturbestimmung.
genden Aminosäuren annehmen, gänzlich unkorreliert sind und
von Molekül zu Molekül variieren, spricht man von einem Zu-
fallsknäuel (random coil). In Lösung gehen die verschiedenen 5.2.3 Dreidimensionaler Aufbau (Tertiärstruktur)
Konformationen der Polypeptidkette rasch ineinander über. Das
Zufallsknäuel ist der typische Zustand völlig denaturierter Pro- Die Tertiärstruktur beschreibt die dreidimensionale
teine in Lösung. Struktur eines Proteins
Die Tertiärstruktur eines Proteins entspricht der räumlichen An-
Die Kollagenhelix wird nur durch intermolekulare ordnung seiner Sekundärstrukturelemente. Für die anschauliche
Wasserstoffbrückenbindungen stabilisiert Darstellung der Raumstruktur eines Proteins werden α-Helices
Kollagenhelix Das wichtigste extrazelluläre Protein des Bindege- durch Zylinder oder Spiralen und β-Faltblätter durch Pfeile wie-
webes ist das Kollagen (7 Kap. 71.1). Es ist durch eine besondere dergegeben, wobei der Pfeil die Richtung des Stranges vom N- zum
Aminosäurezusammensetzung und einer daraus folgenden spe- C-Terminus angibt. Die übrigen Teile des Proteins zwischen den
zifischen Struktur, die Kollagenhelix, gekennzeichnet. Es besteht Sekundärstrukturelementen werden gewöhnlich durch Kurven
zur Hälfte aus Glycyl- und Prolylresten. Wie die schon bespro- (schmale Bänder oder dünne Zylinder) beschrieben, die durch die
chenen α- und β-Keratine bildet es stabile Fasern. Aufgrund ihrer Positionen der Cα-Atome definiert werden (. Abb. 5.11).
besonderen Aminosäuresequenz hat die Kollagenhelix ganz spe-
zifische Struktureigenschaften: sie bildet eine langgestreckte He- Supersekundärstrukturen Sind Sekundärstrukturelemente in
lix, die anders als die α-Helix nicht durch interne Wasserstoffbrü- charakteristischen Abfolgen angeordnet, spricht man von Super-
cken stabilisiert ist. Der Abstand zwischen zwei Aminosäuren auf sekundärstrukturen oder Motiven. Hierzu gehören z. B. Helix-
5.2 · Konformation von Proteinen
69 5

B C

. Abb. 5.9 Modell der Kollagentripelhelix. A Drei linksgängige Helices


winden sich rechtsgängig umeinander. N: N-Terminus, C: C-Terminus.
B Ansicht der Helix von der C-terminalen Seite aus. C Ausschnitt aus der
Kollagenhelix im grau markierten Bereich von A in der Höhe von Gly25.
PDB ID: 2WUH

Schleife-Helix-Motive (helix-turn-helix motif), bei denen zwei Elektrostatische (ionische) Wechselwirkung Ionenbindungen
α-Helices über eine Schleife miteinander verbunden sind. Dieses zwischen den geladenen Gruppen der Aminosäuren sind die
Motiv ist typisch für calciumbindende Proteine wie Tropomyo- stärksten nicht-covalenten Wechselwirkungen in Proteinen. Da
sin oder Calmodulin (. Abb. 5.12), während es bei DNA-binden- die elektrostatische Energie zwischen zwei geladenen Gruppen
den Proteinen der direkten Interaktion mit der DNA dient. umgekehrt proportional zum Abstand r der Ladungen ist (und
nicht zu r3 wie z. B. beim Dipol von H-Brücken), fällt sie nur
Die Bildung von Tertiärstrukturen geht auf langsam mit dem Abstand ab und hat prinzipiell eine relativ
physikalische Wechselwirkungen zurück große Reichweite. In der Lösung sind allerdings die geladenen
Die räumliche Faltung eines Proteins ist das Ergebnis aller phy- Gruppen stark solvatisiert und durch Gegenionen im Lösungs-
sikalischen Wechselwirkungen im Protein selbst und zwischen mittel partiell abgeschirmt. Daher ist der wirkliche Anteil der
dem Protein und dem Lösungsmittel. Im Einzelnen sind es die Ionenbindungen an der gesamten Stabilisierungsenergie in der
elektrostatischen Wechselwirkungen, die van-der-Waals Wech- Lösung relativ klein. Ausnahmen sind die seltenen Ionenpaare
selwirkungen, die intramolekularen Wasserstoffbrückenbindun- im Inneren von Proteinen oder definierte Ionencluster an der
gen und die hydrophoben Wechselwirkungen, die zwischen allen Oberfläche von Proteinen. Diese findet man relativ häufig bei
Atomen des Systems Lösungsmittel – Protein bestehen. Unter- Proteinen thermophiler Mikroorganismen, deren Struktur auch
stützt wird die Stabilisierung der Struktur oft durch zusätzliche bei hohen Temperaturen stabil gehalten werden muss.
covalente Verknüpfungen zwischen verschiedenen Aminosäu-
ren in der Sequenz.
70 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

. Abb. 5.12 Das Helix-Schleife-Helix-Motiv, eine einfache Supersekun-


därstruktur

Van-der-Waals-Wechselwirkung Die van-der-Waals-Wechsel-


wirkung hat einen abstoßenden und einen anziehenden Anteil.
Der abstoßende Anteil verhindert, dass sich zwei Atome im Pro-
tein zu nahe kommen und sich durchdringen. Für die Stabilität
. Abb. 5.10 Ramachandran-Diagramm der dihedralen Winkel φ- und ψ
der Peptidhauptkette. Die typischen Winkelkombinationen für verschie- von Proteinen ist die anziehende Komponente der van-der-
dene Sekundärstrukturelemente sind eingezeichnet, die idealen Werte sind Waals-Wechselwirkung besonders wichtig. Sie beruht auf einer
in . Tab. 5.1 gegeben: α: rechtsgängige α-Helix, αL: linksgängige α-Helix, räumlichen Ungleichverteilung der Elektronen in den Molekül-
310: rechtsgängige 310-Helix, : paralleles β-Faltblatt, : antiparalleles orbitalen. Die daraus resultierende partielle Ladungstrennung
β-Faltblatt, π: π-Helix, C: Kollagenhelix, II: Polyglycinhelix II. (Rosa) verbotene
erzeugt elektrische Dipole und führt zu einer wechselseitigen
Bereiche, (dunkelgrün) uneingeschränkt erlaubte Bereiche, (hellgrün) er-
laubte Bereiche, (gelb) beschränkt erlaubte Bereiche Anziehung zwischen den Dipolen und damit auch den zugehö-
rigen Atomen. Die Carbonyl- und die Amidgruppen der Peptid-
bindung spielen dabei eine besondere Rolle, da sie ein relativ
großes permanentes statisches Dipolmoment haben. Diesem
permanenten Dipolmoment entsprechen die mesomeren Grenz-

. Abb. 5.11 Verteilung von α-Helices und β-Faltblättern im menschlichen Ras-Protein. Links Sekundärstrukturdarstellung, rechts Atomares Modell. Das
Ras-Protein ist C-terminal gekürzt (ab Aminosäure 167), um die Kristallisation zu ermöglichen. Im aktiven Zentrum ist ein Mg2+-Ion und das GTP-Analog
GppNHp gebunden, das nicht hydrolysiert werden kann. Bei der Bindung von vielen Ras-Bindedomänen bildet sich am markierten Wechselwirkungsort ein
intermolekulares β-Faltblatt. Im atomaren Modell des Proteins sind Wasserstoffatome weiß, Kohlenstoffatome schwarz, Sauerstoffatome rot, Stickstoff-
atome blau und Schwefelatome gelb dargestellt. Das Nucleotid ist grün, das Metallion orange dargestellt. PDB ID: 5P21, 1RFA

Proteine Calciumbindungsmotiv
5.2 · Konformation von Proteinen
71 5
strukturen, die wir schon als die Ursache für die Planarität der Lösungsmittel. Da thermodynamisch ein System immer Zustän-
Peptidbindung kennengelernt haben. Zu den statischen Dipol- de mit niedrigerer freier Enthalpie bevorzugt, wird der gefaltete
momenten kommen noch die schwachen London-Dispersions- Zustand des Proteins stabilisiert.
kräfte, die durch eine rasch fluktuierende Verschiebung der
Elektronenverteilung in nicht-polaren Gruppen hervorgerufen Disulfidbindungen Eine weitere Stabilisierung der Tertiärstruk-
wird. Es entstehen dabei sich schnell ändernde Dipolmomente, tur eines Proteins kann durch eine covalente Verknüpfung räum-
die im Zeitmittel zu einer wechselseitigen Anziehung zwischen lich benachbarter Aminosäureseitenketten erfolgen. Allerdings
den beteiligten Atomen führen. wird normalerweise zunächst die dreidimensionale Struktur un-
ter dem Einfluss der schon diskutierten physikalischen Wechsel-
Intramolekulare Wasserstoffbrückenbindung Die generellen Ei- wirkungen eingenommen, die dann erst später durch die covalen-
genschaften einer Wasserstoffbrücke können durch eine einfache ten Bindungen stabilisiert wird. Die häufigste covalente Verknüp-
elektrostatische Anziehungskraft zwischen dem Dipol der nega- fung in Proteinen ist die Disulfidbindung, die durch die Verknüp-
tiv polarisierten Akzeptorgruppe und der positiv polarisierten fung der Thiolgruppen zweier Cysteinreste gebildet wird. Da
Donatorgruppe erklären. Typischerweise sind die Donatoren innerhalb der Zelle ein reduzierendes Milieu besteht, können in-
Gruppen des Moleküls, in denen ein Wasserstoffatom durch sei- trazelluläre cytosolische Proteine nur in Ausnahmen stabile Di-
ne covalente Bindung an ein elektronegatives Atom wie Stickstoff sulfidbindungen ausbilden. Im Gegensatz dazu bilden sich in der
oder Sauerstoff positiv polarisiert wird. Der Bindungspartner, nicht-reduzierenden Umgebung des endoplasmatischen Retiku-
der Akzeptor der Wasserstoffbrücke ist dann ein weiteres elekt- lums bzw. des mitochondrialen Intermembranraumes oder im
ronegatives Atom. Eine quantenchemische Analyse zeigt aber, Extrazellulärraum stabile Disulfidbindungen. Hier können sie
dass es zusätzlich eine direkte Überlappung der Molekülorbitale beträchtlich zur Gesamtstabilität des Proteins beitragen.
zwischen Donator und Akzeptor in der Wasserstoffbrückenbin- Da die Lösungsmittelmoleküle eine Vielzahl von Interaktio-
dung gibt. Dies erklärt auch, warum der Abstand zwischen dem nen mit den an der Oberfläche gelegenen Aminosäureresten ein-
Wasserstoffatom und dem Akzeptor mehr als 0,05 nm kleiner ist gehen können, bestimmt deren Interaktion die Stabilität und
als von der Summe der van-der-Waals-Radien zu erwarten wäre. Struktur wesentlich mit. Die genaue Zusammensetzung des Lö-
In Wasser selbst beträgt der intermolekulare H-O-Abstand in der sungsmittels (in biologischen Systemen normalerweise Wasser)
Wasserstoffbrücke nur etwa 0,18 nm anstatt der 0,26 nm, die sich bestimmt daher auch die energetisch günstigste Struktur des
aus der Summe der van-der-Waals-Radien ergeben würden. Die Proteins, die man unter den gegebenen äußeren Bedingungen
Theorie erfordert auch eine bevorzugte Ausrichtung der Wasser- vorfindet. Wenn der Druck (isobar) und die Temperatur (iso-
stoffbrücken relativ zu dem freien Elektronenpaar des Akzeptors. therm) konstant sind, bestimmt die freie Enthalpie G des aus
Dies ist auch experimentell in hoch aufgelösten Röntgenstruktu- Lösungsmittel und Protein bestehenden Gesamtsystems die
ren bestätigt, bei denen der N-H-Verbindungsvektor der Peptid- Struktur des Proteins. Daher führt beispielsweise der Zusatz von
gruppen bevorzugt zum freien Elektronenpaar des Carbonyl- Ethanol zu einer wässrigen Proteinlösung meist zu einer grund-
sauerstoffs zeigt. legenden Konformationsänderung des Proteins. Die hydropho-
Die intramolekularen Wasserstoffbrücken haben typischer- ben Alkoholmoleküle sind jetzt potentielle Partner der norma-
weise Bindungsenergien von –12 bis –30 kJ/mol. Der energeti- lerweise im Proteininneren liegenden hydrophoben Seitenket-
sche Beitrag einer solchen Wasserstoffbrücke zur Erhaltung der ten. Die hydrophoben Seitenketten des Polypeptids werden da-
Tertiärstruktur erscheint relativ gering, da er sich nur wenig von durch nach außen orientiert, das Protein verliert seine native
demjenigen einer Wasserstoffbrücke zum Wasser der Umgebung Struktur. Diesen Verlust der geordneten Struktur eines Proteins
unterscheidet. Umgekehrt beträgt die gesamte Stabilisierungs- nennt man allgemein Denaturierung (7 Kap. 5.4.1).
energie eines Proteins nur etwa –30 bis –60 kJ/mol.
Gemeinsamkeiten von strukturell verwandten
Hydrophobe Wechselwirkung Die hydrophobe Wechselwirkung Proteinen können durch ihre Faltungstopologie
liefert den Hauptbeitrag zur Bildung der kompakten Tertiär- erkannt werden
struktur von Proteinen. Sie bewirkt eine Orientierung hydropho- Unter der Faltungstopologie eines Proteins (protein-fold) ver-
ber Seitenketten weg vom polaren Lösungsmittel ins Innere eines steht man die Reihenfolge der kanonischen Sekundärstruktur-
Proteins. Während dieses Prozesses wird das Wasser aus dem elemente in der Primärstruktur und deren räumliche Beziehung.
Kern des Proteins eliminiert. Die Ursachen der hydrophoben Begrifflich steht die Faltungstopologie zwischen den Ebenen der
Wechselwirkung sind immer noch umstritten. Im strengen Sinn Sekundär- und Tertiärstruktur. Sie wird zur Klassifikation von
existiert sie sogar gar nicht, da es nach neueren experimentellen Proteinen nach gemeinsamen Strukturmerkmalen genutzt. Bei
Daten keine hydrophoben, sondern nur weniger hydrophile Sei- der Faltungstopologie werden gewöhnlich nur Helices und Falt-
tenketten gibt. Gewöhnlich wird die hydrophobe Wechselwir- blattstränge als Sekundärstrukturelemente unterschiedlicher
kung als entropischer Effekt interpretiert, da die hydratisierten Länge berücksichtigt, die durch variable Schleifen verbunden
hydrophoben Seitenketten eine höhere Ordnung (geringere En- sind. Für die Definition der Topologie ist weder die spezifische
tropie) des Wassers in ihrer Umgebung erzwingen. Wenn sie ins Aminosäuresequenz noch die Länge der einzelnen Sekundär-
Proteininnere verlagert werden, steigt die Entropie in der Was- strukturelemente und deren genaue Lage im Raum von Belang.
serhülle. Damit verringert sich die freie Enthalpie (Gibb’s free Ein Beispiel ist die ββαββαβ-Faltungstopologie des Ubiqui-
energy) des gesamten Systems von Protein und umgebendem tins (7 Kap. 49.3.2) (ubiquitin-fold), das aus einem gemischten
72 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

. Abb. 5.13. Faltungstopologie des Ubiquitins. Vom N-Terminus her zeigt


Ubiquitin die Faltungstopolgie ββαββαβ. (Einzelheiten siehe Text). PDB ID:
1UBQ

. Abb. 5.14 Hierarchie der Proteinstrukturen. In den 3 Hauptklassen der


5-strängigen β-Faltblatt und zwei α-Helices besteht, die auf dem
Proteine können jeweils verschiedene Architekturen unterschieden werden,
Faltblatt liegen (. Abb. 5.13). Die beiden ersten und die drei letz- die sich aus unterschiedlichen Faltungsgruppen zusammensetzen. Diese
ten Stränge bilden jeweils ein antiparalleles Faltblatt, die über werden dann wieder in Superfamilien und Familien untergliedert.
Strang 1 und Strang 5 parallel aneinander gelagert sind. Dieselbe (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach CA Orengo und JM Thornton 2005)
Faltungstopologie findet sich aber auch in den Ras-Bindungsdo-
mänen verschiedener Ras-Effektoren, die bei der Bindung an das
aktivierte Ras-Protein ein intermolekulares β-Faltblatt zwischen In jeder dieser Klassen lassen sich wieder bestimmte Archi-
jeweils einem β-Strang des Effektors und einem des Ras-Proteins tekturmotive identifizieren (. Abb. 5.14). Insgesamt wurden
bilden (. Abb. 5.13). bisher mehr als 30 verschiedene Architekturen gefunden. Pro-
teine mit ähnlichen Architekturen können dann weiter nach
Einteilung der Proteine nach ihrer Faltungstopologie Eine erste ihrer spezifischen Faltung in Faltungsgruppen (folds) eingeteilt
Klassifizierung der Proteine nach ihrer Faltungstopologie lässt werden, die dann zu Superfamilien und Familien zusammen-
sich durch eine Einteilung nach den Sekundärstrukturelementen gefasst werden.
erreichen, aus denen sie aufgebaut sind. Hier kann man drei Die Klassifizierung von Proteinen nach ihrer Faltungstopo-
Hauptklassen definieren (. Abb. 5.14): logie ermöglicht das Auffinden neuer struktureller Beziehungen
4 α-Proteine bestehen überwiegend aus α-Helices. zwischen verschiedenen Proteinen. Im letzten Jahrzehnt war die
4 β-Proteine sind im Wesentlichen aus antiparallelen Entdeckung neuer Faltungstopologien ein Hauptziel vieler gro-
β-Faltblättern aufgebaut. ßer Forschungsprogramme in der strukturellen Proteomik, die
4 α-β-Proteine bestehen aus parallelen oder gemischt sich auf die systematische Aufklärung der dreidimensionalen
parallel-antiparallelen Faltblättern, die durch α-Helices Strukturen von Proteinen und deren Interpretation konzentriert.
verbunden sind. Eine der Erwartungen an die strukturelle Proteomik ist, mit der
Erstellung einer weitgehend kompletten Datenbasis auch unbe-
kannte räumliche Strukturen durch Homologiemodellierung

Proteine Architektur Superfamilien homologe Laktatdehydrogenase Flavodoxin


5.2 · Konformation von Proteinen
73 5
sicher vorherzusagen, wenn die Primärstruktur bekannt ist. β-Untereinheit besteht) (7 Kap. 5.3); das Hüllprotein des Tabak-
Theoretisch werden etwa 4.000 verschiedene Faltungstopologien mosaikvirus ist eine Homomultimer aus 2.130 Protomeren.
vorhergesagt. Die wechselseitige räumliche Anordnung der Protomere in
einem multimeren Protein wird als Quartärstruktur bezeichnet.
Domänen Proteine mit mehr als 150 Aminosäuren lassen sich Sie ist oft für spezifische Eigenschaften des Proteins verantwort-
oft in strukturell unterschiedliche Regionen aufteilen, in die sog. lich, dementsprechend können kleine Änderungen der Quartär-
strukturellen Domänen. Die Domänen stellen zusammenhän- struktur oft die Eigenschaften des Proteins signifikant beeinflus-
gende Teile des Proteins dar, die sich im Allgemeinen auch un- sen. Wichtige Beispiele sind hier die Regulation des Sauerstoff-
abhängig falten können. Sie stellen oft auch funktionelle Domä- transports durch das Hämoglobin im Blut und die Steuerung der
nen dar, die bestimmte biologische Funktionen wie die Bindung katalytischen Aktivität von Enzymen. Änderungen der Quartär-
anderer Proteine (Bindedomäne) oder eine bestimmte katalyti- struktur von Proteinen nach der Bindung von Substraten ist die
sche Aktivität übernehmen. Allerdings wird für die enzymati- Basis der klassischen kooperativen Bindung und der allosteri-
sche Katalyse oft mehr als eine strukturelle Domäne benötigt und schen Regulation (7 Kap. 8.4). Die Quartärstruktur von Enzymen
die Katalyse findet an der Grenzfläche zwischen den strukturel- und die davon abhängige Aktivität werden häufig durch covalen-
len Domänen statt. te Modifikationen beeinflusst. Hier spielt die Phosphorylierung
von Hydroxylgruppen von spezifischen Seryl-, Threonyl- und
Nach ihrer Form unterscheidet man grob zwischen Tyrosylresten in den Untereinheiten eines multimeren Proteins
fibrillären und globulären Proteinen biologisch eine dominierende Rolle. Sie erfolgt durch die Aktivi-
Globuläre Proteine Globuläre Proteine haben eine kugelähnli- tät phosphatübertragender Enzyme (Proteinkinasen). Biologisch
che Gestalt und sind kompakt gefaltet. Sie zeigen gewöhnlich ist dieser Effekt reversibel, da die Phosphatgruppen unter der
eine gute Wasserlöslichkeit und übernehmen oft katalytische Einwirkung von phosphatabspaltenden Enzymen (Proteinphos-
und regulatorische Funktionen im Stoffwechsel (Funktionspro- phatasen) bei Bedarf wieder entfernt werden können. Ein klassi-
teine). Die meisten Enzyme gehören zur Klasse der globulären sches Beispiel ist hier die Regulation des Glycogenstoffwechsels,
Proteine. Auch das Hämoglobin, das den Sauerstoff im Blut bei dem die Glycogenphosphorylase durch Phosphorylierung
transportiert, ist ein Vertreter der globulären Proteine. aktiviert und die Glycogensynthase durch Phosphorylierung de-
aktiviert wird (7 Kap. 15.2).
Fibrilläre Proteine Fibrilläre Proteine haben im Gegensatz zu Damit sich die Protomere gezielt zusammenlagern können,
globulären Proteinen eine langgestreckte, faserförmige Gestalt werden bestimmte, komplementäre Bereiche auf der Oberfläche
und stellen meist Strukturproteine dar. Sie sind oft in Wasser der Proteine benötigt. Diese mussten durch die Evolution für die
oder verdünnten Salzlösungen schlecht löslich, da sie große Ag- Protein-Protein-Wechselwirkung optimiert werden und ermög-
gregate bilden. Typische Vertreter der fibrillären Proteine sind lichen es den Proteinen sich gegenseitig zu »erkennen« und an-
die extrazellulären Proteine α-Keratin (Hauptbestandteil von schließend zusammenzulagern. Um eine starke Interaktion zu
Haaren und Wolle, 7 Kap. 73.2), β-Keratin (Hauptbestandteil von gewährleisten, müssen die Oberflächen geometrisch so gut auf-
Seide) und Kollagen (Hauptbestandteil der extrazellulären Mat- einander abgestimmt sein, dass kein Wasser eindringen kann.
rix, von Bändern und Sehnen; 7 Kap. 71.1). Die Packungsdichte der Atome entspricht dann derjenigen in-
nerhalb eines Proteins. Die verschiedenen Untereinheiten wer-
den hauptsächlich durch hydrophobe Wechselwirkungen, Was-
5.2.4 Räumliche Anordnung mehrerer serstoffbrücken und elektrostatische Wechselwirkungen zusam-
Polypeptidketten in einem multimeren mengehalten.
Protein (Quartärstruktur) Zusätzlich können diese nicht-covalenten Bindungen durch
covalente Bindungen zwischen den Untereinheiten verstärkt
Die Quartärstruktur beschreibt die räumliche werden. Die Ausbildung von Disulfidbrücken zwischen zwei
Anordnung mehrerer identischer oder verschiede- Cysteinresten ist sicherlich die am weitesten verbreitete intra-
ner Polypeptidketten in Proteinkomplexen und intermolekulare covalente Verknüpfung. Proteine der extra-
Wenn sich mehrere Polypeptidketten zu Proteinkomplexen zu- zellulären Matrix, wie Kollagen und Elastin, lagern sich zu dau-
sammenlagern, spricht man von multimeren Proteinen. Die ein- erhaft stabilen, hochmolekularen Fibrillen zusammen, indem die
zelnen Polypeptidketten solcher Komplexe können als Protome- Untereinheiten durch Schiff-Basen-Bildung zwischen Lysinsei-
re oder Untereinheiten bezeichnet werden. Häufig wird die An- tenketten und Allysinseitenketten miteinander quervernetzt
zahl an Untereinheiten aus der Benennung deutlich: dimere, werden (7 Kap. 71.1.2).
trimere, tetramere, oligomere, polymere (= multimere) Proteine.
Sind die Protomere identisch, werden die Komplexe als Homo-
polymere, andernfalls als Heteropolymere bezeichnet. Oft ver- 5.2.5 Geladene Gruppen in Proteinen
wendet man aber auch die Ausdrücke Protomer und Unterein-
heit für kleine identische Grundeinheiten, aus denen ein Polymer Die Mehrzahl aller Proteine enthalten Aminosäuren mit positiv
aufgebaut ist, obwohl sie aus mehr als einer Polypeptidkette be- oder negativ geladenen Seitenketten. In der Hauptkette verlieren
stehen. So ist Hämoglobin ein Tetramer, das aus zwei Heterodi- die α-Aminogruppen und die α-Carboxylgruppen der einzelnen
meren aufgebaut ist (einem Protomer, das aus einer α- und einer Aminosäuren ihre Ladungen, wenn sie in die Peptidbindungen
74 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

überführt werden. Nur die bei neutralem pH positiv geladene


N-terminale Aminogruppe und die negativ geladene C-termina-
le Carboxylatgruppe sind nicht in die Peptidbindung eingebun-
den. Bei der Biosynthese von Proteinen wird allerdings die Ami-
nogruppe des N-terminalen Methionins bei Bakterien formyliert
und verliert dabei seine Ladung.
Die geladenen Seitenketten können je nach pH-Wert der
Umgebung reversibel protoniert und deprotoniert werden und
damit ihren Ladungszustand ändern. Die Carboxylgruppe von
Aspartyl- und Glutamylresten wird bei niedrigen pH-Werten
5 protoniert und verliert ihre negative Ladung. Die Aminogruppe
von Lysylresten und die Guanidinogruppe von Arginylresten
verliert ihre positive Ladung bei sehr hohen pH-Werten. Eine
Sonderstellung nimmt die Imidazolgruppe von Histidinen ein:
in Proteinen hat sie einen pK-Wert im Bereich von 7, d. h. bei
physiologischen pH-Werten kann sie protoniert und positiv ge-
laden sein oder auch deprotoniert und ungeladen vorliegen
(7 Kap. 3.3.4).
Bei höheren pH-Werten können auch die Seitenketten der
polaren Aminosäuren geladen sein: die Hydroxylgruppen des
Threonins, des Serins und des Tyrosins sowie die Sulfhydryl-
gruppen des Cysteins werden dann deprotoniert (7 Kap. 3.3.4)
und erhalten eine negative Ladung.
Wenn eine Seitenkette geladen ist, geht sie mit ihrer Umge-
bung eine elektrostatische Wechselwirkung ein und kann die . Abb. 5.15 Titrationskurve von Hämoglobin. Die Äquivalente an Säure
Faltung eines Proteins stabilisieren oder destabilisieren. Wenn oder Base, die für eine pH-Änderung notwendig sind, sind gegen den pH
die Oberflächenladungen durch extreme pH-Werte geändert aufgetragen. In den Bereichen, in denen sich bei Zusatz von Säure oder
Base der pH-Wert nur wenig ändert (steiler Kurvenbereich), puffert Hämo-
werden, führt dies im Allgemeinen zur Denaturierung des Pro- globin am besten. Der physiologische pH-Bereich ist rosa markiert
teins (Säure- oder Basendenaturierung).
Ein zweiter, spezifischer Effekt des Protonierungs-Deproto-
nierungs-Gleichgewichts ist die Beeinflussung der biologischen
Aktivität von Enzymen, bei denen die Seitenketten von gelade- denen Gruppen des Proteins ein komplexes elektrisches Feld im
nen Aminosäuren oft direkt an der Katalyse beteiligt sind. Sie Protein und seiner Umgebung, dessen Größe an einer bestimm-
können hier die funktionellen Gruppen für eine charakteristi- ten Stelle im Protein den pK-Wert der dort vorgefundenen Sei-
sche Art der Katalyse, die Säure-Base-Katalyse liefern. Bei dieser tengruppe modifiziert.
werden Protonen reversibel vom Substrat übernommen oder auf Die Abweichungen der pK-Werte von Modellwerten können
das Substrat übertragen (7 Kap. 7.5). Auch hier spielt das Histidin mehrere pK-Einheiten betragen. Starke Abweichungen des pK-
wieder eine besondere Rolle, da es bei physiologischen pH-Wer- Wertes findet man oft bei Resten, die direkt an der enzymati-
ten teilweise als Säure und teilweise als Base vorliegt. schen Katalyse beteiligt sind (7 Tab. 3.10).
Die Titrationskurve des Hämoglobins ist in . Abb. 5.15 zu
Isoelektrischer Punkt Wie bei einzelnen Aminosäuren gibt es sehen. In drei pH-Bereichen sind größere Säure-Base-Äquiva-
auch bei Proteinen einen pH-Wert, bei dem sie im elektrischen lente notwendig, um den pH-Wert zu ändern, d. h. hier puffert
Feld nicht zum positiven oder negativen Pol wandern. Bei diesem das Hämoglobin durch Abgabe bzw. Aufnahme von Protonen
pH besitzen sie im dynamischen Gleichgewicht im Zeitmittel besonders gut. Zwei dieser Bereiche bei pH 3 und pH 11 haben
keine Nettoladung, die eine Bewegung im elektrischen Feld be- für die physiologische Funktion des Hämoglobins keine größere
wirkt. Dieser pH-Wert ist der isoelektrische Punkt pI des Pro- Relevanz. Der Puffereffekt bei pH 3 wird durch die Aspartyl- und
teins. Prinzipiell kann man ihn aus den pK-Werten aller gelade- Glutamylreste des Hämoglobins verursacht, der Puffereffekt bei
nen Gruppen berechnen. Allerdings ist dies für Proteine nicht so pH 11 wird durch Arginyl- und Lysyslreste bedingt. Wichtig ist
einfach, da die pK-Werte der einzelnen Aminosäurereste im der Effekt im physiologischen pH-Bereich von pH 7.4 (rosa mar-
Protein in der Regel von den Werten abweichen, die man bei kiert), der durch die Histidylreste des Hämoglobins bewirkt
freien Aminosäuren oder Modellpeptiden bestimmt (7 Tab. wird. Deren Protonierungs-Deprotonierungs-Gleichgewicht hat
3.10). Der pK-Wert einer bestimmten Seitenkette im Protein einen direkten Einfluss auf den O2- und den CO2-Transport
hängt nämlich von der gesamten räumlichen Struktur des Prote- durch das Hämoglobin (7 s. u.) und auf die Regulation des Säure-
ins ab. Auf der einen Seite hat man lokale Effekte: Die Bildung Base-Haushalts im Blut (7 Kap. 66.1.3).
von Wasserstoffbrücken oder Salzbrücken mit räumlich benach-
barten Aminosäuren beeinflusst das Dissoziationsgleichgewicht
einer Seitenkette im Protein. Darüber hinaus erzeugen alle gela-
5.3 · Hämoglobin und Myoglobin: Ein wichtiges Beispiel für die Konformationsabhängigkeit funktioneller Eigenschaften
75 5
Das Hämoglobin kommt, wie schon das Präfix »haemo«
Zusammenfassung (nach dem griechischen Wort αἷμα (haima) für Blut) sagt, nur im
Die Hierarchie der Proteinstrukturen hat vier Ebenen: Blut vor. Daneben gibt es mit dem Myoglobin ein zweites Protein,
4 Die Primärstruktur entspricht der Sequenz der Amino- das Sauerstoff bindet und in den Herz- und Skelettmuskelzellen
säuren eines Proteins, die durch Peptidbindungen ver- in hohen Konzentrationen vorkommt (daher auch das Präfix
knüpft wurden. Die Peptidbindung verknüpft die Carb- »myo« nach dem griechischen Wort μῦς (müs) für Muskel). Im
oxylgruppe einer Aminosäure mit der Aminogruppe der Herzmuskel überbrückt sauerstoffbeladenes Myoglobin den
darauffolgenden Aminosäure; sie hat einen partiellen Sauerstoffmangel, der durch die Kompression der Herzkranzge-
Doppelbindungscharakter und ist planar. fäße während jeder Systole entsteht. Im Skelettmuskel dient es
4 Die Sekundärstruktur beschreibt die lokale räumliche als Puffer bei einem durch die Muskelkontraktion kurzzeitig ge-
Struktur der Hauptkette. Die meisten Proteine enthalten steigerten Sauerstoffbedarf. Zusätzlich führt die Diffusion des
die kanonischen Sekundärstrukturelemente, die durch sauerstoffbeladenen Myoglobins (Oxymyoglobin) auch zu einer
Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Amid- und deutlich schnelleren Verteilung des Sauerstoffs in den Muskelzel-
Carbonylgruppen der Peptidbindungen stabilisiert wer- len so wie Hämoglobin die Transportkapazität des Blutes für
den. Die wichtigsten Sekundärstrukturelemente sind die Sauerstoff um das 70fache gegenüber der Menge steigert, die
α-Helix und das β-Faltblatt. physikalisch löslich ist.
4 Die Tertiärstruktur entspricht der vollständigen drei-
dimensionalen Konformation monomerer Proteine. An α-Helices machen einen hohen Prozentsatz
der Ausbildung der Tertiärstruktur sind elektrostatische der Sekundärstruktur des Myoglobins aus
(ionische) und van-der-Waals-Wechselwirkungen, intra- Myoglobin Myoglobin ist ein monomeres Protein von 153 Ami-
molekulare Wasserstoffbrücken, hydrophobe Wechsel- nosäuren. Es besitzt eine molekulare Masse von ca. 17,8 kDa.
wirkungen und Disulfidbrücken zwischen den Amino- Hugo Theorell entdeckte Myoglobin 1932 in Schweden. Es war
säureseitenketten der Polypeptidketten beteiligt. Die auch das erste Protein, dessen räumliche Struktur vollständig in
meisten Proteine enthalten geladene Seitenketten, die atomarer Auflösung aufgeklärt werden konnte. Nachdem An-
abhängig vom pH-Wert der Lösung protoniert oder de- fang der fünfziger Jahre schon die α-Helix- und das β-Faltblatt
protoniert sein können. Eine besondere Bedeutung hat als vorherrschende Sekundärstrukturelemente der α- und
der Imidazolring der Histidine, der Protonen bei der β-Keratine durch Röntgenfaserstreuungsexperimente entdeckt
Säure-Base-Katalyse aufnehmen oder abgeben kann. wurden, gelang es Ende der fünfziger Jahre John Kendrew in
4 Die Quartärstruktur von Proteinen gibt die räumliche Oxford durch Röntgenstreuung an Myoglobineinkristallen die
Anordnung mehrerer Untereinheiten in einem multi- räumlichen Koordinaten der ungefähr 2.500 Atome eines Myo-
meren Protein wieder. Sehr viele Proteine sind nur als globinmonomers zu ermitteln. Myoglobin ist aus 8 α-Helices
Multimere biologisch aktiv. Häufig wird die Aktivität (A-H) aufgebaut, die zusammen 70 % der Struktur von Myoglo-
multimerer Proteine durch die Wechselwirkungen bin ausmachen (. Abb. 5.16). Somit stellt Myoglobin einen typi-
zwischen ihren Untereinheiten kontrolliert. schen Vertreter der Klasse der α-Proteine (. Abb. 5.14) dar.
Die sich zwischen den Helices befindenden Bereiche können
keiner bekannten kanonischen Sekundärstruktur wie dem
β-Faltblatt zugeordnet werden. Die Helices und Schleifenregio-
5.3 Hämoglobin und Myoglobin: Ein wichtiges nen formen eine kompakt gefaltete, globuläre Struktur mit einer
Beispiel für die Konformationsabhängig- Größe von 4,4 . 4,4 . 2,5 nm.
keit funktioneller Eigenschaften
Das Eisenzentrum des Häm bindet im Myoglobin
Hämoglobin transportiert den Sauerstoff im Blut von und Hämoglobin den molekularen Sauerstoff
Wirbeltieren und Menschen, Myoglobin dient der Im Zentrum des Myoglobinmoleküls befindet sich eine hydro-
kontinuierlichen Sauerstoffversorgung des Muskels phobe Tasche, die das Häm als prosthetische Gruppe enthält. Das
Hämoglobin Sauerstoff ist ein unpolares Molekül und daher in Häm ist aus vier Pyrrolringen aufgebaut, die über Methinbrü-
dem polaren wässrigen Medium des Intra- und Extrazellulär- cken (–CH=) verknüpft sind (7 Kap. 32.1.1). Dieses Porphyrin-
raums schlecht löslich. Wegen der geringen physikalischen Lös- gerüst wird an den Pyrrolringen durch verschiedene zusätzliche
lichkeit von Sauerstoff im Blut des Menschen ist für eine ausrei- Gruppen modifiziert, nämlich vier Methyl-, zwei Vinyl- und
chende Versorgung der peripheren Gewebe die Anwesenheit zwei Propionylgruppen. Im Zentrum der Pyrrolringe befindet
eines spezifischen Sauerstofftransporters erforderlich. Es ist das sich ein zweiwertiges Eisenatom, das mit den vier Stickstoffato-
Hämoglobin, das in den roten Blutkörperchen (Erythrocyten) in men der Pyrrolringe koordiniert ist (. Abb. 5.17).
hoher Konzentration vorkommt. Es wird in den Lungenkapilla- Der Sauerstoff ist nicht-covalent an das Eisenatom gebunden.
ren mit Sauerstoff beladen und gibt diesen in den Kapillaren ab, Da das Porphyringerüst eine Anzahl von konjugierten Doppel-
wenn dort der Sauerstoffpartialdruck durch den Sauerstoffver- bindungen besitzt, absorbiert es Licht im sichtbaren Bereich des
brauch des umgebenden Gewebes absinkt. Dafür nimmt es dann elektromagnetischen Spektrums. Daher sind Myoglobin und der
das im katabolen Stoffwechsel entstehende CO2 auf und trans- myoglobinhaltige Muskel rötlich gefärbt. Da Hämoglobin diesel-
portiert es zurück zur Lunge. be prosthetische Gruppe enthält, erscheint auch Blut rot gefärbt.
76 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

. Abb. 5.16 Räumliche Struktur des Myoglobins. Die Hauptkette des


Myoglobins mit den 8 α-Helices ist blau dargestellt. Das Porphyringerüst
(C-Atome: grün; O-Atome: rot; N-Atome: blau) mit dem Zentralatom Fe2+ . Abb. 5.17 Häm, die prosthetische Gruppe des Myoglobins und Hämo-
(orange) und dem gebunden O2-Molekül (rot) ist in atomarer Auflösung globins. Das Häm ist über das zentrale Eisenatom covalent an den Imida-
wiedergegeben. Das proximale (links) und das distale (rechts) Histidin sind zolring eines Histidinrestes von Helix F (proximales Histidin) der Globin-
braun hervorgehoben. PDB ID: 1MBO kette gebunden. Bei der Bindung an das zentrale Eisenatom kommt der
Sauerstoff zwischen dem Eisenatom und einem weiteren Histidinrest von
Helix E der Globinkette, dem distalen Histidin, zu liegen
Die rötliche Färbung der Haut rührt auch von der Farbe des Blutes
her. Wenn bei Eisenmangel nicht genügend Hämoglobin gebildet
werden kann, nimmt die rötliche Färbung der Haut ab. Daher ist in den Zellen immer einige Prozent des Myoglobins in diesem
Blässe ein charakteristisches Symptom der Blutarmut (Anämie). Zustand vor, das Metmyoglobin wird aber in der lebenden Zelle
Die Lage des Porphyrinrings im Myoglobin wird durch die immer wieder reduziert. Bei totem Muskelgewebe wird mit der
Gesetzmäßigkeiten festgelegt, die wir schon bei der Ausbildung Zeit immer mehr Myoglobin oxidiert. Dadurch entsteht die typi-
der Tertiärstruktur von Proteinen kennengelernt haben: der hy- sche dunkle Färbung von lang gelagertem Fleisch. Denselben
drophobe Porphyrinring und die Vinylseitenketten gehen Inter- Effekt findet man auch beim Hämoglobin, durch Oxidation des
aktionen mit hydrophoben Seitenketten des Proteins ein, die Häm-Eisens entsteht hier Methämoglobin. Unter dem Einfluss
hydrophilen Propionylseitenketten zeigen zur Oberfläche des der NADH-abhängigen Methämoglobinreduktase (7 Kap. 68.2.4)
Myoglobins (. Abb. 5.16). Neben diesen nicht-covalenten kann das Eisenatom im Organismus wieder reduziert werden.
Wechselwirkungen wird die prosthetische Gruppe durch eine Erst die Proteinumgebung gibt dem Häm seine besonderen
covalente Bindung zwischen einem Histidinrest und dem funktionellen Eigenschaften. Das Häm-Molekül findet man auch
Eisenatom am Protein verankert (. Abb. 5.17). Dieser Histidin- in anderem biologischen Kontext an andere Proteine gebunden.
rest wird auch als proximales Histidin bezeichnet und koppelt Eine wichtige Gruppe von Enzymen sind hier die Cytochrome
Konformationsänderungen des Proteins an Zustandsänderun- (7 Kap. 32.1.2).
gen am Porphyrinring, die mit der Sauerstoffbindung oder der
Sauerstoffabgabe einhergehen. Hämoglobin ist ein Tetramer aus
Auf der anderen Seite des Porphyrinrings liegt ein zweiter zwei α- und zwei β-Ketten
Histidinrest in der Nähe des Eisenatoms, ist aber nicht-covalent Hämoglobin ist aus vier Polypeptidketten aufgebaut (. Abb. 5.18).
an das Metallion gebunden. Zwischen diesem Histidin und dem Das Hämoglobin des Erwachsenen besteht aus jeweils zwei α- und
Metallion lagert sich das Sauerstoffmolekül bei seiner Bindung zwei β-Ketten. Diese Ketten haben nur eine geringe Sequenzähn-
an. lichkeit mit der Polypeptidkette des Myoglobins (27 gemeinsame
Das zweiwertige Fe2+ wird im freien Porphyrin in einer wäss- Aminosäuren). Die α-Ketten bestehen aus 141 Aminosäuren, die
rigen Lösung durch den Luftsauerstoff schnell zum dreiwertigen β-Ketten sind mit 146 Aminosäuren etwas größer. Das aus diesen
Fe3+ oxidiert. Das dabei entstehende Hämatin kann keinen Ketten gebildete Tetramer hat eine molekulare Masse von etwa
Sauerstoff mehr binden. Im Myoglobin ist dieser Oxidationspro- 64,5 kDa und besteht aus 574 Aminosäuren.
zess durch die Interaktion des Eisens mit dem proximalen Histi- Die vier Polypeptidketten des Hämoglobins binden mit dem
din erheblich verlangsamt. Trotzdem findet dieser Vorgang statt, Häm dieselbe prosthetische Gruppe wie das Myoglobin. Trotz
es entsteht Metmyoglobin. Im biologischen Gleichgewicht liegen der großen Sequenzunterschiede nehmen die Hämoglobinpoly-
5.3 · Hämoglobin und Myoglobin: Ein wichtiges Beispiel für die Konformationsabhängigkeit funktioneller Eigenschaften
77 5

A B

. Abb. 5.18 Darstellung der tetrameren Struktur des menschlichen Hämoglobins. Die beiden α-Untereinheiten sind in Rottönen wiedergegeben, die
beiden β-Untereinheiten in grün. Die gezeigte Konformation des Oxyhämoglobins (links) wird als R-Zustand bezeichnet, die des Desoxyhämoglobins
(rechts) als T-Zustand. Der zentrale Kanal des Oxyhämoglobins (links) ist durch die hier nicht abgebildeten Aminosäure-Seitenketten fast vollständig ver-
schlossen. C1 und C2 bezeichnen die C-Termini, N1 und N2 die N-Termini der entsprechenden α1- und α2-Untereinheiten. Die jeweiligen Termini befinden
sich in engem räumlichen Kontakt. Die Helices der α/β-Untereinheiten werden gewöhnlich mit Großbuchstaben (A–H) markiert. PDB ID: 2DN1, 2DN2

peptide beinahe dieselbe Tertiärstruktur wie das Myoglobin an. schen den beiden α- und den beiden β-Untereinheiten sind im
Dies legt nahe, dass im Wesentlichen nur die 27 Aminosäuren, Vergleich dazu nur schwach ausgebildet, es bildet sich ein flüs-
die bei Myoglobin- und Hämoglobinketten identisch sind, für sigkeitsgefüllter Kanal (. Abb. 5.18). Er verläuft entlang der
die Ausbildung des hydrophoben Kerns und die Kontakte zum zweizähligen Symmetrieachse der Homodimere. Wenn Hämo-
Häm verantwortlich sind. Man kann annehmen, dass Hämoglo- globin keinen Sauerstoff gebunden hat (Desoxyhämoglobin) ist
bin und Myoglobin durch Genverdopplung aus einem Gen der der Kanal etwa 2 nm breit und 5 nm lang. Mit Bindung von
Urglobinkette entstanden sind. Im Laufe der Evolution haben sie Sauerstoff tritt eine Änderung der Tertiär- und Quartärstruktur
sich dann unabhängig voneinander weiter entwickelt und sich ein, sodass bei Sauerstoffsättigung im Oxyhämoglobin der Kanal
ihren neuen Aufgaben angepasst. Der Prozess der Genduplika- beinahe vollkommen verschwunden ist.
tion wiederholte sich mehrmals, so dass heute das Myoglobin, Hämoglobin ist nicht nur bei den Wirbeltieren (Vertebraten)
die α- und β-Ketten des Hämoglobins sowie weitere Varianten zu finden, sondern dient auch bei vielen wirbellosen Tieren (In-
wie die γ-, δ- und ε-Ketten des Hämoglobins existieren, die man vertebraten) als Sauerstofftransportsystem. Bei Mollusken
aber im Allgemeinen nur in fetalen Entwicklungsstadien oder (Weichtieren), Arthropoden (Gliederfüßlern) und Brachiopo-
beim Erwachsenen unter besonderen Bedingungen findet den (Armfüßlern) übernehmen das kupferhaltige Hämocyanin
(7 Kap. 68.2.3). und das eisenhaltige Protein Hämerythrin die Rolle des Sauer-
Analog zum Myoglobin enthalten auch die Hämoglobinpo- stofftransporters. Im Unterschied zum Hämoglobin enthalten
lypeptide als kanonische Sekundärstrukturelemente nur die beiden Proteine kein aus Porphyrinringen aufgebautes Häm
α-Helices mit einem Gesamtanteil von über 70 %. Auch die als Cofaktor, der Sauerstoff ist trotzdem an die Metallionen ge-
β-Ketten bilden wie das Myoglobin 8 Helices (A–H) aus, bei den bunden.
α-Ketten fehlt eine α-Helix, die D-Helix (. Abb. 5.18).
Im funktionellen Hämoglobin-Tetramer werden die vier Ein- Quartärstrukturänderungen sind die Basis
zelketten durch Wechselwirkungen zwischen ihren Kontaktstel- kooperativer Effekte im Hämoglobin
len zusammengehalten. Jeweils eine α- und eine β-Untereinheit Die Bindung von Sauerstoff an das monomere Myoglobin zeigt
bilden ein Dimer (α1/β1- und α2/β2-Dimer), das durch mehr als eine einfache hyperbolische Abhängigkeit der Sauerstoffsätti-
30 intermolekulare, hauptsächlich hydrophobe Kontakte stabili- gung des Proteins von der Konzentration des gelösten Sauer-
siert wird. Diese beiden Dimere sind so zueinander angeordnet, stoffs, wobei die Sauerstoffkonzentration gemäß dem Henry-
dass sie durch eine Rotation um 180° ineinander überführt wer- Dalton-Gesetz proportional zum Sauerstoffpartialdruck ist
den können. Auch zwischen den α1- und β2- sowie den α2- und (. Abb. 5.19). Dieselbe Bindungskurve wie für Myoglobin erhält
β1-Untereinheiten gibt es jeweils eine große Anzahl intermole- man auch für die isolierte β-Kette des Hämoglobins, die in Lö-
kularer Kontakte. Die stabilisierenden Wechselwirkungen zwi- sung als Monomer vorliegt. Eine ganz andere Bindungskurve
78 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

Ausatmen einhergehenden Formänderung der Lunge bezeichne-


te Perutz das Hämoglobin als molekulare Lunge.
Wie wir schon gesehen haben (. Abb. 5.18) unterscheiden
sich Oxy- und Desoxyhämoglobin im Wesentlichen durch ihre
Quartärstruktur, das heißt durch die wechselseitige Anordnung
der einzelnen Untereinheiten. Bei der durch die Sauerstoffbin-
dung verursachten Änderung der Quartärstruktur bleiben die
Struktur des α1/β1- und α2/β2-Dimers und die internen Kontakte
zwischen den Peptidketten weitgehend erhalten. Im Gegensatz
dazu ändert sich die relative Orientierung der Dimere drama-
5 tisch: Das α1/β1-Dimer wird relativ zum α2/β2-Dimers um etwa
15° durch die Sauerstoffanlagerung verdreht und der zentrale,
wassergefüllte Kanal schließt sich (. Abb. 5.18). Durch diese Ro-
tationsbewegung ändern sich auch die Kontakte zwischen den
α1-und β2-Ketten und den α2- und β1-Ketten und damit auch die
physikalischen Wechselwirkungen zwischen den Aminosäure-
resten der beiden Dimere deutlich. Als Nettoeffekt dieser Umla-
gerungen ergibt sich ein zweites Energieminimum, das die Quar-
tärstruktur des Oxyhämoglobins stabilisiert. Diese beiden Zu-
stände werden als der T- und der R-Zustand des Hämoglobins
. Abb. 5.19 Sauerstoffbindungskurven des Myoglobins, der isolierten bezeichnet (T = tense, R = relaxed). Die zugehörigen Konforma-
β-Kette des Hämoglobins und des tetrameren Hämoglobins
tionen der einzelnen Polypeptidketten heißen folgerichtig t- und
r-Konformationen.
Wie genau nun dieser Übergang vom T- in den R-Zustand bei
erhält man für das tetramere Hämoglobin. Hier findet man einen der kooperativen Sauerstoffbindung vonstattengeht, ist immer
sigmoidalen Verlauf der Bindungskurve, der offensichtlich aus noch Gegenstand aktueller Forschung, da die experimentellen
der Zusammenlagerung der einzelnen Untereinheiten resultiert. Daten mit mehr als einem kinetischen Modell erklärt werden
Was bedeutet das für die Sauerstoffaufnahme und -abgabe? Im können. Allerdings sind die Grundzüge der notwendigen kon-
Myoglobin steigt die Sättigung des Proteins mit steigendem formationellen Übergänge wie sie von Perutz aus den Röntgen-
Sauerstoffpartialdruck schnell an, sodass bei 1 mmHg (0,13 kPa) strukturdaten abgeleitet wurden als konsistentes Basismodell
50 % des Myoglobins mit Sauerstoff gesättigt sind. Für das Hä- allgemein akzeptiert.
moglobin ist es anders. Die Bindungskurve steigt zunächst nur
langsam an, und erst bei höheren Sauerstoffpartialdrücken zeigt Die Sauerstoffbindung verursacht primär
sie einen steilen Anstieg. Daher benötigt man zur Halbsättigung eine Bewegung des Eisenatoms und des daran
einen deutlich höheren Partialdruck von 26,6 mmHg (3,5 kPa). gebundenen proximalen Histidinrestes als Auslöser
Bei dem in den Lungenalveolen vorherrschenden Sauerstoffpar- für eine Konformationsänderung des gesamten
tialdruck von etwa 100 mmHg (13,3 kPa) sind beide Proteine mit Hämoglobins
Sauerstoff gesättigt. Ganz anders ist es im Kapillarbett, in dem Der wichtigste Schritt ist die Bindung des Sauerstoffmoleküls an
der Sauerstoff möglichst vollständig abgegeben werden muss. das Eisen des Häms und die dadurch induzierte Bewegung des
Hier führt die S-förmige Bindungskurve schon bei dem hier ty- proximalen Histidinrestes. In Abwesenheit von Sauerstoff befin-
pischen Sauerstoffpartialdruck von 22,5 mmHg (3 kPa) zu einer det sich das Eisen im paramagnetischen high-spin-Zustand, bei
signifikanten Abgabe des Sauerstoffs. dem nicht alle Elektronen gepaart sind. In diesem Zustand liegt
Die sigmoidale Bindungskurve ist ein Zeichen für eine ko- das Eisenion außerhalb der Porphyrinringebene und der Por-
operative Bindung des Sauerstoffs an das Hämoglobin: Die Bin- phyrinring selbst ist leicht durchgebogen (. Abb. 5.20). Wenn
dung von einem Sauerstoffmolekül an eine Untereinheit führt zu nun ein Sauerstoffatom an das Eisenatom bindet, ändert sich
einer Änderung ihrer Tertiärstruktur. Die daraus resultierende dessen Elektronenkonfiguration, das zweiwertige Eisenatom
Änderung der Quartärstrukturinteraktionen führt dazu, dass die geht in den diamagnetischen low-spin-Zustand über. Eine di-
anderen Untereinheiten die Konformation einnehmen, die eine rekte Folge davon ist eine Verkürzung der Bindungen zu den
höhere Affinität für Sauerstoff hat. Stickstoffatomen der Pyrrolringe. Das Eisenatom befindet sich
Die strukturelle Basis zur Erklärung dieser Vorgänge liefer- jetzt in der Ebene des Porphyrinsystems und bewegt sich dabei
ten die Röntgenstrukturanalysen von Max F. Perutz. Schon Ende um etwa 0,075 nm auf das nun planare Ringsystem zu. Dieser
der 40er Jahre hatte man die Beobachtung gemacht, dass man bei Bewegung folgt das proximale Histidin (. Abb. 5.20) und indu-
der Kristallisation von Oxyhämoglobin andere Kristalle erhält als ziert nun den Übergang der Untereinheit in den R-Zustand.
bei Desoxyhämoglobin. Die erhaltenen Röntgenstrukturen zeig- Da das proximale Histidin Teil der Helix F ist, überträgt sich
ten, dass Hämoglobin in zwei unterschiedlichen Formen vorlie- die Bewegung des Eisenatoms primär auf diese Helix und dann
gen kann, je nachdem, ob es keinen Sauerstoff gebunden hat oder auf das gesamte Protein. Die Verschiebung der Helix F führt
mit Sauerstoff gesättigt ist. In Analogie zur mit dem Ein- und dann zu einer Verschiebung von Helix G und letztlich zu einer
5.3 · Hämoglobin und Myoglobin: Ein wichtiges Beispiel für die Konformationsabhängigkeit funktioneller Eigenschaften
79 5

. Abb. 5.20 Schematische Darstellung von strukturellen Veränderungen bei der Oxygenierung der α-Kette des Hämoglobins. Die Aminosäuren Tyro-
sin 140 und das C-terminale Arginin 141 der Helix H der α-Kette und das proximale Histidin der Helix F, das an das Häm-Eisen gebunden ist, sind besonders
hervorgehoben. (Einzelheiten s. Text)

deutlichen Lageveränderung der C-terminalen Aminosäuren Wechselwirkungen abhängt (s. o.) und die Ladung der beteilig-
Tyrosin und Arginin der β-Untereinheiten. Dadurch werden v. a. ten Gruppen prinzipiell durch den pH-Wert beeinflusst wird,
elektrostatische Interaktionen zwischen den α1- und α2-Ketten kann man auch eine Abhängigkeit der Sauerstoffbindung vom
bzw. den β1- und α2-Ketten aufgebrochen, was zum Übergang pH-Wert erwarten. Im physiologischen pH-Bereich um 7,4 kom-
des Hämoglobins in den R-Zustand führt. Die Bedeutung dieser men für eine Protonierung/Deprotonierung die N-terminalen
elektrostatischen Interaktionen für den Quartärstrukturüber- Aminogruppen der α- und β-Ketten und die C-terminalen His-
gang kann man experimentell einfach beweisen: Entfernt man tidinreste der β-Ketten in Frage, die beide pK-Werte im neutra-
die C-terminalen, positiv geladenen Argininreste, so verschwin- len Bereich haben. Sie werden daher bei einem niedrigem pH-
det die Kooperativität der Sauerstoffbindung, obwohl das Hämo- Wert protoniert und sind dann positiv geladen. Die positiven
globin immer noch ein Tetramer bildet. Ladungen stabilisieren den für Sauerstoff niederaffinen T-Zu-
Der Sauerstoff wird in der r-Konformation besser gebunden stand des Proteins. Das bedeutet, dass bei niederem pH (Acido-
als in der t-Konformation, da in der r-Konformation der Sauer- se) wie er in den Kapillaren bei ungenügender Sauerstoffversor-
stoff näher an das distale Histidin herangeführt wird und auf gung des Gewebes vorliegt, verstärkt Sauerstoff abgegeben wird.
diese Weise stabilisierende Interaktionen mit diesem eingehen Diesen Effekt nennt man Bohr-Effekt.
kann. Wenn man dann noch annimmt, dass in der t-Konforma- Im Kapillarbett steigt durch den katabolen Stoffwechsel der
tion der Sauerstoff schwächer an die β-Ketten als an die α-Ketten CO2-Spiegel erheblich an. Kohlendioxid kann bei hohen Kon-
bindet, kann man ein plausibles Modell aufstellen, mit dem sich zentrationen mit den N-terminalen Aminogruppen der Hämo-
die kooperative Sauerstoffbindung gut qualitativ und quantitativ globinketten reagieren und labile covalente Carbamine bilden
beschreiben lässt: Bei niedrigem Sauerstoffpartialdruck bindet (Carbaminohämoglobin). Diese Modifikation stabilisiert wie-
Sauerstoff zunächst an die α-Kette, die aber im Gleichwicht über- der den T-Zustand (erhöhte Sauerstoffabgabe, Haldane-Effekt).
wiegend in der t-Konformation bleibt, da diese durch die Quar- Hämoglobin versorgt also nicht nur die peripheren Zellen mit
tärstrukturinteraktionen stabilisiert wird. Bei Zunahme des Sau- Sauerstoff, sondern ist gleichzeitig am Transport der beim Stoff-
erstoffpartialdrucks nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass eine wechsel entstehenden Protonen und des CO2 zur Lunge beteiligt
zweite α-Kette (oder mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine (7 Kap. 68.2.3).
β-Kette) oxygeniert wird. Damit erhöht sich die Tendenz, dass Durch eine Veränderung des Gleichgewichts zwischen R-
die Untereinheiten in die r-Konformation übergehen, die Sauer- und T-Zustand wird also die Sauerstoffanlagerungskurve des
stoffaffinität nimmt zu. Dies triggert den weiteren Übergang an- Hämoglobins in Abhängigkeit von den Protonen- und CO2-Kon-
derer Einheiten in die r-Konformation, sodass bei weiterer Erhö- zentrationen im Medium nach links oder rechts verschoben.
hung des Sauerstoffpartialdrucks das gesamte Molekül schnell in Eine andere wichtige Regulation der Sauerstoffaffinität des Hä-
den R-Zustand mit hoher Sauerstoffaffinität übergeht. moglobins findet bei der Höhenanpassung statt. 2,3-Bisphos-
phoglycerat (2,3-BPG) ist ein Stoffwechselprodukt des Glucose-
Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins wird stoffwechsels (7 Kap. 68.2.4) und kann als hochgeladenes Mole-
durch allosterische Effektoren reguliert kül im zentralen Kanal des Hämoglobins binden. Da dieser nur
Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins muss den häufig wech- im T-Zustand offen ist, stabilisiert es dessen offenen Zustand und
selnden äußeren Bedingungen angepasst werden. Eine wichtige führt zu einer erleichterten Sauerstoffabgabe. Bei der Höhenad-
Möglichkeit besteht darin, das intrinsische Gleichwicht zwischen aptation wird in den Erythrozyten vermehrt 2,3-BPG gebildet,
dem niederaffinen T-Zustand und dem hochaffinen R-Zustand um so die verringerte Sauerstoffsättigung des Blutes zumindest
zu verschieben. Da dieses Gleichgewicht von elektrostatischen teilweise zu kompensieren.

Desoxyhämoglobin# Oxyhämoglobin#
80 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

. Abb. 5.21 Denaturierung und Renaturierung von Ribonuclease aus Pankreas. Das native Enzym mit den vier rot dargestellten Disulfidbrücken wird
durch Behandlung mit einem Überschuss an Thiolen (z. B. Mercaptoethanol) in Gegenwart hoher Harnstoffkonzentrationen entfaltet und somit denatu-
riert. Nach Entfernung von Harnstoff und Mercaptoethanol durch Dialyse erreicht das Enzym wieder seine ursprüngliche Aktivität und Raumstruktur. Es ist
renaturiert

Da die Bindungsstellen für Protonen, Kohlendioxid und schen Methoden wie der CD-(Circulardichroismus-)Spektros-
2,3-Bisphosphoglycerat nicht mit denen für den Sauerstoff am kopie bestimmen kann. Harnstoff geht dabei keine chemische
Häm identisch sind, handelt es sich bei diesen Komponenten um Reaktion mit dem Polypeptid ein, alle covalenten Bindungen
klassische allosterische Effektoren (nach der griechischen Be- bleiben intakt. Die Disulfidbrücken der nativen Ribonuclease
zeichnung für »anderer Bereich« benannt). können dann zusätzlich noch durch Beigabe eines Reduktions-
mittels wie β-Mercaptoethanol gespalten werden, um eine linea-
re Polypeptidkette zu erhalten. Am Schluss erhält man dann ein
Zusammenfassung vollkommen inaktives, ungefaltetes Protein. Entfernt man nun
Hämoglobin ist das Sauerstofftransportprotein der Wirbel- den Harnstoff und das Reduktionsmittel durch Dialyse, nimmt
tiere: das Protein wieder selbstständig seine native Konformation an.
4 Das Hämoglobin des Erwachsenen ist ein Tetramer aus Sogar die Disulfidbrücken werden unter dem Einfluss des Luft-
zwei α- und zwei β-Untereinheiten. sauerstoffs wieder korrekt gebildet. Es kommt zur spontanen
4 Die kooperative Sauerstoffbindung ist eine Folge der Renaturierung.
Wechselwirkung zwischen den Untereinheiten. Damit ist bewiesen, dass alle Informationen über die native
4 Bei niedrigem pH (Acidose) der Umgebung wird Sauer- Konformation in der Primärstruktur codiert sind, die ja auch die
stoff abgegeben (Bohr-Effekt). einzige Information ist, die über das Protein in der DNA gespei-
4 2,3-Bisphosphoglycerat-Bindung erhöht die Sauerstoff- chert ist. Allerdings garantiert diese Eigenschaft nicht, dass nicht
abgabe bei der Höhenadaptation. auch Fehlfaltungen entstehen können (im Falle der Ribonuclease
z. B. falsche Disulfid-Brücken). Um die Faltungseffizienz zu er-
höhen, hat die Zelle für bestimmte Proteine zusätzliche Hilfsme-
chanismen entwickelt (7 Kap. 49.1).
5.4 Physiologische und pathologische
Faltungsprozesse bei Proteinen Der Faltungscode von Proteinen ist noch
nicht entschlüsselt
5.4.1 Denaturierung und Faltung von Proteinen Heutzutage ist die Aufklärung der Nucleotidsequenz einer DNA
Routine und kann mit hoher Zuverlässigkeit durchgeführt wer-
Wie wir schon gesehen haben, ist die ungestörte biologische den. Da der genetische Code bekannt ist, kann daraus die Ami-
Funktion eines Proteins von seiner intakten räumlichen Struktur nosäuresequenz direkt abgeleitet werden. Anders ist es mit der
abhängig. Eine Zerstörung der nativen Konformation (Denatu- räumlichen Struktur eines Proteins. Auch wenn die Aminosäure-
rierung) führt zum Verlust der biologischen Aktivität. 1961 zeig- sequenz eines Proteins bekannt ist, kann man seine Raumstruktur
te Christian Anfinsen experimentell an der Ribonuclease, dass im Allgemeinen noch nicht mit hoher Genauigkeit vorhersagen.
zumindest ein kleines Protein reversibel denaturiert und renatu- Es gibt offensichtlich hierzu keine einfache Codierung, die es nur
riert werden kann (. Abb. 5.21). zu entschlüsseln gilt. Dies hat verschiedene physikalische Gründe.
Titriert man eine Lösung von nativ gefalteter, enzymatisch Ein wesentlicher Grund ist sicherlich, dass der zugängliche Kon-
aktiver Ribonuclease mit Harnstoff, geht die enzymatische Akti- formationsraum für Proteine riesig groß ist und sich mögliche
vität mit steigender Harnstoffkonzentration immer mehr zu- Konformationen energetisch oft nur wenig unterscheiden.
rück. Parallel dazu wird auch der Anteil an kanonischen Sekun- Die Vielzahl der frei drehbaren Einfachbindungen der
därstrukturelementen immer kleiner, den man mit biophysikali- Haupt- und Seitenketten lässt eine fast unbegrenzte Zahl von
5.4 · Physiologische und pathologische Faltungsprozesse bei Proteinen
81 5
möglichen Konformationen zu. Selbst wenn man davon aus- schnellen, reversiblen Gleichgewicht U N ausgeschieden.
geht, dass die native Struktur die Struktur mit der niedrigsten Ihr Auftreten stellt den Prototyp der (scheinbar) irreversiblen
Energie (genauer: niedrigsten freien Enthalpie G) ist, ist das glo- Denaturierung dar. Wie schon oben für den denaturierten und
bale Minimum der freien Enthalpie relativ flach, d. h. die freie den gefalteten Zustand U und N besprochen, stellen in Lösung
Enthalpie der nativen Konformation eines Proteins unterschei- auch die Zustände I und X eigentlich wieder Ensembles von
det sich quantitativ kaum von derjenigen anderer, ähnlicher ähnlichen Konformationen dar.
Konformationen. Selbst die Energieunterschiede zwischen ei- Experimentell lassen sich allerdings bei kleinen Proteinen
nem korrekt gefalteten und einem denaturiertem Protein sind mit einfachen spektroskopischen Methoden (Fluoreszenzspekt-
sehr klein. Die freie Stabilisierungsenthalpie ∆G0stab eines ty- roskopie, CD-Spektroskopie) oft nur ein gefalteter und ein dena-
pischen mittelgroßen Proteins liegt in der Größenordnung von turierter Zustand (Zweizustandsmodell) nachweisen und es ge-
45 ± 15 kJ mol–1. Dieser Wert entspricht nur der Energie von lingt nicht, ein Faltungsintermediat zu detektieren. Faltungsin-
einigen wenigen zusätzlichen Wasserstoffbrücken im Protein. termediate müssen allerdings aus fundamentalen, thermodyna-
Dazu kommt, dass die funktionelle, »native« 3D-Struktur nicht mischen Gründen immer dann vorhanden sein, wenn ein
notwendigerweise dem absoluten Minimum der freien Enthal- Protein in mehreren, funktionell wichtigen Konformationen
pie entspricht, sondern manchmal nur transient eingenommen vorkommt (essentielle Faltungsintermediate). Diese können
(kinetische Stabilisierung) wird. Ein Beispiel hierfür ist die Pro- auch nicht durch die Evolution eliminiert werden.
tease Chymotrypsin, die durch limitierte Proteolyse (s. 7 Kap. Die wichtigsten strukturellen Eigenschaften eines Ensembles
8.5 und 61.1.3)aus einem stabil gefalteten, inaktiven Vorläufer- von Zwischenzuständen lassen sich häufig mit dem Bild eines
protein hervorgeht. geschmolzenen Kügelchens (molten globule) darstellen. Im
Zwischenzustand des molten globule sind schon einige instabile
Kleine Proteine falten und entfalten sich schnell und Sekundärstrukturelemente im zeitlichen Mittel vorhanden, die
ohne einfach nachweisbare Zwischenzustände sich aber noch schnell umlagern können, da der hydrophobe
Nach ihrer Biosynthese am Ribosom liegen die Proteine noch Kern des Proteins noch partiell hydratisiert ist.
weitgehend im ungefalteten Zustand vor, obwohl die naszieren- Der Faltungsvorgang eines Proteins lässt sich anschaulich und
den Ketten bereits im Austrittskanal der Ribosomen Sekundär- theoretisch zutreffend mit dem des Faltungstrichters (folding fun-
strukturen ausbilden können. Der ungefaltete Zustand U wird nel) beschreiben. Der Faltungstrichter ist ein Sonderfall der freien
meist hinreichend gut als Zufallsknäuel beschrieben (ist aber Energielandschaft (free energy landscape), in der die freie Enthal-
eigentlich ein Ensemble von vielen, schnell ineinander überge- pie (abzüglich des Entropieanteils der Peptidkette) als Funktion
henden Konformationen ohne stabile Sekundärstruktureinhei- aller möglichen Konformationen der Polypeptidkette dargestellt
ten). Die native Struktur N eines Proteins wird traditionell als wird (. Abb. 5.22). Das primär ungefaltete Protein befindet sich
eine wohldefinierte, einheitliche Struktur angesehen wie man sie zunächst in einem Zustand hoher freier Enthalpie am Eingang des
in Kristallstrukturen beobachtet. Computersimulationen von Faltungstrichters. Wie ein Skifahrer im Schwerefeld der Erde folgt
Proteinstrukturen und genauere experimentelle Untersuchun- es der Piste bergabwärts (in Richtung kleinerer freien Enthalpien),
gen mit modernen Methoden wie der NMR-Spektroskopie zei- um schließlich im Tal anzukommen. Es gibt natürlich viele ver-
gen, dass die Annahme einer einzigen nativen Struktur N in Lö- schiedene Startpositionen (Konformere des Zufallsknäuels) und
sung eine erhebliche Vereinfachung darstellt. In Wirklichkeit viele verschiedene Wege (teilgefaltete Konformere) auf dem Weg
findet man wieder ein ganzes Ensemble ähnlicher Strukturen in zum Tal. Wenn sich der Trichter immer mehr verengt, gibt es im-
Lösung. Unter günstigen Bedingungen wie sie in der Zelle vor- mer weniger Möglichkeiten. Gleichzeitig wird die Steigung immer
herrschen werden die native(n) Struktur(en) N bei kleinen Pro- größer und damit die Faltung immer schneller.
teinen, die nur aus einer einzigen Domäne bestehen, oft schon in Im Bild des Faltungstrichters löst sich auch das bekannte
einigen Millisekunden erreicht. Levinthal-Paradoxon auf natürliche Weise. Es besteht darin,
In einer ersten Näherung kann man die Faltung und die Ent- dass sich bei plausiblen Annahmen selbst ein kleines Protein
faltung eines Proteins durch eine einfache Reaktionsgleichung nicht in endlicher Zeit falten könnte, wenn es alle möglichen
beschreiben: Kombinationen von φ- und ψ-Winkeln austesten müsste. Die
dazu benötigte Zeit würde das Alter das Universum überschrei-
U ! I ! N ten. Der Faltungstrichter zeigt den Denkfehler: Für ein Protein
ist es nicht nötig, alle möglichen Konformationen anzunehmen,
↓↑
da der Gradient der freien Energie das Peptid zur korrekten
X
Struktur hin führt. Wenn der Faltungstrichter glatt und unstruk-
↓ turiert ist, wird sich das Protein schnell ohne nachweisbare
Xn Zwischenzustände falten. Wenn kleine lokale Energieminima auf
der Oberfläche zu finden sind, wird die Faltung verzögert und
I ist hier ein Zwischenzustand, der bei der ordnungsgemäßen Intermediate sind nachweisbar. Hat die freie Energielandschaft
Faltung auftritt. Faltungsintermediate X, die nicht direkt auf dem tiefe Täler oder gar Täler mit niedrigerer Energie als die native
Weg zur nativen Struktur liegen, können die Faltung eines Pro- Struktur, ergeben sich Fehlfaltungen X. Diese Nebenminima
teins erheblich verzögern und bilden oft stabile Aggregate Xn. können dann nur mit zusätzlicher (thermischer) Energie wieder
Wenn sie aus der Lösung ausfallen, sind sie faktisch aus dem verlassen werden.
82 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

peratur der Hitzedenaturierung für viele Proteine ist 55 °C.


Auch bei Temperaturerniedrigung geht die Stabilität von Protei-
nen stark zurück. Allerdings wird die Kältedenaturierung nur
selten experimentell beobachtet, da die hierzu nötigen Tempera-
turen gewöhnlich etwas unterhalb des Gefrierpunkts von Wasser
liegen.
Ob ein Protein in Lösung im gefalteten oder ungefalteten
Zustand vorliegt, hängt davon ab, welcher Zustand energetisch
günstiger ist, wenn man die Summe aller physikalischen Wech-
selwirkungen des Protein-Lösungsmittel-Systems berücksich-
5 tigt. Daher spielen das Lösungsmittel, dessen pH und die Ionen-
stärke eine wichtige Rolle. Außerhalb relativ enger Grenzen die-
ser Parameter denaturiert das Protein.
Will man Proteine absichtlich denaturieren, benutzt man in
der Biochemie meist Harnstoff und Guanidiniumchlorid (Chlo-
ridsalz des Iminoharnstoffs) als Denaturierungsmittel. Deren
Zusatz führt nur zur reversiblen Entfaltung des Proteins, ohne
eine Modifikation covalenter Bindungen zu bewirken. Da diese
Denaturierungsmittel die geordnete Wasserstruktur zerstören,
werden sie als chaotrop bezeichnet. Als Mechanismus wird all-
gemein angenommen, dass in Anwesenheit von Harnstoff oder
Guanidiniumchlorid die Entropie des Wassers größer wird und
damit der Einfluss der hydrophoben Wechselwirkungen verrin-
gert wird. Dies führt dann zur Solvatisierung des hydrophoben
Kerns und der Denaturierung des Proteins. Allerdings sprechen
neuere Ergebnisse (insbesondere Moleküldynamiksimulatio-
nen) für eine direkte Wechselwirkung von Harnstoff und Guani-
diniumchlorid mit dem denaturierten Zustand des Proteins, der
dadurch energetisch begünstigt wird.
Will man Proteine aus einer Lösung ausfällen und gleichzei-
tig inaktivieren, verwendet man oft pH-Veränderungen durch
. Abb. 5.22 Schematische Darstellung des Konformationsraums von Zusatz von Trichloressigsäure oder Perchlorsäure. Auch Schwer-
Proteinen. Der im Prinzip multidimensionale Konformationsraum ist metallsalze werden zum Denaturieren von Proteinen genutzt.
vereinfacht auf zwei Dimensionen x̂ und ŷ reduziert, die zugehörige freie Gleichzeitig mit der Denaturierung werden die Proteine ausge-
Enthalpie G ist durch die senkrechte Koordinate gegeben. N: native
fällt, da die Schwermetallkomplexe der Proteine oft unlöslich
Struktur. (Einzelheiten s. Text)
sind.
Die Proteindenaturierung wird irreversibel, wenn das dena-
turierte Protein stabile, unlösliche Aggregate (ungeordnete Pro-
Proteine sind nur bei bestimmten äußeren teinkomplexe) oder Polymere (geordnete makromolekulare
Bedingungen nativ gefaltet Komplexe) bildet. Wie wir schon besprochen haben, bilden sich
Wie die Denaturierung von Eiweiß beim Eierkochen zeigt, kön- diese gewöhnlich aus fehlgefalteten Faltungsintermediaten X
nen schon kleine Änderungen der äußeren Bedingungen zur oder dem ungefalteten Protein U. Einen alternativen Mechanis-
Denaturierung (dem Verlust der dreidimensionalen Struktur) mus, der zur irreversiblen Denaturierung führt, stellen chemi-
von Proteinen führen. Aus der Sicht der Thermodynamik ist dies sche Prozesse dar, die die covalente Struktur der Polypeptid-
leicht zu verstehen: Wie wir schon gesehen haben, ist selbst unter kette verändern. Ein relativ häufiger Prozess ist die spontane
günstigen, physiologischen Bedingungen die freie Enthalpie der Desaminierung von Asparigin- und Glutaminresten, die dabei
Stabilisierung ∆G0stab relativ klein. Sie bestimmt das Gleichge- in die negativ geladenen Aspartyl- oder Glutamylreste verwan-
wicht zwischen gefaltetem und ungefaltetem Zustand. Die zuge- delt werden. Dazu kommen die Oxidation von Cystein- und
hörige Gleichgewichtskonstante K kann nach der Gleichung als Methioninresten durch den Luftsauerstoff, die autokatalytische
∆Gstab = –RT∙lnK berechnet werden (7 Kap. 4.1). Bei ∆Gstab Spaltung von Asp-Pro-Peptidbindungen und die Racemisie-
= 45 kJ/mol liegen bei 37 °C in der Lösung nur 2.6∙10–6 % aller rung von Aspartaten. In Zellextrakten oder Körperflüssigkei-
Proteinmoleküle im denaturierten Zustand vor. Die Temperatur ten kann eine nicht-enzymatische Glykierung der ε-Amino-
ist hier ein wichtiger Parameter, da ∆Gstab selbst stark tempera- gruppe von Lysinseitenketten spontan stattfinden (7 Kap.
turabhängig ist. Bei Proteinen von Menschen liegt das Maximum 17.1.2).
der freien Stabilisierungstemperatur gewöhnlich in der Nähe der
physiologischen Körpertemperatur von 37 °C. Manche mensch-
liche Proteine denaturieren schon bei 42 °C, eine typische Tem-
5.4 · Physiologische und pathologische Faltungsprozesse bei Proteinen
83 5
5.4.2 Pathobiochemie der Proteinfaltung ren Ablagerungen von Amyloid im Gehirn einhergehen. Diese
Ablagerungen sind mit Farbstoffen wie Kongorot spezifisch ein-
Fehlgefaltetes Protein muss von der Zelle färbbar. Sie gehören damit zu der großen Gruppe der Amyloido-
entweder renaturiert oder eliminiert werden sen, die auch andere Organe als das Gehirn befallen können.
Ungefaltetes oder fehlgefaltetes Protein neigt zur Bildung von Biochemisch gemeinsam ist diesen Erkrankungen das Vorkom-
stabilen Aggregaten oder Polymeren. Oft sind diese schädlich men unlöslicher, β-Faltblatt-reicher Fibrillen, die aus fehlerhaft
für die Zellen und führen am Ende zum Zelluntergang. Daher gefaltetem, körpereigenem Protein bestehen. Beim Morbus Alz-
hat die Zelle Schutzmechanismen entwickelt, um eine Bildung heimer ist es das Aβ-Peptid, ein proteolytisches Fragment eines
dieser Aggregate zu unterdrücken. Prinzipiell gibt es hier zwei Membranproteins (7 Kap. 74.5).
Mechanismen, die schnelle Herstellung der nativen Faltung Einen besonderen Fall stellt hier die Gruppe der übertragba-
durch Faltungshelfer oder der schnelle Abbau der fehlgefalteten ren spongiformen Enzephalopathien (TSE, transmissible spongi-
Proteine durch spezialisierte proteolytische Systeme. form encephalopathy) dar, zu denen der Morbus Creutzfeldt-Ja-
Eine noch ungeklärte Frage ist, wie die Zelle zunächst die kob und BSE (bovine spongiform encephalopathy) gehören, bei
(nicht triviale) Erkennung der Fehlfaltung eines Proteins be- denen die Krankheiten durch ein fehlgefaltetes Protein, das
werkstelligt. Insbesondere gibt es eine große Anzahl von Prote- Prionprotein (PrP), übertragen werden. Eine unerwartete (aber
inen (schätzungsweise 30 % aller im Genom codierten Protei- logische) Eigenschaft des fehlgefalteten Zustands des Proteins
ne), die intrinsisch ungefaltet sind und dieser Erkennung entge- PrPSc im Zustand X (7 Kap. 5.4.1) ist, dass seine Gegenwart die
hen müssen. Für die Elimination von fehlgefalteten Proteinen Fehlfaltung von anderen endogenen Prionenproteinen PrPC zu
sind die wichtigsten Systeme das Proteasom und das Lysosom induzieren scheint. Damit erzeugt PrPSc prinzipiell neue infekti-
(7 Kap. 50). öse Partikel aus dem überall vorkommenden, körpereigenen
Die Aminosäuresequenzen der meisten Proteine sind durch membranständigen Prionprotein (7 Kap. 74.5.5).
die Evolution so optimiert worden, dass sie ohne Hilfe schnell in Den generellen Mechanismus der Fibrillenbildung haben wir
der Zelle ihre korrekte Faltung annehmen. Daher häufen sich schon kennengelernt, ein fehlgefaltetes Protein im Zustand X la-
auch diese Proteine im Normalfall nicht unkontrolliert als fehl- gert sich zu Aggregaten oder Polymeren zusammen. Kinetisch
gefaltete oder ungefaltete Proteine in der Zelle an. Dies kann hat die Bildung von großen Polymeren noch einen zweiten As-
unter Stressbedingungen (z. B. oxidativer Stress) anders sein, da pekt, es gibt eine kritische Konzentration von X, bei der die Po-
hier die Bildung von irreversibel oxidierten Produkten begüns- lymerbildung effektiv wird. Die Polymerisation geht erst dann
tigt ist. schnell vonstatten, wenn genügend »Kristallisationskeime« vor-
Auch unter günstigen Bedingungen verzögert sich die Fal- handen sind.
tung von Proteinen durch eine notwendige cis-trans-Isomerisie- Die Forschung der letzten Jahre hat auch experimentell ge-
rung der Peptidbindung vor Prolinresten oder durch die not- zeigt, dass die Bildung amyloidartiger Fibrillen kein einzigarti-
wendige Bildung von Disulfidbindungen. Hier hat die Zelle ges, seltenes Ereignis ist. Diese Fibrillen entstehen vielmehr häu-
spezifische Enzyme, die diese Prozesse beschleunigen. Die Iso- fig im Reagenzglas aus partiell denaturierten Proteinen. Ein
merisierung der Peptidbindung wird unter dem Einfluss von Beispiel ist hier das Apomyoglobin, also das Häm-freie Myoglo-
Peptidylprolylisomerasen (7 Kap. 49.1.5) beschleunigt, die bin. Es bildet bei niedrigem pH-Wert spontan Fibrillen, die alle
schnelle Ausbildung von korrekten Disulfidbindungen wird Eigenschaften von β-Amyloid haben (. Abb. 5.23). Wie die
durch Proteindisulfidisomerasen unterstützt (7 Kap. 49.2.1). CD-Spektroskopie zeigt, entstehen aus dem primär α-helicalen
Zu diesen katalytisch aktiven, spezialisierten Isomerasen Protein bei der Fibrillenbildung intermolekulare β-Faltblatt-
kommen die Chaperone (7 Kap. 49.1.1), eine ganze Gruppe von strukturen. Die Details dieses Übergangs sind bis heute aller-
Faltungshelfern, die keine spezifische katalytische Funktion ha- dings noch nicht verstanden.
ben. Sie binden Faltungsuntermediate I oder fehlgefaltetes Pro-
tein X (7 Kap. 5.4.1) und verhindern damit deren unkontrollierte
Aggregation. Gleichzeitig beschleunigen Chaperone die korrekte Zusammenfassung
Faltung, indem sie die unproduktiven Faltungsintermediate de- Ein Protein bezeichnet man als denaturiert, wenn seine
stabilisieren und wieder in den Faltungszyklus einschleusen. native räumliche Struktur verloren gegangen ist. Die Dena-
Proteine, die viele funktionelle Konformationen einnehmen turierung eines Proteins ist gewöhnlich mit dem Verlust
müssen, sind oft nicht für schnelle Faltung optimierbar (s. o.). seiner biologischen Funktion verbunden. Denaturierung tritt
Dazu gehört das Actin, ein Schlüsselprotein des Cytoskeletts, das immer dann auf, wenn der entfaltete oder partiell entfaltete
mit einer Vielzahl anderer Proteine interagieren muss. In der Zustand durch äußere Einwirkungen (Temperaturänderun-
Zelle ist es weitgehend auf die Hilfe von Chaperonen angewiesen, gen, Zusatz von denaturierenden Substanzen, pH, …) ener-
um sich korrekt zu falten. In vitro lässt sich daher auch getisch günstiger ist als der native Zustand.
rekombinantes Actin nur mit sehr schlechter Ausbeute rückfalten. Die dreidimensionale Struktur von Proteinen ist prinzipiell in
seiner Primärstruktur codiert. Kleine Proteine falten sich in
Fehlgefaltete Proteine sind für zahlreiche der Regel spontan aus dem ungefalteten Vorläufer. In der
Erkrankungen verantwortlich Zelle sind komplexere Proteine häufig auf Faltungshelfer wie
Schon seit langem ist bekannt, dass degenerative neurologische 6
Erkrankungen wie die Alzheimer Erkrankung mit extrazellulä-
84 Kapitel 5 · Proteine – Struktur und Funktion

A 5.5 Proteinevolution

Nach der vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung (Evo-


lutionstheorie) sind alle derzeit auf der Erde existierenden
Lebewesen aus einem Vorgänger hervorgegangen und haben
einen gemeinsamen Stammbaum. Dabei sind die meisten Basis-
funktionen mit leichten Modifikationen erhalten geblieben,
obwohl die diesen Funktionen zugrundeliegenden Gene
durch Mutagenese modifiziert und durch die Evolution selek-
tiert wurden. Daher sollten die im Genom verankerten funda-
5 mentalen Stoffwechselwege in allen Organismen weitgehend
erhalten geblieben sein. Dies betrifft beispielsweise fundamen-
tale Funktionen wie die Energieversorgung der Zellen oder
die Synthese und den Abbau wichtiger zellulärer Komponenten.
Da im Genom die Sequenzen aller Proteine abgespeichert
sind, die diese Basisfunktionen als Hauptakteure ausführen,
sollten diese Gene in verschiedenen Spezies miteinander ver-
wandt sein.
Da die Wahrscheinlichkeit einer Mutation sich im Laufe der
Evolution erhöht, lässt sich auch auf Grund der Mutationsrate in
B
einem Gen oder dem Genprodukt ein Stammbaum aufstellen,
der die klassischen morphologischen Klassifikationen durch sei-
ne Informationsfülle in seiner Aussagekraft deutlich übertrifft.
Zusätzlich lassen sich durch den Vergleich von Aminosäurese-
quenzen konservierte Aminosäuren identifizieren und damit
strukturell oder funktionell bedeutende Reste im Protein identi-
fizieren. Durch die Sequenzierung der Genome vieler Organis-
men steht uns dazu heutzutage eine riesige Datenbasis zur Ver-
fügung.

Das Cytochrom c des Menschen unterscheidet sich


nur wenig von dem anderer Arten
Im Folgenden wollen wir diese Zusammenhänge an einem
wichtigen Protein der Atmungskette, dem Cytochrom c, ausfüh-
ren(7 Kap. 19.1.2). Cytochrom c ist ein Protein, das in den Mito-
chondrien aller Eukaryonten und bei allen aeroben Bakterien zu
finden ist.
Ein Vergleich der Aminosäuresequenzen von Wirbeltieren,
Insekten, Pilzen und Pflanzen zeigt, dass an 35 Positionen des aus
. Abb. 5.23 Bildung amyloidähnlicher Fibrillen aus Apomyoglobin. 104 Aminosäuren bestehenden Wirbeltiercytochroms die Ami-
A Natives Myoglobin besitzt typischerweise einen hohen Anteil an nosäuren identisch (vollständig konserviert) sind. Dies bestätigt
α-helicalen Abschnitten. Nach Ansäuern entstehen aus Myoglobin unlös-
die Hypothese, dass alle Cytochrome von einem gemeinsamen
liche Fibrillen, die alle Eigenschaften von Amyloid haben. B CD-Spektren
von nativem Myoglobin (rot) bzw. säurebehandeltem amyloidartigem Myo-
Vorfahren abstammen. Die Unterschiede in den Aminosäurese-
globin (blau). Das Minimum des amyloidartigen Myoglobins bei 215 nm quenzen korrelieren sehr gut mit dem bekannten Verwandt-
zeigt einen hohen Anteil an β-Faltblattstruktur an. (Aus Fändrich et al., schaftsgrad der untersuchten Spezies.
mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers, Ltd) 8 der komplett konservierten Aminosäuren sind Glycine und
zusätzlich ist ein zusammenhängender 11 Aminosäuren langer
Bereich erhalten. Diese Aminosäuren spielen sicherlich eine be-
sondere Rolle für die Funktion des Cytochrom c als Elektronen-
Disulfidisomerasen, Peptidylprolylisomerasen und Chape- überträger im Mitochondrium. Aber auch über die konservier-
rone angewiesen. ten Bereiche hinaus ist die Häufigkeit der Aminosäuresubstitu-
Fehlgefaltete Proteine sind die Ursache vieler degenerativer tionen signifikant von der Position abhängig. Die hydrophoben
Krankheiten, die mit der Bildung von β-Amyloid verbunden Reste, die das für den Elektronentransport verantwortliche Häm
sind. in Position halten und den hydrophoben Kern des Proteins bil-
den, werden, wenn überhaupt, durch strukturell ähnliche Reste
ersetzt. Typische Austausche sind Valin gegen Isoleucin oder
Leucin, Leucin gegen Methionin und Phenylalanin gegen Tyro-
5.5 · Proteinevolution
85 5

. Abb. 5.24 Proteindomänen. Viele Proteine haben einen modularen Aufbau, bei dem verschiedene Domänen hintereinander aufgereiht sind. Fibronec-
tin, Kollagen XII und das Muskelprotein Titin enthalten nur wenige verschiedene Domänen in vielfacher Wiederholung. Fn: Fibronectin Typ I, II, III; VWA: von
Willebrand Faktor Typ A; Ig: Immunglobulindomäne; TSPN: thrombospondin N-terminal-like domain. (Adaptiert nach Doolittle und Bork 1993)

sin. Zwei konservierte Cysteinreste in Position 14 und 17, ein Beispiel für die Neukombination von Domänen zur Erzeugung
Histidinrest in Position 18 und ein Methioninrest in Position 80 neuer Proteine ist in . Abb. 5.24 gezeigt. Fibronectin des Blut-
halten das Häm in Position. An der Oberfläche des Proteins sind plasmas, Kollagen XII und Titin enthalten eine Kombination
16 Lysinreste konserviert, die wichtig für die Interaktion mit Cy- verwandter Domänen, obwohl sie durchaus unterschiedliche
tochrom b und der Cytochromoxidase sind. Hier sind auch an- Funktionen haben.
dere polare Aminosäuren durch ähnliche Aminosäuren ersetzt,
typischerweise Lysin gegen Arginin, Serin gegen Threonin und
Aspartat gegen Glutamat. Zusammenfassung
Die Sequenzen des Cytochrom c von Säugetieren unterschei- Die vergleichende Analyse von Proteinsequenzen erlaubt
den sich im Schnitt an 11 Stellen von denen der Vögel. Wenn die Konstruktion von phylogenetischen Stammbäumen und
man annimmt, dass sich der Stammbaum von Vögeln und Säu- gibt gleichzeitig die Information darüber, welche Reste in
getieren vor etwa 280 Millionen Jahren trennte, würde etwa eine einem Protein strukturell oder funktionell besonders wichtig
Aminosäuresubstitution in 25 Millionen Jahren stattfinden. Die- sind.
se innere Uhr ist natürlich abhängig von dem untersuchten Pro- Die Variation bewährter Strukturmuster von Domänen und
tein, für jedes Protein findet man im Prinzip eine eigene Zeitska- die Kombination verschiedener Domänen sind zwei wichti-
la. Wenn man daher eine große Anzahl von Proteinen miteinan- ge Strategien, um in der Evolution Proteine mit neuen Funk-
der vergleicht, kann man ein sehr genaues Bild über den phylo- tionen zu erschaffen.
genetischen Stammbaum bekommen. Selbstverständlich kann
man auch spezifische Nucleotidsequenzen zur Konstruktion des
Stammbaums nutzen. Hier ist besonders die ribosomale RNA 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
wegen ihrer zentralen Stellung und ihres ubiquitären Vorkom-
mens ein guter Verwandtschaftsindikator.

Multidomänenproteine Wir haben schon gelernt, dass sich viele


Proteine gemäß ihrer Topologien in Proteinfamilien einteilen
lassen. Viele der Proteine einer solchen Familie (aber nicht not-
wendigerweise alle) sind auch evolutionär miteinander ver-
wandt, obwohl sie durchaus unterschiedliche Funktionen aus-
üben können. Aus der Sicht der Evolution bedeutet das, dass
durch die Variation eines bewährten 3D-Strukturschemas Prote-
ine mit neuen Funktionen geschaffen werden können. Eine alter-
native Methode ist die wiederholte Duplikation kleinere Se-
quenzmotive durch Genduplikation oder, sehr weit verbreitet,
die Kombination verschiedener existierender Domänen zu neu-
en Proteinen mit neuen Funktionen. Auf DNA-Ebene entspricht
dieses einer Neukombination von Exons (exon shuffling). Ein
6 Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden,
Synthese und Isolierung
Hans R. Kalbitzer

Einleitung Proteine können über chromatographische


Verfahren voneinander getrennt werden
Reindarstellung und Analytik von Substanzen sind wichtige Standbeine Homogenisierung von biologischem Material Je nach Zelltyp
6 der klassischen Chemie und Biochemie. Dies gilt auch heute noch für die oder Gewebeart müssen die Zellen mit unterschiedlichen Me-
Proteinbiochemie, obwohl das Genom vieler Lebewesen einschließlich thoden aufgeschlossen werden, um die Proteine freizusetzen.
des Menschen und damit auch die Aminosäuresequenzen aller in der Dabei wird Gewebe zunächst mit einem Mixer mechanisch ho-
zugehörigen DNA codierten Proteine bekannt sind. Die dort codierten mogenisiert. Die Zellen selbst werden dann mit verschiedenen
Proteine können im Prinzip alle heterolog exprimiert werden, daher Methoden aufgeschlossen; Standardverfahren sind hierbei die
erscheint es auf den ersten Blick sinnlos, sich noch mit der Isolierung von Zerstörung der Zellwände in der Glasperlenmühle, die Behand-
Proteinen aus biologischem Material oder deren chemischen Synthese lung mit hohem Druck (French press), Ultraschall, Detergentien
zu beschäftigen. Tatsächlich ist dies nicht so, da die Proteine, die in der und Lysozym (zur Zerstörung der Zellwände von Bakterien).
Zelle zu finden sind, oft noch posttranslational modifiziert werden. Unlösliche Komponenten wie Zellwände werden dann gewöhn-
Natürlich muss auch bei heterologer Expression das Protein aus dem lich mit Hilfe der Zentrifugation entfernt.
Gastorganismus gereinigt werden. Eine sorgfältige Analytik stellt die
Basis reproduzierbarer Experimente dar. Zum Verständnis der Funktions- Prinzip der Verteilungschromatographie Wenn sich die Proteine
weise von Zellen und Geweben in der Systembiologie muss man natür- im Überstand befinden, wird man sie gewöhnlich in einem ers-
lich auch die Konzentrationen ihrer einzelnen Bestandteile, also auch ten Schritt chromatographisch fraktionieren. Befinden sie sich
der Proteinkomponenten, kennen (Proteomik). Die Analytik selbst kann im unlöslichen Pellet, müssen die Proteine zunächst durch Zu-
einfache chromatographische Methoden betreffen oder auch in der satz von Detergentien oder Denaturierungsmitteln solubilisiert
aufwendigen Bestimmung der räumlichen Struktur von Proteinen werden, bevor sie chromatographiert werden. Typisch für die
bestehen. meisten Formen der Chromatographie sind zwei unterschiedli-
che Phasen, eine stationäre und eine mobile Phase. Die statio-
Schwerpunkte näre Phase bindet die aufzutrennenden Proteine reversibel. Die
mobile Phase ist gewöhnlich eine Flüssigkeit, kann aber auch ein
4 Isolierung von Proteinen aus Zellen und Geweben
Gas sein (Gaschromatographie). Die mobile Phase strömt an
4 Chromatographische Analyse und Reinigung von Proteinen
der stationären Phase vorbei und die zu isolierende Substanz
4 Ultrazentrifugation
verteilt sich dann gemäß der relativen Affinität auf die beiden
4 Massenspektrometrie
Phasen.
4 Bestimmung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen:
Zur präparativen Anwendung der Chromatographie muss
Röntgenstrukturanalyse und NMR-Spektroskopie
das Zielprotein zurückgewonnen werden. Gewöhnlich ist die
4 Proteomik
stationäre Phase in einem Rohr (Säule) eingeschlossen, durch das
4 Chemische Polypeptidsynthese
die Flüssigkeit strömt (Säulenchromatographie). Bei einem
4 Zellfreie Biosynthese von Proteinen
moderaten Unterschied der Affinitäten eines Proteins für beide
Phasen stellt sich ein dynamisches Gleichgewicht ein, indem das
Protein immer wieder an die stationäre Phase bindet und dann
wieder in die nachströmende Lösung übergeht. Dies führt zu
6.1 Isolation und Reinigung von Proteinen einer allmählichen Elution von der Säule. Bei hohen Affinitäts-
unterschieden wird das Protein zunächst fest an die Säule gebun-
6.1.1 Verfahren zur Isolation von Proteinen den. In einem zweiten Schritt wäscht man dann das Protein mit
aus biologischem Material einer Lösung, die die Interaktion mit dem Säulenmaterial stark
verringert, von der Säule.
Die Isolation von Proteinen aus Zellen, Geweben oder Körper- Für die Durchführung der präparativen Säulenchromatogra-
flüssigkeiten gehört zu den grundlegenden biochemischen Ar- phie werden grundsätzlich vier verschiedene Komponenten be-
beitsmethoden. Hierfür sind immer zwei Grundschritte nötig, nötigt, eine Pumpe, eine Säule, ein Detektor und ein Fraktions-
der Aufschluss der Probe und die Isolation des Proteins aus dem sammler. Die Pumpe sorgt dafür, dass die Flüssigkeit durch das
Aufschluss. Für die Reinigung eines Proteins spielt die chroma- System gepumpt wird. Im einfachsten Fall kann man hier auch
tographische Auftrennung eine zentrale Rolle. den hydrostatischen Druck (Schwerkraft) nehmen. Die Säule

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
6.1 · Isolation und Reinigung von Proteinen
87 6
Stärke der Bindung des Zielproteins über die Auswahl des Säulen-
materials und den Puffer kontrollieren. Salzionen im Puffer kon-
kurrieren um die Bindungsplätze auf dem Säulenmaterial. Nach
Bindung werden die Zielmoleküle durch einen stufenweise oder
linear ansteigenden Salzgradienten in Abhängigkeit ihrer Bin-
dungsstärke (Ladung) eluiert und somit voneinander getrennt.

Affinitätschromatographie Bei der Affinitätschromatographie


werden ganz spezifische Eigenschaften eines Proteins zur selekti-
ven Bindung an die stationäre Phase ausgenutzt. Daher kann man
. Abb. 6.1 Ionenaustauscher auf Agarosebasis mit Diethylaminoethyl- oft in einem einzigen Reinigungsschritt das Zielprotein vollstän-
oder Carboxymethyl-Resten dig von anderen Proteinen trennen. Grundsätzlich bindet man
kovalent einen für das gesuchte Protein spezifischen Liganden an
eine poröse, inerte Säulenmatrix. Wenn dann die Proteinlösung
sorgt für die Auftrennung des Materials. Der Detektor (bei Pro- durch die Säule gepumpt wird, bindet das gesuchte Protein an
teinen meist ein UV-Detektor, der die UV-Absorption durch die seinen Liganden. Der Ligand kann das Substrat eines Enzyms, ein
Peptidgruppen misst) zeigt an, wann die Proteine die Säule ver- Interaktionspartner des gesuchten Proteins oder ein Antikörper
lassen. Der Probensammler schließlich sammelt nacheinander gegen das Protein sein. Insbesondere die letzte Methode ist uni-
die verschiedenen Fraktionen in getrennten Behältern. versell einsetzbar, aber für Präparationen im großen Maßstab zu
Für die Proteinreinigung nimmt man heutzutage meist Sys- aufwendig. Nach der selektiven Bindung des Proteins auf der Säu-
teme zur schnellen Proteinflüssigkeitschromatographie (FPLC, le und der Abtrennung aller anderen Proteine wird es im nächsten
fast protein liquid chromatography), die die Flüssigkeit mit erhöh- Schritt wieder von dem Säulenmaterial gelöst. Hierzu gibt man
tem Druck von bis zu 0,2 MPa (2 bar) durch das System pumpen. den freien Liganden im Überschuss dazu oder schwächt unspezi-
Sie sind computergesteuert und erlauben, die Flüssigkeitszusam- fisch die Interaktion mit dem Protein durch eine pH-Änderung
mensetzung während der Elution automatisch zu variieren. Än- oder durch die Denaturierung der Proteine (. Abb. 6.2).
dert man dabei kontinuierlich die Konzentration einer Kompo- Bei rekombinant erzeugten Proteinen (7 Kap. 54.5) kann man
nente (z. B. von NaCl), spricht man von der Elution mit einem die obige Reinigungsstrategie durch Manipulation des Proteins
Gradienten. gezielt variieren. Dazu baut man gentechnisch künstliche Bin-
dungsstellen in das Protein ein. Gewöhnlich fügt man dazu an
Ionenaustauscherchromatographie Eine wichtige, relativ unspe- den N- oder C-Terminus zusätzliche Protein- oder Peptid-
zifische Auftrennmethode ist die Ionenaustauschchromatogra- sequenzen (tags) an, für die es spezifische Liganden gibt. Man
phie. Als stationäre Phase nimmt man heutzutage meist wählt in der Regel Liganden aus, die in Form von kommerziell
modifizierte Agarose (Sepharose). Ein häufig genutzter Anionen- hergestellten Säulenmaterialien verfügbar sind. Standardprotei-
austauscher enthält beispielweise positiv geladene Diethylamino- ne für eine Fusion mit dem Zielprotein sind z. B. die Glutathion-
ethylreste (DEAE-Sepharose), ein entsprechender Kationen- S-Transferase (GST) oder das Maltosebindungsprotein (MBP)
austauscher enthält negativ geladene Carboxymethylreste (CM- von Escherichia coli. Die rekombinanten Fusionsproteine können
Sepharose) (. Abb. 6.1). Sie binden dann Moleküle, die die entge- dann auf Affinitätssäulen gebunden werden, die mit Glutathion
gengesetzte Ladung haben. Da die Gesamtladung eines Proteins oder Amylose (= Maltosepolymer) modifiziert sind. Anschlie-
von seinem pI und dem pH des Puffers abhängt, kann man die ßend können sie dann mit Lösungen der entsprechenden Ligan-

. Abb. 6.2 Prinzip der Affinitätschromatographie. An den an eine inerte Matrix immobilisierten Liganden bindet das zu reinigende Protein mit hoher
Spezifität, während andere Moleküle nicht gebunden werden. Durch denaturierende Verbindungen, pH-Änderungen oder kompetitive lösliche Liganden
wird das zu reinigende Protein von der Matrix abgelöst
88 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

6 . Abb. 6.3 Prinzip der Gelchromatographie. Bei der Gelchromatographie


können kleine Moleküle (gelb) in die porösen Gelpartikel eindringen und le-
gen einen längeren Weg zurück als Moleküle, die hierfür zu groß sind (vio-
lett). Daher kommen die kleinen Moleküle später am Säulenausgang an. Es
findet eine Auftrennung nach der Molekülgröße (Molekülmasse) statt

den (Glutathion oder Maltose) eluiert werden. Gewöhnlich


möchte man am Ende ein reines Protein ohne Fusionsanteil er-
halten. Daher baut man zwischen dem Fusionsanteil und dem
Zielprotein ein Peptid ein, das eine Spaltstelle für eine sequenz-
spezifische Protease enthält. Gängig ist hier das Einfügen einer
Schnittstelle für die Protease Thrombin, die Enterokinase und . Abb. 6.4 Prinzip der Dichtegradientenzentrifugation. 1 Auftragung
die TEV-Protease (tobacco etch virus protease). des Proteingemischs auf den Dichtegradienten; 2 Zentrifugation; 3 Frak-
tionierung
Ein weiterer Vorteil solcher Fusionen ist, dass durch sie sehr
oft auch die Expression und Löslichkeit der Konstrukte erhöht
wird. Manchmal ist allerdings ein großer Fusionsanteil uner-
wünscht. Dann kann man auf Oligopeptide mit spezifischen Bin- entspricht. Der Dichtegradient wird üblicherweise aus einer Sac-
dungseigenschaften zurückgreifen. Hier hat sich besonders das charoselösung hergestellt. Der Gradient wird entweder vor der
Histidinoligopeptid (His-tag) bewährt. Die Histidine binden Zentrifugation durch eine Mischung von Saccharoselösungen
mit mikromolarer Affinität an das Metallion von Ni2+-NTA- mit unterschiedlichen Konzentrationen aufgebaut, oder aber
Säulen, auf denen das Metallion an NTA (nitrilotriacetic acid) fest man lässt sich den Gradienten während des Zentrifugenlaufes
gebunden ist. Das Fusionsprotein kann leicht wieder mit Imida- selbst formen. Die präparative (Ultra-)Zentrifugation eignet sich
zol oder durch eine Absenkung des pH-Wertes eluiert werden. nicht nur für die Auftrennung von Proteinen, sondern auch von
Nucleinsäuren (z. B. in CsCl-Gradienten) und von subzellulären
Gelchromatographie Die Gelchromatographie (Gelfiltration, Partikeln.
Molekularsiebchromatographie, size exclusion chromatogra-
phy) trennt Proteine nach ihrer Molekülgröße auf. Molekularsie-
be enthalten hochvernetzte poröse Partikel (z. B. aus Dextran) als 6.1.2 Analytische Trennverfahren von Proteinen
stationäre Phase. Gibt man eine Lösung mit Molekülen verschie-
dener Größe auf eine derartige Säule, wandern kleinere Molekü- Hochdruckflüssigkeitschromatographie Die Hochdruckflüssig-
le auch durch die Poren in den Gelpartikeln, während große keitschromatographie (HPLC; high pressure oder auch high per-
Moleküle nur den direkten Weg zwischen den Partikeln nehmen formance liquid chromatography) stellt eine moderne analytische
können (. Abb. 6.3). Daher wandern die größeren Moleküle Variante der Verteilungschromatographie mit besonders gro-
schneller als die kleinen durch die Säule, was zu einer Trennung ßer Trennschärfe und reduziertem Zeitbedarf dar. Sie ist (nur)
nach Molekülgröße führt. geeignet, kleinste Mengen von Proteinen in hochreiner Form zu
erhalten. Im Gegensatz zur normalen Säulenchromatographie
Ultrazentrifugation kann ebenfalls zur Trennung wird die Flüssigkeit unter hohem Druck von 2–20 MPa (20- bis
von Proteinen eingesetzt werden 200-facher Atmosphärendruck) durch ein dicht gepacktes
Präparative Ultrazentrifugation Das Prinzip der Ultrazentrifu- Säulenmaterial gedrückt. Typischerweise werden Hochdruck-
gation (7 Kap. 6.2) wird zu präparativen Zwecken in Form der röhren mit 25 cm Länge und einem Durchmesser von 2–4,6 mm
Gleichgewichtsdichtegradientenzentrifugation (. Abb. 6.4) genutzt.
angewendet. Hierbei wird ausgenutzt, dass sich Proteine in ei- Als stationäre Phase bei der Normalphasen-HPCL (NP-
nem Dichtegradienten im Gleichgewicht an der Stelle anrei- HPLC) dienen normalerweise kleine Silicapartikel mit einem
chern, bei der ihre eigene Dichte der des umgebenden Mediums Durchmesser von 5 mm und einer Porengröße von typischerwei-
6.1 · Isolation und Reinigung von Proteinen
89 6

. Abb. 6.5 Prinzip der Umkehrphasen-HPLC. Weniger hydrophobe Pro-


teine werden schon bei einer geringeren Konzentration an n-Propanol (vio-
lette Kugeln) eluiert als stärker hydrophobe. Dabei konkurriert das Propanol
um Bindungsstellen am Protein mit den hydrophoben Seitenketten (Octyl-
gruppen) der stationären Phase

se 30 nm. Die Oberfläche der Partikel ist stark polar, daher wer- . Abb. 6.6 SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese von Proteinen. Eine ty-
pische Anwendung der SDS-PAGE ist die Kontrolle von Proteinreinigungen.
den die Moleküle hauptsächlich nach ihrer Polarität aufgetrennt.
Die Trennung erfolgte in einem 16,5 %igen Polyacrylamidgel. Spur 1: Mole-
Wenn die native Faltung keine Rolle spielt, nimmt man für külmassenstandards, Spur 2: Extrakt von E. coli-Bakterien, in denen das
die analytische Auftrennung von Peptiden und Proteinen ge- menschliche Ras-Protein überexprimiert wurde, Spur 3: Extrakt nach Zentri-
wöhnlich die Umkehrphasen-Hochdruckflüssigkeitschroma- fugation, Spur 4: Ergebnis nach Auftrennung mit dem Anionenaustauscher
tographie (RP-HPLC, reversed phase HPLC). Hier ist die stationä- Q-Sepharose , Spur 5: nachfolgende Gelchromatographie
re Phase hydrophob, da die Silicapartikel mit Alkanresten mit
variierenden Kettenlängen von 4 bis 18 Kohlenstoffatomen mo-
difiziert sind. Die Elution wird mit einer Mischung von Wasser fidbindungen verknüpft sind, können dissoziieren. Am Ende
oder Puffer mit einem organischen Lösungsmittel wie n-Propa- sind 1,5 bis 2 SDS-Moleküle pro Peptidbindung an das Protein
nol oder Acetonitril (. Abb. 6.5) durchgeführt. Die Auftrennung gebunden. Die negativen Ladungen des SDS bestimmen wegen
der Moleküle erfolgt hier nach ihrer Hydrophobizität. ihrer hohen Anzahl im Wesentlichen die Gesamtladung des
entstehenden SDS-Protein-Komplexes. Im elektrischen Feld
Trägerelektrophorese Proteine in Körperflüssigkeiten wie Blut- wandern dann diese negativ geladenen SDS-Protein-Komplexe
plasma, Urin oder Liquor kann man mit Hilfe der Trägerelekt- zur positiv geladenen Anode. Somit hängt die Wanderungsge-
rophorese einfach und schnell auftrennen. Als stationäre Phase schwindigkeit der Proteine nur noch von ihrer Größe ab und ist
dient hier eine Celluloseacetatfolie oder ein Agarosegel. Sie stellt in guter Näherung proportional zu ihrer molekularen Masse.
eine billige Alternative zur analytischen Säulenchromatographie Auf ein Elektrophoresegel trägt man gewöhnlich mehrere
dar. Bei dieser Methode erfolgt die Trennung ausschließlich auf- Proben in gleichem Abstand voneinander auf, sodass nach der
grund der Ladung der Proteine. Die Auftrennung ist umso grö- Elektrophorese parallele Spuren von Proteinen entstehen
ßer, je weiter der pH-Wert des Elektrophoresepuffers vom iso- (. Abb. 6.6). Zur Bestimmung der Molekülmassen trägt man auf
elektrischen Punkt eines Proteins entfernt ist (7 Abb. 3.13). einer Spur noch eine Referenzprobe auf, die Proteine mit be-
kannten Molekülmassen enthält. Nach Abschluss der Elektro-
SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese trennt phorese müssen die Proteine fixiert und sichtbar gemacht wer-
Proteine ausschließlich nach ihrer Molekülmasse den. Normalerweise nimmt man hierzu Coomassie Blau, das die
SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese Bei der SDS-Polyacryl- Proteine gleichmäßig einfärbt. Es erlaubt deshalb eine semi-
amidgelelektrophorese (SDS-PAGE) werden Proteine nach ih- quantitative Bestimmung der relativen Proteinkonzentrationen
rer Molekülmasse aufgetrennt. Trägermaterial ist ein Polyacryl- im Gel nach der Farbintensität. Will man Proteine in sehr gerin-
amidgel, das meistens zwischen zwei Glasplatten gegossen wird. gen Mengen nachweisen, wählt man die sehr empfindliche Sil-
Die Porengröße des Gels bestimmt die Trennschärfe des Gels berfärbung, die allerdings für eine Quantifizierung wenig geeig-
und muss der Größe der untersuchten Proteine angepasst wer- net ist.
den. Die Porengröße wird durch die Konzentration des zuge-
setzten Acrylamids und seiner Quervernetzung bestimmt. Die Mit der zweidimensionalen Gelelektrophorese
Proteine werden in einem Puffer aufgetragen, der das negativ werden Proteine nach der Molekülmasse und dem
geladene Detergens SDS (sodium dodecyl sulfate) (7 Abb. 3.8) isoelektrischen Punkt aufgetrennt
und das Reduktionsmittel β-Mercaptoethanol enthält. SDS Kombiniert man die klassische SDS-Gelelektrophorese mit einer
denaturiert das Protein, da die Wechselwirkung seiner hydro- anderen Trennmethode, spricht man von der zweidimensiona-
phoben Alkankette mit den hydrophoben Resten des Proteins len Gelelektrophorese (2D-Gelelektrophorese), da die Proteine
zur Auflösung des hydrophoben Kerns führt. Gleichzeitig nach zwei verschiedenen Eigenschaften aufgetrennt werden.
werden dabei bestehende Protein-Protein-Interaktionen oder Normalerweise nimmt man für die zusätzliche Dimension als
Bindungen an Membranlipide so abgeschwächt, dass Polymere Trennmethode die isoelektrische Fokussierung (IEF).
monomerisieren und Lipide freigesetzt werden. Das β-Mercapto- In der Praxis wird zunächst die isoelektrische Fokussierung
ethanol reduziert mögliche Disulfidbindungen. Damit kann durchgeführt. Die Probe wird mit Harnstoff, β-Mercaptoethanol
sich das Protein ganz entfalten und Polymere, die durch Disul- und einem nicht-ionischen Detergens versetzt. Dabei werden
90 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

wie bei der SDS-Elektrophorese die Proteine denaturiert und


mögliche Disulfidbindungen gespalten. Das nicht-ionische De-
tergens solubilisiert das Protein, ohne seine Gesamtladung zu
verändern. Auf einem Polyacrylamidstreifen, der einen durch
kovalent gebundene Ladungsträger erzeugten, immobilisierten
pH-Gradienten enthält, wird die Probe aufgetragen. Nach Anle-
gen des elektrischen Feldes wandern die Proteine bis zu dem je-
weiligen pH-Wert, bei dem sie nicht geladen sind. Dieser pH-
Wert ist definitionsgemäß gerade ihr isoelektrischer Punkt (pI),
und die Proteine sind daher nach ihrem pI-Wert aufgetrennt.
Anschließend wird der Streifen auf ein klassisches SDS-Gel ge-
legt (. Abb. 6.7), und ein elektrisches Feld wird nun noch einmal
senkrecht zur Längsachse des Streifens angelegt. Hierdurch wer-
6 den die Proteine in eine zweite Dimension nach ihrer Molekül-
masse aufgetrennt. Es entsteht ein zweidimensionales Muster auf
dem Gel, bei dem jedem Protein eine Position auf dem Gel zuge-
ordnet werden kann. Es ist möglich, mehr als 1.000 Proteine auf
einem solchen Gel aufzutrennen. Arbeitet man unter gut stan-
dardisierten Bedingungen, kann man mit der entsprechenden
Software die Proteine semiautomatisch identifizieren.

6.2 Charakterisierung von Proteinen

Charakterisierung des gereinigten Proteins Die Isolation und


Reinigung eines Proteins bis zur Homogenität ist meist der
erste Schritt, bevor es mit anderen Methoden weiter charakte-
risiert werden kann. Abhängig von der Vorgeschichte gibt es
zwei grundsätzlich unterschiedliche Szenarien: Es handelt
sich um
4 ein mit rekombinanter Technologie hergestelltes Protein be-
kannter Aminosäuresequenz oder
4 ein aus natürlichen Quellen gereinigtes Protein unbekann-
ter Sequenz.

Im ersten Fall muss man nur die Identität des Produkts bestäti-
gen. Hierzu wird das Protein normalerweise ansequenziert, um
mögliche Modifikationen wie N-Methylierung der ersten Ami-
nosäure oder die Abspaltung N-terminaler Aminosäuren zu er-
kennen. Solche Modifikationen können durch Expression eines
rekombinanten Proteins in einem fremden Wirtssystem entste-
hen. Die genaue Molekülmasse wird mit der Massenspektrome-
trie bestimmt. Ist das Massenspektrum durch die bekannte Se-
quenz erklärbar und stimmt die Sequenz der ersten Aminosäu-
ren mit der Zielsequenz überein, gilt die Identität als bestätigt. Im
zweiten Fall ist man manchmal mit einer qualitativen Bestäti-
gung der Identität zufrieden. Wenn man das gereinigte Protein
allerdings genau charakterisieren will, muss man auch hier die
Aminosäuresequenz bestimmen.

Die Molekülmasse von Proteinen kann


mit Hilfe der SDS-Polyacrylamidgelelektrophorese
abgeschätzt werden
. Abb. 6.7 Prinzip der zweidimensionalen Gelelektrophorese.
Eine Methode zur ungefähren Bestimmung der Molekülmasse Oben: Trennung der Proteine nach dem isoelektrischen Punkt in der ersten
von Proteinen haben wir mit der SDS-PAGE (. Abb. 6.6) schon Dimension und nach der Molekülmasse in der zweiten Dimension.
kennengelernt. Sie wird immer routinemäßig vor weiteren Unten: 2D-Gel der zellulären Proteine menschlicher Leukämiezellen
Analysen durchgeführt.
6.2 · Charakterisierung von Proteinen
91 6

. Abb. 6.8 Prinzip der Massenspektrometrie. Beim MALDI-TOF-Verfahren werden die in der Probe enthaltenen Proteine zunächst mit Hilfe eines
gepulsten Lasers ionisiert. Die dabei entstehenden (positiv geladenen) Protein-Ionen werden in einem elektrischen Feld beschleunigt. Sie durchlaufen
anschließend eine sog. Driftstrecke. Ihre Flugzeit durch die Driftstrecke wird durch einen Detektor gemessen und ist dem Verhältnis aus Masse und
Ladung (m/z) proportional. (Einzelheiten s. Text)

Die relative Molekülmasse Mr, die fälschlicherweise häufig ionisiert. Ein elektrisches Feld saugt dann die entstandenen Io-
als Molekulargewicht bezeichnet wird, ist die Summe aller Atom- nen ab. Eine Alternative ist die Elektrospray-Ionisation (ESI,
massen eines Moleküls. Die relative Molekülmasse entspricht electrospray ionization), die besonders schonend ist. Sie führt
dabei einem Zwölftel der Masse des Kohlenstoffisotops 12C, also kaum zur Fragmentierung des Analyten und ist daher zur Mas-
etwa 1,66∙10–24 g. In der Biochemie wird diese Einheit als senbestimmung von Proteinen gut geeignet. Der gelöste Analyt
Dalton (Da) bezeichnet. Im Gegensatz zur relativen Molekül- wird in einer dünnen Kapillare durch ein elektrisches Feld be-
masse bezieht sich die molare Masse (oder Molmasse) auf eine schleunigt. Dabei entsteht an der Spitze der Kapillare ein Über-
Stoffmenge von 6,02214∙1026 Molekülen und wird in kg/mol schuss an Ionen gleichartiger Ladungen, die dann ein feines
angegeben. Eine relative Molekülmasse von 1 kDa entspricht also Aerosol bilden. Gleichzeitig wird Probenflüssigkeit durch heißes
einer molaren Masse von 1 kg/mol. Stickstoffgas verdampft. Die entstanden Ionen werden dann wie-
der durch ein elektrisches Feld separiert.
Die Molekülmasse kann mit hoher Empfindlichkeit In einem starken elektrischen Feld werden dann die gelade-
und Genauigkeit mit der Massenspektrometrie nen Moleküle beschleunigt. Da die Beschleunigung der Molekü-
bestimmt werden le von ihrer Ladung z und ihrer Masse m abhängt, hängt auch
Massenspektrometrie Heutzutage ist die Massenspektrometrie ihre Geschwindigkeit am Ende der Beschleunigungsstrecke von
(MS, mass spectrometry) die Methode der Wahl für eine genaue den beiden Parametern ab. Sie ist proportional zum Verhältnis
Bestimmung der molaren Masse eines Proteins und ist hierin m/z. Daher treffen die Ionen auch zu verschiedenen Zeiten auf
allen anderen, alternativen Methoden weit überlegen. Die Emp- dem Detektor auf und man kann sie aufgrund ihrer Flugzeit in
findlichkeit der Massenspektrometrie ist so groß, dass die Pro- einem TOF-(time of flight) Massenspektrometer trennen. Elektri-
teinmenge einer einzelnen, auf der SDS-PAGE sichtbaren Prote- sche Quadrupole (4 stabförmige Elektroden, an die eine Gleich-
inbande ausreicht, um problemlos die Masse des Proteins zu spannung angelegt wird, die mit einer Wechselspannung der
bestimmen. Die dabei erreichbare Genauigkeit ist besser als Frequenz ω überlagert ist) können dazu benutzt werden, um nur
0,1 Da. Moleküle mit einem bestimmten m/z-Wert durchzulassen. Die
Grundsätzlich ist ein Massenspektrometer aus drei Kompo- Größe der Spannungen legt fest, welche Moleküle den Quadru-
nenten aufgebaut, der Ionenquelle, einem Analysator und ei- pol unabgelenkt passieren können, die anderen Moleküle kolli-
nem Detektor (. Abb. 6.8). In der Ionenquelle müssen aus der dieren mir der Wand und werden damit eliminiert.
Proteinprobe Ionen erzeugt und in das Hochvakuum abgegeben
werden, das im Massenspektrometer herrscht. Eine Methode, Die Ultrazentrifugation erlaubt die Massenbestim-
um aus Proteinlösungen Ionen zu erzeugen, ist die Matrix-unter- mung von großen Proteinen und Proteinkomplexen
stützte Laser-Desorption/Ionisation (MALDI, matrix-assisted Analytische Ultrazentrifugation Mit der Massenspekrometrie
laser desorption/ionization), bei dem eine kleine Menge der Pro- kann man sehr genau die molare Masse eines isolierten Proteins
be zunächst mit einer kristallinen Matrix (z. B. 2,5-Dihydroxy- bestimmen. Proteine bilden in Lösung oft nicht-kovalente, wenig
benzoesäure, DBT) gemischt und auf einem metallischen Träger stabile Komplexe mit sich selbst oder anderen Proteinen. Diese
cokristallisiert und getrocknet wird. Mit einem gepulsten Laser Komplexbildung kann für ihre biologische Funktion von großer
wird die Matrix schlagartig verdampft. Dabei werden die Prote- Bedeutung sein. Oft liegt in Lösung ein Gleichgewicht von Mo-
ine mitgerissen und gleichzeitig unter dem Einfluss der Matrix nomeren und Polymeren verschiedener Größe vor. Diese insta-
92 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

bilen Komplexe sind für die Massenspektrometrie nicht geeignet.


Hier gibt die analytische Ultrazentrifugation, die von Theodor . Tab. 6.1 S-Werte und daraus errechnete Molekülmassen einiger
Svedberg und seinen Mitarbeitern eingeführt wurde, eine Ant- Proteine (Ribosomen enthalten neben Proteinen einen großen Anteil
von RNA)
wort.
Zentrifugiert man eine Proteinlösung mit einer sehr hohen S20 Molekülmassen
Umdrehungszahl U, sind alle Moleküle in der Lösung einer (Svedberg-Einheiten (Da)
hohen Zentrifugalkraft ausgesetzt, die wie ein künstliches bei 20 °C)
Schwerefeld wirkt. Bei Zentrifugalkräften, die das 400.000fache
Insulin 1,2 6.300
der Erdanziehungskraft erreichen können, sedimentieren die
Proteine in der wässrigen Lösung. Da aber gleichzeitig der Myoglobin 2,0 16.900
hydrostatische Druck zu einer entgegengesetzten Auftriebskraft Hämoglobin 4,5 63.000
führt, wird die Zentrifugalkraft partiell kompensiert. Generell
Fibrinogen 7,6 340.000
ist der Auftrieb proportional zur Dichtedifferenz von Lösungs-
6 mittel und gelöster Substanz und damit für alle Moleküle unter- Ribosom (Bakterien) 70 2.500.000

schiedlich. Nur diejenigen Moleküle sedimentieren in einer Tabakmosaikvirus 174 59.000.000


wässrigen Lösung, die wie die Proteine eine höhere Dichte als
Wasser haben.
Man kann nun die Sedimentationsgeschwindigkeit v = dr/dt
in Richtung der Zentrifugalkraft mpw2r mit einem optischen Sys- Die vollständige saure Hydrolyse
tem messen. Dabei ist r der Abstand von der Rotationsachse zum der Peptidbindungen erlaubt die Bestimmung
betrachteten Molekül im Zentrifugenröhrchen, mp die Masse der Aminosäurezusammensetzung
des Proteins und ω die Rotationsgeschwindigkeit ω = 2π∙U Die Peptidbindungen in Proteinen können durch Behandlung
(U: Umdrehungen/s). Da die Beschleunigung der Proteinmole- mit starken Säuren oder Basen hydrolytisch gespalten werden.
küle im künstlichen Schwerefeld durch die Reibung mit dem Die entstandenen Aminosäuren lassen sich dann mit einer HPLC
Lösungsmittel aufgehoben wird, die proportional zur Geschwin- quantifizieren und bei bekannter Molekülmasse kann daraus die
digkeit v ist, stellt sich eine konstante Sedimentationsgeschwin- Aminosäurezusammensetzung berechnet werden. Allerdings
digkeit v ein (Stokes-Gesetz). muss man dabei berücksichtigen, dass bei der Hydrolyse ge-
Als Maß für die Größe der Molekülmasse erhält man den wöhnlich Nebenreaktionen ablaufen. Bei der meist angewandten
Sedimentations- oder Svedberg-Koeffizienten s, der unter sauren Hydrolyse mit 6 N HCl werden die Seitengruppen von
sonst gleichen experimentellen Bedingungen (s. u.) für ein Mo- Asparaginen und Glutaminen angegriffen, und es entsteht durch
lekül unabhängig von der Zentrifugalbeschleunigung ist: Abspaltung der Aminogruppe Aspartat und Glutamat. Zusätz-
lich geht ein Teil der Serine, Threonine und Tryptophane bei der
s = v/ω2r Hydrolyse verloren.

Da sich hier in den Basiseinheiten Meter, Kilogramm und Sekun-


de (MKS-System) sehr kleine Werte ergeben, drückt man s in der 6.3 Nachweisverfahren und Identifizierung
Svedberg-Einheit S aus, wobei 1 Svedberg 1∙10–13 s entspricht. von Proteinen
Typischerweise haben Proteine Svedberg-Werte im Bereich von
1-200 S (. Tab. 6.1). Immunologische Nachweisverfahren ermöglichen
Die Sedimentationsgeschwindigkeit v ist primär von der Mo- die Identifizierung und Quantifizierung einzelner
lekülgröße und Dichte abhängig, wird aber von einer Reihe an- Proteine (und anderer Antigene) durch spezifische
derer Faktoren mit beeinflusst. Von der Proteinseite her ist es im Antikörper
Wesentlichen die Form des Proteins, bei gleichem Gesamtvolu- Immunpräzipitation Bei ausreichenden Mengen an Antigen und
men sedimentieren die fibrillären Proteine wegen ihrer elongier- Antikörper führt deren Interaktion zur Bildung von Proteinprä-
ten Form langsamer als die typischen globulären Proteine mit zipitaten, die in Agarosegelen sichtbar gemacht werden können.
ihrer nahezu sphärischen Form. Natürlich hängt die Sedimenta- Verwendet man z. B. für die Trägerelektrophorese von Proteinen
tionsgeschwindigkeit auch vom benutzten Lösungsmittel ab. Ins- (7 Kap. 6.1.2) ein Agarosegel, lassen sich anschließend Antiseren
besondere wird die absolute Sedimentationsgeschwindigkeit von in einer Vertiefung entlang der Laufstrecke einbringen, die an
der Dichte und Viskosität des Lösungsmittels beeinflusst. Daher denjenigen Stellen Präzipitationsbanden bilden, an denen in der
misst man gewöhnlich Sedimentationskonstanten immer im Elektrophorese die entsprechenden Antigene aufgetrennt wur-
gleichen Puffer bei der gleichen Temperatur und bestimmt nur den (Immunelektrophorese).
die relativen Sedimentationskonstanten der einzelnen Kompo-
nenten. Eine einfache lineare Beziehung zwischen der Molekül- Enzymimmunoassays Enzymimmunologische Tests finden häu-
masse und dem Sedimentationskoeffizienten ist wegen all dieser fig zum Nachweis und zur Konzentrationsbestimmung solcher
Faktoren nicht zu erwarten, sondern nur eine gute Korrelation. Antigene (Proteine) Anwendung, die in einer sehr niedrigen
Dies kann man auch an den in . Tab. 6.1 angegebenen Werten Konzentration vorliegen. Die erforderliche Signalverstärkung
sehen. wird durch die Verwendung von Enzym-Antikörper-Konjugaten
6.3 · Nachweisverfahren und Identifizierung von Proteinen
93 6
A B Immunhistochemie Die Visualisierbarkeit eines bestimmten
Proteins in einem Gewebeschnitt demonstriert die große Spezi-
fität und Sensitivität enzymimmunologischer Nachweisverfah-
ren. Ähnlich wie beim Enzymimmunoassay kommen oftmals
zwei Antikörper zum Einsatz, von denen der Sekundärantikör-
per mit einem Enzym markiert ist. Die Bildung gefärbter Reak-
tionsprodukte erfolgt dabei nur am Ort der Lokalisation des
Antigens (7 Abb. 62.3).
. Abb. 6.9 Verstärkung immunologischer Signale durch Enzyme.
A Test mit einem Enzym-Antikörper-Konjugat (grün/blau), dessen Antikör- Proteine können durch die Ermittlung ihrer
per (grün) das Antigen (rot) direkt erkennt. B Detektion eines Primärantikör-
N-terminalen Aminosäuresequenz über den
pers gegen das Antigen mit einem enzymgekoppelten Sekundärantikörper.
Die große Zahl der Produktmoleküle führt zu einer enormen Verstärkung Edman-Abbau identifiziert werden
des Eingangssignals (Antigen) Beim Edman-Abbau werden die Proteine durch eine chemi-
sche Reaktion vom N-terminalen Ende des Peptids her Amino-
säure für Aminosäure abgebaut. Nach der Abspaltung werden
die entstandenen Aminosäurederivate mit organischen Lö-
ermöglicht. Das zugrunde liegende Funktionsprinzip ist in sungsmitteln extrahiert und nacheinander chromatographisch
. Abb. 6.9 gezeigt. Das Antigen (rot) ist fest an eine Oberfläche mit der Umkehrphasen-HPLC identifiziert. Die Abspaltung
gebunden (Nitrocellulose, (s. u.) oder in Reaktionsgefäßen). An- erfolgt nach einer Reaktion der Aminogruppe mit Pheny-
schließend wird ein Enzym-Antikörper-Konjugat zugegeben lisothiocyanat (PITC). Das entstandene Phenylthiocarbamid
(. Abb. 6.9A). Dieses besteht aus einem gegen das Antigen ge- cyclisiert bei Behandlung mit wasserfreier Trifluoressigsäure
richtetes Immunglobulinmolekül (dem Antikörper, dunkelgrün), und das daraus hervorgehende Phenylthiohydantoinderivat
an das ein Enzymmolekül (blau) covalent gebunden ist. Die hohe (PTH-Derivat) wird vom Restpeptid abgespalten. Nach der
Spezifität der Antigen-Antikörper-Wechselwirkung ermöglicht Extraktion des Produkts kann die Reaktion wieder durch eine
die selektive Erkennung und Bindung des Antigens. Nach der Erhöhung des pH-Wertes und Zusatz von Phenylisothiocyanat
Entfernung von überschüssigem Enzym-Antikörper-Konjugat gestartet werden. Der nächste Zyklus beginnt. Wegen sich
wird ein für das gekoppelte Enzym geeignetes Substrat zugesetzt anhäufender Nebenprodukte kann man nur Sequenzen von
und das gebildete Reaktionsprodukt anhand der Lichtabsorption 30–40 Aminosäuren sicher aufklären. Die Edman-Analyse ist
oder Fluoreszenz erkannt bzw. quantifiziert. Steht nur ein nor- sehr empfindlich, nur etwa 10–100 pmol Protein sind für
maler (unkonjugierter) Antikörper zur Verfügung (. Abb. 6.9B, eine Sequenzierung notwendig, eine Proteinmenge, die in ei-
dunkelgrün), kann dieser als Primärantikörper eingesetzt und ner Bande eines SDS-Polyacrylamidgels nach der Elektro-
mit einem enzymgekoppelten Sekundärantikörper einer ande- phorese typischerweise enthalten ist. Die Edman-Sequen-
ren Tierart (hellgrün), der den Fc-Teil (7 Kap. 70.9.1) des Primär- zierung wird heutzutage im Allgemeinen durch Automaten
antikörpers erkennt, nachgewiesen werden. durchgeführt.
Dieses Prinzip wird bei verschiedenen Nachweisverfahren Will man größere Peptide sequenzieren, muss man sie erst
für Proteine (und anderer Antigene) eingesetzt, wie bei: in kleinere Fragmente zerlegen. Diese Fragmente werden dann
4 Western Blot (s. u.), wieder mit der HPLC aufgetrennt und anschließend wie be-
4 RIA und ELISA (7 Kap. 70.9.5) und schrieben mit dem Edman-Abbau analysiert. Hierzu gibt es ver-
4 Immunhistochemie (s. u.). schiedene chemische und enzymatische Methoden. Eine effek-
tive chemische Methode zur Fragmentierung ist die Bromcyan-
Western Blot Der erste Schritt der Western-Blot-Analyse ent- spaltung. Durch die Behandlung der Probe mit Bromcy-
spricht der schon besprochenen Auftrennung der Proteine mit an (CNBr) werden die Polypeptidketten hinter Methionylresten
einer SDS-Gelelektrophorese. Im zweiten Schritt müssen die gespalten. Die Alternative hierzu ist die Spaltung der Polypep-
Proteine zur weiteren Analyse auf Nitrocellulosepapier oder Ny- tidkette mit Proteasen, die eine bekannte Sequenzspezifität ha-
lonfolien übertragen werden. Diesen Vorgang nennt man Blot- ben. Üblicherweise nimmt man für die Sequenzierung die allge-
ten (blot = Abklatsch). Gewöhnlich werden die Proteine vom Gel mein verfügbaren Proteasen Trypsin und Chymotrypsin. Tryp-
auf die Folie durch ein senkrecht zur Geloberfläche angelegtes sin spaltet Polypeptidketten bevorzugt hinter den basischen
elektrisches Feld übertragen. Die Blots können anschließend mit Aminosäuren Arginin und Lysin, Chymotrypsin erkennt aro-
Antikörpern getränkt werden, die an ihre spezifischen Antigene matische Seitenketten, hinter denen die Spaltung stattfindet.
(Proteine) binden. Diese Reaktion wird über einen zweiten An- Für eine vollständige Aminosäuresequenzierung benötigt man
tikörper enzymimmunologisch (s. o.) sichtbar gemacht, wo- überlappende Fragmente, um deren Anordnung eindeutig zu
durch die Stelle der Antigen-Antikörper-Antikörper-Reaktion bestimmen. Solche überlappende Teilstücke kann man dadurch
angefärbt oder fluoreszenzmarkiert wird. Western-Blots sind erhalten, dass man die beschriebenen Methoden zur Fragmen-
wegen der Verwendung von Antikörpern hochspezifisch, sehr tierung parallel anwendet. Eine große Gefahr bei dieser klassi-
empfindlich und relativ einfach herzustellen, daher ist Western- schen Aminosäuresequenzierung besteht darin, dass man Frag-
Blotting im Routinebetrieb eine häufig genutzte Methode zur mente bei der Reinigung verliert und so fehlerhafte Gesamtse-
Identifizierung von bekannten Proteinen. quenzen erhält.
94 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

. Abb. 6.10 Standardproteomanalyse mit der zweidimensionalen Elektrophorese und der Tandemmassenspektrometrie. A Zunächst werden die
Proteine mit Hilfe einer zweidimensionalen Gelelektrophorese aufgetrennt und auf dem Gel mit Trypsin verdaut. Die erhaltenen Peptide werden dann mit-
tels HPLC aufgetrennt. B Das ausgewählte Peptid wird mit der Tandemmassenspektrometrie analysiert. Zunächst erfolgt dabei die Isolierung des zugehö-
rigen Massenpeaks, der Moleküle mit gleichem m/z enthält. Diese Moleküle werden anschließend in einer Kollisionszelle fragmentiert. Die dabei entste-
henden Peptidionen werden massenspektrometrisch analysiert. Die Quadrupole Q1, Q2 und Q3 dienen der Abtrennung von Ionen mit instabiler Flugbahn.
C Die erhaltenen experimentellen Massenspektren werden analysiert und mit theoretischen Massenspektren verglichen, die aus einer Sequenzdatenbank
vorhergesagt werden können. (Adaptiert nach Gygi u. Aebersold 2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Zuverlässigere Daten erhält man, wenn man in die Analyse posttranskriptionale oder posttranslationale Modifikationen
eine DNA-Sequenzierung miteinbezieht, da DNA-Sequenzie- zu erwarten sind. Letztere sind natürlich nicht aus einer einfa-
rungen automatisiert durchgeführt werden und für praktische chen DNA-Sequenzierung zu erhalten.
Zwecke als fehlerfrei angesehen werden können. Eine gute Stra-
tegie ist, aus den Partialsequenzen der durch proteolytische Be- Massenspektrometrie ist heutzutage die elegan-
handlung gewonnenen Bruchstücke DNA-Sonden zu erzeugen. teste Methode zur Identifikation von Proteinen
Diese DNA-Sonden können dazu benutzt werden, das unbe- Vor der Massenspektrometrie müssen die gereinigten Proteine
kannte Gen aus einer experimentellen cDNA-Bibliothek heraus erst fragmentiert und die erhaltenen Bruchstücke aufgetrennt
mit Hilfe der PCR (7 Kap. 54.1.2) zu amplifizieren und dann die werden. Die Erzeugung der Fragmente kann wie oben beschrie-
zugehörige cDNA zu sequenzieren. ben erfolgen oder aber direkt im Massenspektrometer. Gewöhn-
Die Identifizierung des Proteins (d. h. die Ermittlung seiner lich benutzt man eine Kombination beider Methoden (. Abb.
Aminosäuresequenz) kann viel effektiver erfolgen, wenn für den 6.10). Geht man von Proteingemischen aus, führt man zunächst
betrachteten Organismus (wie für den Menschen und eine Viel- eine zweidimensionale Gelelektrophorese durch. Die Proteine
zahl von Mikroorganismen) das Genom schon aufgeklärt ist. werden nach Abschluss der Elektrophorese direkt auf dem Gel
Hier sucht man einfach die experimentell ermittelte(n) proteolytisch gespalten. Die dabei erhaltenen Peptidgemische
Partialsequenz(en) in der Genomdatenbank und kann daraus der einzelnen Proteinflecken (spots) werden dann über eine
direkt die zugehörige Proteinsequenz ableiten. HPLC weiter aufgetrennt und in das Massenspektrometer einge-
Allerdings gibt es immer noch Situationen, in denen die spritzt. Mit einem Quadrupolfilter werden wohldefinierte Pepti-
Standardaminosäuresequenzierung benötigt wird, nämlich im- de ausgewählt und dann in einer mit Heliumgas gefüllten Kolli-
mer dann, wenn man auf die DNA nicht zugreifen kann, oder sionszelle in kleinere Bruchstücke zerlegt. Diese entstehen beim
6.4 · Methoden zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen
95 6
Zusammenstoß der vorher beschleunigten Peptide mit den kann man seine Struktur mit Hilfe der Kernresonanzspektros-
Heliumatomen (CID, collision induced dissociation). Die dabei kopie (NMR, nuclear magnetic resonance) erhalten. Die Kernre-
erhaltenen Fragmente werden dann in einem zweiten, mit der sonanzspektroskopie kann allerdings auch für Proteine im festen
Kollisionszelle verbundenen Massenspektrometer endgültig Zustand durchgeführt werden.
analysiert (MS-MS, Tandem-MS).
Die erhaltenen Massenspektren der Fragmente werden an-
schließend mit bioinformatischen Methoden analysiert und er- 6.4.1 Röntgenstrukturanalyse
geben am Ende die Proteinsequenz(en).
Eine bahnbrechende Eigenschaft der Röntgenstrahlen, die von
Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckt wurden, war die Mög-
Zusammenfassung lichkeit, das Innere von Gegenständen sichtbar zu machen. Es
Eine wesentliche Voraussetzung für die Charakterisierung dauerte nicht lange, bis man herausfand, dass man mit Röntgen-
von Proteinen ist ihre Reindarstellung aus Zellextrakten strahlen auch die räumliche Anordnung der Atome in einfachen
oder Körperflüssigkeiten. Diese Reinigung wird gewöhnlich Kristallen und damit letztendlich auch die atomare Struktur von
mit einer Kombination verschiedener säulenchromatogra- kleinen anorganischen (NaCl, 1913) und organischen Molekülen
phischer Verfahren bewirkt. Gängige Techniken sind hier: (Benzol, 1928) durch die Interpretation der Röntgenbeugungs-
4 Ionenaustauschchromatographie muster aufklären konnte. Die ersten Strukturuntersuchungen
4 Gelchromatographie von Makromolekülen in den 30er Jahren des letzten Jahrhun-
4 Affinitätschromatographie derts scheiterten an der Komplexität der sich ergebenden Beu-
4 Umkehrphasen-HPLC (bei kleinen Mengen) gungsbilder. Es mussten noch 20 Jahre vergehen bis es John
Kendrew gelang, 1958 mit der Struktur des Myoglobins die erste
Zur schnellen Bestimmung der Molekülmasse im Biochemie- Röntgenstruktur zu lösen. Heute ist die Röntgenbeugung (X-ray
labor eignet sich die SDS-Polyacrylamid-Gelelektrophorese diffraction) die wichtigste Methode zur Strukturbestimmung
(SDS-PAGE). Als genauere Methoden stehen die Massen- biologischer Makromoleküle. Mehr als 90 % aller Proteinstruk-
spektrometrie und die, für den Routinebetrieb wenig geeig- turen der internationalen Proteindatenbank (pdb, protein data
nete, analytische Ultrazentrifugation zur Verfügung. bank) wurden mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse gelöst.
Zur schnellen Identifizierung von bekannten Proteinen
greift man oft auf den Western-Blot zurück. Zur analyti- Für eine Röntgenstrukturanalyse benötigt man
schen Auftrennung von komplexen Proteingemischen wird Einkristalle von Proteinen
häufig die zweidimensionale Elektrophorese gewählt. Pro- Um die Röntgenbeugungsdaten interpretieren zu können, benö-
teine können in einfachen Fällen aus der Position ihres tigt die Röntgenstrukturanalyse Einkristalle der zu untersu-
Flecks auf dem Gel identifiziert oder durch nachfolgende chenden Proteine. Deshalb wählt man auch oft den alternativen
Analyse durch Massenspektrometrie erkannt werden. Ausdruck Röntgenkristallographie (X-ray cristallography) zur
Die Aminosäuresequenz kleiner Polypeptide kann mit Hilfe Beschreibung der Methode. Die Kristallisation von Proteinen
des Edman-Abbaus bestimmt werden. Bei Proteinen muss stellt auch nach der Einführung von automatisierten Kristallisa-
vorher eine chemische oder enzymatische Fragmentierung tionsverfahren (»Kristallisationsrobotern«) immer noch die
durchgeführt werden. Eine moderne Methode ist die CID- größte Herausforderung auf dem Weg zur 3D-Struktur eines
MS-MS. Die höchste Zuverlässigkeit liefert die Sequenzie- Proteins dar. Proteine können spontan aus konzentrierten Prote-
rung der zugehörigen cDNA oder die rechnergestützte Su- inlösungen innerhalb von Stunden kristallisieren, die Suche nach
che von Peptidfragmenten in Genom-Datenbanken. geeigneten Kristallisationsbedingungen für ein ganz bestimmtes
Protein kann aber auch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Bei der Kristallisation wird eine konzentrierte, nahezu gesät-
tigte Proteinlösung durch geeignete Manipulation der äußeren
6.4 Methoden zur Aufklärung der dreidimen- Bedingungen langsam in den übersättigten Zustand überführt. In
sionalen Struktur von Proteinen der Regel wird ein Tropfen der Proteinlösung auf einen Objekt-
träger gegeben, der dann umgedreht auf ein kleines Gefäß gelegt
Die genaue räumliche Struktur von Proteinen in atomarer Auf- wird (hängender Tropfen, hanging drop). Durch Dampfdiffusion
lösung kann bis heute mit ausreichender Sicherheit nur mit ex- im Gefäß verliert der Tropfen langsam Wasser, und die Protein-
perimentellen Methoden ermittelt werden. Allerdings kann die konzentration steigt. Wenn alle Bedingungen korrekt gewählt
allgemeine Faltung eines Proteins oft gut aus der Aminosäure- wurden, bilden sich schließlich in der übersättigten Lösung kleine
sequenz vorhergesagt werden, wenn die 3D-Struktur eines eng Kristallisationskeime, die durch Anlagerung weiterer Proteinmo-
verwandten Proteins bekannt ist. Zwei grundsätzlich unter- leküle langsam größer werden (. Abb. 6.11).
schiedliche Verfahren werden zur Strukturaufklärung von Pro- Allerdings tritt meistens ein konkurrierender unerwünsch-
teinen eingesetzt. Wenn das Protein in festem Zustand vorliegt, ter Prozess ein: Das Protein aggregiert ungeordnet und fällt aus
nutzt man die Streuung von Röntgenstrahlen, Neutronen und der Lösung aus, bevor sich Kristalle gebildet haben. Daher muss
Elektronen durch Proteineinkristalle zur Strukturaufklärung man in der Regel viele verschiedene Lösungsbedingungen aus-
(Röntgenkristallographie). Liegt das Protein in Lösung vor, probieren, bis man einen ausreichend großen Kristall erhält. Oft
96 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

6
. Abb. 6.11 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Kristalls
der Pyruvatkinase. Der Kristall besteht aus regelmäßig im Kristallgitter
geordneten Enzymmolekülen. Auf einer Kante liegen etwa 2.000 Moleküle
nebeneinander. (Aus Hess und Sossinka 1974)

führt auch eine extensive Variation der Pufferbedingungen . Abb. 6.12 Röntgenbeugungsmuster eines Ras-Kristalls. Die Daten
wurden an einem Synchrotron mit einem 0,2×0,1×0,1 mm großen Kristall
nicht zum Ziel. In diesen Fällen versucht man, die Kristallisa-
bei einer Temperatur von 100 K und einer Wellenlänge von 0,128 nm
tionstendenz durch kleine Änderungen der Proteinoberfläche aufgenommen. (Mit freundlicher Genehmigung von I. Vetter)
zu erhöhen, die man durch gezielte Mutagenese einführt. Daher
entsprechen viele der in der Proteinstrukturdatenbank gespei-
cherten Röntgenstrukturen nicht genau dem gesuchten, natür- Diese Reflexe enthalten genug Information, um die räumlichen
lichen Zielprotein. Koordinaten aller Atome des Proteins genau zu bestimmen.
Im nächsten Schritt wird ein Einkristall auf einem Goniome- Wie jede elektromagnetische Strahlung hat auch die Rönt-
ter befestigt, einer Vorrichtung, mit der der Einkristall in der genstrahlung eine Intensität und eine Phase. Wenn nun neben
monochromatischen Röntgenstrahlung schrittweise gedreht den Intensitäten auch die Phasen aller Reflexe bekannt wären,
werden kann. Die gebeugten Röntgenstrahlen werden dann könnte man aus den Diffraktionsbildern direkt die Elektronen-
heutzutage mit einem Flächendetektor wie der CCD-Kamera verteilung des ganzen Proteins und damit auch alle Atomposi-
(CCD, charge coupled device) registriert und digitalisiert. Für tionen durch eine einfache mathematische Operation, die Fou-
eine scharfe Abbildung muss die Wellenlänge der benutzten rier-Transformation, berechnen. Leider erhält man experimen-
Strahlung der gewünschten Auflösung (kleinster Abstand, bei tell nur die Intensität der gestreuten Röntgenstrahlung, aber
der zwei Atome getrennt beobachtbar sind) entsprechen. Dies ist nicht deren Phase. Um die zur Berechnung der 3D-Struktur
schon für die im Labor genutzte charakteristische Strahlung der notwendige Phaseninformation zu erhalten, gibt es verschiedene
Kupferanode einer konventionellen Röntgenröhre der Fall, deren Ansätze. Die Standardmethode, die bei den ersten Proteinstruk-
Kα-Linie eine Wellenlänge von 0,154 nm hat. Gewöhnlich nutzt turen angewandt wurde, und auch heute noch von Bedeutung ist,
man heutzutage für die Strukturbestimmung die Synchrotron- ist der multiple isomorphe Ersatz (MIR, multiple isomorphous
strahlung, die von großen Teilchenbeschleunigern erzeugt wird. replacement). Hier erzeugt man von den Kristallen verschiedene
Wegen ihrer wesentlich größeren Luminosität (Strahlungsinten- Schwermetallderivate, indem man sie sich mit Schwermetallsal-
sität) kann man einen ganzen Datensatz in weniger als einer zen wie Uranylacetat oder Quecksilberacetat vollsaugen lässt
Stunde aufnehmen und mit viel kleineren Kristallen arbeiten. Im (soaking). Dabei wird idealerweise eines oder mehrere Schwer-
Gegensatz zur charakteristischen Strahlung einer Röntgenröhre metallatome an wohldefinierten Stellen gebunden, ohne dass die
kann man sich die Wellenlänge bei der Synchrotronstrahlung räumliche Struktur des Proteins verändert wird. Die Position der
aussuchen und arbeitet gewöhnlich bei kleineren Wellenlängen Schwermetalle im Kristall ist dann der Ausgangspunkt zur Lö-
um 1 nm. Bessere Ergebnisse scheint man bei noch kleineren sung des Phasenproblems.
Wellenlängen zu erhalten. Alternativ wird biosynthetisch Selenomethionin statt Me-
Die Streuung (Diffraktion) der Röntgenstrahlen an der Elek- thionin in das Protein eingebaut und die anomale Streuung des
tronenhülle der Proteinatome ergibt dann typische Muster von Selens bei einer oder (in schwierigen Fällen) mehreren Wellen-
Reflexen. . Abb. 6.12 zeigt ein solches Diffraktionsmuster, das längen gemessen (SAD, single-wavelength anomalous dispersion,
von einem Einkristall des Rasproteins aufgenommen wurde. Ab- MAD, multiple-wavelength anomalous dispersion). Liegt schon
hängig von der Qualität der verwendeten Kristalle enthält ein eine 3D-Struktur eines stark verwandten Proteins vor, kann man
vollständiger Satz von unter verschiedenen Winkeln aufgenom- diese Struktur zur Bestimmung von Ausgangswerten für die Pha-
men Beugungsbildern zwischen 10.000 und 100.000 Reflexe. sen verwenden (molekularer Ersatz, molecular replacement).
6.4 · Methoden zur Aufklärung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen
97 6

. Abb. 6.13 Mehrdimensionale NMR-Spektroskopie zur Proteinstrukturbestimmung in Lösung. Links: 3D-HNCO-NMR-Spektrum des Kälteschock-
proteins Csp (cold shock protein) des hyperthermophilen Mikroorganismus Thermotoga maritima. Das Protein wurde in E. coli exprimiert und dabei mit den
stabilen Isotopen 15N und 13C angereichert. In den HNCO-Spektren werden Amidprotonen (H), der Amidstickstoff (N) und der Carbonylsauerstoff (CO) der
Peptidbindung selektiv detektiert. Eine Achse zeigt die 1H-, eine die 15N- und die dritte die 13C-Resonanzfrequenzen an, d. h. ein Signal im 3D-Spektrum
entspricht dann dem C, N und Amidproton (H) genau einer Peptidbindung im Protein. Rechts: Die NMR-Struktur von Csp ergibt eine β-Fass-Topologie, die
aus 5 β-Strängen gebildet werden. Das Kälteschockprotein wird bei Abkühlung von der optimalen Wachstumstemperatur von T. maritima von mehr als
80 °C in hoher Konzentration gebildet. (PDB ID: 1G6P)

Wenn die Kristalle eine ausreichende Qualität haben, ist die schen Bedingungen ermittelt. Es ist evident, dass natürlich kei-
Röntgenstrukturanalyse auch großer Proteine eine Routineange- ne Kristallisation der Proteine erforderlich ist. Ein Nachteil ist die
legenheit und erste Strukturen können prinzipiell schon inner- Komplexität der Strukturbestimmung selbst, die Monate oder
halb eines Tages erhalten werden. Daher ist die Kristallisation der Jahre dauern kann.
Proteine der eigentliche Engpass. Sie ist besonders schwierig für Bei der NMR-Strukturbestimmung werden die strukturab-
Membranproteine, die zur Erhaltung ihrer Struktur Membran- hängigen Wechselwirkungen der magnetischen Momente der im
lipide benötigen. Trotzdem hat man auch hier schon erhebliche Protein enthaltenen Atomkerne dazu genutzt, um eine Struktur
Fortschritte gemacht, sodass heute die Röntgenstruktur von zu berechnen. Die wichtigste Größe ist hier der Kern-Overhau-
mehr als 400 Membranproteinen bekannt ist. ser-Effekt (NOE, nuclear Overhauser effect), mit dem sich paar-
weise Abstände zwischen den Atomen bis zu maximal 0,6 nm
messen lassen.
6.4.2 NMR-Strukturbestimmung Um ein NMR-Experiment durchführen zu können, müssen
die magnetischen Momente in einem starken äußeren Magnet-
Im Jahr 1984 gelang es der Gruppe von Kurt Wüthrich, die erste feld ausgerichtet werden. Hierzu nutzt man gewöhnlich (teure)
dreidimensionale Struktur eines kleinen globulären Proteins, des supraleitende Magnete mit hohen Magnetfeldstärken, da die
Stiersperma-Proteaseinhibitors (BUSI, bull seminal proteinase Empfindlichkeit der NMR-Spektroskopie stark mit dem Magnet-
inhibitor) mit Hilfe der zweidimensionalen NMR-Spektroskopie feld zunimmt. Im Vergleich zur Röntgenkristallographie ist die
zu bestimmen. Damit wurde die NMR-Strukturbestimmung als NMR-Spektroskopie eine junge Methode, daher sind viele Berei-
eine neue Alternative zur Röntgenstrukturanalyse in die Bio- che noch in Entwicklung begriffen und nicht für den Routinebe-
chemie eingeführt. trieb optimiert.
Für die NMR-Strukturbestimmung müssen eine Reihe ver-
NMR-Spektroskopie erlaubt die Bestimmung schiedener mehrdimensionaler NMR-Spektren aufgenommen
der Struktur von Proteinen in Lösung werden (. Abb. 6.13).
Schon vor der ersten 3D-Proteinstrukturbestimmung war die Für Proteine mit Molekülmassen über 10 kDa müssen die
Kernresonanzspektroskopie (Synonyme: Kernmagnetische Proteine biosynthetisch mit den stabilen Isotopen 13C und 15N
Resonanz, NMR-(nuclear magnetic resonance)-Spektroskopie) (bei sehr großen Proteinen noch zusätzlich 2H) angereichert wer-
als eine wichtige analytische Methode in der Chemie weitverbrei- den, die in der Natur nur in geringer Häufigkeit vorkommen. Mit
tet und wurde zur Aufklärung der covalenten Struktur von Syn- einer Steigerung der Molekülmasse wird die NMR-Strukturbe-
theseprodukten routinemäßig eingesetzt. Im Gegensatz zur stimmung immer schwieriger, eine praktische Obergrenze für
Röntgenkristallographie arbeitet sie mit Proteinen im gelösten die Bestimmung einer vollständigen dreidimensionalen Struktur
Zustand. Die Proteinstruktur wird also unter quasiphysiologi- eines Proteins liegt derzeit bei etwa 100 kDa.
98 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

Die meisten von DNA codierten Proteine haben eine mole- mik (proteomics) eine Aufgabe, die sich zwanglos aus der Geno-
kulare Masse in diesem Bereich. Trotzdem bleibt die Größenbe- mik (genomics) ergibt.
schränkung der Hauptnachteil der NMR-Spektroskopie, die Wie unterscheidet sich nun die Proteomik von der klassi-
Bestimmung einer Ribosomenstruktur, wie sie mit der Röntgen- schen Proteinbiochemie? Der Hauptunterschied folgt aus der
strukturanalyse gelungen ist, ist weit außerhalb dessen, was die Vollständigkeit der Daten, die im Prinzip erlaubt, ein geschlosse-
NMR derzeit leisten kann. Ein Vorteil der NMR-Strukturbestim- nes Bild aller Interaktionen der Proteine in einer Zelle zu erhal-
mung bleibt aber, dass sie im gelösten Zustand funktioniert und ten. Da nicht alle Proteine zur selben Zeit und in allen Zellen
gleichzeitig empfindlich für Bewegungsvorgänge im Protein ist. exprimiert werden, ist eine fundamentale Aufgabe der Proteo-
Die Kristallisation kann Artefakte erzeugen und muss nicht not- mik das Expressionsmuster der Proteine in bestimmten Zellen
wendigerweise das konformationelle Ensemble in der Lösung und bei bestimmten funktionellen Zuständen zu ermitteln. Für
repräsentieren. das Verständnis des Zusammenwirkens der Proteine ist auch eine
Eine neue Entwicklung ist die NMR-Strukturbestimmung im Kenntnis ihrer posttranslationalen Modifikationen erforder-
festen, nicht-kristallinen Zustand mit Hilfe der Festkörperreso- lich. Diese Informationen erlauben dann mit bioinformatischen
6 nanzspektroskopie (solid state NMR). Mit ihr ist es bereits ge- Methoden die Unterschiede verschiedener Proteome zu analy-
lungen, die ersten Strukturen von membrangebundenen Protei- sieren, um deren Rolle bei der Krankheitsentstehung oder der
nen zu bestimmen. Entwicklung individueller Besonderheiten zu verstehen. Die
funktionelle Proteomik konzentriert sich besonders auf die
Analyse des Netzwerks der Protein-Protein-Interaktionen und
Zusammenfassung deren Rolle bei der Erhaltung und Regulation der Funktionen,
Die räumliche Struktur von Proteinen wird im Wesentlichen die für das Überleben und die Vermehrung von isolierten Zellen
mit zwei verschiedenen Methoden bestimmt: und deren Organisation in Geweben und ganzen Organismen
4 Die am weitesten verbreitete Methode zur Proteinstruk- verantwortlich sind.
turbestimmung ist die Röntgenstrukturanalyse. Sie Wie wir wissen, ist für die ungestörte Funktion von Proteinen
führt schnell zum Ziel, wenn Proteineinkristalle hoher deren intakte dreidimensionale Struktur entscheidend. Deshalb
Qualität zur Verfügung stehen. Allerdings ist es oft nicht wäre auch die Kenntnis aller Proteinstrukturen von Nutzen
einfach, ausreichend gut streuende Kristalle des Zielpro- (strukturelle Proteomik). Wegen des hohen experimentellen
teins in der zur Verfügung stehenden Zeit zu erzeugen. Aufwands lässt sich dieses Ziel nicht erreichen. Deshalb versucht
4 Mit der NMR-Strukturbestimmung wird die eigentlich man in den Programmen der strukturellen Proteomik wenigs-
relevante Lösungsstruktur von Proteinen ermittelt. Sie tens alle wichtigen Faltungstopologien (7 Kap. 5.2.3) aufzuklä-
ist sehr zeitaufwendig und für große Proteine schwierig. ren, um dann mit Homologiemodellierung aus den Aminosäu-
resequenzen die 3D-Strukturen der Proteine vorhersagen zu
können. Die Proteomik ist ein Teilgebiet der zur Zeit sehr aktuel-
len Systembiologie, die alle molekularen Komponenten der Zel-
6.5 Proteombestimmung (Proteomik) le in ein funktionelles Netzwerk einordnet. Sie will damit die
lebende Zelle oder den Organismus als ganzes, miteinander ge-
Die Initiative zur Aufklärung des menschlichen Genoms hat zur koppeltes System verstehen.
Erfindung effektiver, schneller und zuverlässiger DNA-Sequen- Ein wichtiges Werkzeug der funktionellen Proteomik ist die
zierungsmethoden geführt. In der Zwischenzeit stehen uns die uns schon bekannte zweidimensionale Gelelektrophorese in
kompletten DNA-Sequenzen zahlreicher Organismen zur Verfü- Kombination mit der Massenspektrometrie (7 Kap. 6.3). Mit ihr
gung. Auf der Seite des National Center for Biotechnology Infor- lässt sich das Proteom in Zellen in interessanten funktionellen
mation (http://www.ncbi.nim.nih.gov/genome) sind derzeit Zuständen charakterisieren und in den Zellextrakten etwa
mehrere Tausend Genome von Mikroorganismen wie Staphylo- 1.000 Proteine gleichzeitig semiquantitativ erfassen.
coccus aureus, Escherichia coli, Streptococcus pyogenes, 8 Genome In jüngerer Zeit werden für die notwendige Automatisierung
von Pflanzen wie Arabidopsis thaliana (Gänserauke), Vitis vinife- der Analysen vorgefertigte Testfelder (arrays) immer häufiger
ra (Weinrebe), Zea mays (Mais), Oryza satina (Reis), 2.895 von eingesetzt, die mit der entsprechenden Computersteuerung eine
Viren und von zahlreichen Pilzen und Tieren abgespeichert. automatische Auslesung und Auswertung der Daten erlauben
19 komplette Säugergenome sind hier zugänglich, die von der (. Abb. 6.14). Miteinander wechselwirkende Proteine können in
Maus (Mus musculus) über das Rind (Bos primigenius taurus) Testfeldern identifiziert werden, auf denen rekombinant erzeug-
und den Gorilla (Gorilla gorilla) bis zum Menschen (Homo sa- te Proteine immobilisiert sind. Gibt man auf diese Testfelder ein
piens) reichen. Die Anzahl der gelösten Genome steigt weiterhin Zelllysat und wäscht dieses anschließend mit einer Pufferlösung,
schnell an. so bleiben nur die Proteine haften, die eine spezifische Interak-
tion zeigen. Sie können dann anschließend beispielsweise mas-
Die Untersuchung des Proteoms ergänzt senspektrometrisch identifiziert werden. Weitere Möglichkeiten
die Aufklärung des Genoms zur Identifikation von interagierenden Proteinen stellen Pha-
Da im Genom auch alle Proteine codiert werden, stehen uns auch gen-Display oder Hefe-Zwei-Hybrid-Analysen dar.
die Aminosäuresequenzen aller Proteine, das Proteom, zur Ver- In vielen Fällen ist es technisch einfacher, nicht das Protein
fügung. Daher ist die Untersuchung des Proteoms in der Proteo- selbst, sondern die mRNA in einem Zelllysat nachzuweisen. Statt
6.6 · Synthese von Peptiden und Proteinen
99 6

. Abb. 6.14 Standardverfahren der Proteomanalyse. Grundlage dieser Verfahren ist die Verwendung von Platten mit Vertiefungen, in die Proben einge-
bracht werden können und die als Reaktionsgefäße dienen. Die Zahl dieser Vertiefungen kann von 24 bis zu vielen Tausenden variieren. Die Detektion oder
Auslese der gewünschten Proben erfolgt im Allgemeinen mit automatisierten Verfahren. Die Verwendung von Protein-Chips mit immobilisierten Proteinen
dient vor allem der Identifikation von Protein-Protein-Wechselwirkungen. A Bei funktionellen Tests im Großmaßstab werden zelluläre Proteine in Gruppen
separiert und in die Reaktionsgefäße eingebracht. Entsprechende Bestimmungen der Proteinaktivität, z. B. der Enzymaktivität, erfolgen dann automati-
siert. B Bei Protein-Chips werden spezifische Proteine oder Proteindomänen gentechnisch hergestellt und in den Reaktionsgefäßen immobilisiert. Fügt
man dann Zell-Lysate aus Geweben oder Kulturen zu, binden die für die immobilisierten Proteine spezifischen Proteinliganden aus den Lysaten an die im-
mobilisierten Proteine. Nicht-gebundene Proteine aus den Lysaten werden entfernt, die gebundenen können anschließend isoliert und beispielsweise
durch Massenspektrometrie analysiert werden. C Auch beim Phagen-Display geht man von gentechnisch hergestellten Proteinen oder Proteindomänen
aus, die in den Reaktionsgefäßen immobilisiert werden. Diese reagieren mit Bakteriophagen, in deren Genom die cDNAs (7 Kap. 54.3) von Geweben oder
Zellen so integriert sind, dass jeweils einzelne cDNA-Moleküle als Proteinbestandteile der Phagenhülle exprimiert werden (einer sog. Phagen-cDNA-Biblio-
thek) und deswegen ggf. mit den immobilisierten Proteinen reagieren können. Nicht-gebundene Phagen werden durch Waschen entfernt, die gebun-
denen in E. coli vermehrt und anschließend die DNA-Sequenz der inserierten cDNA ermittelt

der Proteinkonzentrationen erhält man dann das Expressions- substanzen. Daneben gewinnen Peptide und Proteine als Bio-
muster der Proteine, das meistens mit dem Konzentrationsmus- pharmaka oder in diagnostischen Testansätzen in der Medizin
ter gut korreliert. Das Expressionsmuster kann mit DNA-Chips, eine zunehmende Bedeutung. Ihre Produktion kann nach ver-
auf denen kurze DNA-Stücke immobilisiert sind, leicht sichtbar schiedenen Methoden erfolgen. Bewährt hat sich für kleine Pep-
gemacht werden. Da ihre Nucleotidsequenzen zu der gesuchten tide die chemische Peptidsynthese, für größere Peptide die Fest-
mRNA komplementär sind, binden sie die gesuchte mRNA phasenpeptidsynthese und für Polypeptide aus mehr als 20 Ami-
(7 Kap. 54.1.1). Die Bindung wird gewöhnlich über eine Fluores- nosäuren die Biosynthese in vitro oder in vivo.
zenzmarkierung ausgelesen.
Ein ganz anderer Weg zur Erkennung von Protein-Protein-
Wechselwirkungen basiert auf Vorhersagen der Bioinformatik. 6.6.1 Chemische Peptidsynthese
Hat man ein Protein mit bekannter Sequenz aber unbekannter
Funktion, kann man durch eine Suche in der Proteindatenbank Für die Ausbildung einer Peptidbindung zwischen zwei Amino-
oft Proteine anderer Spezies identifizieren, deren Funktion be- säuren muss gewöhnlich die Carboxylgruppe der einen Amino-
kannt ist. Es ist dann sehr wahrscheinlich, dass auch das unbe- säure aktiviert werden. Eine Möglichkeit zur Aktivierung ist die
kannte Protein dieselbe Funktion hat und ähnliche Wechselwir- Herstellung eines Säurechlorids, das mit der Aminogruppe der
kungen mit anderen Proteinen eingeht. anderen Aminosäure reagieren kann (. Abb. 6.15). Da Amino-
säuren auch in ihren Seitenketten reaktive Gruppen enthalten
können, kann es leicht zu unerwünschten Fehlverknüpfungen
6.6 Synthese von Peptiden und Proteinen kommen. Asparagin- und Glutaminsäuren besitzen in ihren Sei-
tenketten Carboxylgruppen, Lysin eine zweite Aminogruppe.
Für die Charakterisierung von Proteinen oder Peptiden benötigt Deshalb muss man alle reaktiven Seitenketten des Peptids vor der
man die Moleküle gewöhnlich in großen Mengen und als Rein- Verknüpfungsreaktion vorübergehend mit Schutzgruppen
100 Kapitel 6 · Proteine – Analytische Untersuchungsmethoden, Synthese und Isolierung

. Abb. 6.15 Peptidsynthese durch Kopplung aktivierter Aminosäuren. Nach Aktivierung seiner Carboxylgruppe mit Thionylchlorid (SOCl2) bildet das so
entstandene Säurechlorid des Aspartats ein Dipeptid mit Phenylalanin. Die anschließende Veresterung der Carboxylgruppe mit Methanol führt zum syn-
thetischen Süßstoff Aspartam

6 blockieren, die nach erfolgreicher Peptidsynthese abgespalten Protein codiert, teilweise bekannt sein. Stammt das Protein aus
werden können. einem Organismus, dessen Genom noch nicht vollständig se-
Die Aktivierung der Aminosäuren kann leicht zur Racemi- quenziert ist, kann die DNA-Sequenz durch Ansequenzieren des
sierung am Cα-Atom führen. Die dabei entstehenden Stereoiso- gereinigten Proteins und Übersetzung der Aminosäuresequenz
mere sind gewöhnlich biologisch inaktiv. Daher muss man Akti- in eine Nucleotidsequenz ermittelt werden.
vierungsreaktionen auswählen, die die Racemisierung weitge-
hend vermeiden.
Größere Peptide werden gewöhnlich mit der automatischen Zusammenfassung
Festphasensynthese nach Merrifield gewonnen, bei der das Die Synthese von kleinen Peptiden wird mit chemischen
wachsende Peptid an eine CH2Cl-Gruppe eines Trägers aus Po- Methoden wie der Merrifield-Peptidsynthese durchgeführt.
lystyrol (beads) gekoppelt ist. Da die Carboxylgruppe der ersten Die Synthese von größeren Polypeptiden und Proteinen
Aminosäure an das Harz gebunden ist, erfolgt die Synthese vom erfolgt gewöhnlich gentechnologisch durch heterologe
C-terminalen Ende des Peptids aus. Expression der ausgewählten cDNA.

6.6.2 Gentechnische Proteinsynthese 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

Da bei der chemischen Synthese immer Fehlverknüpfungen ent-


stehen oder Reaktionen unvollständig verlaufen, häufen sich mit
der Zeit auch bei einer hohen Effektivität der einzelnen Reaktio-
nen immer mehr Nebenprodukte an. Diese können zwar über
eine HPLC-Trennung prinzipiell entfernt werden, verringern
aber die Ausbeute erheblich. Für die Synthese von größeren Pep-
tiden (mehr als 30 Aminosäuren) und Proteinen bietet sich die
gentechnologische Produktion in Bakterien (z. B. E. coli), Hefen
(z. B. Pichia pastoris), Insektenzellen oder Säugerzellen (z. B.
Ovarzellen des chinesischen Hamsters) an.
In kleineren Mengen kann man Proteine auch schnell mit der
zellfreien Proteinbiosynthese erzeugen. Hier setzt man einem
aus Zellen (E. coli, Weizenkeimlingen oder Reticulocyten) ge-
wonnenen Zelllysat die cDNA (s. u.) in einem geeigneten Vektor
zu. Das Zelllysat muss alle zur Translation notwendigen Kompo-
nenten (Ribosomen, tRNA) enthalten. Die zusätzlich notwendi-
gen niedermolekularen Komponenten wie Aminosäuren und
energiereiche Phosphate werden dann dem Ansatz beigegeben.
Die zugehörige mRNA erzeugt man durch Zusatz einer für die
Transkription der cDNA nötigen RNA-Polymerase. Die Protein-
synthese (In-vitro-Transkription/Translation) findet dann im
Reagenzglas statt.
Ganz allgemein benötigt man für all diese Methoden die
cDNA (7 Kap. 54.3) des gewünschten Proteins in einem geeigne-
ten Expressionsvektor (7 Kap. 54.2). Die cDNA gewinnt man aus
cDNA-Bibliotheken über Amplifikation mithilfe der PCR (7 Kap.
54.1.2). Dafür muss die Sequenz der DNA, die für das gesuchte

Aspartat# Phenylalanin# Aspartam#


101 7

7 Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger

Einleitung unverändert hervor und steht für einen neuen Katalysezyklus zur
Verfügung. Biokatalysatoren sind darüber hinaus auf allen Ebe-
Wie in 7 Kap. 4 beschrieben, kann mit Hilfe der Thermodynamik eine nen des Informationsflusses im Organismus wirksam und tragen
Voraussage über die Freiwilligkeit des Ablaufes einer biochemischen in vielfältiger Weise zur Steuerung und Koordination des Stoff-
Reaktion getroffen, nicht aber deren unerwartet hohe Geschwindigkeit wechsels der Zellen, Gewebe und Organe komplexer Organismen
erklärt werden. Erst die Entdeckung und Charakterisierung der in biolo- bei. In biologischen Systemen katalysieren Enzyme die weitaus
gischen Systemen als hochspezifische Katalysatoren wirksamen Enzyme überwiegende Zahl der biochemischen Reaktionen. Enzyme sind
lieferte eine Erklärung dieses Phänomens. Molekulare Grundlage der Proteine, deren katalytische Wirkung zu einer Erhöhung der Reak-
unübertroffenen Wirksamkeit der Biokatalysatoren ist die beeindrucken- tionsgeschwindigkeit um einen Faktor von bis zu 1017 im Vergleich
de Vielfalt und Flexibilität ihrer Proteinstrukturen. Enzyme bilden spe- zur nicht-katalysierten Reaktion führen kann (. Tab. 7.1).
zifische Bindungsstellen aus, die nicht nur eine selektive Anlagerung
und Umsetzung ihrer Substrate ermöglichen, sondern darüber hinaus Enzyme beschleunigen biochemische Reaktionen,
auch eine Anpassung der Enzymaktivität an die aktuelle Stoffwechsel- indem sie die Aktivierungsenergie erniedrigen
situation in einer Zelle gestatten. Für das Verständnis der katalytischen Wirkung von Enzymen ist
die Kenntnis derjenigen Faktoren von Bedeutung, die die Ge-
Schwerpunkte schwindigkeit einer chemischen Reaktion bestimmen. Moleküle
können nur dann erfolgreich miteinander reagieren, wenn sie in
4 Beschleunigung biochemischer Reaktionen durch Erniedri-
einer bestimmten räumlichen Orientierung zusammentreffen.
gung der Aktivierungsenergie ohne Veränderung des
Damit ein Ausgangsstoff – in der Enzymologie als Substrat (S)
Reaktionsgleichgewichtes
bezeichnet – zum Reaktionsprodukt (P) umgewandelt werden
4 Strukturelle und funktionelle Eigenschaften der Enzyme
kann, muss er darüber hinaus in einen aktivierten, d. h. in einen
4 Cofaktoren von Enzymen: Metallionen, Cosubstrate,
reaktionsfähigen Übergangszustand (S‡) überführt werden. Die
prosthetische Gruppen
energetische Barriere, die dazu überwunden werden muss, wird
4 Substratspezifität, Reaktionsspezifität und Stereospezifität
als Freie Aktivierungsenthalpie (ΔG‡) oder – vereinfacht – als
der Enzyme
Aktivierungsenergie bezeichnet. Der Betrag von ΔG‡ bestimmt
4 Mechanismen der Enzymkatalyse: Säure-Base-Katalyse,
die Geschwindigkeit der Reaktion, während von der Freien Re-
kovalente Katalyse, Metallionenkatalyse
aktionsenthalpie (ΔG) abhängt, ob die Reaktion spontan stattfin-
4 Systematische Nomenklatur und Klassifizierung der Enzyme
det oder nicht.
4 Kinetik enzymkatalysierter Reaktionen: Das Michaelis-
Die Reaktionsprofile in . Abb. 7.1 illustrieren die für eine
Menten-Modell
enzymkatalysierte Reaktion charakteristische Erniedrigung der
Aktivierungsenergie. Durch die Verbindung des Enzyms mit sei-
nem Substrat entsteht ein neuer Reaktionsweg, dessen Über-

7.1 Struktur und Funktion


der Biokatalysatoren
. Tab. 7.1 Vergleich der Geschwindigkeitskonstanten enzym-
Katalysatoren beschleunigen die Einstellung katalysierter Reaktionen (kcat) mit denen der nicht-katalysierten
chemischer Gleichgewichte, Reaktionen (k0)

ohne die Gleichgewichtslage zu beeinflussen Enzym kcat /k0 Siehe Kapitel


Die Aufklärung der Mechanismen des Stoffwechsels hat gezeigt,
dass chemische Reaktionen unter den hinsichtlich Stoffkonzen- Orotidin-5’-Phosphat-Decarboxylase 1017 30.1
tration, Temperatur, pH-Wert und Druck für biologische Syste- Adenosindesaminase 10 12 29.4, 31.2
me typischen Reaktionsbedingungen nur in Gegenwart von 11
Carboxypeptidase A 10 61.1
Katalysatoren hinreichend schnell ablaufen können. Die Wech-
9
selwirkung des Katalysators mit dem umzusetzenden Stoff stei- Triosephosphatisomerase 10 14.1
gert dessen Reaktionsfähigkeit und führt zu einer enormen Re- Carboanhydrase 10 7 61.1, 66.1, 68.2
aktionsbeschleunigung, ohne die Lage des Reaktionsgleichge-
Peptidyl-Prolyl-cis/trans-Isomerase 105 49.1
wichtes zu verändern. Der Katalysator geht aus der Reaktion

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
102 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

Nach einer von Emil Fischer bereits 1894 entwickelten Mo-


dellvorstellung besitzen Enzyme eine zu ihrem Substrat komple-
mentäre Struktur (Schlüssel-Schloss-Prinzip). Für viele Enzyme
konnte jedoch gezeigt werden, dass erst durch eine substrat-
induzierte Konformationsänderung des Enzymproteins die
Reaktionspartner optimal zueinander positioniert werden. Mo-
lekulare Grundlage dieser als induced fit bezeichneten wechsel-
seitigen dynamischen Anpassung von Enzym und Substraten
(Daniel E. Koshland, Jr. 1959) ist die konformative Flexibilität
des Enzymproteins. So verursacht im Falle der Glucokinase
(7 Kap. 14.1) die Bindung der Glucose ein Umschließen des Zu-
ckersubstrates durch beide Domänen des Enzyms (. Abb. 7.2).
. Abb. 7.1 Energiediagramm einer Reaktion in Gegenwart und Abwe- Erst durch diese Konformationsänderung gelangt die γ-Phos-
senheit eines Enzyms. Die Freie Aktivierungsenthalpie (ΔG‡) bezieht sich phatgruppe des Nucleotidsubstrates (ATP) in die für den Phos-
auf die Übergangszustände S‡ bzw. ES‡ des Substrates bei dessen Umwand- phoryltransfer erforderliche Nähe zur OH-Gruppe am C6-Atom
7 lung in das Reaktionsprodukt. Das Enzym beschleunigt die Einstellung des
Reaktionsgleichgewichtes durch eine Erniedrigung von ΔG‡ (grüne Kurve).
der Glucose. Die »offene« Konformation der Glucokinase geht
dabei in eine »geschlossene« Konformation über. Gleichzeitig
Die Freie Reaktionsenthalpie (ΔG) wird durch das Enzym nicht verändert
kommt es zu einem Ausschluss von Wasser aus dem aktiven
Zentrum und damit zu einer Verhinderung der ATP-Hydrolyse.
gangszustand (ES‡) eine niedrigere Aktivierungsenergie aufweist
als derjenige der nicht-katalysierten Reaktion (S‡). Da der Über- Die Wechselwirkungen zwischen Enzym
gangszustand von Hin- und Rückreaktion derselbe ist, unter- und Substrat(en) werden im Übergangszustand
scheiden sich die Aktivierungsenergien der Hin- und Rückreak- der Reaktion optimiert
tion um den Betrag der Freien Reaktionsenthalpie (ΔG), die Die Struktur des aktiven Zentrums eines Enzyms muss nach ei-
selbst unverändert bleibt. Daraus folgt, dass Enzyme – genauso ner von Linus Pauling (1946) entwickelten Auffassung komple-
wie andere Katalysatoren – die Einstellung chemischer Gleichge- mentär zur Struktur des Substrates im Übergangszustand der
wichte beschleunigen, ohne die Gleichgewichtslage der kataly- Reaktion sein, um eine effiziente Katalyse zu ermöglichen.
sierten Reaktion zu beeinflussen (7 Kap. 4). Obwohl diese grundlegende Erkenntnis die Dynamik der
Im Reaktionsprofil einer enzymkatalysierten Reaktion treten Enzymstruktur nicht berücksichtigt, konnte an einer Vielzahl
in der Regel mehrere lokale Minima und Maxima der Freien von Beispielen gezeigt werden, dass Enzyme tatsächlich
Enthalpie auf (. Abb. 7.1). Die Minima kennzeichnen kurzle- bevorzugt den Übergangszustand des Substrates der katalysierten
bige Reaktionsintermediate, die prinzipiell isoliert werden Reaktion binden.
können. Die Maxima repräsentieren Übergangszustände von
Teilschritten der Reaktion. Der Übergangszustand mit der Übergangszustandsanaloga Die Übergangszustände der Subst-
höchsten Aktivierungsenergie (ΔG‡) bestimmt in der Regel die rate von Enzymreaktionen sind extrem kurzlebig. Sie können
Reaktionskinetik. daher weder direkt beobachtet noch isoliert werden. Dennoch
gelang es in einigen Fällen, stabile Moleküle zu konstruieren, die
Die Substrate werden im aktiven Zentrum Übergangszuständen von Substraten enzymkatalysierter Reak-
der Enzyme durch nicht-covalente tionen ähnlich sind, jedoch nicht in ein Reaktionsprodukt um-
Wechselwirkungen reversibel gebunden gewandelt werden. Man bezeichnet diese Moleküle als Über-
Das aktive (katalytische) Zentrum besteht aus gefalteten Teilen gangszustandsanaloga. Sie binden in der Regel sehr viel fester an
der Polypeptidkette des Enzyms und enthält oftmals reaktive das Enzym als dessen natürliche Substrate und bewirken so eine
Nichtproteinanteile (Cofaktoren). Die Aminosäuren des akti- starke und spezifische Hemmung der Enzymaktivität. Über-
ven Zentrums sind in der Primärstruktur (7 Kap. 5.2) des Enzym- gangszustandsanaloga werden als Enzyminhibitoren bei der
proteins oftmals weit voneinander entfernt positioniert und ge- Therapie verschiedener Erkrankungen eingesetzt (7 Kap. 9).
langen erst durch die Proteinfaltung (7 Kap. 49.1) in eine für die
Katalyse erforderliche räumliche Nähe. Aktive Zentren befinden Katalytische Antikörper Eine andere Anwendung des Konzeptes
sich vielfach in spaltenförmigen Vertiefungen oder höhlenarti- der Übergangszustände von Substraten bei Enzymreaktionen
gen Einstülpungen der Oberfläche der zumeist globulären En- besteht in der Erzeugung katalytischer Antikörper (Abzyme, ab-
zymproteine. Die Bindung der Substrate im aktiven Zentrum geleitet von antibody und enzyme). Der Begriff »Antikörper«
erfolgt durch die Ausbildung nicht-covalenter Wechselwirkun- bezeichnet vom Immunsystem erzeugte Proteine (Immunglobu-
gen (Wasserstoffbrücken, ionische Wechselwirkungen, hydro- line), die Domänen zur Bindung von körperfremden Stoffen
phobe Wechselwirkungen, van-der-Waals-Wechselwirkungen). (Antigenen) besitzen. Ähnlich wie bei Enzymen und deren Subs-
Dabei wird die Spezifität der Substratbindung von der genauen traten werden die Wechselwirkungen von Antikörpern und
Anordnung der funktionellen Gruppen des Enzyms im aktiven Antigenen durch nicht-covalente Bindungen bestimmt (7 Kap.
Zentrum bestimmt. Die Mehrzahl der Enzyme bindet zwei Sub- 70). Ein wesentlicher Unterschied zwischen Enzymen und Anti-
strate und wandelt diese in Reaktionsprodukte um. körpern besteht darin, dass Enzyme ihre Substrate bevorzugt im
7.1 · Struktur und Funktion der Biokatalysatoren
103 7
A B

. Abb. 7.2 Substratinduzierte Konformationsänderung der Glucokinase (Hexokinase IV). Die Bindung der Glucose (rot) induziert eine Schließbewe-
gung beider Domänen des Enzymproteins, die zu der für die Katalyse erforderlichen Positionierung der Substrate im aktiven Zentrum führt. Dabei geht
das Enzym von einer offenen (A) in eine geschlossene Konformation (B) über. Das Nucleotidsubstrat (ATP) ist in der Abbildung nicht dargestellt.
(PDB ID 1v4t und 1v4s)

Übergangszustand binden, während Antikörper in der Regel mit Die Mehrzahl der Cosubstrate und prosthetischen
den im Grundzustand befindlichen Antigenen interagieren. Gruppen wird aus Vitaminen gebildet
Setzt man jedoch Übergangszustandsanaloga als Antigene zur . Tab. 7.2 gibt einen Überblick über die vielfältigen biochemi-
Immunisierung ein, so können Antikörper mit katalytischer schen Funktionen der Cosubstrate und prosthetischen Gruppen.
Aktivität erzeugt werden. Katalytische Antikörper werden im Die Mehrzahl der dort aufgeführten Substanzen leitet sich von
Zusammenhang mit pathologischen Prozessen wie Autoimmu- wasserlöslichen Vitaminen ab. Da Vitamine vom Organismus
nität, Entzündung und Sepsis diskutiert. nicht synthetisiert werden können, jedoch an zentralen Stoff-
wechselprozessen unverzichtbar beteiligt sind, müssen sie mit
Eine Vielzahl von Enzymen benötigt Cofaktoren der Nahrung lebenslang aufgenommen werden (7 Kap. 58, 59).
zur Katalyse der Reaktion Das breite Funktionsspektrum der Coenzyme macht deutlich,
Cofaktoren Zahlreiche biochemische Reaktionen werden von dass bei einer häufig mehrere Vitamine betreffenden Mangel-
Enzymen unter Beteiligung niedermolekularer Substanzen – ernährung ein eher unspezifisches, jedoch schweres Krankheits-
sog. Cofaktoren – katalysiert. Zu den Cofaktoren gehören anor- bild auftreten kann.
ganische Ionen, aber auch nicht-proteinartige organische Mole-
küle, die man als Coenzyme bezeichnet. Cosubstrate sind Co- Metallionen wirken als Cofaktoren von Enzymen
enzyme, die während der Katalyse an das Enzym gebunden, Nahezu zwei Drittel aller Enzyme benötigen Metallionen als Co-
strukturell verändert und in modifizierter Form vom Enzym faktoren. Metalloenzyme enthalten Metallionen, die in einem
freigesetzt werden. Die veränderten Cosubstrate werden in einer stöchiometrischen Verhältnis fest an das Apoenzym gebunden
Folgereaktion in ihren Ausgangszustand zurückgeführt und sind. Ein typischer Vertreter der Metalloenzyme ist die Carboan-
können so erneut an der Katalyse teilnehmen. Ein herausragen- hydrase. Bei diesem Enzym ist ein an Histidinreste gebundenes
des Beispiel für ein Cosubstrat ist das an mehr als 250 Redox- Zink-Ion (Zn2+) unmittelbar in den Katalysemechanismus ein-
reaktionen beteiligte NAD+ (Nicotinsäureamidadenindinucleo- bezogen (7 Kap. 7.5). Im Unterschied zu den Metalloenzymen
tid) bzw. dessen reduzierte Form NADH. In Abgrenzung von den binden metallionenaktivierte Enzyme die Metallionen locker
Cosubstraten bezeichnet man Coenzyme, die dauerhaft – z. T. und reversibel. Die hier wirksamen Metallionen stammen vor
auch covalent – an das jeweilige Enzym gebunden sind und am allem aus der Gruppe der Alkali- und Erdalkalimetalle (Na+, K+,
Enzym regeneriert werden, als prosthetische Gruppen. Man Mg2+, Ca2+). Beispiele metallionenaktivierter Enzyme sind die
bezeichnet das Enzymprotein allein als Apoenzym, den Kom- durch Mg2+-Ionen aktivierten Restriktionsendonucleasen
plex aus Enzym und Cofaktor als Holoenzym. Die Integration (7 Kap. 54.1.1). Metallionen können darüber hinaus Enzymreak-
eines Cofaktors in das aktive Zentrum eines Apoenzyms ermög- tionen beeinflussen, indem sie durch die Bildung eines Metall-
licht oftmals erst die Katalyse bzw. erweitert das Reaktionsspek- ion-Substrat-Komplexes eine optimale Substratkonformation
trum des Enzyms. So sind die Seitenketten von Aminosäuren nur stabilisieren. So stellt der in Gegenwart von Magnesiumio-
bedingt geeignet, Elektronen zu übertragen. Oxidoreduktasen nen (Mg2+) entstehende Magnesium-ATP-Komplex (7 Abb. 4.2)
(7 Kap. 7.2) nutzen deshalb Cofaktoren wie NAD+, FMN (Flavin- das eigentliche Substrat der ATP-abhängigen Phosphotransfera-
mononucleotid), FAD (Flavinadenindinucleotid), Pterine, sen dar (7 Kap. 14.1.1). Auch als Komponenten prosthetischer
Eisen-Schwefel-Zentren oder Häm-Gruppen zur Katalyse des Gruppen wie Häm und 5’-Desoxyadenosylcobalamin (. Tab. 7.2)
Elektronentransfers. sind Metallionen an enzymatischen Reaktionen beteiligt.
104 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

. Tab. 7.2 Herkunft und biochemische Funktionen von Coenzymen

Coenzym Funktion(en) Korrespondierendes Enzym bzw. Reaktionsweg (Beispiel)


Vitamin

Cosubstrat

Ascorbat Redoxsystem, Hydroxylierung Ascorbat (Vitamin C) Prolylhydroxylase (7 Kap. 71.1.2)

Adenosintriphosphat (ATP) Phosphat- und Aden(os)yltransfer – Phosphofructokinase (7 Kap. 14.1.1)

Coenzym A (CoA) Acyltransfer Pantothenat Citratsynthase (7 Kap. 18.2)

Cytidindiphosphat (CDP) Transfer von Lipidbausteinen – Biosynthese von Phosphatidylcholin


(7 Kap. 22.1.1)

Difarnesylnaphthochinon γ-Carboxylierung von Glutamyl- Phyllochinon, Biosynthese von Gerinnungsfaktoren


resten Menachinon (7 Kap. 62.2.3)
(Vitamin K)
7 Nicotinsäureamid-Adenindinuc- Wasserstofftransfer Nicotinat (Niacin), Glutamatdehydrogenase (7 Kap. 26.3.2)
leotid(phosphat) (NAD+, NADP+) Nicotinsäureamid

Phosphoadenosylphospho- Sulfattransfer – Biosynthese der Proteoglykane


sulfat (PAPS) (7 Kap. 71.1.5)

S-Adenosylmethionin (SAM) Methylgruppentransfer – Biosynthese des Adrenalins (7 Kap. 37.2.2)

Tetrahydrobiopterin (THB) Wasserstofftransfer – Biosynthese des Tyrosins (7 Kap. 27.2.5)

Tetrahydrofolat (THF) C1-Gruppentransfer Folat Purinnucleotidbiosynthese (7 Kap. 29.1)

Ubichinon (CoQ) Wasserstofftransfer – Atmungskette (7 Kap. 19.1.1)

Uridindiphosphat (UDP) Saccharidtransfer – Glycogensynthase (7 Kap. 14.2.1)

Prosthetische Gruppe

5’-Desoxyadenosylcobalamin 1,2-Verschiebung von Alkylgruppen Cobalamin (Vitamin B12) Methylmalonyl-CoA-Mutase (7 Kap. 21.2.1)

Biotin CO2-Transfer (Carboxylierungen) Biotin Acetyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 21.2.3)

Flavinmononucleotid (FMN), Wasserstofftransfer Riboflavin (Vitamin B2) Atmungskette (7 Kap. 19.1.1)


Flavinadenindinucleotid (FAD)

Hämgruppen Elektronentransfer – Katalase (7 Kap. 20.1.1)

Lipoat Wasserstoff- und Acyltransfer Lipoat Pyruvatdehydrogenase (7 Kap. 18.2)

Pyridoxalphosphat (PALP) Transaminierung, Decarboxylierung Pyridoxin (Vitamin B6) Aspartat-Aminotransferase (7 Kap. 26.3.1)

Thiaminpyrophosphat (TPP) Oxidative Decarboxylierung Thiamin (Vitamin B1) Pyruvatdehydrogenase (7 Kap. 18.2)

Enzyme können aus mehreren identischen oder Multienzymkomplexe und multifunktionelle


nicht-identischen Polypeptidketten bestehen Enzyme vereinigen und koordinieren
Oligomere Enzyme Die Aufklärung der Struktur einer großen unterschiedliche Enzymaktivitäten
Zahl von Enzymen hat gezeigt, dass diese in vielen Fällen aus Aus der Analyse einiger Stoffwechselwege geht hervor, dass diese
mehreren Polypeptidketten bestehen und eine Oligomerstruk- durch Multienzymkomplexe katalysiert werden. Hierbei han-
tur (Quartärstruktur) ausbilden. Die als Untereinheiten (sub- delt es sich um aus verschiedenen Polypeptidketten bestehende
units) bezeichneten Polypeptidketten eines oligomeren Enzyms Proteinkomplexe, die mit allen für eine Reaktionsfolge erforder-
können identisch oder nicht-identisch sein (7 Kap. 5.2.4). Für das lichen Enzymaktivitäten ausgestattet sind. Im Falle des Pyruvat-
Verständnis der Stoffwechselregulation war die Erkenntnis be- dehydrogenase-Multienzymkomplexes (7 Kap. 18.2) kooperie-
deutsam, dass oftmals nur ein Typ der Untereinheiten oligomerer ren drei Einzelenzyme bei der oxidativen Decarboxylierung des
Enzyme Träger der katalytischen Aktivität ist, während andere Pyruvates. Demgegenüber sind bei multifunktionellen Enzy-
Untereinheiten der Steuerung der Enzymfunktion dienen. Eine men mehrere aktive Zentren auf einer Polypeptidkette lokali-
solche »Arbeitsteilung« wird auf einprägsame Weise am Aktivie- siert. So besitzt jede der Untereinheiten der homodimeren
rungsmechanismus der an der hormonellen Signaltransduktion multifunktionellen Fettsäuresynthase des Menschen alle sieben
beteiligten Proteinkinase A deutlich (7 Kap. 35.3). für die Synthese von Fettsäuren aus Malonyl-Coenzym A erfor-
derlichen Einzelenzymaktivitäten (7 Kap. 21.2.3). Eine auf diese
7.2 · Nomenklatur und Klassifizierung der Enzyme
105 7
Weise erreichte räumliche Koordination der Einzelreaktionen ist 7.2 Nomenklatur und Klassifizierung
mit wichtigen funktionellen Vorteilen verbunden: Durch die als der Enzyme
substrate channeling bezeichnete direkte Weiterleitung der Reak-
tionsprodukte auf im Reaktionsweg nachfolgende aktive Zentren Die Nomenklatur und Klassifizierung der Enzyme
eines Multienzymkomplexes oder multifunktionellen Enzyms wird durch die beteiligten Substrate und
können instabile Zwischenprodukte geschützt und Nebenreak- den Typ der katalysierten Reaktion bestimmt
tionen verhindert werden. Darüber hinaus wird die Effizienz des Enzymnomenklatur Die unüberschaubar große Zahl bekannter
katalysierten Prozesses durch die Vermeidung von Diffusions- Enzyme und ihre häufige Bezeichnung mit Trivialnamen macht
wegen erhöht. die Notwendigkeit einer systematischen Nomenklatur und Ein-
teilung deutlich. In der Biochemie findet ein von der IUBMB
Enzyme sind regulierbare substrat- und reaktions- (International Union of Biochemistry and Molecular Biology) vor-
spezifische Biokatalysatoren geschlagenes hierarchisches Nomenklatur- und Klassifizie-
Enzym-Substrat-Interaktion Im Unterschied zu den aus der Che- rungssystem Anwendung, das auf einer Beschreibung der
mie bekannten »klassischen« Katalysatoren besitzen Enzyme enzymkatalysierten Reaktion beruht. Den Nomenklaturregeln
über ihre große katalytische Effizienz hinaus weitere funktionel- entsprechend besteht der systematische Name eines Enzyms aus
le Eigenschaften, die sie als Katalysatoren für die in biologischen zwei Teilen: Der erste Namensteil gibt das Substrat (die Substra-
Systemen herrschenden Reaktionsbedingungen prädestinieren. te) an, der zweite Teil des Namens spezifiziert den Typ der kata-
Zu diesen spezifischen Fähigkeiten der Enzyme gehören: lysierten Reaktion und endet auf »-ase«.
4 die selektive Erkennung eines Substrates und die präzise Die Enzymnomenklatur soll am Beispiel der mit Trivialna-
Unterscheidung zwischen strukturell oftmals sehr ähnli- men als Hexokinasen bezeichneten Enzyme erläutert werden:
chen Substraten (Substratspezifität), Hexokinasen katalysieren die unter zellulären Bedingungen irre-
4 die Auswahl nur eines von mehreren thermodynamisch versible ATP-abhängige Phosphorylierung von D-Glucose, D-
möglichen Reaktionstypen für ein bestimmtes Substrat Fructose oder D-Mannose zum jeweiligen Hexose-6-Phosphat:
(Reaktionsspezifität) und
4 die Regulierbarkeit der Enzymaktivität als Voraussetzung ATP + D-Hexose
der Erhaltung stabiler Stoffwechselzustände (Homöostase) ADP + D–Hexose-6-Phosphat + H+ (1)
und der Stoffwechselkontrolle durch Signalstoffe.
Dementsprechend tragen Hexokinasen den systematischen Na-
Die Substratspezifität betrifft entweder das Substrat als Gesamt- men ATP:D-Hexose-6-Phosphotransferase.
molekül oder aber bestimmte Strukturelemente des Substrates.
Niedermolekulare Substrate können vom Enzym als Gesamtmo- Enzymklassifikation Zusätzlich zu ihrem systematischen Na-
lekül erkannt, gebunden und umgesetzt werden. Demgegenüber men erhalten die Enzyme eine sog. EC-Nummer (EC, Enzyme
kommt es bei makromolekularen Substraten (Proteine, Polysac- Commission), die aus vier Ziffern bzw. Zahlen besteht und in
charide, Nucleinsäuren) häufig zu einer auf spezifische Substrat- Klammern angegeben wird. Die erste Ziffer ordnet das jeweilige
strukturen begrenzten Interaktion mit dem Enzym. Enzym einer der insgesamt sechs in . Tab. 7.3 aufgeführten
Der Begriff »Stereospezifität« beschreibt die Fähigkeit eines Hauptklassen zu, die nachfolgenden Zahlen beziehen sich auf
Enzyms, selektiv zwischen den optischen Antipoden eines Subs- chemische Einzelheiten der katalysierten Reaktion und dienen
trates zu unterscheiden. So akzeptieren die Enzyme des Hexose- der laufenden Nummerierung. Die prinzipiellen Funktionen
stoffwechsels D-Hexosen, aber keine L-Hexosen, während die der Enzyme der Hauptklassen 1–6 sollen nachfolgend näher er-
Lactatdehydrogenase tierischer Organismen die Oxidation von läutert werden:
L-Lactat zu Pyruvat katalysiert, D-Lactat aber nicht als Substrat Oxidoreduktasen katalysieren Redoxreaktionen, die bei der
erkennt. Energiegewinnung durch oxidativen Substratabbau, aber auch
bei Biosynthesen eine große Rolle spielen. Viele dieser Enzyme
Enzyme können unter Erhalt ihrer katalytischen benutzen wasserstoffübertragende Coenzyme wie NAD(P)+/
Aktivität in reiner Form dargestellt werden NAD(P)H, FMN/FMNH2 oder FAD/FADH2. Trivialnamen für
Isolierung von Enzymen Das Verständnis der Funktion(en) eines Oxidoreduktasen sind Dehydrogenasen, Reduktasen, Oxidasen
Enzyms ist an die Kenntnis seiner molekularen Struktur gebun- und Hydroxylasen.
den. Die Aufklärung einer Enzymstruktur wiederum erfordert Transferasen sind Enzyme, die den Transfer einer funktio-
die Verfügbarkeit des reinen Enzymproteins. Bemerkenswerter- nellen Gruppe zwischen zwei Substraten katalysieren. Herausra-
weise kann die Mehrzahl der Enzyme ohne den Verlust ihrer gende Vertreter dieser Hauptklasse sind die als Kinasen bezeich-
katalytischen Aktivität aus verschiedensten biologischen Mate- neten Phosphotransferasen, die die Übertragung der γ-Phos-
rialien extrahiert und in reiner Form dargestellt werden. Selbst phatgruppe des ATP auf Akzeptorsubstrate katalysieren.
solche Enzyme, die normalerweise in einer Zelle in sehr geringen Hydrolasen sind insbesondere für den Abbau biologischer
Konzentrationen vorkommen, können durch gentechnische Ver- Makromoleküle bedeutsam. Sie katalysieren die hydrolytische
fahren als rekombinante Proteine erzeugt und in reiner Form für Spaltung covalenter Bindungen. Zu den Hauptklasse-3-Enzy-
biotechnologische Prozesse und therapeutische Anwendungen men gehören die Hydrolasen des Verdauungstraktes, der Blutge-
eingesetzt werden (7 Kap. 54, 55). rinnung und des Komplementsystems.
106 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

. Tab. 7.3 Einteilung der Enzyme in Hauptklassen (S = Substrat)

Enzymhauptklasse Reaktionstyp (vereinfacht) Beispiele

1. Oxidoreduktasen S1(red) + S2(ox) S1(ox) + S2(red) Lactatdehydrogenase (7 Kap. 14.1)


Phenylalaninhydroxylase (7 Kap. 27.2)

2. Transferasen S1 + S2 – R S1–R + S2 Hexokinase (7 Kap. 14.1)


(R = übertragbare Gruppe) Glycogensynthase (7 Kap. 14.2)

3. Hydrolasen S 1 – S 2 + H 2O S1 – H + S2 – OH Glucose-6-Phosphatase (7 Kap. 14.3)


Enteropeptidase (7 Kap. 61.1)

4. Lyasen S1 – S2 S1 + S2 Aldolase (7 Kap. 14.1)


Adenylatcyclase (7 Kap. 35.3)

5. Isomerasen S S’ UDP-Galactose-4-Epimerase (7 Kap. 16.1)


(S’ = isomere Form von S) Methylmalonyl-CoA-Mutase (7 Kap. 27.2)

7 6. Ligasen S1 + S2 + X* S1–S2 + X Pyruvatcarboxylase (7 Kap. 14.3)


(X*: energiereiche Verbindung) Glutaminsynthetase (7 Kap. 27.1)

Lyasen katalysieren die nicht-hydrolytische (und nicht-oxi- nelle Veränderungen der Prä-mRNA (7 Kap. 46.3.3 und 47.2)
dative) Spaltung bzw. Ausbildung covalenter Bindungen ohne zurückgeführt werden kann. Multiple Enzymformen, die auf-
Beteiligung von ATP oder anderen Verbindungen mit hohem grund von Allelvariationen desselben Genlocus (DNA-Polymor-
Gruppenübertragungspotenzial. Charakteristisch für Lyasen ist phismen) oder infolge covalenter Modifikationen von Enzym-
die Teilnahme von zwei Substraten an der Hinreaktion und nur proteinen entstehen, werden nicht als Isoenzyme bezeichnet.
einem Substrat an der Rückreaktion bzw. umgekehrt. Isoenzyme katalysieren die gleiche Reaktion, weisen in der Regel
Isomerasen katalysieren die Umwandlung isomerer Formen jedoch unterschiedliche funktionelle Eigenschaften auf. Die Aus-
von Substraten ineinander. Vertreter der Hauptklasse-5-Enzyme bildung charakteristischer Expressionsmuster von Isoenzymen
sind die Racemasen, Epimerasen und cis/trans-Isomerasen, aber im Verlaufe der Individualentwicklung sowie das Vorkommen
auch die intramolekularen Transferasen (Mutasen). unterschiedlicher Isoenzyme in verschiedenen Zellen und Zell-
Ligasen katalysieren die Ausbildung covalenter Bindungen kompartimenten tragen zur Differenzierung und Entwicklung
und sind vor allem an Biosynthesen beteiligt. Die Ligation geht des Organismus und dessen Anpassung an unterschiedliche
immer mit der Hydrolyse von ATP oder einer anderen Verbin- Stoffwechselerfordernisse bei.
dung mit hohem Gruppenübertragungspotenzial einher. Ligasen Isoenzyme entstehen häufig durch die Assemblierung
werden gelegentlich auch als Synthetasen bezeichnet. unterschiedlicher Typen von Polypeptidketten. Ein medizinisch
bedeutsames Beispiel hierfür ist die im Serum des Menschen in
fünf verschiedenen Formen vorkommende Lactatdehydroge-
7.3 Multiple Formen von Enzymen nase (LDH). Die LDH-Isoenzyme bestehen aus jeweils vier
Untereinheiten, von denen jede eine Molekularmasse von etwa
Die Verfeinerung der biochemischen Analytik führte zu der Er- 32 kDa besitzt. Die Aufklärung der Tetramerstruktur der LDH
kenntnis, dass eine große Zahl von Enzymen in multiplen For- ergab, dass die Entstehung der Isoenzyme die Folge einer Kombi-
men vorkommt. Mit diesem Begriff wird die Existenz molekular nation der durch das LDH-A-Gen codierten Polypeptidketten
unterschiedlicher Formen des gleichen Enzyms in einer Spezies vom M-Typ (abgeleitet von Muskel) und der durch das LDH-B-
beschrieben, die sich funktionell wesentlich voneinander unter- Gen codierten Polypeptidketten vom H-Typ (abgeleitet von Herz)
scheiden können. Das Vorkommen multipler Enzymformen ist (. Tab. 7.4). Während die Expression des LDH-B-Gens
kann das Resultat einer unterschiedlichen genetischen Codie- konstitutiv erfolgt, wird die Transkription des LDH-A-Gens
rung, co- bzw. posttranskriptioneller Veränderungen der Prä- durch Hypoxie induziert.
mRNA (7 Kap. 47.2.3, 47.2.4) oder aber die Folge covalenter Wegen ihrer unterschiedlichen Nettoladung lassen sich die
Modifikationen des Enzymproteins sein (7 Kap. 49.3). LDH-Isoenzyme mittels Elektrophorese voneinander trennen
und nachfolgend quantifizieren. Veränderungen der Gesamt-
Isoenzyme katalysieren trotz struktureller aktivität und des relativen Verhältnisses der LDH-Isoenzyme im
Unterschiede die gleiche Reaktion Blut sind bei verschiedenen Erkrankungen von klinischer Bedeu-
Eine wichtige Gruppe von Enzymen, die in multiplen Formen tung. Eine LDH-Analytik wird im Rahmen der Diagnostik der
vorkommen, sind die Isoenzyme. Der Isoenzymbegriff bezeich- hämolytischen und megaloblastären Anämie (7 Kap. 68.3) sowie
net diejenigen multiplen Formen eines Enzyms in einer Spezies, bei Erkrankungen der Skelettmuskulatur und der Leber durch-
deren Existenz auf eine Codierung durch unterschiedliche Gene geführt.
(die in vielen Fällen durch Genduplikation und divergente Evo-
lution entstanden sind) und/oder auf co- bzw. posttranskriptio-
7.5 · Mechanismen der Enzymkatalyse
107 7
7.4 Ribozyme
. Tab. 7.4 Isoenzyme der Lactatdehydrogenase
Ribozyme sind RNA-Moleküle mit
Isoenzym Oligomer- Vorkommen Referenz-
katalytischer Aktivität
struktur bereich (%)1
Die Mehrzahl der Biokatalysatoren sind Enzyme. Der Begriff
LDH-1 HHHH Herzmuskel, Erythro- 15–23 »Ribozym« bezeichnet RNA-Moleküle, die im Stoffwechsel der
cyten, Niere Nucleinsäuren und Proteine als Biokatalysatoren wirksam sind.
LDH-2 HHHM Herzmuskel, Erythro- 30–39 Obgleich sich ihre katalytische Wirkung auf wenige Reaktions-
cyten, Niere typen beschränkt, sind Ribozyme für eine normale Funktion des
LDH-3 HHMM Milz, Lunge, Lymph- 20–25 Zellstoffwechsels unverzichtbar. Ribozym-RNA kann mit Prote-
knoten, Thrombocyten, inen zu Ribonucleoproteinpartikeln assoziieren, die u. a. als Be-
Endokrine Drüsen standteil des Spliceosoms bei der Reifung der Prä-mRNA die
LDH-4 HMMM Leber, Skelettmuskel 8–15 Bildung und Spaltung von Phosphorsäurediesterbindungen
(7 Kap. 46.3.3) oder als Teil der großen ribosomalen Untereinheit
LDH-5 MMMM Leber, Skelettmuskel 9–14
die Ausbildung von Peptidbindungen bei der Proteinbiosynthese
1 Prozentualer Anteil an der LDH-Gesamtaktivität in Serum und Plasma. katalysieren (7 Kap. 48.2). In Analogie zur Entstehung der funk-
tionalen Raumstruktur eines Enzyms durch Proteinfaltung
(7 Kap. 49.1) hängt auch die katalytische Aktivität eines Ribo-
zyms von einer korrekten Faltung seiner Polyribonucleotidkette
Covalente Modifikation von Enzymen Multiple Formen von En- in eine wirksame dreidimensionale Struktur ab.
zymen können auch durch eine co- und/oder posttranslationale
covalente Modifikation des Enzymproteins entstehen. Die jewei-
lige Modifikation kann zellphysiologisch reversibel oder irrever- 7.5 Mechanismen der Enzymkatalyse
sibel sein (7 interkonvertierbare Enzyme und limitierte Proteolyse
7 Kap. 8.5). Da keine unterschiedliche genetische Codierung und Die katalytische Aktivität der Enzyme beruht
keine co- bzw. posttranskriptionelle Veränderung der Prä-mRNA auf spezifischen Katalysemechanismen
zugrunde liegt, handelt es sich bei den auf diese Weise entstehen- Nach Linus Pauling (1946) ist die bevorzugte Bindung des Subst-
den multiplen Enzymformen nicht um Isoenzyme. rates im Übergangszustand eine entscheidende Voraussetzung für
die große katalytische Effizienz eines Enzyms. Die Wechselwir-
Moonlighting-Enzyme sind Stoffwechselenzyme kungen der reaktiven Seitenketten der Aminosäuren und der Co-
mit zusätzlichen Funktionen faktoren im aktiven Zentrum mit dem jeweiligen Substrat können
Die Benennung von Enzymen nach dem Typ der katalysierten dabei sehr verschiedenartig sein. Während des katalytischen Pro-
Reaktion ist Ausdruck einer »Ein-Gen-ein-Protein-eine- zesses kommt es zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken, ioni-
Funktion«-Vorstellung, die sich in einer zunehmenden Zahl von schen Wechselwirkungen, hydrophoben Wechselwirkungen, van-
Fällen als zu einfach erwiesen hat. Moonlighting (to moonlight – der-Waals-Wechselwirkungen und temporär-covalenten Bindun-
»eine Nebenbeschäftigung ausüben«) ist ein Begriff, der in der gen zwischen dem Enzym und dem Substrat. Der Vielzahl dieser
Enzymologie dafür steht, dass ein Enzym verschiedene katalyti- Interaktionsmöglichkeiten entspricht die Vielfalt der Katalyse-
sche Funktionen erfüllt oder neben seiner Funktion als Biokata- mechanismen. Bei formaler Betrachtung können drei grundle-
lysator andere Funktionen im Organismus ausübt. Multifunk- gende Mechanismen unterschieden werden:
tionelle Enzyme wie die Fettsäuresynthase (7 Kap. 21.2.3) werden 4 Metallionenkatalyse
nicht als Moonlighting-Enzyme bezeichnet. 4 Säure-Base-Katalyse
Das Moonlighting von Enzymen geht oftmals mit einer Ver- 4 covalente Katalyse
änderung der Lokalisation des Enzyms in der Zelle oder im Or-
ganismus einher oder ist an eine bestimmte Oligomerstruktur Metallionenkatalyse Zu den vielfältigen Wirkmechanismen
gebunden. Ein typischer Vertreter der Moonlighting-Enzyme ist der Metallionen gehören die Stabilisierung bzw. Abschirmung
die Glucose-6-Phosphatisomerase, die intrazellulär die reversib- negativer Ladungen und die Aktivierung von Wassermolekü-
le Umwandlung von Glucose-6-Phosphat in Fructose-6-Phos- len, aber auch die reversible Aufnahme von Elektronen bei
phat katalysiert (7 Kap. 14.1.1), während das von verschiedenen Redoxreaktionen und die Induktion einer optimalen Substrat-
Zelltypen sezernierte Protein extrazellulär als Cytokin wirkt konformation wie bei der Bildung des Magnesium-ATP-Kom-
(7 Kap. 34.2). Demgegenüber katalysieren unterschiedliche oli- plexes (7 Kap. 4.3). Ein gut untersuchtes Beispiel für die Beteili-
gomere Formen der Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehydrogenase gung von Metallionen an der Biokatalyse ist die reversible
(GAPDH) unterschiedliche Reaktionen in verschiedenen Kom- Hydratisierung von CO2 zu Hydrogencarbonat (Bicarbonat)
partimenten derselben Zelle: Das tetramere Enzym katalysiert durch das zinkabhängige Enzym Carboanhydrase (7 Kap.
im Cytosol eine Reaktion der Glycolyse (7 Kap. 14.1.1), die mo- 61.1.2, 66, 68, 72):
nomere GAPDH hingegen ist im Zellkern als Uracil-DNA-Gly-
cosylase an der DNA-Basenexcisionsreparatur beteiligt (7 Kap. CO2 + H2O HCO3– + H+ (2)
45.2).
108 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

Serinproteasen kombinieren Säure-Base-Katalyse


und covalente Katalyse
Kombinierte Katalysemechanismen Die Serinproteasen gehören
zu einer weit verbreiteten Familie von Enzymen, die die Hydro-
lyse von Peptidbindungen in Proteinen und Peptiden katalysie-
ren. Serinproteasen besitzen in ihrem aktiven Zentrum einen
Serinrest, der eine entscheidende Rolle bei der Katalyse der pro-
teolytischen Reaktion spielt. Vertreter der Serinproteasen sind
verschiedene Enzyme der Proteinverdauung (7 Kap. 61), der
Blutgerinnung und der Fibrinolyse (7 Kap. 69.1.5), aber auch das
prostataspezifische Antigen (PSA). Der Katalysemechanismus
der exemplarisch ausgewählten Serinprotease Chymotrypsin ist
eine Kombination von Säure-Base-Katalyse und covalenter Ka-
talyse. . Abb. 7.4A gibt einen Einblick in die Architektur und
Funktion des aktiven Zentrums dieses Enzyms. Funktionell be-
7 . Abb. 7.3 Katalysemechanismus der Carboanhydrase (Metallionen-
deutsam sind neben dem namensgebenden Serinrest 195 die
katalyse). Im aktiven Zentrum entsteht an dem durch drei Histidinreste und
Seitenketten von Histidin 57 und Aspartat 102. Diese Aminosäu-
ein Wassermolekül komplexierten Zink-Ion ein reaktionsfähiges Hydroxyl- ren bilden die sog. katalytische Triade, die trotz einer immensen
anion. Die Bildung des Bicarbonats erfolgt ohne intermediäre Entstehung strukturellen Variabilität ein streng konserviertes Strukturmotiv
und Dissoziation von Kohlensäure (H2CO3) aller Serinproteasen darstellt.
Durch den nucleophilen Angriff des (partiell) deprotonier-
ten Serinrestes 195 auf den Carbonylkohlenstoff der zu spalten-
Der in . Abb. 7.3 dargestellte Katalysemechanismus der Carbo- den Peptidbindung (. Abb. 7.4B) entsteht ein »tetraedrischer
anhydrase illustriert die Wirkung des proteingebundenen Zink- Übergangszustand« (»I« in . Abb. 7.4C), aus dem das C-termi-
Ions als Lewis-Säure. Das Substrat CO2 wird so positioniert, dass nale Substratfragment R2-NH2 freigesetzt wird. Gleichzeitig ent-
ein Angriff des Hydroxylanions auf dessen C-Atom erfolgen kann. steht durch die covalente Bindung des N-terminalen Substrat-
Der Enzym-Zink-Substrat-Komplex wird durch Wasser unter fragmentes an Serin 195 ein covalentes Reaktionszwischenpro-
Freisetzung von HCO3– gespalten. Das im ersten Reaktionsschritt dukt, das als Acylenzym-Intermediat bezeichnet wird (covalen-
entstandene und temporär an einen Histidinrest (nicht gezeigt) te Katalyse). Nach Bindung eines Wassermoleküls und erneuter
gebundene Proton wird infolge einer Konformationsänderung Ausbildung eines tetraedrischen Übergangszustandes (»II« in
freigesetzt und damit das aktive Zentrum regeneriert. . Abb. 7.4C) wird das N-terminale Substratfragment R1-COOH
als zweites Produkt freigesetzt.
Säure-Base-Katalyse Bei diesem Katalysemechanismus fungie- Histidin 57 wirkt während der Katalyse alternierend als Pro-
ren Seitenketten von Aminosäuren im aktiven Zentrum als tonenakzeptor und -donor, indem sein Imidazolrest zunächst
Brønsted-Säure oder Brønsted-Base, indem sie Protonen rever- das Proton der Hydroxylgruppe von Serin 195 auf das C-termi-
sibel abgeben oder aufnehmen. Zu den beteiligten Aminosäuren nale Substratfragment unter Entstehung von R2-NH2 und nach-
gehören neben dem häufig anzutreffenden Histidin auch Cys- folgend ein Proton des Wassermoleküls auf den deprotonierten
tein, Tyrosin und Lysin. Auch Cofaktoren können hierbei als Serinrest 195 überträgt (Säure-Base-Katalyse). Damit wird das
Protonenakzeptoren oder -donatoren wirken. Das Prinzip der aktive Zentrum des Chymotrypsins regeneriert. Die Funktion
Säure-Base-Katalyse ist im Abschnitt »Kombinierte Katalyse- der β-Carboxylatgruppe von Aspartat 102 besteht in einer Stabi-
mechanismen« am Beispiel der Serinproteasen beschrieben und lisierung des Imidazoliumions des Histidins 57 durch die Ausbil-
illustriert (. Abb. 7.4). dung einer Wasserstoffbrücke (. Abb. 7.4B). Die Bedeutung die-
ser Interaktion wird eindrucksvoll durch das Ergebnis einer
Covalente Katalyse Charakteristisch für die covalente Katalyse »ortsgerichteten« Mutagenese verdeutlicht, bei der Aspartat 102
ist die vorübergehende Ausbildung einer covalenten Bindung durch Asparagin ersetzt wurde: Infolge der Mutation kam es zu
zwischen einer funktionellen Gruppe des Enzyms und dem Sub- einer Abnahme der katalytischen Aktivität des Chymotrypsins
strat: Es entsteht ein covalentes Reaktionsintermediat. Struktu- auf 0,01 % der Ausgangsaktivität.
relle Grundlage der covalenten Katalyse sind nucleophile Grup-
pen – z. B. Serinreste – im aktiven Zentrum des Enzyms. Exem-
plarisch kann erneut der Katalysemechanismus der Serinprotea- 7.6 Definition, Maßeinheiten
sen genannt werden, der ein covalentes Reaktionsintermediat und Bestimmung der Enzymaktivität
einschließt (. Abb. 7.4). An der Ausbildung covalenter Bindun-
gen zwischen Enzym und Substrat können auch Cofaktoren be- Die katalytische Aktivität eines Enzyms (Enzymaktivität) ist der
teiligt sein. Ein Beispiel hierfür ist die Funktion von Pyridoxal- quantitative Ausdruck der Geschwindigkeit der durch das En-
phosphat bei Transaminierungsreaktionen (7 Kap. 26.3.1). zym beschleunigten Umwandlung von Substrat in Produkt. Alle
Maßeinheiten der Enzymaktivität leiten sich daher von den
Basiseinheiten der Reaktionsgeschwindigkeit ab.
7.6 · Definition, Maßeinheiten und Bestimmung der Enzymaktivität
109 7
A B

. Abb. 7.4 Struktur und Katalysemechanismus der Serinprotease Chymotrypsin. A Raumstruktur des Chymotrypsins (Bändermodell). Das Enzym
besteht aus drei Polypeptidketten, die durch Disulfidbrücken miteinander verbunden sind. Die Aminosäuren Histidin 57, Aspartat 102 und Serin 195 (rot)
bilden die katalytische Triade im aktiven Zentrum der Protease. (PDB ID 4CHA). B Reversible Verschiebung von Elektronen und Protonen innerhalb der
katalytischen Triade (Säure-Base-Katalyse). C Hydrolyse der Peptidbindung in zwei Schritten unter Ausbildung eines Acylenzym-Intermediates (covalente
Katalyse). E-OH: Hydroxylgruppe des Serinrestes 195

Die Enzymaktivität wird in Enzymeinheiten net. Eine übliche Maßeinheit ist Unit pro Milliliter (U/ml) bzw.
oder in Katal angegeben Katal pro Liter (kat/l). In der klinisch-chemischen Laborato-
Maßeinheiten der Enzymaktivität Die traditionelle Maßeinheit riumsdiagnostik kommt der Bestimmung der katalytischen
der Enzymaktivität ist die Enzymeinheit (unit, U), die gelegent- Aktivitätskonzentration verschiedenster Enzyme in Körperflüs-
lich auch als »Internationale Einheit« (international unit, IU) sigkeiten eine herausragende Bedeutung zu (7 Kap. 9.2).
bezeichnet wird. Eine Enzymeinheit ist definiert als diejenige
Enzymmenge (genauer: Enzymaktivitätsmenge), die den Umsatz Spezifische katalytische Aktivität Die Bestimmung der katalyti-
von 1 Mikromol Substrat in Produkt in einer Minute (μmol/min) schen Aktivitätskonzentration ist zur molekular-funktionellen
katalysiert. In Übereinstimmung mit dem internationalen met- Charakterisierung eines Enzyms notwendig, aber nicht ausrei-
rischen Einheitensystem (frz. Système International d’Unites, SI) chend, da sie sich auf die Lösung des Enzyms, nicht aber auf das
wird empfohlen, das Katal (kat) als Maßeinheit der Enzymakti- Enzym selbst bezieht. Der Quotient aus katalytischer Aktivitäts-
vität zu verwenden. Ein Katal entspricht derjenigen Enzymakti- konzentration und Proteinkonzentration wird als spezifische
vitätsmenge, die den Umsatz von 1 Mol Substrat in Produkt in katalytische Aktivität (kurz: spezifische Aktivität) bezeichnet.
einer Sekunde (mol/s) katalysiert. Die Maßeinheit der spezifischen katalytischen Aktivität ist Unit
Für viele Anwendungen ist es zweckmäßig, die Messung der pro Milligramm (U/mg) bzw. Katal pro Kilogramm (kat/kg).
Enzymaktivität unter definierten Reaktionsbedingungen hin- Die Interpretation einer spezifischen katalytischen Aktivität
sichtlich Substratkonzentration, Temperatur, pH-Wert u. a. erfordert eine differenzierende Betrachtung, da zwischen Pro-
durchzuführen. Während in der experimentellen Enzymologie teinkonzentration und Enzymkonzentration ein erheblicher
die Messung von Enzymaktivitäten nicht zuletzt aus Praktikabi- Unterschied bestehen kann. Wird die Lösung eines reinen
litätsgründen oftmals bei Temperaturen von 25 °C oder 30 °C Enzyms analysiert, kann der Quotient aus katalytischer Aktivi-
erfolgt, ist in der klinisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik tätskonzentration und Proteinkonzentration als ein für das je-
eine Messtemperatur von 37 °C vorgeschrieben. weilige Enzym spezifischer Funktionsparameter betrachtet wer-
den. Demgegenüber erlaubt die Kenntnis einer spezifischen
Die Enzymaktivität kann auf das Volumen, katalytischen Aktivität keinen unmittelbaren Rückschluss auf die
die Proteinkonzentration oder die Enzym- katalytische Wirksamkeit des Enzyms, wenn die zur Aktivitäts-
konzentration bezogen werden bestimmung eingesetzte Enzymlösung neben dem jeweiligen
Katalytische Aktivitätskonzentration Die auf die Volumenein- Enzym weitere Proteine enthält. Ein solcher Fall liegt typischer-
heit einer Enzymlösung bezogene Enzymaktivität wird als kata- weise bei der Analyse eines Zellextraktes oder bei der Unter-
lytische Aktivitätskonzentration oder Volumenaktivität bezeich- suchung einer Blutprobe vor.
110 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

Die spezifische katalytische Aktivität wird routinemäßig zur A


Kontrolle des Verlaufes der Reinigung von Enzymen bestimmt.
Da das Wesen einer Enzymreinigung in der Abtrennung uner-
wünschter Begleitproteine besteht, vergrößert sich der Anteil des
Zielenzyms am Gesamtprotein mit dem Fortschreiten der Reini-
gungsprozedur. Dieser angestrebte Effekt kann anhand einer Zu-
nahme der spezifischen katalytischen Aktivität erkannt werden.

Molare katalytische Aktivität Der Quotient aus katalytischer Ak-


tivitätskonzentration und molarer Enzymkonzentration wird als
molare katalytische Aktivität bezeichnet. Mögliche Maßeinhei-
ten sind Katal pro Mol (kat/mol) oder 1/s. Die molare katalyti-
sche Aktivität gibt die Anzahl der Substratmoleküle an, die in
einer Sekunde von einem Enzymmolekül in Produkt umgewan-
delt werden. Dementsprechend kann die molare katalytische
7 Aktivität auch als molekulare katalytische Aktivität bezeichnet
werden. Dividiert man die molare katalytische Aktivität durch
die Anzahl der aktiven Zentren eines Enzymmoleküls, so erhält
B
man die Wechselzahl (turnover number), die den Substratumsatz
auf ein aktives Zentrum bezieht.

Enzyme können durch die Bestimmung ihrer


katalytischen Aktivität identifiziert,
quantifiziert und charakterisiert werden
Enzymkonzentration und Enzymaktivität Die Bestimmung der
Konzentration eines Enzyms in einer biologischen Flüssigkeit ist
mit klassischen physikochemischen Methoden wegen des oft-
mals sehr geringen Enzymgehaltes und wegen der begrenzten
Spezifität der analytischen Verfahren problematisch. Unspezifi-
. Abb. 7.5 Funktionsprinzip des optischen Tests. A UV-Absorptionsspek-
sche Methoden zur Messung der Proteinkonzentration (7 Kap. 6) tren und Cosubstratfunktionen von NAD+/NADH und NADP+/NADPH. B Akti-
kommen für die Bestimmung von Enzymkonzentrationen nicht vitätsbestimmung einer NADH-abhängigen Dehydrogenase. Die Extinktion
in Betracht, da sie zwischen verschiedenen Proteinen nicht zu bei 340 nm nimmt infolge der Bildung von NAD+ ab. Die Extinktionsände-
unterscheiden vermögen. Andererseits lässt die spezifische Be- rung pro Zeiteinheit (ΔE/min) ist der im Reaktionsansatz vorhandenen En-
zymmenge (angegeben in µl der eingesetzten Enzymlösung) proportional
stimmung der Konzentration eines Enzyms mit Hilfe hochsensi-
tiver immunologischer Methoden keinen Rückschluss auf die
katalytische Wirksamkeit des Enzyms zu, da auf diese Weise das
Enzymprotein, nicht aber dessen katalytische Aktivität erfasst des geschilderten Messprinzips auf die Bestimmung der Enzym-
wird. Daher bestimmt man anstelle der Enzymkonzentration die aktivität NAD+/NADH- oder NADP+/NADPH-abhängiger Oxi-
katalytische Aktivität eines Enzyms, indem man die Geschwin- doreduktasen dar. Da sich die optischen Eigenschaften von
digkeit der durch das Enzym katalysierten Reaktion ermittelt. NADH und NADPH durch eine spezifische Lichtabsorption bei
Diese Geschwindigkeit ist in der Regel der Anzahl der katalytisch einer Wellenlänge von 340 nm (Absorptionsmaximum) von de-
aktiven Enzymmoleküle und damit deren Konzentration pro- nen des NAD+ und NADP+ unterscheiden, lassen sich Änderun-
portional. gen der Konzentrationen der oxidierten bzw. reduzierten Formen
dieser Cosubstrate photometrisch leicht ermitteln. Beispielge-
Bestimmung der Enzymaktivität Hierzu ist die Messung des Subs- bend ist in . Abb. 7.5 die Anwendung des optischen Tests zur
tratverbrauches oder die Ermittlung der Produktbildung pro Bestimmung der katalytischen Aktivität einer NADH-abhängi-
Zeiteinheit erforderlich. In der Praxis hat sich die spektralpho- gen Dehydrogenase dargestellt. Die Abnahme der Extinktion ist
tometrische Bestimmung der Substrat- oder Produktkonzen- dem Verbrauch von NADH proportional und spiegelt damit den
tration auf der Grundlage des Lambert-Beer’schen Gesetzes zeitlichen Verlauf oder die Kinetik der enzymkatalysierten Reak-
durchgesetzt. Voraussetzung für die Anwendung dieser Metho- tion wider. Das Messprinzip wird daher auch als kinetisch-opti-
dik ist eine spezifische Absorption von monochromatischem scher Test bezeichnet.
Licht durch ein Substrat oder ein Produkt der Reaktion. Die En-
zymaktivität kann dann aus der gemessenen Extinktionsände- Gekoppelter optischer Test Die Anwendbarkeit des optischen
rung pro Zeiteinheit berechnet werden. Tests ist nicht auf NAD+/NADH- und NADP+/NADPH-abhän-
gige Enzyme begrenzt. Durch eine funktionelle Kopplung der
Optischer Test Der von Otto H. Warburg 1936 in die biochemi- Reaktion, die durch das zu charakterisierende Enzym katalysiert
sche Analytik eingeführte »optische Test« stellt die Anwendung wird, mit einer nachgeschalteten enzymatischen Indikatorreak-
7.7 · Michaelis-Menten-Gleichung
111 7
tion, an der NAD(P)+ oder NAD(P)H als Cosubstrat beteiligt
ist, kann die Aktivität einer Vielzahl von Enzymen bestimmt
werden, die selbst keine Oxidoreduktasen sind. Ein solcher
»gekoppelter optischer Test« liegt der in der Leberfunktions-
diagnostik häufig durchgeführten Bestimmung der Aktivität
der Alanin-Aminotransferase (ALAT; Gleichung 3) im Blut mit
Lactatdehydrogenase (LDH; Gleichung 4) als Indikatorenzym
zugrunde:

L-Alanin + α-Ketoglutarat Pyruvat + L-Glutamat (3)

Pyruvat + NADH + H+ L-Lactat + NAD+ (4)

Sind die Substrate der Alanin-Aminotransferase (Gleichung 3)


sowie das Indikatorenzym (LDH) und sein reduziertes Cosubs-
trat (NADH) im Überschuss vorhanden, so ist die Geschwindig-
keit der NADH-Oxidation nur von der Geschwindigkeit der . Abb. 7.6 Entstehung eines Fließgleichgewichtes während einer
Bereitstellung des Substrates der Lactatdehydrogenase (Pyruvat) enzymkatalysierten Reaktion. In der als pre-steady state bezeichneten
und damit von der katalytischen Aktivität der Alanin-Amino- Reaktionsphase erfolgt der Aufbau des Enzym-Substrat-Komplexes (ES),
transferase abhängig. dessen Konzentration im Fließgleichgewicht (steady state) nahezu konstant
bleibt. Im Fließgleichgewicht nimmt die Produktkonzentration [P] linear zu
Der (gekoppelte) optische Test besitzt wegen seiner breiten
(infolge der halblogarithmischen Darstellung ergibt sich ein exponentieller
Anwendbarkeit und großen Spezifität eine herausragende Be- Kurvenverlauf ). Die Konzentrationen des freien Enzyms [E] und des Enzym-
deutung für Enzymaktivitätsbestimmungen sowie für die enzy- Substrat-Komplexes [ES] sind überproportional dargestellt
matische Bestimmung von Metabolitkonzentrationen in biologi-
schen Flüssigkeiten (7 Kap. 9).

Die Untersuchung der Kinetik enzymkatalysierter Reaktionen


7.7 Michaelis-Menten-Gleichung erfolgt oft unter sog. Initialbedingungen. Hierbei wird die
Reaktion in einem Zeitfenster analysiert, in dem der Substrat-
Die Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten verbrauch und die Produktbildung noch so gering sind, dass die
Reaktion wird durch die Konzentrationen des Enzyms Entstehung des Enzym-Substrat-Komplexes aus Produkt und
und des Substrates bestimmt Enzym vernachlässigt werden kann. Unter diesen Bedingungen
Enzymkinetik Die Reaktionsgeschwindigkeit (V) ist allgemein ist die Reaktionsgeschwindigkeit der Konzentration des Enzym-
definiert als die Veränderung der Substrat- oder Produktkonzen- Substrat-Komplexes proportional:
tration pro Zeiteinheit:
V = k+2 · [ES] (7)
d[P] d[S]
V= =− (5)
dt dt Die in Gleichung 7 enthaltene Konzentration des Enzym-
Substrat-Komplexes ist nicht direkt messbar. Unter der Annahme
Häufig wird bei Enzymreaktionen eine hyperbole Abhängigkeit eines Fließgleichgewichtes (steady state) in Bezug auf ES (. Abb.
der Reaktionsgeschwindigkeit von der Substratkonzentration 7.6) kann man jedoch eine Gleichung ableiten, die die Konzen-
beobachtet. Zur Erklärung dieser Beobachtung wurde von tration des Komplexes als Funktion der Konzentrationen des
Leonor Michaelis und Maud Leonora Menten ein einfaches ma- Substrates und des Enzyms ausdrückt. Für den Enzym-Substrat-
thematisches Modell entwickelt, das die hyperbole Kinetik Komplex im Fließgleichgewicht gilt:
von Enzymen näherungsweise beschreibt. Im Michaelis-Men-
ten-Modell werden zwei Phasen der Enzymreaktion unterschie- d[ES]
= (k +1 ⋅[E] ⋅[S] − (k −1 + k +2 ) ⋅[ES]) = 0 (8)
den: In einer reversiblen ersten Teilreaktion bildet das En- dt
zym (E) mit dem Substrat (S) in einem stöchiometrischen Ver-
hältnis den Enzym-Substrat-Komplex (ES), aus dem in einer [S] bezeichnet die Konzentration des freien Substrates, [E] die
zweiten Teilreaktion das Produkt (P) freigesetzt wird. Die Frei- des freien Enzyms. [E] und [ES] stehen mit der Gesamtenzym-
setzung des Produktes geht mit einer Regenerierung des freien konzentration [ET] in folgender Beziehung:
Enzyms (E) einher, das erneut am katalytischen Kreisprozess
teilnehmen kann: [ET] = [E] + [ES] (9)

k+1 k+2 Unter der Annahme, dass die Substratkonzentration sehr viel
E+S ES E+P (6)
k–1 k–2 größer als die Enzymkonzentration ist, ergibt die Kombination
112 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

der Gleichungen 8 und 9 eine Gleichung für die Konzentration durch eine niedrige Michaelis-Konstante charakterisiert und
des Enzym-Substrat-Komplexes im Fließgleichgewicht: umgekehrt.
[S]
[ES] = [ET ]⋅ (10) Experimentelle Bestimmung von KM und VMAX Die für ein Enzym
⎛ k −1 + k +2 ⎞ charakteristischen kinetischen Parameter KM und VMAX lassen
⎜⎝ k + [S]⎟
+1 ⎠ sich aus Messungen initialer Reaktionsgeschwindigkeiten bei
verschiedenen Substratkonzentrationen ableiten. Praktisch ist
Durch die Zusammenfassung der Gleichungen 7 und 10 die Schätzung beider Parameter aus der graphischen Darstellung
erhält man die Michaelis-Menten-Gleichung, die die Ab- der experimentell bestimmten V/[S]-Wertepaare jedoch schwie-
hängigkeit der Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten rig, da die Reaktionsgeschwindigkeit ihrem Maximalwert erst bei
Reaktion von der Substratkonzentration unter Initialbedingun- sehr hohen Substratkonzentrationen nahe kommt (. Abb. 7.7A).
gen beschreibt: Dieses Problem kann durch verschiedene Transformationen der
Michaelis-Menten-Gleichung in lineare Beziehungen gelöst wer-
[S] [S] den. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Linearisierung nach
V = k +2 ⋅[ET ]⋅ = VMAX ⋅ (11)
⎛ k −1 + k +2 ⎞
+ [S]⎟
(K M + [S]) Lineweaver und Burk:
⎜⎝ k
7 +1 ⎠
1 1 K 1
= + M ⋅ (13)
Der Parameter KM wird als Michaelis-Konstante, VMAX als V VMAX VMAX [S]
Maximalgeschwindigkeit bezeichnet.
Die Auftragung der reziproken Werte von Substratkonzentration
Mit steigender Substratkonzentration nähert und Reaktionsgeschwindigkeit ergibt eine Gerade, die die Abs-
sich die Reaktionsgeschwindigkeit asymptotisch zisse bei –1/KM und die Ordinate bei 1/VMAX schneidet (. Abb.
der Maximalgeschwindigkeit (VMAX) 7.7B). Die bei niedrigen Substratkonzentrationen relativ ungenau
Die durch die Michaelis-Menten-Gleichung beschriebene V/[S]- bestimmten V-Werte erhalten dabei ein besonders großes Ge-
Charakteristik zeigt einen hyperbolen Verlauf (. Abb. 7.7A). wicht. Daher finden heute computergestützte Verfahren der
Wird die Substratkonzentration ([S]) erhöht, während alle ande- nicht-linearen Regression zur statistisch korrekten Schätzung
ren Parameter konstant bleiben, nähert sich die Reaktionsge- von KM und VMAX aus Messdaten Anwendung.
schwindigkeit (V) asymptotisch der Maximalgeschwindig- Die Michaelis-Menten-Gleichung wurde für ein minimales
keit (VMAX) und die Konzentration des Enzym-Substrat-Kom- Reaktionsschema (Gleichung 6) hergeleitet, bei dem der Zer-
plexes ([ES]) der Gesamtkonzentration des Enzyms ([ET]). Die fall  des Enzym-Substrat-Komplexes unmittelbar zur Bildung
Maximalgeschwindigkeit VMAX ist – wie auch die aktuelle Reak- des Reaktionsproduktes führt. Man kann jedoch zeigen, dass
tionsgeschwindigkeit V – der eingesetzten Enzymkonzentration auch komplexere Reaktionsmodelle, die mehrere Zwischen-
[ET] proportional. schritte der Umwandlung des Substrates zum Produkt einschlie-
ßen, unter steady-state-Bedingungen mit dieser Gleichung be-
Die Michaelis-Konstante (KM) gibt diejenige schrieben werden können. In Gleichung 11 tritt dann anstelle
Substratkonzentration an, bei der halbmaximale von k+2 eine Konstante auf, die eine Kombination mehrerer
Reaktionsgeschwindigkeit erreicht wird elementarer kinetischer Konstanten darstellt und als kataly-
Die in Gleichung 11 eingeführte Michaelis-Konstante trägt die tische Konstante (kcat) bezeichnet wird. Die katalytische Kon-
Maßeinheit einer Konzentration und entspricht derjenigen Sub- stante entspricht der in 7 Kap. 7.6 eingeführten Wechselzahl und
stratkonzentration, bei der die Reaktionsgeschwindigkeit wird in den nachfolgenden Gleichungen anstelle von k+2 ver-
½ VMAX beträgt (. Abb. 7.7A). Im Unterschied zu VMAX hängt wendet.
der numerische Wert der Michaelis-Konstanten nicht von der
Enzymkonzentration ab. Der KM-Wert kann auch unter Ver- Der Quotient kcat/KM
wendung der Dissoziationskonstanten des Enzym-Substrat- ist ein Maß für die katalytische
Komplexes (KD) angegeben werden: Wirksamkeit eines Enzyms
Die Messung von Enzymaktivitäten erfolgt in vitro oft bei Sub-
=
(k −1 + k +2) = K k +2 stratkonzentrationen, die den KM-Wert um ein Vielfaches über-
KM D+ (12)
k +1 k +1 schreiten. Unter diesen Bedingungen wird die katalytische
Wirksamkeit eines Enzyms durch die Konstante kcat charakteri-
Gleichung 12 zeigt, dass die Michaelis-Konstante stets größer siert:
ist als die Dissoziationskonstante des Enzym-Substrat-Komple-
xes (KD). Wenn die Dissoziation von ES in Enzym und Substrat [S] [S] K M
V = k cat ⋅ [ET ] ⋅ ⎯⎯⎯⎯ → k cat ⋅ [ET ] (14)
schnell im Vergleich zur Freisetzung des Produktes erfolgt ( M )
K + [S]
(k+2 ! k–1), entspricht die Michaelis-Konstante näherungsweise
der Dissoziationskonstanten (KD). Der KM-Wert kann dann Demgegenüber findet man unter physiologischen Bedingungen
als ein Maß für die Affinität des Enzyms zu seinem Substrat häufig Substratkonzentrationen vor, die weit unterhalb der KM-
betrachtet werden. Ein Enzym mit hoher Substrataffinität ist Werte der Enzym-Substrat-Paare liegen. Die Michaelis-Menten-
7.7 · Michaelis-Menten-Gleichung
113 7
A B

. Abb. 7.7 Kinetik einer Enzymreaktion vom Michaelis-Menten-Typ. A Hyperbole Abhängigkeit der Geschwindigkeit (einer Enzymreaktion von der Sub-
stratkonzentration. B Linearisierung der Michaelis-Menten-Gleichung nach Lineweaver und Burk zur Bestimmung der Parameter KM und VMAX eines Enzyms

. Tab. 7.5 Kinetische Konstanten von Enzymen

Enzym Substrat KM (M) kcat (s–1) kcat/KM (s–1 ∙ M–1) Siehe Kapitel

Superoxiddismutase Superoxidanion 3,5 ∙ 10–4 2,4 ∙ 106 6,8 ∙ 109 20


–4
Triosephosphatisomerase D-Glycerinaldehyd-3-Phosphat 4,0 ∙10 9,6 ∙ 104 2,4 ∙ 108 14
–5 4 8
Acetylcholinesterase Acetylcholin 9,0 ∙ 10 1,4 ∙ 10 1,6 ∙ 10 74

Carboanhydrase CO2 1,2 ∙ 10–2 1,0 ∙ 106 8,3 ∙ 107 66, 68, 72

Katalase H 2O 2 8,0 ∙ 10–2 1,6 ∙ 106 2,0 ∙ 107 20

Gleichung geht dann näherungsweise in eine bilineare Bezie-


hung über: Zusammenfassung
Die weitaus überwiegende Zahl der in biologischen Syste-
[S] [S] K M k men vorkommenden Katalysatoren sind Proteine. Man
V = k cat ⋅ [ET ] ⋅ ⎯⎯⎯⎯ → cat ⋅ [ET ] ⋅ [S] (15)
( K M + [S]) KM bezeichnet diese Biokatalysatoren als Enzyme, ihre katalyti-
sche Wirkung als Enzymaktivität. Eine Vielzahl von Enzymen
Der Quotient kcat/KM ist eine apparente Geschwindigkeits- entfaltet erst im Zusammenwirken mit Cofaktoren eine kata-
konstante zweiter Ordnung und charakterisiert die katalytische lytische Aktivität.
Effizienz eines Enzyms bei [S] << KM. Der Wert dieses Quotien- Enzyme besitzen die Fähigkeit, die umzusetzenden Stoffe
ten wird durch die Geschwindigkeit der diffusionskontrollierten auszuwählen (Substratspezifität), den Reaktionstyp zu be-
Kollision der Enzym- und Substratmoleküle limitiert und ist stimmen (Reaktionsspezifität), die Einstellung des Reaktions-
deshalb in wässrigen Lösungen auf etwa 109 s–1 M–1 begrenzt. gleichgewichtes zu beschleunigen (Katalyse) und ihre
Enzyme, deren kcat/KM-Werte diesen Grenzwert näherungsweise katalytische Aktivität in Abhängigkeit von den Umgebungs-
erreichen, können als katalytisch perfekt betrachtet werden, da bedingungen und Stoffwechselverhältnissen zu verändern
bei nahezu jedem Zusammentreffen von Enzym und Substrat (Regulation).
eine katalytische Reaktion stattfindet (. Tab. 7.5). Eine Erhöhung Die Struktur des aktiven Zentrums eines Enzyms muss komple-
der katalytischen Effizienz »perfekter« Enzyme kann nur durch mentär zu der des Übergangszustandes des Substrates der
eine Vermeidung oder Begrenzung von Diffusionswegen er- Reaktion sein, um eine effiziente Katalyse zu ermöglichen. Die
reicht werden. In biologischen Systemen ist eine solche Optimie- Wechselwirkungen der Aminosäureseitenketten und Cofakto-
rung z. B. durch die Integration von Einzelenzymen in Multien- ren im aktiven Zentrum mit dem Substrat werden durch nicht-
zymkomplexe realisiert (7 Kap. 7.1). covalente und temporär-covalente Bindungen bestimmt.
6
114 Kapitel 7 · Enzyme – Grundkonzepte der Biokatalyse

Die unterschiedlichen Mechanismen der Enzymkatalyse


(Metallionenkatalyse, Säure-Base-Katalyse, covalente Kata-
lyse) entsprechen der Vielfalt der Enzym-Substrat-Wechsel-
wirkungen. In der Regel nutzen Enzyme mehrere Katalyse-
mechanismen.
Isoenzyme sind multiple Formen von Enzymen einer Spe-
zies, die die gleiche Reaktion katalysieren, jedoch aufgrund
einer unterschiedlichen genetischen Codierung oder infolge
co- bzw. posttranskriptioneller Veränderungen der Prä-
mRNA eine unterschiedliche Struktur und unterschiedliche
funktionelle Eigenschaften aufweisen. Multiple Formen von
Enzymen können auch durch eine co- und/oder posttrans-
lationale covalente Modifikation der Enzymproteine ent-
stehen.
7 Die Michaelis-Menten-Gleichung beschreibt näherungs-
weise das kinetische Verhalten vieler Enzyme. Bei einer
Erhöhung der Substratkonzentration nähert sich die Reak-
tionsgeschwindigkeit hyperbelförmig dem Maximalwert
(VMAX). Die Michaelis-Konstante (KM) entspricht derjenigen
Substratkonzentration, bei der die Reaktionsgeschwindig-
keit die Hälfte des Maximalwertes erreicht.
Enzyme können unter Erhalt ihrer strukturellen und funktio-
nellen Eigenschaften aus biologischem Material isoliert wer-
den. Die molekulare und kinetische Analyse der Enzyme hat
ein umfassendes Verständnis der grundlegenden Stoffwech-
selvorgänge im menschlichen Organismus ermöglicht.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


115 8

8 Regulation der Enzymaktivität


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger

Einleitung Produkte sowie anderer Liganden des Enzyms, aber auch vom
pH-Wert abhängig. Beim Menschen findet man für viele Enzyme
In 7 Kap. 7 wurden die Grundkonzepte der Biokatalyse durch Enzyme Temperaturoptima um 40 °C. Einige humane Enzyme überste-
besprochen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den zahlreichen hen jedoch hohe Temperaturen ohne Verlust ihrer katalytischen
Mechanismen der Regulation der Enzymaktivität. Die Fähigkeit biologi- Aktivität. Zu diesen Enzymen gehört die Ribonuclease, deren
scher Systeme, die katalytische Aktivität ihrer Enzyme zu regulieren, ist Temperaturoptimum bei ca. 60 °C liegt.
eine unabdingbare Voraussetzung für Wachstum, Differenzierung, Zell- Enzyme bestimmter thermophiler Mikroorganismen weisen
teilung und Stoffwechseladaptation. Hierbei kann zwischen einer Temperaturoptima nahe dem Siedepunkt des Wassers auf. Die
schnellen Veränderung der Aktivität bereits vorhandener Enzymmole- strukturellen Besonderheiten dieser thermostabilen Enzyme, die
küle und einer vergleichsweise langsamen Kontrolle der Enzymmenge vor einer Hitzedenaturierung schützen, sind noch weitgehend
auf DNA-, RNA- und Proteinebene unterschieden werden. unbekannt. Praktische Anwendung findet eine hitzestabile DNA-
Polymerase aus Thermus aquaticus (Taq-Polymerase) bei der
Schwerpunkte Polymerasekettenreaktion (PCR) zur Vervielfachung (Amplifika-
tion) von DNA-Fragmenten. Das Enzym wird dabei wiederholt
4 Einfluss der Substrat- und Enzymkonzentration auf die
Reaktionstemperaturen um 90 °C ausgesetzt (7 Kap. 54.1.2).
Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten Reaktion
4 Temperatur- und pH-Optimum der Enzymaktivität
pH-Abhängigkeit der Enzymaktivität Bestimmt man die kataly-
4 Reversible Hemmung der Enzymaktivität durch kompeti-
tische Aktivität eines Enzymes bei unterschiedlichen pH-Wer-
tive, nicht-kompetitive und unkompetitive Inhibitoren
ten, so findet man in der Regel ein Aktivitätsmaximum zwi-
4 Irreversible Hemmung der Enzymaktivität durch
schen pH 4 und pH 9. Enzyme, die physiologischerweise extre-
Modifikation des Enzymproteins
men pH-Bedingungen ausgesetzt sind wie das im sauren Milieu
4 Molekulare Grundlagen und zellbiochemische Bedeutung
des Magens wirksame Verdauungsenzym Pepsin (7 Kap. 61.1)
von Kooperativität und Allosterie
zeigen eine maximale katalytische Aktivität außerhalb dieses
4 Regulation der Enzymaktivität durch Phosphorylierung und
pH-Bereiches.
Dephosphorylierung
Die pH-Abhängigkeit der Enzymaktivität kann zurückge-
4 Irreversible Aktivierung von Proenzymen (Zymogenen)
führt werden auf eine:
durch limitierte Proteolyse
4 reversible Dissoziation bzw. Ionisierung funktioneller
Gruppen des Enzyms,

8.1 Einfluss von Temperatur und pH-Wert


auf die Enzymaktivität

Temperaturabhängigkeit der Enzymaktivität Innerhalb eines be-


grenzten Temperaturbereiches erhöht sich die Geschwindigkeit
enzymkatalysierter Reaktionen mit steigender Temperatur. Der
Beschleunigungsfaktor, der sich ergibt, wenn die Temperatur um
10 °C ansteigt, wird als Temperaturkoeffizient (Q10) bezeichnet.
Eine Temperaturerhöhung um 10 °C führt bei vielen enzymati-
schen Reaktionen etwa zu einer Verdoppelung der Reaktionsge-
schwindigkeit (Q10 2).
Die Temperaturabhängigkeit der Enzymaktivität zeichnet
sich durch ein Temperaturoptimum aus, jenseits dessen die Re-
aktionsgeschwindigkeit steil abfällt (. Abb. 8.1). Ursache des
. Abb. 8.1 Temperaturabhängigkeit der Enzymaktivität. Die unterbro-
Abfalls ist eine Hitzedenaturierung des Enzymproteins. Für die
chene Kurve zeigt den für chemische Reaktionen charakteristischen expo-
meisten Enzyme liegt das Temperaturoptimum oberhalb der je- nentiellen Anstieg der Reaktionsgeschwindigkeit bei steigender Temperatur
weiligen physiologischen Arbeitstemperatur. Die Lage des Tem- (Q10 ≈ 2). Der Abfall der Enzymaktivität bei höheren Temperaturen wird durch
peraturoptimums ist von den Konzentrationen der Substrate und die thermische Inaktivierung des Enzymproteins verursacht

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
116 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität

A B

. Abb. 8.2 pH-Abhängigkeit der katalytischen Aktivität der Cysteinprotease Caspase 9. A Die Wendepunkte der Kurve spiegeln die Titration der an der
Katalyse beteiligten Seitenketten der Aminosäuren Cystein 287 und Histidin 237 im aktiven Zentrum des Enzyms wider. B: pH-abhängige reversible Ausbil-
dung der für die Katalyse erforderlichen Wasserstoffbrücke zwischen Cystein 287 und Histidin 237
8
4 reversible Dissoziation bzw. Ionisierung von Substraten Eine Veränderung der Substratkonzentration
und/oder Cofaktoren des Enzyms, kann eine schnelle Veränderung der Enzymaktivität
4 Konformationsänderung bzw. Denaturierung des Enzym- bewirken
proteins. Die Geschwindigkeit einer enzymkatalysierten Reaktion wird
wesentlich von der aktuellen Konzentration des jeweiligen Sub-
Der Einfluss des pH-Wertes auf die Enzymaktivität ist in . Abb. strates bestimmt (7 Kap. 7.7). Bei hohen Substratkonzentratio-
8.2 am Beispiel der an der Apoptose (7 Kap. 51) beteiligten Cas- nen hat deren Veränderung einen nur geringen Einfluss auf die
pase 9 illustriert. Caspasen sind Cysteinyl-Aspartyl-Proteasen, Reaktionsgeschwindigkeit, während im Bereich niedriger Sub-
die im aktiven Zentrum einen Cystein- und einen Histidinrest stratkonzentrationen bereits kleine Veränderungen zu einem
besitzen und ihre Substrate nach einem Aspartatrest spalten. Die relativ großen Abfall oder Anstieg der Reaktionsgeschwindigkeit
katalytische Aktivität der Caspase-9 erfordert die Ausbildung führen können. Da sich die Konzentrationen der meisten Sub-
einer Wasserstoffbrücke zwischen den Seitenketten der Amino- strate in der Zelle unterhalb der KM-Werte der zugehörigen
säuren Cystein 287 und Histidin 237. Durch die Beteiligung von Enzyme bewegen, können schon geringe Schwankungen von
Protonen an der reversiblen Ausbildung dieser Wasserstoff- Substratkonzentrationen in vivo funktionell bedeutsame Verän-
brücke kommt es zu einer glockenförmigen Abhängigkeit der derungen von Stoffumsatzgeschwindigkeiten bewirken.
Caspase-9-Aktivität vom pH-Wert.

8.3 Regulation der Enzymaktivität


8.2 Abhängigkeit der Enzymaktivität von der durch Hemmstoffe
Enzym- und Substratkonzentration
Enzymhemmung Verbindungen, deren Wechselwirkung mit ei-
Die Kontrolle der Proteinbiosynthese und nem Enzym dessen katalytische Aktivität verändert, werden als
der Proteolyse sind Möglichkeiten Enzymeffektoren bezeichnet. Positive Effektoren wirken als Ak-
der Langzeitregulation der Enzymaktivität tivatoren, negative Effektoren als Hemmstoffe oder Inhibitoren.
In biologischen Systemen ist die Enzymaktivität i. d. R. der En- Physiologische Enzymhemmstoffe sind beispielsweise die im Se-
zymkonzentration proportional. Die Anpassung des Enzymbe- rum vorkommenden Proteaseinhibitoren α1-Antitrypsin (7 Kap.
standes einer Zelle an unterschiedliche Stoffwechselsituationen 67.3) und Antithrombin (7 Kap. 69). Zu den medizinisch bedeut-
wird durch eine Veränderung der Transkription der codierenden samen Hemmstoffen von Enzymen gehören darüber hinaus
Gene (7 Kap. 46 und 47), der Translation der synthetisierten unterschiedlichste Zellgifte genauso wie eine große Anzahl von
mRNAs (7 Kap. 48 und 49) und/oder des proteolytischen Abbaus Therapeutika (7 Kap. 9).
(7 Kap. 50) der vorhandenen Enzymproteine erreicht. Verände- Nach der Art der Reaktion des Inhibitors mit dem Enzym
rungen dieser Art werden oft durch extrazelluläre Signale ausge- können zwei Hemmtypen unterschieden werden: die reversible
löst und führen – im Vergleich mit einer Regulation der Enzym- und die irreversible Enzymhemmung. Eine reversible Enzym-
aktivität durch Substrate und Effektoren – zu einer langsamen hemmung ist durch eine dem Massenwirkungsgesetz folgende
Kontrolle des Stoffwechsels. Bindung des Inhibitors an das Enzym charakterisiert und kann
– im Unterschied zu einer irreversiblen Enzymhemmung –
durch eine Entfernung des Inhibitors aus dem Massenwirkungs-
gleichgewicht aufgehoben werden.
8.3 · Regulation der Enzymaktivität durch Hemmstoffe
117 8

A B C

. Abb. 8.3 Kompetitive Enzymhemmung. A Reaktionsschema. Das Substrat (S) und der Inhibitor (I) konkurrieren um dieselbe Bindungsstelle im aktiven
Zentrum des Enzyms. B Kinetik bei verschiedenen Konzentrationen des Inhibitors. Auch die in Gegenwart des Inhibitors beobachteten Kurven nähern sich
asymptotisch der maximalen Reaktionsgeschwindigkeit VMAX. C Darstellung der Kinetik im Lineweaver-Burk-Diagramm. Die kompetitive Hemmung bewirkt
eine Erhöhung des KM-Wertes, während die maximale Reaktionsgeschwindigkeit unverändert bleibt

Reversible kompetitive Inhibitoren haben


keinen Einfluss auf die Maximalgeschwindigkeit
einer Enzymreaktion
Kompetitive Enzymhemmung Charakteristisch für diesen
Hemmtyp ist eine Konkurrenz des Substrates und des Inhibitors
um dieselbe Bindungsstelle im aktiven Zentrum des Enzyms. Eine
kompetitive Hemmung wird beobachtet, wenn die chemische
Struktur des Inhibitors (I) der des Substrates (S) ähnlich ist und
der Hemmstoff reversibel mit dem Enzym (E) zum Enzym-Inhi- . Abb. 8.4 Struktur von Sulfonamiden. Sulfonamide wie Sulfanilamid
bitor-Komplex (EI) reagiert (. Abb. 8.3). Erhöht man bei gleich und Sulfamethoxazol sind Strukturanaloga der p-Aminobenzoesäure, die
bleibender Hemmstoffkonzentration die Konzentration des Sub- ein Bestandteil der Folsäure ist. Sie verhindern die bakterielle Synthese der
strates, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass sich der ES-Kom- Folsäure durch eine kompetitive Hemmung der Dihydropteroatsynthase
plex anstelle von EI bildet. Die maximale Reaktionsgeschwindig-
keit VMAX wird daher nicht verändert. Eine kompetitive Hem-
mung führt zu einem Anstieg der Michaelis-Konstanten KM
(. Tab. 8.1). Der in Gegenwart eines kompetitiven Inhibitors be- ren. Eine Hemmung der Folsäurebiosynthese bewirkt eine
stimmte KM-Wert wird als apparent (scheinbar) bezeichnet Hemmung des bakteriellen Wachstums. 1932 entdeckte
app
(KM ). Die Wirkung des Inhibitors kann durch eine Hemmkon- Gerhard Domagk, dass Derivate des Sulfanilamids als
stante Ki charakterisiert werden, die der Dissoziationskonstanten Strukturanaloga der p-Aminobenzoesäure durch eine
des Enzym-Inhibitor-Komplexes entspricht. Ki trägt die Maßein- kompetitive Hemmung der an der Folsäurebiosynthese
heit einer Konzentration und gibt diejenige Inhibitorkonzen- beteiligten Dihydropteroatsynthase bakteriostatisch wirken.
tration an, die eine Verdopplung der Michaelis-Konstanten be- Seit dieser Zeit finden Sulfonamide, deren Grundstruktur
wirkt. In der Darstellung nach Lineweaver und Burk (7 Kap. 7.7) derjenigen des Sulfanilamids entspricht, bei der Behandlung
schneiden sich die für unterschiedliche Hemmstoffkonzentratio- bakterieller Infektionen Anwendung (. Abb. 8.4). Da der
nen erhaltenen Geraden auf der Ordinate bei 1/VMAX. Mensch keine Enzyme der Folsäurebiosynthese besitzt, ent-
falten die therapeutisch eingesetzten Sulfonamide in dieser
Hinsicht keine toxische Wirkung. Domagk erhielt für seine
Übrigens Entdeckung 1939 den Nobelpreis für Medizin. Die Sulfona-
Sulfonamide wirken als kompetitive Enzyminhibitoren midresistenz zahlreicher Bakterienstämme hat dazu geführt,
bei der bakteriellen Folsäurebiosynthese dass Sulfonamide heute in Kombination mit anderen
Folsäure gehört zu den wasserlöslichen Vitaminen des Men- Medikamenten angewendet werden. Ein Beispiel hierfür
schen. Dagegen können Mikroorganismen die für ihren ist das Sulfonamid Sulfamethoxazol, das zusammen mit
Stoffwechsel benötigte Folsäure (7 Kap. 59.8) aus p-Amino- Inhibitoren der bakteriellen Dihydrofolatreduktase (7 Kap.
benzoesäure und anderen Metaboliten selbst synthetisie- 30) bei der Therapie von Harnwegsinfektionen eingesetzt
6 wird.
118 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität

A B C

. Abb. 8.5 Nicht-kompetitive Enzymhemmung. A Reaktionsschema. Der Inhibitor (I) bindet außerhalb des aktiven Zentrums sowohl an das freie
Enzym (E) als auch an den Enzym-Substrat-Komplex (ES). B Kinetik bei verschiedenen Konzentrationen des Inhibitors. C Darstellung der Kinetik im
8 Lineweaver-Burk-Diagramm. Die nicht-kompetitive Hemmung bewirkt eine Erniedrigung von VMAX, während der KM-Wert unverändert bleibt

Alternative Substrate können als kompetitive


Enzyminhibitoren wirken . Tab. 8.1 Einfluss reversibler Hemmstoffe auf KM und VMAX
Eine Vielzahl von Enzymen ist in der Lage, mehrere strukturell
Hemmtyp Veränderte Unveränderte
ähnliche Substrate alternativ umzusetzen. Die alternativen Subs- Parameter Parameter
trate wirken dabei wechselseitig als kompetitive Inhibitoren. Ein
medizinisch bedeutsames Beispiel ist die Hemmung der Um- Kompetitiv KMapp = KM * (1 + [I]/Ki) VMAX
wandlung von Methanol zu toxischem Formaldehyd durch die Nicht-kompetitiv VMapp
AX = VMAX/(1 + [I]/Ki) KM
Alkoholdehydrogenase der Leber durch das alternative Substrat
Unkompetitiv KMapp = KM/(1 + [I]/Ki) VMAXapp/KMapp
Ethanol bei der Therapie einer Methanolvergiftung.
VMapp
AX = VMAX/(1 + [I]/Ki)

Reversible nicht-kompetitive Inhibitoren reduzieren


die Maximalgeschwindigkeit einer Enzymreaktion
Nicht-kompetitive Enzymhemmung Die Bezeichnung dieses Reversible unkompetitive Inhibitoren erniedrigen
Hemmtyps verdeutlicht, dass eine Konkurrenz zwischen Subst- sowohl die Maximalgeschwindigkeit als auch die
rat und Hemmstoff im aktiven Zentrum des Enzyms nicht statt- Michaelis-Konstante einer Enzymreaktion
findet. Der Inhibitor bindet außerhalb des aktiven Zentrums Unkompetitive Enzymhemmung Der unkompetitive Hemmtyp
sowohl an das freie Enzym (E) als auch an den Enzym-Substrat- ist dadurch charakterisiert, dass der Inhibitor nur mit dem En-
Komplex (ES), ohne die Interaktion mit dem Substrat zu beein- zym-Substrat-Komplex (ES), nicht aber mit dem freien En-
flussen (. Abb. 8.5). Ursache der Erniedrigung von VMAX ist eine zym (E) reagiert. Die funktionelle Folge ist neben einer Ernied-
durch die Bindung des Inhibitors induzierte Konformationsän- rigung von VMAX eine Abnahme des KM-Wertes (. Tab 8.1). Im
derung im aktiven Zentrum des Enzyms. Der ternäre ESI-Kom- Lineweaver-Burk-Diagramm (7 Kap. 7.7) erhält man eine Schar
plex ist katalytisch inaktiv. Nicht-kompetitive Inhibitoren redu- paralleler Geraden. Zu den medizinisch bedeutsamen Beispie-
zieren die maximale Reaktionsgeschwindigkeit (Vap p
M AX), ohne len einer unkompetitiven Hemmung gehört die Wirkung des als
den KM-Wert zu verändern (. Tab. 8.1). Im Gegensatz zur kom- Antidepressivum eingesetzten Lithiumchlorids. Lithiumionen
petitiven Hemmung ist eine Kompensation der nicht-kompeti- hemmen die am Abbau des Inositol-1,4,5-Trisphosphates
tiven Hemmung durch eine Erhöhung der Substratkonzentration (7 Abb. 35.8) beteiligte Inositolmonophosphatase.
nicht möglich. Die Hemmkonstante Ki bezeichnet die Dissozia-
tionskonstante der Enzym-Inhibitor-Komplexe EI und ESI und Substrat- und Produkthemmung Bei einigen Enzymen kann
gibt diejenige Inhibitorkonzentration an, die eine Halbierung eine Hemmung der katalytischen Aktivität durch das Substrat
der maximalen Reaktionsgeschwindigkeit bewirkt. Eine rein beobachtet werden. Ein physiologisch bedeutsames Beispiel ei-
nicht-kompetitive Enzymhemmung tritt selten auf, da die infol- ner Substrathemmung ist die in 7 Kap. 8.4 beschriebene Hem-
ge der Hemmstoffbindung ausgelöste Konformationsänderung mung der Phosphofructokinase-1 durch ATP (. Abb. 8.10).
oftmals auch die Interaktion des Enzyms mit dem Substrat be- Enzyme werden grundsätzlich durch die Produkte der kataly-
einflusst. sierten Reaktion gehemmt. Im Michaelis-Menten-Modell (7 Kap.
7.7) wirkt das Reaktionsprodukt als kompetitiver Inhibitor. Als
Beispiel einer für die Regulation des Zellstoffwechsels wichtigen
8.4 · Kooperativität und allosterische Kontrolle der Enzymaktivität
119 8
Produkthemmung kann die inhibitorische Wirkung von Gluco-
se-6-Phosphat auf verschiedene Hexokinase-Isoenzyme ange- Übrigens
führt werden (7 Kap. 14). Prostaglandin-H2-Synthasen werden durch
Acetylsalicylsäure irreversibel gehemmt
Reversible vs. irreversible Enzymhemmung Reversible Inhibi- Prostaglandin-H2-Synthasen (PGHS) sind bifunktionelle
toren binden durch nichtkovalente Wechselwirkungen an das Membranenzyme, die aus zwei identischen Untereinheiten
Enzymprotein und können deshalb – z. B. durch Dialyse – unter bestehen (. Abb. 8.6). Sie katalysieren die Umwandlung
Aufhebung der Hemmung vom Enzym entfernt werden. Dem- von Arachidonsäure zu Prostaglandin H2 (7 Kap. 22.3.2):
gegenüber ist eine irreversible Enzymhemmung in der Regel die
Folge einer stabilen kovalenten Modifikation des aktiven Zen- Arachidonsäure + NAD(P)H + H+ + 2 O2
trums des Enzyms. Einige prinzipiell reversible Inhibitoren bin- Prostaglandin-H2 + NADP+ + H2O
den jedoch mit sehr hoher Affinität an das jeweilige Enzym, so-
dass ihre Wirkung praktisch irreversibel ist. Ein Beispiel hierfür Die PGHS-Untereinheiten besitzen zwei katalytische Zent-
ist die Hemmung der Cytochrom-c-Oxidase durch Cyanidionen ren, ein Cyclooxygenase- und ein Peroxidasezentrum. Im
(7 Kap. 19). Im Unterschied zu einer prinzipiell reversiblen Cyclooxygenasezentrum (COX) findet die Umwandlung des
Enzyminaktivierung durch Denaturierung, bei der typischerweise Substrates zu Prostaglandin G2 statt, das im Peroxidase-
die gesamte Raumstruktur des Enzymproteins betroffen ist, be- zentrum zu Prostaglandin H2 reduziert wird. Der Zugang des
wirkt die durch einen irreversiblen Inhibitor verursachte covalen- Substrates zu den Cyclooxygenasezentren erfolgt durch ei-
te Modifikation zumeist nur eine Veränderung der Struktur des nen hydrophoben Kanal, der im Bereich der membranbin-
aktiven Zentrums des Enzyms. denden Domäne beginnt (. Abb. 8.6A).
Beim Menschen werden die Isoenzyme PGHS-1 (COX-1) und
Suizidsubstrate bewirken eine irreversible PGHS-2 (COX-2) exprimiert. Medizinisch bedeutsam sind
Enzymhemmung ihre zelltypabhängige Expression, differentielle Regulation
Suizidsubstrate Mit diesem Begriff bezeichnet man Hemm- und unterschiedliche pharmakologische Beeinflussbarkeit.
stoffe, die im aktiven Zentrum eines Enzyms gebunden und – im Der schmerzstillende, blutgerinnungs- und entzündungs-
Unterschied zu kompetitiven Inhibitoren – nachfolgend umge- hemmende sowie fiebersenkende Arzneistoff Acetylsalicyl-
setzt werden. Die feste Bindung des durch einen katalytischen säure (Aspirin) wirkt durch eine spezifische Acetylierung ei-
Schritt veränderten Suizidsubstrates an das Enzym verhindert nes Serinrestes in der Nähe des Cyclooxygenasezentrums
jedoch das Fortschreiten der Katalyse bzw. den Eintritt des En- beider PGHS-Isoenzyme (. Abb. 8.6B). Folge dieser Modi-
zyms in einen neuen Katalysezyklus. Die Entwicklung von Arz- fikation ist eine irreversible Enzymhemmung. Das Isoenzym
neimitteln auf der Basis von Suizidsubstraten ist von großem COX-1 wird durch Acetylsalicylsäure wesentlich stärker
medizinischen Interesse, weil durch die Spezifität des katalyti- gehemmt als COX-2. Die Hemmung des COX-2-Isoenzyms
schen Schrittes eine weitgehend selektive Hemmung des Ziel- durch Acetylsalicylsäure führt interessanterweise auch dazu,
enzyms erfolgt und so unerwünschte Nebenwirkungen begrenzt dass anstelle der Arachidonsäure andere Fettsäuren oxidiert
werden (7 Kap. 9). Zu den therapeutisch wichtigen Suizidsub- und dadurch Signallipide mit antioxidativer und entzün-
straten gehört das Hypoxanthinanalogon Allopurinol, das zur dungshemmender Wirkung (Resolvine, Protectine) gebildet
Gichttherapie eingesetzt wird. Die enzymatische Hydroxylierung werden. Im Gegensatz zur Acetylsalicylsäure wirken viele
von Allopurinol durch die Xanthinoxidase (7 Kap. 29.4) führt moderne nicht-steroidale Entzündungshemmer wie Ibu-
zur Bildung von Alloxanthin, das dauerhaft im aktiven Zentrum profen als reversible kompetitive Inhibitoren der COX-Iso-
des Enzyms verbleibt (sog. dead-end complex). enzyme.
Die unbefriedigende Magenverträglichkeit der Acetylsalicyl-
Enzymhemmung durch Oxidationsmittel Bei einer Vielzahl intra- säure hat zur Suche nach selektiven Inhibitoren des in der
zellulärer Enzyme nehmen Sulfhydrylgruppen von Cysteinseiten- Magenschleimhaut nicht vorkommenden COX-2-Isoenzyms
ketten am Katalyseprozess teil. Unter der Einwirkung von Oxida- geführt. Da COX-1 in dem zum aktiven Zentrum führenden
tionsmitteln, die im Zellstoffwechsel entstehen (7 Kap. 20.2), hydrophoben Kanal einen Isoleucinrest besitzt (Ile 523),
können SH-Gruppen zu Disulfidstrukturen oxidiert werden, so COX-2 hingegen an dieser Position einen (kleineren) Valinrest
dass sie für die Katalyse nicht mehr zur Verfügung stehen. In den enthält (Val 523), bewirken größere Substituenten in einem
Zellen des Organismus ist die Erzeugung und Aufrechterhaltung entsprechenden Wirkstoff eine erhöhte Selektivität für das
eines antioxidativen Potentials für den Schutz SH-sensitiver En- COX-2-Isoenzym.
zyme essentiell. Zu den daran beteiligten Redoxsystemen gehören
Glutathion, Ascorbinsäure und Vitamin E (7 Kap. 20.2). In vivo
ist die oxidative Inaktivierung von Enzymen in vielen Fällen re-
versibel. 8.4 Kooperativität und allosterische Kontrolle
der Enzymaktivität

Eine Vielzahl von Enzymen zeigt ein komplexes kinetisches Ver-


halten, das durch die Michaelis-Menten-Gleichung nicht be-
120 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität

. Abb. 8.7 Sigmoidale Kinetik eines allosterischen Enzyms. Die Wechsel-


wirkungen der Substratbindungsstellen des allosterischen Enzyms führen
B
zu einer sigmoidalen Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von der
Substratkonzentration (rote Kurve), die sich von der durch die Michaelis-
Menten-Gleichung bestimmten hyperbolen V/[S]-Charakteristik unterschei-
8 det (graue Kurve). KM gibt diejenige Substratkonzentration an, bei der halb-
maximale Reaktionsgeschwindigkeit erreicht wird. Beide Kurven nähern
sich asymptotisch der gleichen Maximalgeschwindigkeit (VMAX)

dung von Effektoren (Liganden) induziert werden. Zur Beschrei-


bung dieses Phänomens wurde der Begriff der Allosterie (griech.
. Abb. 8.6 Irreversible Hemmung der Prostaglandin-H2-Synthasen allo – »anders«, steros – »Ort«) geprägt, der die Beeinflussung
durch Acetylsalicylsäure. A Schematische Darstellung der Struktur des ho- eines aktiven Zentrums eines Enzyms durch die Bindung eines
modimeren Prostaglandin-H2-Synthase-Isoenzyms 1 (PGHS-1, COX-1). Die Liganden an einen vom aktiven Zentrum entfernt gelegenen Ort
Peroxidasezentren sind nicht dargestellt. B Covalente Modifikation des Se- des gleichen Enzymmoleküls (allosterisches Zentrum) zum Aus-
rinrestes 529 der PGHS-1 durch Acetylsalicylsäure. (A Adaptiert nach Fitz-
druck bringt. Die Veränderung der Konformation einer Unter-
Gerald 2003, mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd)
einheit kann dabei Konformationsänderungen in anderen Un-
tereinheiten des oligomeren Enzyms bewirken. Kooperativität
schrieben werden kann. Häufig wird eine S-förmige (sigmoida- und Allosterie treten auch bei Proteinen ohne Enzymfunktion
le) Abhängigkeit der Enzymaktivität von der Substratkonzentra- auf (7 Kap. 5.3).
tion beobachtet (. Abb. 8.7), die eine bemerkenswerte Ähnlich-
keit mit der Sauerstoffbindungskurve des Hämoglobins Struktur-Funktions-Modelle allosterischer Enzyme
aufweist (7 Kap. 5.3). Strukturuntersuchungen haben ergeben, erklären die sigmoidale Kinetik und
dass derartige Enzyme in der Regel aus mehreren Untereinheiten den Einfluss allosterischer Effektoren
bestehen. Die katalytische Aktivität dieser oligomeren Enzyme Funktionell bedeutsame Aspekte des komplexen kinetischen Ver-
kann äußerst wirksam durch Effektoren gesteuert werden. Die haltens allosterischer Enzyme können durch einfache Modelle
durch die Effektorbindung ausgelöste strukturelle und funktio- näherungsweise beschrieben werden. Jaques Monod, Jeffries
nelle Kommunikation zwischen verschiedenen Substrat- und Wyman und Jean-Pierre Changeux entwickelten 1965 ein Modell,
Effektorbindungsstellen eines Enzyms bezeichnet man als das als konzertiertes Modell oder Symmetriemodell bezeichnet
Kooperativität. In der Enzymkinetik wird zwischen positiver wird. Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein dimeres Enzym,
und negativer Kooperativität unterschieden. Im Falle einer posi- dessen Untereinheiten bereits in Abwesenheit des Substrates in
tiven Kooperativität führt die Bindung eines Substrat- bzw. den Zustandsformen T (tense – »gespannt«) und R (relaxed – »re-
Effektormoleküls zu einer erleichterten Bindung weiterer laxiert«) vorliegen (. Abb. 8.8). Beide Zustandsformen (Konfor-
Substratmoleküle an noch unbesetzte katalytische Zentren des mationen) besitzen prinzipiell die Fähigkeit zur Substratbindung
gleichen Enzymmoleküls, während bei negativer Kooperativi- und zur Katalyse, jedoch ist die Affinität des R-Zustandes zum
tät die Substratbindung durch die zunehmende Besetzung von Substrat größer als die des T-Zustandes. Das Symmetriemodell
Substrat- oder Effektorbindungsstellen sukzessive erschwert basiert auf der Annahme, dass infolge der Wechselwirkungen der
wird. Man spricht von homotroper Kooperativität, wenn der Untereinheiten des Enzyms nur symmetrische Strukturformen
kooperative Effekt durch das Substrat selbst ausgelöst wird. existieren (TT oder RR), hybride Zustände (RT) hingegen nicht
Kommt der kooperative Effekt infolge der Bindung eines Effek- auftreten. Die symmetrischen Strukturformen stehen in einem
tors zustande, der nicht mit dem Substrat identisch ist, liegt allosterischen Gleichgewicht miteinander. Zwischen beiden
heterotrope Kooperativität vor. Konformationszuständen sind folglich nur »Alles-oder-Nichts«-
Molekulare Grundlage der Kooperativität sind Veränderun- Übergänge möglich. Ein Anstieg der Substratkonzentration
gen der Konformation eines Enzymproteins, die durch die Bin- führt im Symmetriemodell zu einer Verschiebung des R/T-
8.4 · Kooperativität und allosterische Kontrolle der Enzymaktivität
121 8

. Abb. 8.8 Symmetriemodell allosterischer Enzyme. Die Wechselwirkun- . Abb. 8.9 Kinetik eines allosterischen Enzyms im Symmetriemodell.
gen der Untereinheiten des dimeren Enzyms erzwingen symmetrische Kon- Die obere hyperbole Kurve entspricht der V/[S]-Charakteristik des R-Zu-
formationszustände, die in einem allosterischen Gleichgewicht stehen. Der standes, die scheinbar lineare tatsächlich aber ebenfalls hyperbole untere
Übergang zwischen R- und T-Zustand erfolgt nach dem »Alles-oder- Kurve der des T-Zustandes. Die sigmoidale Kurve entsteht durch die Zunah-
Nichts«-Prinzip. Mit steigender Substratkonzentration kommt es zu einer me des Anteils der R-Konformation des Enzyms bei steigender Substrat-
Verschiebung des allosterischen Gleichgewichtes zugunsten des für das konzentration
Substrat (grün) hochaffinen R-Zustandes. Auch allosterische Aktivatoren
binden bevorzugt an den R-Zustand (nicht dargestellt). Die Bindung eines
allosterischen Inhibitors (rot) stabilisiert den T-Zustand
risch wirksam sind. Man bezeichnet diese Moleküle als »Signal-
metabolite«. Generell kann die Gegenwart allosterischer Effekto-
Gleichgewichtes zugunsten des R-Zustandes. Die Vergrößerung ren zu einer Veränderung der Maximalaktivität VMAX (V-Syste-
des Anteils der Enzymmoleküle, die infolge der Bindung eines me) oder zu einer Beeinflussung der Substratkonzentration S0,5
Substratmoleküls in der R-Form vorliegen, ermöglicht die eines allosterischen Enzyms führen, bei der halbmaximale Reak-
Bindung weiterer Substratmoleküle an hochaffine Substratbin- tionsgeschwindigkeit beobachtet wird (K-Systeme). In vielen
dungsstellen des gleichen Enzymmoleküls (positive homotrope Fällen verändern allosterische Effektoren beide Parameter.
Kooperativität) und bewirkt den sigmoidalen Verlauf der V/[S]- Im Kontext des Symmetriemodells beruht die Wirkung allo-
Charakteristik des Enzyms (. Abb. 8.9). sterischer Effektoren darauf, dass sie das Gleichgewicht zwischen
Ein alternatives Modell zur Beschreibung der funktionellen R- und T-Zustand durch eine bevorzugte Bindung an einen der
Eigenschaften allosterischer Enzyme wurde von Daniel E. Kosh- zwei Konformationszustände verschieben (. Abb. 8.8). Negative
land Jr. (1966) entwickelt und wird als sequentielles Modell allosterische Effektoren binden bevorzugt an die T-Konformati-
(Koshland-Nemethy-Filmer-Modell) bezeichnet. Im Unter- on des Enzyms und verschieben so das allosterische Gleichge-
schied zum konzertierten Modell wird postuliert, dass die Bin- wicht zugunsten des für das Substrat niedrigaffinen T-Zustandes.
dung eines Liganden an eine Untereinheit eines oligomeren En- Im Gegensatz dazu bewirken positive allosterische Effektoren –
zyms eine Konformationsänderung unmittelbar in dieser Unter- ähnlich wie das Substrat – eine Verschiebung des allosterischen
einheit und mittelbar in benachbarten Untereinheiten induziert. Gleichgewichtes hin zum R-Zustand. Durch hinreichend hohe
Die im konzertierten Modell eingeführte Symmetrieforderung Konzentrationen eines positiven allosterischen Effektors kann
wird durch eine thermodynamische Beschreibung der Wechsel- das allosterische Gleichgewicht so weit verschoben werden, dass
wirkungen zwischen den Untereinheiten des oligomeren Enzyms bei Variation der Substratkonzentration eine hyperbole Kinetik
ersetzt. Eine wichtige Eigenschaft des sequentiellen Modells be- beobachtet wird, die dann die katalytischen Eigenschaften des
steht darin, dass dieses im Gegensatz zum Symmetriemodell R-Zustandes widerspiegelt (. Abb. 8.9).
auch eine negative Kooperativität erklären kann, bei der die Regulatorisch bedeutsam ist, dass allosterische Enzyme oft-
Bindung eines Substratmoleküls an ein aktives Zentrum die Bin- mals unter zellulären Bedingungen irreversible Reaktionen am
dung weiterer Substratmoleküle an noch unbesetzte Substratbin- Anfang von Stoffwechselwegen oder an Verzweigungspunkten
dungsstellen des gleichen Enzyms erschwert. des Stoffwechsels katalysieren. Die sensitive und spezifische Re-
gulation dieser Enzyme durch allosterische Effektoren eröffnet
Allosterische Enzyme werden wirksam durch posi- vielfältige Möglichkeiten für therapeutische Interventionen.
tive und negative allosterische Effektoren reguliert Von medizinischem Interesse sind hierbei u. a. Substanzen, die
Die katalytische Aktivität allosterischer Enzyme wird typischer- als allosterische Effektoren von Monooxygenasen der Cyto-
weise empfindlich durch Liganden gesteuert, die mit dem Sub- chrom-P450-Familie (7 Kap. 62.3) wirken. Auch die allosterische
strat strukturell nicht verwandt sind und an Bindungsstellen Kontrolle der an der Regulation von Zellfunktionen beteiligten
außerhalb des aktiven Zentrums gebunden werden. Zu diesen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCR; 7 Kap. 35.3), die
Liganden gehören Moleküle, die im Stoffwechsel gebildet werden selbst keine katalytische Aktivität aufweisen, besitzt ein großes
und oftmals bereits in sehr geringen Konzentrationen regulato- pharmakotherapeutisches Potential.
122 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität

A B

. Abb. 8.10 Allosterische Regulation des Muskel-Isoenzyms der PFK1 des Menschen. A Abhängigkeit der Enzymaktivität von der ATP-Konzentration
([Fructose-6-Phosphat] = 0,25 mM) (rote Kurve). B Abhängigkeit der Enzymaktivität von der Fructose-6-Phosphatkonzentration ([MgATP2–] = 3 mM) (rote
8 Kurve). Blaue Kurven: Aktivierung der PFK1 durch Fructose-2,6-Bisphosphat (1 µM). Die in der Abbildung markierten Konzentrationen von Fructose-6-
Phosphat bzw. MgATP2– (unterbrochene Linien) entsprechen typischen intrazellulären Konzentrationen dieser Substrate

8.5 Regulation der Enzymaktivität


Übrigens durch covalente Modifikation
Phosphofructokinasen sind komplex kontrollierte
allosterische Enzyme Die covalente Modifikation stellt einen weit verbreiteten Mecha-
Das Enzym Phosphofructokinase 1 (PFK1, EC 2.7.1.11) nismus der Regulation der Enzymaktivität dar, der auf einer zell-
katalysiert eine zellphysiologisch irreversible Reaktion der physiologisch reversiblen covalenten Anheftung funktioneller
Glycolyse (7 Kap. 14.1.1): Gruppen an Aminosäureseitenketten oder auf einer zellphysio-
logisch irreversiblen proteolytischen Veränderung des Enzym-
Fructose-6-Phosphat + ATP proteins beruht. Man bezeichnet Enzyme, deren Aktivitätszu-
Fructose-1,6-Bisphosphat + ADP + H+ stand durch eine funktionell reversible kovalente Modifikation
von Aminosäureseitenketten des Enzymproteins verändert wer-
Die Isoenzyme der Phosphofructokinase 1 des Menschen den kann (7 Kap. 49.3), als interkonvertierbare Enzyme. Eine
(Muskel: PFKM; Leber: PFKL; Blutplättchen: PFKP) sind hete- häufig vorkommende covalente Modifikation von Enzymen ist
ro- oder homotetramere Proteine, deren Untereinheiten die Phosphorylierung durch ATP-abhängige Proteinkinasen
durch verschiedene Gene codiert werden. Da diese Gene bzw. die Dephosphorylierung der Phosphoenzyme durch Phos-
durch Genduplikation und Genfusion aus einem Vorläufer- phoproteinphosphatasen. Sowohl Proteinkinasen als auch
gen entstanden sind, zeigen die N- und C-terminalen Hälf- Phosphoproteinphosphatasen katalysieren unter zellulären Be-
ten der Polypeptidketten der PFK1 eine hohe Sequenziden- dingungen irreversible Reaktionen (. Abb. 8.11). Durch das ko-
tität. Im N-terminalen Teil befindet sich das aktive Zentrum, ordinierte Zusammenwirken der Kinasen und Phosphatasen ist
während der C-terminale Teil seine katalytische Funktion die Protein(de)phosphorylierung in vivo jedoch reversibel.
verloren hat, jedoch Bindungsstellen für allosterische
Effektoren wie AMP, Fructose-2,6-bisphosphat und ATP
besitzt. Das Substrat Fructose-6-Phosphat übt einen positiv-
. Tab. 8.2 Regulation der katalytischen Aktivität von Enzymen
homotropen kooperativen Effekt aus. Demgegenüber wirkt durch Phosphorylierung und Dephosphorylierung (Auswahl)
der Magnesium-ATP-Komplex sowohl als Substrat als auch
als allosterischer Inhibitor (negativ-heterotrope Kooperati- Enzym Aktive Form Siehe Kapitel
vität). Fructose-2,6-Bisphosphat ist der stärkste physiologische
Glycogensynthase Dephosphoryliert 15.2
Aktivator des Enzyms (. Abb. 8.10). Die allosterische Regula-
tion der PFK1 ermöglicht der Zelle eine effiziente Kontrolle der Glycogenphosphorylase Phosphoryliert 15.2
Glycolyse. Phosphorylasekinase Phosphoryliert 15.2

Pyruvatdehydrogenase Dephosphoryliert 18.2

Acetyl-CoA-Carboxylase Dephosphoryliert Abb. 21.22

Hormonsensitive Lipase Phosphoryliert 21.3.1

HMG-CoA-Reduktase Dephosphoryliert 23
8.5 · Regulation der Enzymaktivität durch covalente Modifikation
123 8

. Abb. 8.11 Phosphorylierung und Dephosphorylierung eines interkon-


vertierbaren Enzyms. Ein Serinrest des Enzymproteins wird durch eine Pro-
teinkinase in einer ATP-abhängigen Reaktion phosphoryliert. Die Regene-
rierung des unmodifizierten Serinrestes erfolgt hydrolytisch durch eine
Phosphoproteinphosphatase . Abb. 8.12 Aktivierung von Hydrolasen des exokrinen Pankreas durch
limitierte Proteolyse. Trypsin aktiviert neben verschiedenen Proenzymen
auch eine Colipase, die als Aktivator der Pankreaslipase wirkt. Die Aktivie-
rung von Trypsinogen und Chymotrypsinogen wird autokatalytisch ver-
Die verschiedenen Formen eines interkonvertierbaren stärkt
Enzyms weisen in der Regel unterschiedliche funktionelle Ei-
genschaften auf und ermöglichen dadurch schnelle Veränderun-
gen von Stoffwechselprozessen. In . Tab. 8.2 ist eine Auswahl Prozessen ermöglichen. Derartige »Phosphorylierungskaska-
von Enzymen zusammengestellt, deren katalytische Aktivität den« führen darüber hinaus zu einer enormen Verstärkung des
durch Phosphorylierung und Dephosphorylierung reguliert regulatorischen »Eingangssignals«.
werden kann.
Die Regulation der Enzymaktivität durch Phosphorylierung Die limitierte Proteolyse dient der irreversiblen
und Dephosphorylierung ist häufig von einer allosterischen Aktivierung inaktiver Enzymvorstufen
Kontrolle überlagert. So wird die Phosphorylasekinase das im Zahlreiche Enzyme werden als katalytisch inaktive Proenzyme
Muskel exprimierte Isoenzym der Phosphorylasekinase des (Zymogene) synthetisiert. Erst durch die Hydrolyse von Peptid-
Muskels (7 Kap. 15.2) durch Phosphorylierung und durch Ca2+- bindungen und die Abspaltung von Peptiden werden diese
Ionen aktiviert. Phosphorylierung und allosterische Aktivierung Enzyme in eine katalytisch aktive Form überführt. Beispiele
wirken dabei »synergistisch«, d. h. dass die durch beide Effekte hierfür sind die intrazelluläre Aktivierung von Caspasen
erreichte Aktivitätssteigerung deutlich größer als die Summe der während der Apoptose (7 Kap. 51) und die extrazelluläre Akti-
Einzelwirkungen ist. vierung von Proteasen der Blutgerinnung (7 Kap. 69). Auch
Für die Regulation des Stoffwechsels ist es von wesentlicher Sekretenzyme (7 Kap. 9) wie die im Gastrointestinaltrakt wirk-
Bedeutung, dass ein und dieselbe Proteinkinase mehrere Sub- samen Hydrolasen des exokrinen Pankreas (7 Kap. 61.1.3) wer-
stratproteine phosphorylieren kann. So wird bei ATP-Mangel die den als katalytisch inaktive Vorstufen synthetisiert, als solche
durch Adenosin-5’-Monophosphat (AMP) aktivierbare Pro- intrazellulär gespeichert und bei Bedarf sezerniert. Die extrazel-
teinkinase (AMPK) aktiviert, die eine große Zahl verschiedener luläre Aktivierung durch limitierte Proteolyse (hydrolytische
Enzyme phosphoryliert und dadurch eine physiologisch sinnvol- Spaltung einer begrenzten Zahl von Peptidbindungen) stellt
le Umstellung des Zellstoffwechsels ermöglicht (7 Kap. 38). An- dabei sicher, dass der Abbau von Biomolekülen erst am physio-
dererseits kann ein und dasselbe Enzym durch unterschiedliche logischen Wirkungsort der aktivierten Enzyme erfolgt.
Proteinkinasen an verschiedenen Aminosäureresten phosphory-
liert werden. Ein Beispiel hierfür ist die Regulation der Glyco- Trypsinogen wird durch die spezifische Spaltung
gensynthase durch verschiedene Glycogensynthasekinasen einer einzigen Peptidbindung aktiviert
(7 Kap. 15.2). Besonders eindrucksvoll ist die Kontrolle multi- In . Abb. 8.12 ist das Prinzip der Enzymaktivierung durch limi-
funktioneller Enzyme durch kovalente Modifikation. So bewirkt tierte Proteolyse am Beispiel verschiedener Verdauungsenzyme
die Phosphorylierung eines einzigen Serinrestes der bifunktio- des exokrinen Pankreas dargestellt. Die initiale proteolytische
nellen Fructose-6-phosphat-2-kinase/Fructose-2,6-bisphospha- Aktivierung des Trypsinogens erfolgt durch eine von den En-
tase (PFK2/FBPase2) der Leber eine Hemmung der Kinase- terocyten des Duodenums gebildete Endopeptidase (Enteropep-
aktivität und eine Aktivierung der Phosphataseaktivität. Folge tidase), die im Darmlumen spezifisch die Abspaltung eines N-
der Modifikation ist eine Erniedrigung der intrazellulären Kon- terminalen Hexapeptids katalysiert. Die Aktivierung eines Pro-
zentration des Signalmetaboliten Fructose-2,6-bisphosphat und enzyms kann durch geringe Mengen des bereits aktivierten En-
dadurch eine ausbleibende Aktivierung der hepatischen Glyco- zyms verstärkt werden (Autokatalyse).
lyse (7 Kap. 14.1.1). Die Phosphorylierung von Enzymen erfolgt
oftmals im Rahmen vernetzter und hierarchisch organisierter
Regulationssysteme, die ein schnelles und wirkungsvolles An-
und Abschalten von Stoffwechselwegen und physiologischen

Dephospho-Enzym# Phospho-Enzym#
124 Kapitel 8 · Regulation der Enzymaktivität

8.6 Regulation der Enzymaktivität


durch Protein-Protein-Interaktion Zu den Mechanismen der schnellen Regulation der
Enzymaktivität gehört die covalente Modifikation von
Die katalytische Aktivität von Enzymen kann nicht nur durch die Enzymproteinen. Eine herausragende Bedeutung kommt
Bindung niedermolekularer Effektoren, sondern auch durch die hierbei der zellphysiologisch reversiblen Phosphorylierung
Interaktion mit Proteinen wirksam reguliert werden. Ein ein- und Dephosphorylierung verschiedenster Enzyme zu. Im
drucksvolles Beispiel für eine regulatorisch bedeutsame Protein- Gegensatz dazu hat die Abspaltung von Peptiden durch
Protein-Wechselwirkung ist die Aktivierung der an der Kontrolle limitierte Proteolyse eine irreversible Veränderung der
des Zellzyklus beteiligten cyclinabhängigen Proteinkina- Enzymaktivität zur Folge.
sen (Cdk) durch Cycline (7 Kap. 43). Auch die Aktivität von Se-
rinproteasen des Blutes (7 Kap. 69) unterliegt einer komplexen
Steuerung durch Protein-Protein-Interaktionen, an denen Pro- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
teine aus der Familie der Serpine (Serinproteaseinhibitoren) ent-
scheidend beteiligt sind. Zu den Serpinen gehört das in der Leber
gebildete α1-Antitrypsin (α1-Antiproteinase). Eine verminderte
Hemmung der neutrophilen Elastase durch diesen Inhibitor ist
mit einem deutlich erhöhten Risiko der Entstehung eines Lungen-
8 emphysems verbunden (7 Kap. 67.3). Die Bindung des Serpins im
aktiven Zentrum führt zunächst zu einer kompetitiven Hem-
mung der Serinprotease. Infolge einer proteolytischen Modifika-
tion des gebundenen Inhibitors durch die Protease selbst kommt
es zu einer irreversiblen Hemmung der Enzymaktivität (Suizid-
katalyse).

Zusammenfassung
Die Regulierbarkeit der katalytischen Aktivität der Enzyme
ist eine notwendige Voraussetzung für Wachstum, Differen-
zierung und Zellteilung sowie für die Kontrolle von Stoff-
wechselprozessen durch Signalstoffe. Hierbei wirken Mecha-
nismen einer schnellen Regulation der Aktivität bereits vor-
handener Enzymmoleküle und einer vergleichsweise lang-
samen Veränderung der Enzymmenge auf DNA-, RNA- und
Proteinebene zusammen.
Enzyme können durch Inhibitoren reversibel oder irrever-
sibel gehemmt werden. Bei einer reversiblen Hemmung
kommt es zu einer dem Massenwirkungsgesetz folgenden
Bindung des Inhibitors an das Enzym. Im Gegensatz dazu
wird das Enzym bei einer irreversiblen Hemmung durch
den Inhibitor dauerhaft kovalent modifiziert oder der
Inhibitor mit hoher Affinität im aktiven Zentrum gebun-
den. Suizidsubstrate sind Hemmstoffe, die erst nach einem
katalytischen Schritt fest im aktiven Zentrum gebunden
werden und dieses dauerhaft blockieren. Eine große Zahl
moderner Pharmaka gehört zur Wirkgruppe der Enzym-
inhibitoren.
Die Wechselwirkung allosterischer Enzyme mit positiven
und negativen Effektoren stellt einen wirksamen Mechanis-
mus der schnellen Kontrolle der Enzymaktivität dar. Die Bin-
dung dieser Liganden induziert Konformationsänderungen,
die mit einer Veränderung der Substrataffinität und/oder der
Maximalaktivität einhergehen.
6
125 9

9 Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie


Thomas Kriegel, Wolfgang Schellenberger

Einleitung 4 die Bestimmung von Metabolitkonzentrationen in Körper-


flüssigkeiten. Da die Metabolitzusammensetzung von Blut
In 7 Kap. 7 und 7 Kap. 8 wurden die Grundkonzepte der Biokatalyse und und Harn den Funktionszustand und die Kooperation der
die Regulation der Enzymaktivität besprochen. Die Fähigkeit der Zellen, Gewebe und Organe widerspiegelt, stellt die Meta-
Enzyme, Substrate selektiv zu erkennen, an spezifische Bindungsstellen bolitanalytik eine sinnvolle Ergänzung der Enzymdiagnos-
hochaffin zu binden und mit großer katalytischer Wirksamkeit zu einem tik dar. Ein Beispiel ist die Verwendung von Urease und
von mehreren möglichen Reaktionsprodukten umzusetzen, begründet Glutamatdehydrogenase bei der Bestimmung der Harn-
ihre Bedeutung für die moderne medizinische Forschung, Diagnostik stoffkonzentration zur Bewertung der Nierenfunktion;
und Therapie. Eine Reihe von Krankheiten beruht auf dem Fehlen, einer 4 enzymimmunologische Analyseverfahren zum spezifi-
veränderten Expression oder veränderten Eigenschaften von Enzymen schen Nachweis und zur Bestimmung von Biomolekülen.
und/oder geht mit einem veränderten Vorkommen von Enzymen und Ein Beispiel ist die Kopplung von Peroxidase oder alkali-
Metaboliten in biologischen Flüssigkeiten einher. Der Nachweis und die scher Phosphatase an Immunglobulinmoleküle. Die so er-
Messung der Aktivität von Enzymen sowie die Bestimmung von Meta- zeugten Enzym-Antikörper-Konjugate werden in »Enzym-
bolitkonzentrationen mit Hilfe von Enzymen stellen eine wichtige immunoassays« (7 Kap. 6) z. B. zur Bestimmung von Hor-
Grundlage der klinisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik dar. Die monkonzentrationen im Rahmen der endokrinologischen
Kenntnis der Raumstruktur vieler Enzyme und ihrer Substrate hat zu Diagnostik oder im »Western Blot« zur selektiven Identi-
einer strukturbasierten Entwicklung hochwirksamer und nebenwir- fizierung von Proteinen nach deren elektrophoretischer
kungsarmer Therapeutika geführt. Trennung eingesetzt;
4 die Amplifikation, Sequenzierung, Klonierung und ge-
Schwerpunkte zielte Veränderung von DNA in der klinischen Genetik,
forensischen Medizin und rekombinanten DNA-Technolo-
4 Enzyme als Werkzeuge in der experimentellen Medizin:
gie. Ein Beispiel ist die Verwendung einer thermostabilen
Enzym- und Metabolitbestimmungen, enzymimmunologi-
bakteriellen DNA-Polymerase zur Amplifizierung von DNA
sche Nachweis- und Bestimmungsverfahren, Analyse und
bei der Polymerasekettenreaktion (7 Kap. 54.1.2);
gezielte Veränderung von Nucleinsäuren
4 die Substitution und die Verstärkung der Wirkung körper-
4 Bestimmung von Enzymaktivitäten, Isoenzymmustern und
eigener Enzyme. Ein Beispiel ist die Anwendung eines re-
Metabolitkonzentrationen in biologischen Flüssigkeiten im
kombinanten humanen gewebespezifischen Plasminogen-
Rahmen der klinisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik
aktivators (rh-tPA, recombinant human tissue plasminogen
4 Bedeutung der Enzyme als Zielstrukturen (targets) hoch-
activator) zur enzymatischen Auflösung von Thromben bei
wirksamer Pharmaka
Gefäßverschlüssen (Thrombolyse; 7 Kap. 69);
4 Unterstützung von Körperfunktionen mit Hilfe rekombinan-
4 die Konstruktion von Biosensoren. Ein Beispiel ist der Glu-
ter humaner Enzyme
cosesensor in Blutzuckermessgeräten, der eine schnelle und
4 Individuelle Unterschiede der Enzymausstattung als Grund-
minimal-invasive Bestimmung der Blutglucosekonzentra-
lage der Optimierung von Therapiekonzepten
tion mit Hilfe mikrobieller Enzyme ermöglicht (7 Übrigens
»Glucosensoren für Diabetiker«).

9.1 Anwendung von Enzymen in der Medizin


Übrigens
In der medizinischen Forschung, Diagnostik und Therapie erfül- Glucosesensoren für Diabetiker
len Enzyme vielfältige Funktionen als substrat- und reaktions- Biosensoren sind Messinstrumente, die zur Erkennung und
spezifische Katalysatoren, Reaktionsverstärker, Informations- Messung der Konzentration eines Analyten einen biochemi-
überträger und molekulare Werkzeuge. Zu den Anwendungsge- schen Prozess nutzen. Ein Anwendungsbeispiel in der Medi-
bieten von Enzymen in der Medizin gehören: zin ist der Glucosesensor zur Bestimmung der Blutglucose-
4 die Bestimmung von Enzymaktivitäten im Rahmen der konzentration, dessen Funktionsprinzip auf der Glucose-
Enzymdiagnostik. Ein Beispiel ist der Einsatz von Hexokina- oxidation durch das auf einer Platinmesselektrode immobili-
se und Glucose-6-Phosphatdehydrogenase bei der Bestim- sierte mikrobielle Enzym Glucoseoxidase (EC 1.1.3.4) beruht:
mung der Aktivität der Kreatinkinase im gekoppelten opti- 6
schen Test im Rahmen der Diagnostik des Myokardinfarktes;

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
126 Kapitel 9 · Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie

Enzyme der Blutgerinnung und des Komplementsystems.


D-Glucose + O2 + H2O D-Gluconsäure + H2O2 Eine Schädigung des Herkunftsorgans kann zu einer Ein-
schränkung der Proteinbiosynthese und damit auch zu
In einer elektrochemischen Folgereaktion kommt es zur Oxi- einem Absinken der Aktivität der betroffenen Enzyme im
dation des in der Primärreaktion entstandenen Wasserstoff- Blut führen.
peroxids zu Sauerstoff unter Freisetzung von Elektronen, die 4 Sekret-Enzyme. Zu dieser Enzymgruppe gehören die
einen messbaren Stromfluss proportional zur Glucosekon- Hydrolasen des exokrinen Pankreas, deren Funktion in der
zentration der Probe bewirken: Verdauung der Nahrungsstoffe im Darmlumen besteht.
Verdauungsenzyme können unter physiologischen Bedin-
H 2O 2 2H+ + O2 + 2e – gungen nur in geringem Maße durch Gefäßwände diffun-
dieren. Erst bei einer Schädigung des Pankreas kommt es zu
Alternativ stehen Glucosesensoren zur Verfügung, die an- einem Anstieg der intravasalen Enzymaktivität. Im Falle
stelle der Glucoseoxidase eine mikrobielle thermostabile eines chronischen Verlaufes kann die Einschränkung der
FAD-abhängige Glucosedehydrogenase (EC 1.1.99.10) nut- Biosynthese auch eine Abnahme der beim Gesunden ohne-
zen und damit die O2-Abhängigkeit der dargestellten Me- hin sehr niedrigen Enzymaktivitäten im Blut verursachen.
thode überwinden. Auch das im Seminalplasma vorkommende prostataspezi-
Die Miniaturisierung und Automatisierung der Messappara- fische Antigen (PSA, Semenogelase), das als Serinprotease
turen und das geringe erforderliche Blutprobevolumen ha- die Liquefizierung des koagulierten Ejakulates bewirkt,
ben zu einer breiten Anwendung von Glucosesensoren bei gehört zur Gruppe der Sekretenzyme.
der Blutglucosekontrolle von Diabetikern geführt. 4 Zell-Enzyme. Mit diesem Begriff werden Enzyme bezeich-
9 net, die in den verschiedenen Zelltypen des Organismus
wirksam sind und unter physiologischen Bedingungen
nicht in das extrazelluläre Kompartiment übertreten. Ein
9.2 Bestimmung von Enzymen in biologischen Anstieg der intravasalen Aktivität von Zell-Enzymen über
Flüssigkeiten (Enzymdiagnostik) den Normalbereich hinaus zeigt eine Enzymfreisetzung in-
folge einer pathologischen Zunahme der Permeabilität der
Blut ist eine extrazelluläre Flüssigkeit, in der Enzyme mit Funk- Cytoplasmamembran der Herkunftszellen oder einen Zell-
tionen im intrazellulären Kompartiment unter physiologischen untergang durch Nekrose an (7 Kap. 51). Ein besonders gut
Bedingungen in nur sehr geringen Konzentrationen nachweisbar untersuchtes Beispiel für die Schädigung eines Organs, die
sind. Die Erkenntnis, dass sich der Enzymgehalt des Blutes in- mit einer charakteristischen Freisetzung von Zell-Enzymen
folge pathologischer Prozesse in einem Organ in typischer Weise und anderen zellulären Proteinen einhergeht, ist der akute
verändern kann, hat die Bestimmung von Enzymaktivitäten Myokardinfarkt, bei dem es infolge einer akuten Mangel-
und Enzymkonzentrationen im Blut und in anderen Körper- durchblutung zu einer Nekrose von Myokardgewebe
flüssigkeiten wie Plasma, Serum, Harn oder Liquor zu einem kommt (. Abb. 9.1).
unverzichtbaren Instrument der Diagnostik verschiedenster Er-
krankungen werden lassen. Die Bestimmung von Enzymaktivi- Der Nachweis eines plasmaspezifischen Enzyms oder eines
täten erfolgt hierbei häufig im (gekoppelten) optischen Test Sekret-Enzyms im Blut erlaubt in der Regel einen Rückschluss
(7 Kap. 7.6). Zunehmend jedoch werden Enzymkonzentrationen auf das Herkunftsorgan und dessen Funktionszustand. Demge-
mit Hilfe spezifischer Antikörper gemessen (enzymimmunolo- genüber ist die Interpretation des Nachweises von Zell-Enzy-
gische Analyseverfahren, 7 Kap. 6.3). Damit können auch inakti- men im Blut häufig komplizierter. Hinweise auf das Herkunfts-
ve Proenzyme und Enzyme der Blutgerinnung bestimmt sowie organ ergeben sich aus dem unterschiedlichen Gehalt einzelner
Isoenzyme differenzierend erfasst werden. Zelltypen an bestimmten Enzymen sowie aus gewebespezifi-
schen Isoenzym-Mustern. Der Grad der morphologischen Inte-
Die Enzymaktivitäten im Blut sind Indikatoren grität einer Zelle und die Schwere einer Störung des Zellstoff-
der morphologischen Integrität und des Funktions- wechsels sind auch am Auftreten von Zellenzymen im Blut zu
zustandes der Zellen, Gewebe und Organe erkennen, die in unterschiedlichen intrazellulären Komparti-
Die medizinische Bedeutung der Enzymdiagnostik besteht in der menten vorkommen. Ein Anwendungsbeispiel hierfür ist die
Möglichkeit, Erkrankungen anhand eines charakteristischen Bestimmung des Aktivitätsverhältnisses von Alanin-Amino-
»Enzymmusters« in Körperflüssigkeiten diagnostizieren und transferase (ALAT) und Glutamatdehydrogenase (GLDH)
den Krankheitsverlauf sowie den Therapieerfolg durch die Be- (7 Kap. 26) im Rahmen der Leberfunktionsdiagnostik. Während
stimmung intravasaler Enzymaktivitäten kontrollieren zu kön- ein Anstieg der cytosolischen ALAT eine eher geringe Zellschä-
nen. Die im Blutplasma nachweisbaren Enzyme können nach digung signalisiert, kann bei einer Erhöhung der Aktivität der
ihrer Herkunft und Funktion in drei Gruppen eingeteilt werden: mitochondrialen GLDH im Blut ein schwerer Zell- bzw. Organ-
4 Plasmaspezifische Enzyme. Diese Enzyme werden als »Ex- schaden erwartet werden.
portproteine« von den sie produzierenden Zellen in das
Blut sezerniert und erfüllen dort eine physiologische
Funktion. Beispiele sind die in der Leber synthetisierten
9.2 · Bestimmung von Enzymen in biologischen Flüssigkeiten (Enzymdiagnostik)
127 9

nisch-chemischen Laboratoriumsdiagnostik zwei Methoden


angewendet:
In einem Immuninhibitionstest wird die M-Untereinheit der
Isoenzyme CK-MM und CK-MB durch einen spezifischen
Antikörper vollständig gehemmt und die Konzentration der
CK-MB anhand der katalytischen Aktivität ihrer durch den
Anti-M-Antikörper nicht gehemmten B-Untereinheit in
einem gekoppelten optischen Test (7 Kap. 7.2) ermittelt:

Kreatinkinase
Kreatinphosphat + ADP Kreatin + ATP

Hexokinase
ATP + Glucose ADP + Glucose-6-Phosphat + H+
. Abb. 9.1 Schematische Darstellung der relativen Konzentrationen von
Myoglobin, kardialem Troponin T (cTnT), Kreatinkinase-Isoenzym CK-MB
und Lactatdehydrogenase-Isoenzym LDH-1 im Serum nach einem akuten
Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase
Myokardinfarkt (AMI). Die relativen Konzentrationen sind als Vielfaches der
Normalwerte (MoM, multiple of normal median) im Serum angegeben Glucose-6-Phosphat
+ NADP+ Gluconat-6-Phosphat + NADPH + H +

Da die Untereinheiten M und B die gleiche katalytische Akti-


Organspezifische Isoenzyme können den Ort vität aufweisen, wird das Messergebnis mit dem Faktor 2
einer Zellschädigung anzeigen multipliziert und die CK-MB-Aktivität in einer Maßeinheit der
Da die Expression von Isoenzymen oftmals organ- oder zellspe- katalytischen Aktivitätskonzentration (U/l) angegeben
zifisch erfolgt, ist eine Identifizierung des Ortes einer Zellschä- (7 Kap. 7.6).
digung durch den Nachweis und die Bestimmung von Isoenzy- Alternativ kann die Konzentration des CK-MB-Isoenzyms in
men möglich. Die medizinische Bedeutung der Isoenzym-Ana- einem Chemilumineszenz-Immunoassay (7 Kap. 6) mit
lytik soll am Beispiel der Kreatinkinase (creatine kinase, CK) Hilfe CK-MB-spezifischer Antikörper gemessen werden. Im
(7 Kap. 63.3) dargestellt werden. Kreatinkinase kommt in zwei mito- Unterschied zum Immuninhibitionstest wird dabei das Krea-
chondrialen und drei cytosolischen Formen vor. Bei den cytosoli- tinkinase-Protein selbst und nicht dessen katalytische Aktivi-
schen Isoenzymen der Kreatinkinase handelt es sich um dimere Pro- tät bestimmt und das Messergebnis in einer Maßeinheit der
teine, die aus katalytisch aktiven Untereinheiten des M-Typs (muscle) Proteinkonzentration (µg/l) angegeben.
und/oder des B-Typs (brain) zusammengesetzt sind: Die mit diesem Test bestimmte Konzentration der CK-MB wird
4 CK1 (CK-BB) kommt in hoher Konzentration nur im Ge- in der klinischen Praxis auch als »CK-MB-Masse« bezeichnet.
hirn vor und wird daher als Hirntyp bezeichnet.
4 CK2 (CK-MB) kann sowohl im Herzmuskel als auch im
Skelettmuskel nachgewiesen werden. Da die Konzentration . Abb. 9.1 zeigt schematisch den Verlauf der Konzentrationen
dieses Isoenzyms im Myokard am höchsten ist, wird es als des cytosolischen Kreatinkinase-Isoenzyms CK-MB, des kardia-
Myokardtyp bezeichnet. len Troponins T (cTnT) (7 Kap. 63.2.3), des Myoglobins und des
4 CK3 (CK-MM) wird neben dem Isoenzym CK2 im Herz- Lactatdehydrogenase-Isoenzyms LDH-1 (7 Kap. 7.3) im Serum
und Skelettmuskel gefunden und als Muskeltyp bezeichnet. nach einem akuten Myokardinfarkt. Die Eignung dieser Enzyme
und Proteine als Biomarker zur Feststellung kardialer Ereignisse
Die intravasale Gesamtaktivität der Kreatinkinase ist beim ist von der Spezifität und Sensitivität des Nachweises in einem für
Gesunden überwiegend auf das Isoenzym CK-MM zurück- therapeutische Interventionen relevanten Zeitfenster abhängig.
zuführen. Bei einer akuten Schädigung des Herzmuskels kann das Das kardiale Troponin cTnT wird spezifisch im Herzmuskel
Isoenzym CK-MB bereits 3 h nach Auftreten der Symptomatik in exprimiert und bei einer durch Mangeldurchblutung (Ischämie)
erhöhter Konzentration im Serum nachgewiesen werden. ausgelösten Nekrose freigesetzt. Wegen der hohen Spezifität und
Sensitivität des Nachweises dieses Proteins mittels hochempfind-
licher Immunoassays gilt die Bestimmung von cTnT heute als
Übrigens »Goldstandard« bei der laborchemischen Diagnostik des akuten
Analytik des Kreatinkinase-Isoenzyms CK-MB Myokardinfarktes. Die diagnostische Aussage der Troponinana-
Für die Bestimmung der cytosolischen heterodimeren lytik kann durch die Bestimmung des CK-MB-Isoenzyms ergänzt
Kreatinkinase CK-MB im Serum oder Plasma im Rahmen der werden. Die im Vergleich zum kardialen Troponin cTnT deutlich
Diagnostik des akuten Myokardinfarktes werden in der kli- schnellere Normalisierung der CK-MB im Serum begründet die
6 Eignung dieses Parameters zur Verlaufsbeurteilung eines Myo-
kardinfarktes und zur Detektion eines Reinfarktes.
128 Kapitel 9 · Enzyme in Forschung, Diagnostik und Therapie

A B

. Abb. 9.2 Komplex der HIV-Protease mit dem Inhibitor Ritonavir. A Raumstruktur des HIV-Protease-Ritonavir-Komplexes (Bändermodell). Der Inhibitor
(rot) ist als Ball-und-Stab-Modell gezeigt. B Chemische Struktur von Ritonavir. Die OH-Gruppe des Moleküls (rot) ist an der Interaktion mit einem der Aspar-
tatreste im aktiven Zentrum der HIV-Protease beteiligt. (PDB ID 1hxw)

. Tab. 9.1 Therapeutisch eingesetzte Enzyminhibitoren (Auswahl)

Zielenzym Pharmakon Hemm-Mechanismus Anwendungsbeispiel

9 Angiotensin-converting enzyme (ACE) Lisinopril Kompetitiv Antihypertensivum


(7 Kap. 65.4.3)

Carboanhydrase Acetazolamid Kompetitiv Glaukom-Therapeutikum


(7 Kap. 61.1.2)

Cyclooxygenase (COX-1) Acetylsalicylsäure Covalente Modifikation Antiphlogistikum


(7 Kap. 22.3.2)

Glycopeptidtranspeptidase Penicillin Suizidsubstrat Antibiotikum


(7 Kap. 16.2.4)

HIV-Protease Ritonavir Übergangszustandsanalogon Virostatikum


(7 Kap. 12.3)

HMG-CoA-Reduktase Lovastatin Kompetitiv Cholesterinsenker


(7 Kap. 23.1) (Statin)

Phosphodiesterase Sildenafil Kompetitiv Therapie der erektilen


(PDE5-Isoenzym) Dysfunktion
(7 Kap. 35.6.2)

Thrombin Antithrombin III (ATIII) Suizidsubstrat Antikoagulans


(7 Kap. 69.1.4)

Thymidylatsynthase Fluorouracil Suizidsubstrat Cytostatikum


(7 Kap. 30.2 und 31.1.2)

Xanthinoxidase Allopurinol Suizidsubstrat Uricostaticum


(7 Kap. 29.4)

Der Anstieg der Myoglobinkonzentration im Serum unmit- Die in . Abb. 9.1 aufgeführten Proteine und Enzyme werden
telbar nach einem akuten Myokardinfarkt zeigt eine nekrotische infolge nekrotischer Veränderungen aus dem Myokard freige-
Schädigung des Herzmuskels mit hoher Sensitivität an. Die feh- setzt. Für die Abschätzung eines Infarktrisikos und für die Beur-
lende Kardiospezifität des Myoglobins relativiert jedoch dessen teilung des Therapieverlaufes nach einem Myocardinfarkt kön-
Bedeutung als Infarktmarker. Ursache der geringen Bedeutung nen auch Biomarker wie Myeloperoxidase (7 Kap. 70), Matrix-
der LDH-Analytik im Rahmen der Diagnostik des akuten Myo- Metalloproteasen (7 Kap. 71.2) und C-reaktives Protein (7 Kap.
kardinfarktes ist der späte und vergleichsweise moderate intrava- 67.3 und 70.11) herangezogen werden, die auf entzündliche Pro-
sale Anstieg des auch außerhalb des Herzmuskels vorkommen- zesse am Herzmuskel hinweisen.
den LDH-1-Isoenzyms (7 Kap. 7.3).
9.3 · Enzyme als Zielstrukturen von Pharmaka
129 9
9.3 Enzyme als Zielstrukturen von Pharmaka ten von Enzymen führen. Die Bedeutung dieses Phänomens soll
an einem therapeutisch bedeutsamen Beispiel demonstriert wer-
Eine Vielzahl moderner Pharmaka wirkt durch die den: Eine Vielzahl von Arzneimitteln wird in der Leber durch das
spezifische Hemmung von Enzymen Cytochrom-P450-Enzymsystem (7 Kap. 62.3) chemisch verän-
Die molekulare Grundlage der Wirkung eines Pharmakons be- dert (»metabolisiert«). Beim Menschen wurden mehr als 50 Gene
steht in dessen möglichst spezifischer Wechselwirkung mit sei- identifiziert, die Cytochrom-P450-Enzyme (CYP-Enzyme) codie-
ner Zielstruktur (target). Zu den therapeutisch bedeutsamen ren. CYP2D6 (EC 1.14.14.1) ist an der Metabolisierung von etwa
Zielstrukturen gehören verschiedenste bakterielle, virale, funga- einem Viertel aller verschreibungspflichtigen Medikamente be-
le und humane Enzyme, deren Aktivität durch Enzyminhibito- teiligt. Zur interindividuellen Variabilität der CYP2D6-Aktivität
ren gehemmt werden kann. Ein zentrales Erfordernis der mole- trägt die Existenz von mehr als 70 Allelvarianten mit unter-
kularen Modellierung von Hemmstoffen mit therapeutischem schiedlicher katalytischer Aktivität und/oder Expression, aber
Einsatzpotenzial ist neben der Kenntnis der katalysierten Reak- auch eine individuell unterschiedliche Kopienzahl des CYP2D6-
tion die Verfügbarkeit einer hochaufgelösten Raumstruktur des Gens bei. Während in Europa 7–10 % der Bevölkerung »lang-
target-Enzyms. Man bezeichnet einen solchen multidisziplinä- same Metabolisierer« und nur 1–2 % »schnelle Metabolisierer«
ren Ansatz zur Schaffung hochwirksamer Medikamente bei in Bezug auf CYP2D6 sind, ist die Situation in Asien invers. Diese
gleichzeitiger Minimierung unerwünschter Nebenwirkungen als Situation ist z. B. bei der Therapie des Mammakarzinoms mit
strukturbasiertes (rationales) drug design. dem Östrogenrezeptorantagonisten Tamoxifen von Bedeutung.
Eine Auswahl von Pharmaka, deren therapeutische Wirkung Tamoxifen ist ein »Prodrug«, das erst durch CYP2D6 in die phar-
in der Hemmung eines bestimmten Enzyms besteht, ist in . Tab. makologisch aktive Form (Endoxifen) umgewandelt wird. Trä-
9.1 zusammengestellt. Beispielgebend soll hier auf Inhibitoren gerinnen einer genetischen Variante mit niedriger CYP2D6-
der HIV-Protease eingegangen werden, die im Rahmen der Aktivität ziehen daher keinen oder einen nur geringen Nutzen
AIDS-Therapie zum Einsatz kommen. Die für den Replikations- aus einer Behandlung mit Tamoxifen. Eine Optimierung der
zyklus des HI-Virus (7 Kap. 12.3) benötigte HIV-Protease ist ein Tamoxifen-Therapie wird durch die Verfügbarkeit von Biochips
homodimeres Enzym aus der Familie der Aspartatproteasen, das unterstützt, die eine Identifizierung der Allelvarianten des
im aktiven Zentrum zwei am Katalysemechanismus beteiligte CYP2D6-Enzyms gestatten. Bei der Interpretation der Biochip-
Aspartatreste besitzt. Die Aufklärung der Raumstruktur der Daten muss berücksichtigt werden, dass auch nicht-genomische
HIV-Protease und ihres Reaktionsmechanismus sowie die Faktoren wie Hormone und Medikamente die CYP2D6-Aktivi-
Kenntnis des natürlichen Polypeptidsubstrates eröffnete die tät modulieren. So bewirken Glucocorticoide (7 Kap. 40.2) eine
Möglichkeit der Konstruktion von Übergangszustandsanaloga verstärkte Transkription des CYP2D6-Gens, während das zur
(7 Kap. 7.1), die das Enzym hochwirksam hemmen. Ritonavir antiretroviralen Therapie eingesetzte Ritonavir ( . Tab. 9.1,
(. Abb. 9.2) ist ein solcher durch strukturbasiertes drug design . Abb. 9.2) als Inhibitor des CYP2D6-Enzyms wirkt.
entwickelter Hemmstoff, der von der HIV-Protease mit sehr
hoher Affinität gebunden wird (Ki ca. 0,1 nmol/l).
Zunehmend begrenzt wird der klinische Einsatz von Zusammenfassung
Ritonavir durch die hohen Mutationsraten des retroviralen Die Bestimmung von Enzymaktivitäten und Metabolitkon-
Genoms, die zu einem Verlust der Hemmwirkung auf die zentrationen in Körperflüssigkeiten ist ein unverzichtbares
HIV-Protease führen können. Bemerkenswerterweise gewinnt Instrument der medizinischen Diagnostik. Zelluläre Enzyme,
in dieser Situation eine ursprünglich unerwünschte Neben- die in das Blut übertreten, können das geschädigte Organ
wirkung der Ritonavir-Therapie an Bedeutung: Ritonavir identifizieren und Informationen über den Schweregrad und
hemmt Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen der Leber den Verlauf der Erkrankung sowie den Erfolg einer Therapie
(CYP3A4 und CYP2D6) und verlangsamt so den Abbau weiterer liefern.
Medikamente wie Atazanavir, die im Rahmen einer antiretrovi- Die Aufklärung der Reaktionsmechanismen der Enzyme und
ralen Therapie Anwendung finden. ihrer Funktionen im Stoffwechsel sowie die Analyse ihrer
Eine zunehmende Zahl von Pharmaka wirkt als Enzymakti- Raumstrukturen hat zur Entwicklung hochwirksamer
vatoren. Beispiele hierfür sind die Aktivierung der löslichen Pharmaka geführt, die im Rahmen der kausalen Therapie
Guanylatcyclase durch NO-Pharmaka (7 Kap. 35.6) zur Verbes- einer Vielzahl von Erkrankungen Anwendung finden.
serung der Sauerstoffversorgung des Myocards und die Aktivie- Zu den vielfältigen Einsatzgebieten der Enzyme in der Medi-
rung von Plasminogen durch rekombinanten humanen Gewebe- zin gehören die Analyse und die gezielte Veränderung von
plasminogenaktivator (rh-tPA) zur Einleitung einer enzymati- Nucleinsäuren genauso wie die therapeutische Unterstüt-
schen Thrombolyse (7 Kap. 69). Von großem medizinischen zung von Körperfunktionen mit Hilfe rekombinanter huma-
Interesse sind auch Aktivatoren der Glucokinase im Rahmen ner Enzyme.
der Therapie des Typ-2-Diabetes. DNA-Polymorphismen führen zu individuell-unterschiedli-
chen Enzymausstattungen, deren Kenntnis zur Optimierung
Körpereigene Enzyme beeinflussen von Therapiekonzepten genutzt werden kann.
die Wirksamkeit von Pharmaka
DNA-Polymorphismen können zu einer individuell unterschied-
lichen Expression sowie zu individuell spezifischen Eigenschaf- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
10 Nucleinsäuren – Struktur und Funktion
Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich

Einleitung vermutlich die Desoxyribonucleinsäure als Informationsträger


durchgesetzt; lediglich in einigen Viren ist die Information in der
Nucleinsäuren wie DNA und RNA sind polymere Verbindungen, die aus RNA codiert.
Nucleotiden aufgebaut sind. Die DNA ist Träger der genetischen Informa-
tion, lediglich einige Viren nutzen RNA als Informationsträger. Bei Euka- Nucleinsäuren sind Polymere, aufgebaut
ryonten liegt die DNA im Zellkern vor, wo sie zusammen mit den Histon- aus Nucleotiden, die untereinander durch
proteinen den wesentlichen Teil des Chromatins ausmacht. RNA spielt Phosphodiesterbindungen verknüpft sind
eine entscheidende Rolle bei der Proteinbiosynthese. Sie ist Baustein der In . Abb. 10.1 ist ein hypothetisches Tetranucleotid aus je einem
Ribosomen, dient als Matrize für die Biosynthese von Proteinen, ist Trä- DNA- bzw. RNA-Strang dargestellt. Dabei gelten folgende Be-
gerin von aktivierten Aminosäuren und ist entscheidend an der Regula- sonderheiten:
tion der Genexpression beteiligt. 4 Nach Konvention wird das 5’-Phosphatende der Kette
(oben) an den Anfang, das 3’-OH-Ende (unten) an das Ende
Schwerpunkte der Kette geschrieben.
10 4 Aufbau der DNA-Doppelhelix
4 Die stickstoffhaltigen Purin- oder Pyrimidinbasen sind
stets über eine N-glycosidische Bindung an das C1’-Atom
4 Verpackung der DNA mit Hilfe von Proteinen zum Chromatin
4 Übertragung der genetischen Information der DNA über
RNA in Protein
4 Aufbau des menschlichen Genoms

1869 beschrieb Friedrich Miescher, dass im Zellkern eine phos-


phathaltige proteinfreie Substanz vorkommt, die er Nuclein
nannte. In späteren Jahren vermutete er, dass sie etwas mit dem
Fertilisierungsvorgang zu tun haben müsste. 1889 prägte Richard
Altmann den Begriff Nucleinsäure und 1893 identifizierte Alb-
recht Kossel die in Nucleinsäuren vorkommenden Basen und
Zuckerkomponenten.

10.1 Struktur und Funktion von DNA und RNA

Neben der Funktion der Nucleinsäuren als Informationsträger ist


die katalytische Funktion bestimmter Ribonucleinsäuren (Ribo-
zyme) von besonderer Bedeutung, so wird z. B. die Bildung der
Peptidbindung im Ribosom durch die ribosomale RNA kataly-
siert und nicht durch Proteine (7 Kap. 48.5). Katalytische RNA-
Moleküle, die die Fähigkeit besitzen, sich selbst zu replizieren,
waren darüber hinaus vermutlich wesentlich an der Entstehung
des Lebens aus einer präbiotischen Atmosphäre beteiligt: Die
sog. RNA-Welt-Hypothese geht davon aus, dass ursprünglich
RNA-Moleküle sowohl für die Informationsspeicherung als auch
für die Katalyse verantwortlich waren und die Trennung von In-
formationsspeicherung (DNA) und Katalyse (Proteine) erst
später erfolgte. Ribonucleinsäuren sind allerdings instabiler als
Desoxyribonucleinsäuren, besonders unter alkalischen Bedin-
gungen. Dabei ist die 2’-OH-Gruppe der Ribose direkt an der . Abb. 10.1 Primärstruktur eines hypothetischen DNA- bzw. RNA-Tetra-
hydrolytischen Spaltung der Phosphodiesterbindung der Ribo- nucleotids. Die Buchstaben A, T, G, C und U bezeichnen die Basen Adenin,
nucleinsäuren bei alkalischem pH-Wert beteiligt. Daher hat sich Thymin, Guanin, Cytosin und Uracil. (Einzelheiten s. Text)

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Phosphodiesterbindung Nucleinsäuren#
10.2 · Die DNA-Struktur
131 10
der Pentose gebunden (Ausnahme Pseudouridin, 10.2 Die DNA-Struktur
7 Kap. 3.4.1).
4 Die Verbindung zwischen den einzelnen Mononucleotiden 10.2.1 Die DNA-Doppelhelix
erfolgt durch eine Phosphodiesterbindung zwischen dem
C-Atom 3’ der einen Pentose und dem C-Atom 5’ der Erst 1944, also 75 Jahre nach der Erstbeschreibung der Nuclein-
nächsten. In der DNA ist diese 3’,5’-Bindung die einzig säuren, entdeckte Oswald Theodore Avery, dass DNA Trägerin
mögliche, da in der Desoxyribose keine weiteren Hydroxyl- der Erbmerkmale ist und nicht Proteine, wie von vielen Wissen-
gruppen für die Bindung von Phosphatestern zur Verfü- schaftlern postuliert worden war. Bis 1950 hatte schließlich Erwin
gung stehen. Auch in der RNA kommen am häufigsten Chargaff eine Reihe wichtiger Eigenschaften der DNA aufgeklärt:
3’,5’-Bindungen vor, obwohl auch 2’,5’-Bindungen möglich 4 Die Basenzusammensetzung der DNA ist speziesspezifisch.
sind, z. B. während des Spleißens (7 Kap. 46.3.3). 4 Aus verschiedenen Geweben der gleichen Art isolierte
DNA-Proben haben immer die gleiche Basenzusammen-
Die Struktur einer Nucleinsäurekette kann in abgekürzter Form setzung.
angegeben werden: 4 Innerhalb einer bestimmten Spezies ist die Basenzusam-
4 Die Buchstaben A, G, C und U oder T dienen dabei als mensetzung der DNA konstant und nicht vom Alter,
Symbole für die Basen. Ernährungszustand oder Veränderungen der Umgebung
4 Der Buchstabe p bezeichnet Phosphat. p auf der linken abhängig.
Seite der Nucleosidabkürzung stellt eine 4 Aufgrund der Tatsache, dass die Purinbase Adenin immer
5’-Zuckerphosphatbindung dar, auf der rechten Seite der mit der Pyrimidinbase Thymin paart, und die Purinbase
Nucleosidabkürzung eine 3’-Zuckerphosphatbindung. Guanin immer mit der Pyrimidinbase Cytosin (Chargaff-
4 Mit dem Präfix d wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich Regel), ergibt sich, dass in allen untersuchten DNA-Proben
um ein Desoxyribonucleotid handelt. die Anzahl der Adeninreste gleich der Anzahl der Thymin-
reste ist. Ebenso ist die Anzahl der Guaninreste stets gleich
So wird beispielsweise mit dem Ausdruck dpG Desoxyguano- der Anzahl der Cytosinreste. Daraus folgt, dass die Summe
sin-5’-Phosphat bezeichnet. Ein dGp steht dagegen für Desoxy- der Purinnucleotide gleich der Summe der Pyrimidinnucle-
guanosin-3’-Phosphat. Die in . Abb. 10.1 dargestellten Tetranuc- otide sein muss (A + G = T + C).
leotide würden in der Kurzschreibweise als d(pA-T-G-C) bzw.
pA-U-G-C bezeichnet werden. Damit werden als Verknüpfung Trotz dieser Erkenntnisse waren der DNA-Aufbau und der Me-
Phosphodiesterbindungen zwischen dem C-Atom 3’ des einen chanismus der Informationsspeicherung und -wiedergabe durch
Zuckermoleküls und dem C-Atom 5’ des nächsten angenommen. die DNA völlig rätselhaft. Rosalind Franklin und Maurice Wil-
Aufgrund der Phosphatgruppen sind Nucleinsäuren starke kins stellten als erste röntgenkristallographische Untersuchun-
mehrbasige Säuren, die bei pH-Werten über 4 vollständig disso- gen über die DNA an und schlossen auf eine spiralige Struktur
ziiert sind. DNA und RNA unterscheiden sich nicht nur durch (s. 7 Übrigens Der Weg zur Doppelhelix und . Abb. 10.2). Erst
die Art der als Basenbestandteile verwendeten Zucker, sondern James Watson und Francis Crick gingen von der Annahme aus,
auch durch die Basenzusammensetzung: dass im DNA-Molekül Wasserstoffbrückenbindungen zwischen
4 In der DNA kommen Adenin, Guanin, Thymin und Cyto- den Basen vorhanden sind und schlugen 1953 ein Modell für die
sin vor. DNA-Struktur vor, das sich schließlich als richtig erwies (. Abb.
4 In der RNA findet sich in der Regel statt der Pyrimidinbase 10.3A). Es handelt sich um die B-DNA. Ihre Struktur ergibt sich
Thymin das Uracil. Die Verwendung von Thymin (5-Me- aufgrund von Wasserstoffbrückenbindungen und hydrophoben
thyluracil) anstelle von Uracil in der DNA ist notwendig, da Wechselwirkungen (. Abb. 10.3B):
Uracil auch durch spontane Desaminierung aus Cytosin 4 B-DNA besteht aus zwei helicalen Polydesoxynucleotid-
entstehen kann. Diese spontan und häufig auftretende strängen, die sich um eine gemeinsame Achse winden.
Mutation wird über spezielle DNA-Reparatursysteme Dabei verlaufen die Stränge in entgegengesetzter Richtung,
(7 Kap. 45.2) erkannt und behoben, was allerdings nur ge- sind also antiparallel.
lingen kann, weil Uracil nicht natürlicherweise in der DNA 4 B-DNA bildet eine rechtsgängige Doppelhelix mit etwa 10
vorkommt. Basenpaaren pro Windung auf einer Länge von 3,4 nm. Der
Durchmesser dieser Helix liegt bei 2 nm.
4 Die Basen zeigen in das Innere der Helix und sind planar
Zusammenfassung übereinander angeordnet. Über van der Waals-Kräfte und
Nucleotidbausteine bilden durch Verknüpfung über Phos- hydrophobe Wechselwirkungen tragen diese »Basenstapel«
phorsäurediesterbrücken zwischen den C-Atomen 3’ und 5’ zusätzlich zur Stabilität der DNA bei. Die Zucker-Phosphat-
der Ribose bzw. Desoxyribose lange kettenförmige Mole- Reste sind nach außen orientiert und bilden das negativ ge-
küle, die Nucleinsäuren. In DNA-Molekülen kommen aus- ladene Rückgrat der DNA-Doppelhelix.
schließlich Desoxyribonucleotide vor, in RNA-Molekülen 4 Benachbarte Basen entlang der Helixachse sind 0,34 nm
Ribonucleotide. DNA und RNA unterscheiden sich auch voneinander entfernt und um 36° gegeneinander verdreht.
durch die Basenzusammensetzung. 4 Die B-DNA weist eine große Furche (Breite 1–2 nm) und
eine kleine Furche (Breite 0,6 nm) auf; in diesen Bereichen
132 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

A kann die Basensequenz der DNA von DNA-interagierenden


Proteinen erkannt werden.
4 Die beiden DNA-Einzelstränge werden durch Wasserstoff-
brückenbindungen zwischen jeweils zwei Basen zusam-
mengehalten.
4 Guanin und Cytosin können drei, Adenin und Thymin
zwei Wasserstoffbrücken ausbilden (. Abb. 10.4).

Übrigens
Der Weg zur Doppelhelix
Einer der wichtigsten und wohl folgenreichsten Beiträge
zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich
auf den 25. April 1953 datieren. An diesem Tag erschien in
dem britischen Magazin Nature – auf nur zwei Seiten – die Ver-
öffentlichung eines Modells für den Stoff, aus dem die Gene
bestehen. Im britischen Cambridge schlugen der Amerikaner
James D. Watson (*1928) und der Brite Francis Crick (1916–
2004) eine grandiose Struktur für eine Säure (acid) vor, die im
19. Jahrhundert im Zellkern entdeckt worden war und seitdem
Desoxyribonucleinsäure (DNS, heute nur noch DNA) hieß: die
Watson-Crick-Doppelhelix. Diese stellt ein Molekül zur Verfü-
10 gung, dessen Struktur unmittelbar erkennen lässt, wie grundle-
gende biologische Funktionen zustande gebracht werden kön-
nen – nämlich die Verdoppelung des Erbmaterials als Vorstufe
der Vermehrung von Zellen und Organismen.
Wie kamen Watson und Crick zu ihrer Entdeckung?
Sie erkannten in ihren endlosen Diskussionen (die andere
Mitarbeiter des Cavendish Laboratoriums in Cambridge der-
art nervten, dass man den beiden ein gemeinsames Büro
gab), dass es wichtig sei, »sich nicht all zu sehr auf irgend-
welche experimentellen Einzelergebnisse zu verlassen«,
denn »sie könnten sich als irreführend herausstellen«. Man
musste damit rechnen, dass Messdaten schlichtweg falsch
waren und deswegen in die Irre führen könnten – so schwer
B verständlich dies für Außenstehende auch sein mag. Diese
Möglichkeit machte es zum Beispiel sinnlos, von einem Mo-
dell zu erwarten, dass es alle (gemessenen) Eigenschaften
seines natürlichen Vorbildes auf einmal erklärt. Die beiden
sagten sich, dass nicht Präzision und Detailbesessenheit in
erster Linie wichtig seien, sondern Mut und Phantasie. So
wichtig in vielen Fällen Genauigkeit ist, sie stellt keinen Wert
an sich dar. Und eine begrenzte Schlampigkeit im Denken
kann manchmal weiter führen als die größte Sorgfalt. Nicht
die perfekte Beherrschung des komplizierten Handwerks-
zeugs entscheidet über Erfolg und Misserfolg, sondern die
richtige Fragestellung, und die lautete im Frühjahr 1953:
»Wie sieht die Substanz, aus der Gene bestehen, aus? Welche
Struktur hat die DNA?«
Von dem Physiker Maurice Wilkins hatten Watson und Crick
erfahren, dass Rosalind Franklin Röntgenstrukturaufnahmen
von DNA erhalten hatte, die keinen Zweifel daran ließen,
dass DNA eine Helixstruktur haben musste. Sie konnte eine
neue Form der DNA sichtbar machen, die heute berühmte B-
Form, die sich von der bislang immer in den Experimenten
. Abb. 10.2 A Die vier Entdecker der DNA-Doppelhelix, B Röntgenbild 6
kristallisierter DNA. (© The Nobel Foundation)
10.2 · Die DNA-Struktur
133 10
A

. Abb. 10.3 Struktur der DNA-Doppelhelix Typ B. A Atommodell in


der Seitenansicht. Die Basen sind grün, das Rückgrat aus Desoxyribose und
Phosphat ist violett gefärbt. B Struktur eines kurzen DNA-Abschnitts in
Seitenansicht. Die Basen sind grün und die Desoxyribosen violett gefärbt.
(B Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung von Taylor
u. Francis)

verwendeten A-Struktur dadurch unterschied, dass sie mehr dem Chemiker Erwin Chargaff in New York neueste Ergeb-
Wasser enthielt. Frau Franklin wollte diese Daten für sich be- nisse zur DNA-Basenstöchiometrie erfahren hatten. In der
halten – was ihr offenbar niemand verübelt hat – aber Wat- Folge wurden sie von dem amerikanischen Kristallographen
son und Crick wussten sich auf verschiedenen Wegen, diese Jerry Donohue darauf hingewiesen, dass die vier Basen der
Informationen zu beschaffen – was ihnen alle Welt verübel- DNA eine andere Struktur haben, als in den Lehrbüchern
te. Das Röntgenbild der DNA, das Rosalind Franklin ihren dargestellt war. Trotz dieser Information kam die Arbeit nicht
Kollegen nicht zeigen wollte, lässt im Wesentlichen ein Kreuz automatisch zum Ziel, weil weder Crick noch Watson eine
erkennen, womit nicht nur die Schraubenstruktur der DNA Idee hatten, wie sie die großen Basen Adenin (A) und Gua-
festliegt, sondern sogar eine Doppelhelixstruktur (. Abb. nin (G) und die kleinen Basen Cytosin (C) und Thymin (T) an-
10.2B). ordnen sollten.
Der Durchbruch zur richtigen Struktur des Erbmaterials Wochenlang haben die beiden versucht, A mit A und T mit T
konnte aber erst gelingen, nachdem Watson und Crick von zu paaren, weil sie (ohne wissenschaftliche Grundlage)
6 6

3’-Ende# 5’-Ende#
134 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

glücklichen Zufall gemacht wurde, ließ es sich Francis Crick


nicht nehmen, mit seiner bekannt lauten Stimme im Gast-
haus »Eagle«, das dem Cavendish Laboratorium gegenüber
lag, lautstark zu verkünden, das Geheimnis des Lebens sei
soeben gelüftet worden; eine kühne Behauptung, denn die
Doppelhelix löst nicht das Geheimnis des Lebens, die Dop-
pelhelix ist es.

Der größte Teil der DNA liegt in vivo als B-DNA vor (Watson-
Crick-Struktur). Grundsätzlich anders aufgebaut ist die Z-DNA
(. Abb. 10.5). Bei dieser DNA-Form handelt es sich um eine links-
gängige Doppelhelix, die im Vergleich zur B-DNA gestreckter ist
und deren große und kleine Furchen weniger stark ausgebildet
sind. Die Z-DNA macht insgesamt nur einen sehr kleinen Teil der
zellulären DNA aus und findet sich v. a. in GC-reichen DNA-Se-
. Abb. 10.4 Ausbildung von Wasserstoffbrücken (Basenpaarungen) quenzen. Über ihre biologische Bedeutung ist lange spekuliert
zwischen Adenin (A) und Thymin (T) bzw. Cytosin (C) und Guanin (G). worden; erst durch die Charakterisierung von Proteinen, die spe-
Die Wasserstoffbrücken sind blau gestrichelt, das Phosphat der Phospho- zifisch mit der Z-DNA interagieren, ist eine Beteiligung am RNA-
diesterbindung rot
Editing (7 Kap. 47.2.4) gezeigt worden. Darüber hinaus ist die
Z-DNA sehr immunogen: Z-DNA spezifische Antikörper finden
10 sich häufig bei Autoimmunerkrankungen, z. B. bei Systemi-
meinten, eine Gleiches-mit-Gleichem-Theorie würde ange- schem Lupus erythematodes. Die A-DNA (. Abb. 10.5) entsteht
messen wiedergeben, was in der Natur vorliegt. Erst die neu- nur bei experimenteller Dehydratisierung der B-DNA und stellt
en biochemischen Strukturen zwangen sie zum Umdenken. die kompakteste DNA-Form dar. Wahrscheinlich kommt die A-
Die Sternstunde zur Lösung der Basenanordnung in der DNA in vivo nicht vor, jedoch nehmen DNA-RNA-Doppelhelices
DNA beschreibt Watson in seinem Buch The Double Helix: und RNA-RNA-Doppelhelices die A-Konformation an; vermut-
»Plötzlich merkte ich, dass ein durch zwei Wasserstoffbin- lich verhindert die OH-Gruppe an C2 in der RNA sterisch die
dungen zusammengehaltenes Adenin-Thymin-Paar dieselbe Ausbildung einer B-Konformation. Wichtige strukturelle Eigen-
Gestalt hatte wie ein Guanin-Cytosin-Paar, das durch drei schaften der verschiedenen DNA-Strukturen sind in . Abb. 10.5
Wasserstoffbrücken zusammengehalten wurde. Alle diese zusammengestellt.
Wasserstoffbindungen schienen sich ganz natürlich zu bil-
den. Es waren keine Schwindeleien nötig, um diese zwei
Typen von Basenpaaren in eine identische Form zu brin- 10.2.2 Topologie der DNA
gen … Ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt das Rätsel gelöst
hatten, warum die Zahl der Purine immer genau der Zahl der Auch die B-DNA als wichtigste biologische Konformation der
Pyrimidine entsprach, wie dies von Erwin Chargaff bereits DNA zeigt keine vollständig ausgestreckte und homogene Struk-
publiziert worden war. Diese Entsprechung erwies sich tur, sondern weist sequenzabhängige Abweichungen auf. Diese
plötzlich als notwendige Folge der doppelspiralförmigen Abweichungen von der helicalen Struktur sind wichtig für die
Struktur der DNA. Aber noch aufregender war, dass dieser Erkennung bestimmter DNA-Bereiche durch DNA-interagie-
Typ von Doppelhelix ein Schema für die Autoreproduktion rende Proteine und deshalb entscheidend für die Prozesse der
ergab, das viel befriedigender war als das Gleiches-mit-Glei- Replikation, Transkription, Rekombination, Transposition und
chem-Schema, das ich eine Zeitlang in Erwägung gezogen für die Integration viraler DNA. Die durch die Abweichung von
hatte. Wenn sich Adenin immer mit Thymin und Guanin im- der helicalen Struktur entstehende größere Instabilität der DNA
mer mit Cytosin paarte, so bedeutete das, dass die Basenfol- erleichtert zwar Proteinen die Interaktion mit der DNA, sie er-
gen in den beiden verschlungenen Ketten komplementär höht aber auch das Risiko von Mutationen, z. B. durch erhöhte
waren. War die Reihenfolge der Basen in einer Kette Empfindlichkeit gegenüber mutagenen Substanzen und gegen-
gegeben, so folgte daraus automatisch die Basenfolge der über Strangbrüchen. Sequenzabschnitte, die eine von der B-Kon-
anderen Kette. Es war daher begrifflich sehr einfach, sich formation abweichende Struktur bilden, werden deshalb häufig
vorzustellen, wie eine einzige Kette als Gussform für den in Tumorzellen und bei manchen neurologischen Erkrankungen
Aufbau einer Kette mit der komplementären Sequenz gefunden, z. B. bei Dystrophia myotonica und Friedreich-Ataxie.
dienen konnte«.
Nach dieser Jahrhundertentdeckung, die nicht aufgrund Palindromsequenzen können zu kreuzförmigen
logischer Überlegungen, sondern letztlich durch einen Strukturen führen
6 Palindrome sind eine häufige Ursache für eine von der B-DNA
abweichende Konformation. Man versteht hierunter generell
10.2 · Die DNA-Struktur
135 10

. Abb. 10.5 Strukturen von B-, A- und Z-DNA in Seitenansicht. Atommodelle der drei verschiedenen DNA-Konformationen. In der Tabelle sind die wich-
tigsten Struktureigenschaften von B-, A- und Z-DNA zusammengefasst

Sätze, die – egal ob von links nach rechts oder von rechts nach derte Konformation der DNA-Cisplatin-Addukte führt vermehrt
links gelesen – immer die gleiche Buchstabenreihenfolge erge- zu Strangbrüchen, die die Apoptose der Tumorzellen auslösen
ben. Ein Beispiel hierfür ist z. B. »Anni meide die Minna«. (7 Kap. 45.1 und 51.1).
Derartige DNA-Bereiche sind mit sich selbst komplemen-
tär,  da sie umgekehrte Wiederholungssequenzen (inverted Durch Superspiralisierung entstehen
repeats) enthalten. Inverted repeats findet man z. B. in den kompaktere DNA-Formen
DNA-Bindungsregionen von Rezeptoren der Steroidhormon- Die genomische DNA vieler Prokaryonten und Viren, aber auch
familie (7 Kap. 35.1). Bezogen auf doppelsträngige DNA stellen die mitochondriale DNA der Eukaryonten, ist ringförmig, d. h.
Palindrome Sequenzelemente mit zweifacher Symmetrie dar: die beiden DNA-Stränge bilden eine geschlossene Struktur ohne
Wie in . Abb. 10.6A gezeigt, lassen sich die Sequenzele- freie Enden. Bei der DNA-Replikation und -Transkription muss
mente  (hellblau unterlegte Sequenzen) zur Deckung bringen, der Doppelstrang allerdings lokal entwunden werden, was
indem sie zunächst 180° um eine horizontale Achse und an- zwangsläufig eine erhöhte Torsionsspannung im übrigen Teil der
schließend 180° um eine vertikale Achse gedreht werden. Sie sind DNA-Doppelhelix auslöst.
unter bestimmten Bedingungen imstande, haarnadelförmige Die genomische DNA der Eukaryonten ist zwar linear, aber
(hairpin) oder kreuzförmige (cruciform) Strukturen auszubilden die DNA-Stränge sind durch den Kontakt mit Proteinen eben-
(. Abb. 10.6B, C). falls zumindest partiell fixiert, d. h. das Problem der Torsion-
Wegen der in Längsrichtung hohen Flexibilität der DNA spannung besteht auch hier. Es leuchtet ein, dass sich die durch
können auch DNA-interagierende Proteine eine Konformations- lokale Entwindungen ausgelösten sog. Superhelices nicht unbe-
änderung der DNA auslösen. So bewirkt z. B. die Bindung des grenzt entwickeln dürfen, sondern dass die Zelle über Möglich-
TATA-box binding protein (TBP) einen starken Knick in der keiten verfügen muss, die Abweichungen vom normalen Win-
DNA. TBP bindet an adenin- und thyminreiche DNA-Abschnit- dungszustand zu beheben. Dies geschieht durch lokale Spaltung
te und die ausgelöste Konformationsänderung wird für die Tran- der Phosphodiesterbindung in einem oder in beiden Strängen
skription der meisten eukaryontischen Gene benötigt (7 Kap. der DNA-Doppelhelix und einer nachfolgenden Entspiralisie-
46.3.2). Konformationsänderungen der DNA können auch durch rung. Danach werden die Enden der DNA-Stränge wieder ver-
Medikamente ausgelöst werden. Cisplatin, eine zur Behandlung knüpft. Die hierfür verantwortlichen Enzyme sind die Topoiso-
von z. B. Hodentumoren eingesetzte Verbindung, führt zur che- merasen. Details zum Mechnismus dieser Enzyme werden in
mischen Quervernetzung der beiden DNA-Stränge. Die verän- 7 Kap. 44.3 beschrieben.
136 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

B C

10

. Abb. 10.6 Palindrome und Ausbildung von Haarnadel- bzw. kreuz-


förmigen DNA-Strukturen. A Darstellung einer palindromischen DNA-
Sequenz. Der rote Punkt stellt den Schnittpunkt einer horizontalen und
einer vertikalen Symmetrieachse dar. B In einzelsträngiger DNA können mit
sich selbst komplementäre Sequenzen Haarnadelstrukturen ausbilden.
C In doppelsträngiger DNA entstehen aus inverted repeats kreuzförmige
Strukturen

10.2.3 Der Aufbau des Chromatins im Zellkern. Sie bildet dort einen Komplex mit verschiedenen
Proteinen, der als Chromatin bezeichnet wird. In Anbetracht der
Der DNA-Gehalt von Säugetierzellen liegt je nach Spezies zwi- riesigen Konturlänge muss die DNA sehr dicht verpackt sein.
schen 4 und 8 pg/Zelle. Dies ist mehr als 1.000-mal so viel wie der Hierfür ist ihre Assoziation mit den Histonproteinen unter Bil-
DNA-Gehalt von Mikroorganismen. Die höchsten Werte zeigen dung von Nucleosomen von besonderer Bedeutung.
die Zellen höherer Pflanzen mit mehr als dem 104fachen des
DNA-Gehaltes von Bakterienzellen. Dementsprechend variabel Histone sind DNA-bindende Proteine
ist auch die sog. Konturlänge der DNA. Dieser Wert ergibt sich Histone (. Tab. 10.1) kommen in fünf unterschiedlichen Formen
unter der Annahme, dass die gesamte DNA einer Zelle als linea- vor und zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an basischen
res Makromolekül vorliegen würde. E. coli hätte demnach eine
Konturlänge von 1,36 mm, die diploide humane DNA dagegen . Tab. 10.1 Die fünf wichtigsten humanen Histonproteine*
eine Konturlänge von etwa 1,8 m pro Zelle! Dies bedeutet, dass
die Gesamt-DNA eines erwachsenen Menschen (bei einer Bezeichnung % Arginin % Lysin Molekülmasse
Zellzahl von etwa 1014) eine Länge von etwa 2∙1011 km besitzt, (kDa)
also mehr als die 1 000-fache Entfernung zwischen Erde und H1 11 29 19–23
Sonne (1,5∙108 km). Im Allgemeinen ist es jedoch üblich, die
H2A 19 11 14
Größe von DNA-Abschnitten durch die Zahl der Basen (base, b)
oder Basenpaare (base pairs, bp) anzugeben. Ein DNA-Einzel- H2B 16 16 14
strang von 1 kb Größe besteht demnach aus 103 Basen, einer von H3 13 10 15
1 Mb aus 106 Basen usw.
H4 14 11 11
Die DNA prokaryontischer Mikroorganismen ist meist ring-
förmig als stark gefaltetes Gebilde im Cytoplasma lokalisiert. Im * Die prozentualen Anteile der basischen Aminosäuren wurden aus
den in Datenbanken hinterlegten Sequenzen ermittelt (http://
Gegensatz dazu befindet sich die DNA aller eukaryontischen
www.ncbi.nlm.nih.gov).
Zellen mit Ausnahme der mitochondrialen DNA (7 Kap. 12.7)
10.2 · Die DNA-Struktur
137 10

. Abb. 10.7A Dreidimensionale Strukturen der Histone. Strukturen der Kernhistone H2A, H2B, H3 und H4 und des linker-Histons H1. Von dem linker-
Histon H1 ist bislang nur die Struktur der globulären (core) Domäne gelöst. Die Abbildungen wurden mit dem Programm ProteinWorkshop 2.0 erstellt.
PDB-Koordinaten: 1AO1 und 1GHC Dreidimensionale Strukturen der Histone

Aminosäuren aus. Die Histone H2A, H2B, H3 und H4 sind be- 4 Die Bildung eines stabilen Nucleosomenkerns beginnt mit
sonders hoch konservierte Proteine, d.h. sie unterscheiden sich der Heterodimerisierung der Histonproteine H3 und H4.
beim Vergleich zwischen verschiedenartigen Spezies nur durch Zwei derartige Dimere bilden anschließend ein (H3–H4)2-
sehr wenige Aminosäuren. Diese Tatsache spricht für ihre beson- Tetramer.
dere Bedeutung bei der DNA-Kondensation im Zellkern. Das 4 Die Histone H2A und H2B bilden ebenfalls Heterodimere,
Histon H1 ist dagegen geringer konserviert, existiert in gewebs- welche auf beiden Seiten des (H3-H4)2-Tetramers angela-
spezifischen Isoformen und zeigt eine abweichende 3D-Struktur gert werden.
(. Abb. 10.7A). Das gehäufte Vorkommen basischer Aminosäure- 4 Das auf diese Weise gebildete Histonoctamer der Zusam-
reste in den genannten Histonproteinen dient der Neutralisie- mensetzung (H2A-H2B)-(H4-H3)-(H3-H4)-(H2B-H2A)
rung des polyanionischen DNA-Rückgrats und erleichtert so die bildet eine scheibenförmige Struktur, um die 146–147 Ba-
Faltung von Nucleosomen zu höheren Strukturordnungen. senpaare DNA gewunden sind. Die DNA bildet dabei eine
Da inzwischen die Histonproteine ganz unterschiedlicher flache Superhelix mit 1,8 Windungen.
Spezies kloniert, sequenziert und kristallisiert wurden, sind ge- 4 Die Schwanzdomänen ragen aus dem globulären Histon-
sicherte Daten über ihre Raumstruktur vorhanden. Die Histo- octamer heraus und sind daher für Modifikationen (s. u.)
ne H2A, H2B, H3 und H4 zeigen einen sehr ähnlichen Aufbau zugänglich.
(. Abb. 10.7A). C-terminal befinden sich α-helicale Abschnitte,
von denen je drei eine Domäne bilden, die mit DNA interagieren Das Histon H1 nimmt nicht an der Bildung des Histonoctamers
kann und die auch als histone fold bezeichnet wird. Etwa 20– teil, ist jedoch für die Stabilisierung der DNA auf den Histon-
40 Aminosäuren bilden die sog. »Schwanz«-Domäne der Histo- octameren und die Aufrechterhaltung höherer Ordnungen der
ne (histone tails). Diese sind im N-terminalen Abschnitt aller Chromatinstruktur von Bedeutung. H1-Histone bilden eine Fa-
4 Histonproteine lokalisiert, darüber hinaus aber auch am C- milie von sog. linker-Histonen (Verbindungshistone) und sind
Terminus des Histons H2A. Die Schwanzdomänen der Histone mit den DNA-Zwischenstücken zwischen den Nucleosomen
spielen eine wichtige Rolle bei den regulierten Änderungen der (linker-DNA) assoziiert. Neben den Histonen werden für die Aus-
Nucleosomenstruktur während Replikation und Transkription bildung des Nucleosoms auch histonspezifische Chaperone benö-
(7 Kap. 44 und 47.2.1). tigt, die die Histone mit der DNA zusammenfügen und die ver-
Neben den fünf genannten Histonen kommen besonders in mutlich auch an der Positionierung der Nucleosomen beteiligt
Vertebraten noch einige seltene Histonisoformen vor. So wird sind.
z. B. statt H2A punktuell die Variante H2AX in Nucleosomen
eingebaut, die bei Doppelstrangbrüchen DNA-Reparaturenzyme Nucleosomen ordnen sich zu einer linksgängigen
rekrutiert. An den Centromeren (7 Kap. 43.2) findet man die H3- Helix, der 30-nm-Faser
Variante CENP-A (centromere protein A), die an der Bindung des Wie aus . Abb. 10.9 zu entnehmen ist, bilden Nucleosomen eine
Spindelapparates beteiligt ist. In manchen Vertebraten ist H1 perlenschnurartige Struktur (auch beads-on-a-string-Struktur
durch eine sechste Histonform, das H5 ersetzt. genannt), wobei die zwischen den einzelnen Nucleosomenparti-
keln gelegene sog. Verbindungs-DNA (linker-DNA) in ihrer Län-
Nucleosomen sind die unterste Organisationsebene ge variabel ist, in der Regel aber etwa 50–60 Basenpaare umfasst.
des Chromatins Das Histon H1 verschließt gewissermaßen das Nucleosom und
Die Erkenntnisse über den Aufbau der Histonproteine haben zu bestimmt die Länge der Verbindungs-DNA. Die Bildung der Nu-
einer molekularen Beschreibung des bereits 1974 von Ro- cleosomen führt zu einer etwa 7fachen Kondensation der DNA.
ger G.R. Kornberg beschriebenen Nucleosoms geführt (. Abb. Bei physiologischen Salzkonzentrationen bildet die Nucleo-
10.8). Nucleosomen enthalten einen aus den Histonproteinen somenkette eine 30 nm dicke Faser. Sie entsteht durch spiralför-
gebildeten sog. Nucleosomenkern (nucleosome core), um den die mige Aufwicklung der Nucleosomenkette, wobei jede Windung
DNA gewunden ist (. Abb. 10.7B): etwa 6 Nucleosomen enthält (. Abb. 10.9B, C). Dabei reagieren
138 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

10

. Abb. 10.7B Dreidimensionale Strukturen der Histone. Schrittweise Assemblierung des Nucleosomenkerns. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach
Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung von Taylor u. Francis)
10.2 · Die DNA-Struktur
139 10
A B

. Abb. 10.8 Struktur eines Nucleosomenkerns. A Aufsicht auf die DNA-Superhelix. Die Histone H2A, H2B, H3 und H4 sind gelb, rot, blau bzw. grün einge-
färbt, die DNA hellgrau. B Ansicht derselben Struktur nach einer Drehung um 90° um die senkrechte Achse. (Einzelheiten s. Text). (Aus Luger et al. 1997, mit
freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd)

die positiv geladenen Schwanzdomänen der Histone mit negativ merartige Struktur die replizierten Chromosomen (Tochterchro-
geladenen Bereichen im H2A/H2B-Heterodimer. Dieses sog. So- matiden) bis zur Zellteilung zusammenhält, wobei die ATP-Hy-
lenoid wird ebenfalls durch H1-Moleküle stabilisiert und kon- drolyse eine Kontraktion oder Ausdehnung der Klammer er-
densiert die DNA etwa 100fach. laubt. Während der Mitose (7 Kap. 43.3) wird Kleisin spezifisch
Die 30-nm-Faser faltet sich schließlich zu vielen Schleifen, gespalten und die replizierten Chromosomen können auf die
die durchschnittlich etwa 20.000 bp enthalten. Diese Schleifen Tochterzellen verteilt werden. Über die weitere Strukturbildung
werden durch ein Proteingerüst stabilisiert, das im Wesentlichen zu den Chromosomen, die im Vergleich zur DNA-Doppelhelix
aus dem Histon H1 und sog. Nicht-Histonproteinen aufgebaut etwa um den Faktor 10.000 kondensiert sein müssen, ist nur we-
ist. Diese Proteine machen insgesamt etwa 10 % der Proteinmen- nig bekannt.
ge von Chromosomen aus. Die häufigsten sind Typ-II-Topoiso-
merasen (7 Kap. 44.3), die die durch die Kondensation auftre- Die posttranslationale Modifikation
tenden Superspiralisierungen auflösen können, und SMC-Prote- von Histonen reguliert die Kondensation der DNA
ine (structural maintenance of chromosome). Bei SMC- Proteinen und die Genexpression
handelt es sich um große (1.000‒1.500 Aminosäuren) ATP-bin- Die maximale Kondensation der DNA tritt lediglich während der
dende Proteine, die mit den Metaphase-Chromosomen (7 Kap. Metaphase des Zellzyklus (7 Kap. 43.3) auf, d. h. in der Phase, in
43.3) assoziiert vorliegen. Zusammen mit Histonen und Topo- der die Chromosomen auf die Tochterzellen verteilt werden
isomerasen stellen sie die häufigsten Chromatinproteine dar. müssen. Für die Replikation und Transkription muss die DNA
Ein SMC-Monomer besteht aus einer ATPase-Domäne, die über aber zumindest lokal entfaltet sein. Daher wird die Fähigkeit der
eine lange coiled-coil-Struktur (eine Helix, welche ihrerseits zu Histone, mit der DNA zu interagieren, über posttranslationale
einer Helix mit größerem Radius gewunden ist) mit einer Ge- Modifikationen reguliert. Hierbei werden im Wesentlichen die
lenkdomäne verbunden ist (. Abb. 10.10). SMC-Proteine sind positiven Ladungen der Histone maskiert, oder es werden nega-
universell konserviert und finden sich sowohl in Bakterien als tive Ladungen eingefügt. Die posttranslationale Modifikation
auch in Eukaryonten, wobei Eukaryonten zwei Klassen von der Histone dient aber nicht allein dazu, ihre Interaktionen mit
SMC-Proteinen besitzen, die Kondensine und die Kohäsine. der DNA zu modulieren. Zusätzlich ist das Modifizierungsmus-
Beiden Klassen ist gemeinsam, dass sie über ihre Gelenkdomä- ter der Histone (der sog. Histoncode) auch für die Rekrutierung
nen dimerisieren. Kondensine sind über die gesamte Länge der weiterer chromatinbindender Proteine verantwortlich, z. B. wäh-
Chromosomen verteilt und führen in einer ATP-abhängigen Re- rend der DNA-Reparatur oder der Transkription.
aktion supercoils in die DNA ein, was zu einer verstärkten Kon- Die wichtigsten Histonmodifikationen sind:
densation der DNA führt. Kohäsine dagegen sind nur an be- 4 Acetylierung
stimmten Stellen der Chromosomen zu finden und scheinen eine 4 Methylierung
klammerähnliche Struktur zu bilden, die durch Kleisin, ein wei- 4 Phosphorylierung
teres Protein, stabilisiert wird. Es wird vermutet, dass diese klam- 4 Ubiquitinierung
140 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

A B

10

. Abb. 10.9 Die Kondensation der DNA. A Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Nucleosomen, die wie Perlen auf einer Kette (beads-on-a-string)
aufgereiht erscheinen. B 30-nm-Faser (Solenoid), die durch Interaktionen zwischen den Nucleosomen entsteht. (A, B aus Alberts et al. 2008, mit freund-
licher Genehmigung von Taylor und Francis). C Schematische Darstellung der DNA-Verpackung zum Chromosom. (Einzelheiten s. Text)

4 Sumoylierung
4 Mono- und Poly-ADP-Ribosylierung Zusammenfassung
DNA zeigt folgende Strukturmerkmale:
Die Anheftung von Ubiquitin bzw. Sumo (small ubiquitin-like 4 Der DNA-Einzelstrang ist ein Polydesoxyribonucleotid.
modifier) scheint Histone allerdings im Unterschied zu cytosoli- 4 Sein Rückgrat wird von Desoxyribosemolekülen gebil-
schen Proteinen nicht für den Abbau durch das Proteasom zu det, die durch Phosphodiesterbindungen verknüpft
markieren. Die Steuerung der Genexpression über Histonmodi- sind.
fikationen ist ein wichtiger Faktor bei der epigenetischen Verer- 4 Jede Desoxyribose trägt in N-glycosidischer Bindung
bung, d.h. der Weitergabe von Merkmalen durch Mechanismen, eine der vier Basen Adenin, Guanin, Thymin oder
die nicht DNA-Sequenz-gebunden sind. Sie werden in 7 Kap. Cytosin.
47.2.1 besprochen. 4 DNA liegt als Doppelhelix vor. Diese Struktur wird aus
zwei antiparallel verlaufenden DNA-Einzelsträngen
gebildet und durch die Basenpaarung von Adenin mit
6

DNA-Doppelhelix Nucleosomen Chromatin kondensiertes Chromosomen


10.3 · DNA als Trägerin der Erbinformation
141 10
A B Gelenk

Antiparallele
coiled-coil
Smc4 Domänen Smc2

Kopf-Domäne (bindet ATP)

50 nm

. Abb. 10.10 Struktur und Funktion der SMC (structural maintenance of chromosome)-Proteine für die DNA-Kondensation. A Elektronenmikroskopi-
sche Aufnahme eines gereinigten SMC-Dimers. Die klammerartige Struktur der SMC-Dimere erlaubt eine stabile Interaktion mit der DNA. (Aus Hirano 2006,
mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers Ltd). B Schematischer Aufbau eines SMC-Protein-Dimers. SMC-Proteine bilden Dimere, die über
eine Gelenkdomäne miteinander verbunden sind. Die Gelenkdomäne ist über eine flexible coiled-coil-Domäne mit der ATP-bindenden Kopfdomäne ver-
bunden. C Modell der SMC Funktion für die DNA-Kondensation. Der DNA-Doppelstrang ist in hellgrün gezeigt. (Einzelheiten s. Text)

4 Für die Medizin hat die Molekularbiologie die Entwicklung


Thymin sowie Guanin mit Cytosin stabilisiert. Stapel- einer Vielzahl neuer diagnostischer Verfahren ermöglicht.
kräfte zwischen den π -Elektronen der Purin- und Pyri- 4 Dank Molekularbiologie und Gentechnologie können in
midinringe spielen für die Stabilität der DNA ebenfalls einfach zu handhabenden Zellkulturen (Bakterien, Hefen,
eine Rolle. Säugerzellen) medizinisch wichtige Verbindungen wie Hor-
4 Bei Eukaryonten liegt die DNA im Zellkern als Komplex mone, Wachstumsfaktoren, Antikörper etc. hergestellt und
mit Histon- und Nicht-Histonproteinen vor. Diese Struk- für die Therapie vieler Erkrankungen eingesetzt werden.
tur wird als Chromatin bezeichnet. 4 Gentechnische Verfahren bieten die Möglichkeiten, Pflan-
4 Die Grundeinheit des Chromatins ist das Nucleosom, zen und Tiere so zu modifizieren, dass die Versorgung der
dessen Kern besteht aus den Histonproteinen H2A, H2B, ständig wachsenden Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln
H3 und H4. Um dieses Histon-Octamer windet sich die verbessert werden kann.
DNA. An die linker-DNA zwischen den Nucleosomen bin- 4 Es ist in Zukunft vorstellbar, schwer zu behandelnde Erb-
det das Histon H1, das entscheidend an der weiteren krankheiten durch gentechnische Verfahren zu heilen. Im
Verpackung der DNA beteiligt ist. Falle monogenetischer Immunerkrankungen (SCID, severe
combined immunodeficiency, z. B. aufgrund einer defekten
IL-2-Rezeptor γ-Kette oder eines Adenosindesaminase-
mangels) wurde dies bereits erfolgreich durchgeführt.
10.3 DNA als Trägerin der Erbinformation
Für die in der Auflistung genannten Einsatzgebiete muss das ge-
Mit der Identifizierung der DNA als Trägerin genetischer Infor- netische Material der entsprechenden Organismen – im Extrem-
mationen und ihrer anschließenden Strukturaufklärung kam es fall auch des Menschen – gentechnisch verändert werden. Da im
zur Entwicklung der Molekularbiologie. Die Verfahren der Gen- Einzelfall die damit verbundenen Konsequenzen nicht vollstän-
technik erweiterten schließlich das zur Verfügung stehende Ar- dig abzusehen sind, wird die Gentechnik in der Gesellschaft kon-
senal von Methoden: Sie haben zur Aufklärung der Struktur trovers diskutiert (7 Kap. 54 und 55).
nicht nur einfacher bakterieller Genome, sondern im Jahr 2003
auch des komplexen menschlichen Genoms geführt:
142 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

10.3.1 Das zentrale Dogma der Molekularbiologie

Bei jeder Zellteilung wird das Genom vollständig


verdoppelt
Bei der Zellteilung und Fortpflanzung ist es von großer Bedeu-
tung, dass eine möglichst genaue Kopie der gesamten DNA einer
parentalen Zelle für die entstehenden Tochterzellen gebildet
wird. Dieser Vorgang wird als Replikation bezeichnet und findet
bei eukaryontischen Zellen während der S-Phase (Synthesepha-
se) des Zellzyklus statt. Humane Zellen benötigen für die DNA-
Replikation etwa 6‒8 h. Die Einzelheiten dieses Vorgangs werden
in den 7 Kap. 43 und 44 beschrieben.

Zur Expression von Genen werden diese in RNA


transkribiert
Als Gen wird im Allgemeinen die Nucleotidsequenz bezeichnet, . Abb. 10.11 Erweitertes zentrales Dogma der Molekularbiologie.
die benötigt wird, um die als Basensequenz auf der DNA codier- (Einzelheiten s. Text)
te Information in einem Genprodukt zu realisieren. Dabei gilt
diese Definition unabhängig davon, ob es sich bei dem Genpro-
dukt um ein Protein oder eine RNA handelt, z. B. eine ribosoma- beim Vorgang der Informationsübertragung zwischen DNA und
le RNA oder transfer-RNA. Die Umsetzung der genetischen In- Protein nur die Richtung von der DNA zum Protein, nicht aber die
formation beginnt damit, dass die DNA-Sequenz eines Gens in umgekehrte Richtung eingeschlagen wird. In einem Proteinmole-
10 ein RNA-Molekül übersetzt wird. Dieser Vorgang wird als Trans- kül kann also nicht die Information zur DNA-Synthese gespeichert
kription bezeichnet und ist in 7 Kap. 46 und 47 beschrieben. Die sein. Nach der Entdeckung der reversen Transkriptase in Retro-
Gesamtheit der transkribierten Gene eines Organismus oder ei- viren wurde das ursprünglich von Francis Crick vorgeschlagene
nes Zelltyps nennt man auch Transkriptom. zentrale Dogma der Molekularbiologie um die Informationsüber-
Durch den Vorgang der Translation wird die in der messen- tragung von RNA in DNA erweitert. Die Informationsweitergabe
ger-RNA enthaltene Information in eine Aminosäuresequenz bei der Zellteilung setzt die DNA-Replikation voraus. Auch hier
übersetzt (7 Kap. 48). Die Gesamtheit aller synthetisierten Protei- wurde eine Ausnahme bei Polio- oder Reoviren gefunden. Im Ge-
ne wird als Proteom bezeichnet. nom dieser Viren sind RNA-abhängige RNA-Polymerasen codiert,
Die Aufklärung des Codes, mit dem die fortlaufende Sequenz die eine direkte Replikation des RNA-Genoms ermöglichen.
der Basen auf der DNA mit der Aminosäuresequenz eines Peptids
oder Proteins verknüpft ist, gehört zu den großen Leistungen der
molekularbiologischen Forschung. 10.3.2 Die Struktur von Genomen
Die DNA ist durch die festgelegte Sequenz der vier Basen
Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin gekennzeichnet. Nimmt Nach der Entdeckung, dass genetisch fixierte Eigenschaften von
man an, dass aus ihnen ein »Alphabet« mit den vier Buchsta- Organismen in der DNA verschlüsselt sind, war es natürlich von
ben A, T, G und C gebildet wird, lässt sich leicht berechnen, wie großem Interesse herauszufinden, wie die vielen für einen Orga-
viele Basen für die Festlegung einer Aminosäure benötigt wer- nismus typischen Gene in der Gesamtmenge seiner DNA, seinem
den. Bausteine aller Proteine sind die 20 unterschiedlichen pro- Genom, angeordnet sind. Das Genom bestimmter Viren besteht
teinogenen Aminosäuren. Wenn eine Folge von je 2 Basen eine nur aus wenigen tausend Basenpaaren, deshalb überlappen virale
Aminosäure beschreiben würde, wäre der Code unvollständig, Gene häufig. Im Unterschied hierzu sind bakterielle Genome be-
da mit ihm nur 42 = 16 Aminosäuren codiert werden könnten, reits deutlich größer und überlappende Gene selten. Allerdings ist
d. h. in der DNA wird eine Sequenz von mindestens 3 Basen die Gendichte des Bakterienchromosoms mit etwa 1.000 Ge-
benötigt. Diese kleinste Informationseinheit aus 3 Basen, das nen/1 Millionen Basenpaare (Mbp) sehr hoch und die gebildete
sog. Basentriplett, wird auch als Codon bezeichnet. Allerdings mRNA ist häufig polycistronisch, d. h. sie enthält die Information
können mit drei Basen schon 43 = 64 Aminosäuren codiert für mehrere Proteine. Bei Eukaryonten ist die Gendichte deutlich
werden. Wie man heute weiß, gibt es eine Reihe von Aminosäuren, niedriger als bei Bakterien (beim Menschen etwa 10 Gene/1 Mbp)
die durch mehr als ein Triplett codiert werden. Dieses Phänomen und die gebildete mRNA ist fast ausschließlich monocistronisch,
wird auch als Degeneration des genetischen Codes bezeichnet d. h. sie codiert nur für ein Protein (7 Kap. 46–48).
(7 Kap. 48.1). Unter Zugrundelegung dieser Codierung ist es Die kleinsten Genome findet man in Viren und Bakteriopha-
möglich, aus der Nucleotidsequenz eines Gens die Aminosäure- gen (Viren, die Bakterien als Wirtszellen benutzen). Da Viren
sequenz des codierten Polypeptids abzuleiten. und Bakteriophagen allerdings nicht zu einer selbstständigen
Das in . Abb. 10.11 dargestellte zentrale Dogma der Moleku- Lebensweise fähig sind, liefert deren Genom keinen Aufschluss
larbiologie formuliert die Beziehungen des Nucleinsäurestoff- darüber, wie viele Gene ein Organismus benötigt, um autonom
wechsels zu den wesentlichen zellulären Vorgängen und legt die leben zu können. Das Genom von Mycoplasma genitalium, ist das
Richtung des Informationsflusses fest. Entscheidend dabei ist, dass kleinste bislang sequenzierte Genom eines freilebenden Organis-
10.3 · DNA als Trägerin der Erbinformation
143 10
mus; es umfasst 0,58 Mbp und enthält 480 proteincodierende
Gene, wovon ein großer Teil (>30 %) für die Prozesse der Rep- . Tab. 10.2 Genomgröße und Genzahl verschiedener Organismen
likation, Transkription und Translation benötigt wird. Aller-
Organismus Genomgröße Zahl der Gene
dings sind von den 480 Genen nur etwa 260 Gene essentiell für (Mega-Basen-
das Überleben von M. genitalium. Ähnliche Ergebnisse wurden paare)
auch in dem Gram-positiven Bakterium Bacillus subtilis ge-
wonnen: von den etwa 4.000 Genen, die dieser Organismus HI-Virus (Virus) 0,009 9 (aus denen 15
verschiedene
besitzt, werden nur etwa 250 Gene benötigt, um den Organis-
Proteine syntheti-
mus zumindest unter Laborbedingungen am Leben zu erhalten. siert werden)
Daher kann man annehmen, dass für eine autonome Lebens-
Hämophilus influenzae 1,8 1.740
weise mindestens 250 proteincodierende Gene notwendig sind.
(Bakterium)
Aus der Definition eines minimalen Genoms ergibt sich prin-
zipiell die Möglichkeit, künstliches Leben zu erschaffen. Tat- Escherichia coli (Bakterium) 4,64 4.397
sächlich gelang es Eckhard Wimmer 2002 erstmalig, ein synthe- Saccharomyces cerevisiae 12,1 6.034
tisches Poliovirus zu erzeugen. Mittlerweile sind auch Bakte- (Bierhefe)
riophagen, Coronaviren und Bakterien künstlich hergestellt Caenorhabditis elegans 97 19.099
worden. (Fadenwurm)

Amoeba dubia (Amoebe) 670.000 Nicht bekannt


Nahezu alle Gene eukaryontischer Organismen
Arabidopsis thaliana (Blatt- 100 25.000
sind auf der chromosomalen DNA lokalisiert
pflanze)
Mit dem Fortschritt der technischen Möglichkeiten konnte die
genetische und strukturelle DNA-Analyse auch auf die wesent- Frittilaria assyriaca (Blatt- 120.000 Nicht bekannt
pflanze)
lich komplexer aufgebauten Genome zunächst niederer, später
auch höherer eukaryontischer Organismen einschließlich des Drosophila melanogaster 180 13.061
Menschen ausgeweitet werden. Die dabei gewonnenen Erkennt- (Taufliege)

nisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Homo sapiens (Mensch) 3.200 ca. 25.000
4 Auf der DNA sind die unterschiedlichen Gene in einer line-
aren Sequenz angeordnet. Überlappende Gene kommen
bei höheren Organismen nur sehr selten vor.
4 Im Unterschied zu Prokaryonten ist die Nucleotidsequenz Die bis heute durchgeführten Totalsequenzierungen der
eukaryontischer Gene nicht colinear mit der Aminosäure- Genome verschiedener Organismen haben eine Reihe überra-
sequenz des entstandenen Proteins, da eukaryontische schender Befunde erbracht, die in . Tab. 10.2 zusammengefasst
Gene aus codierenden Abschnitten (Exons) und nicht-co- sind.
dierenden Abschnitten (Introns) bestehen (7 Kap. 46.3.3). Das Genom eines komplexen Organismus wie das des Men-
4 Der Anteil der Introns in einem Gen kann sehr unter- schen ist etwa 1.500-mal größer als das eines einfachen Bakte-
schiedlich sein: während in dem gesamten Hefegenom nur riums. Auch die anderen untersuchten Vielzeller haben im Ver-
etwa 240 Introns existieren, kann ein einziges menschliches gleich zur Bakterienzelle um das 50- bis 100fach größere Geno-
Gen mehr als 100 Introns enthalten. Eine Ausnahme bilden me. Diese markanten Größenunterschiede spiegeln sich jedoch
die Histon-Gene beim Menschen, hier scheinen keine In- nicht in der Zahl der bei den einzelnen Organismen nachgewie-
trons vorzukommen. senen Gene wider. Im Vergleich zu Bakterien wie E. coli oder
4 Die auf der DNA lokalisierten Gene codieren für die ver- Bacillus subtilis, verfügt der Mensch lediglich über etwa 7-mal
schiedenen RNAs und für Proteine. mehr Gene. Besonders augenfällig ist der geringe Unterschied in
4 Außer im Zellkern kommt in tierischen Zellen DNA der Zahl der Gene beim Vergleich des Menschen mit dem Faden-
noch in Mitochondrien vor. Die mitochondriale DNA wurm oder der Taufliege. Aus diesen Beobachtungen muss man
codiert für wenige mitochondriale Proteine (7 Kap. 12.1.7) also schließen, dass die Komplexität eines u. a. mit einem kom-
und macht nur einen sehr kleinen Bruchteil der gesamten plizierten zentralen Nervensystem ausgestatteten vielzelligen
DNA aus. Säugetiers sich nicht ohne Weiteres aus der Zahl seiner Gene
ablesen lässt.
Die Zahl der Gene in eukaryontischen Organismen Diese fehlende Korrelation zwischen dem Gesamt-DNA-
ist nicht proportional zur DNA-Menge und Gehalt eines Organismus (Chromatin- oder C-Wert) und der
spiegelt nicht unbedingt die Komplexität eines Zahl seiner Gene wird als C-Wert-Paradoxon bezeichnet. Es
Organismus wider gibt allerdings auch keine strikte Korrelation zwischen der
Bislang sind die Genome von 120 eukaryontischen Organismen Genomgröße und dem Entwicklungszustand eines Organismus.
sequenziert worden (29 Vertebraten; 16 Invertebraten; 19 Proto- So besitzt die zur Familie der Liliengewächse zählende Fritillaria
zoen; 47 Pflanzen; 17 Pilze), von 1.844 prokaryontischen Orga- ein Genom von etwa 120.000 Mbp und das Genom einer ein-
nismen und von 2.748 Viren/Bakteriophagen (Stand Dezem- zelligen Amöbe ist etwa 200-mal größer als das Genom des
ber 2011; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/). Menschen.
144 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

. Abb. 10.12 Gen-Karte eines Teils des humanen Chromosoms 21. Die jeweiligen Abkürzungen stehen für in der angegebenen Region lokalisierte
Krankheitsgene (z. B. AML1, akute myeloische Leukämie; HCHWAD, hereditäre Amyloidose VIb). Die Zahlenangaben links vom Chromosom beschreiben
genetische Distanzen zwischen Genloci. Weitere Angaben sind unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ zu finden

10.3.3 Das menschliche Genom aus etwa 1.350 Basenpaaren, d. h. sie codiert für ein Protein
mit 450 Aminosäuren, was einer molekularen Masse von
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms hat etwa 50 kDa entspricht.
10 zu neuen Erkenntnissen über die Zusammenhänge 4 Die Analyse der für Proteine codierenden Gene ergibt eine
von Anzahl der Gene und deren Expression geführt klare Einteilung in eine Reihe unterschiedlicher Proteinfa-
Das humane Genom umfasst ca. 3.200 Mega-Basenpaare (Mbp). milien (. Abb. 10.13). Etwa 50 % der vorhergesagten Protei-
Diese sind inzwischen vollständig sequenziert, sodass die Zuord- ne lassen sich allerdings bisher noch nicht zuordnen. Dies
nung der etwa 25.000 menschlichen Gene zu den verschiedenen gilt im Übrigen für alle bisher sequenzierten Organismen:
Chromosomen möglich ist. Als Beispiel hierfür ist in . Abb. für etwa 50 % der vorhergesagten Proteine lässt sich bislang
10.12 ein Teil der Gen-Karte eines besonders kleinen humanen keine Funktion postulieren.
Chromosoms, nämlich des Chromosoms 21 dargestellt. Eine Lis- 4 Das menschliche Genom ähnelt dem bakteriellen Genom
te aller dort lokalisierten Sequenzen kann im Internet unter dahingehend, dass von den etwa 25.000 menschlichen
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ (National Center for Genen 7,5 % für Proteine codieren, die am Nucleinsäure-
Biotechnology Information) gefunden werden. stoffwechsel beteiligt sind (z. B. Replikation, Rekombina-
Erkenntnisse aus der Sequenzierung des humanen Ge- tion, Reparatur). Ebenso ist der Anteil der Gene, die für
noms sind: Stoffwechselenzyme codieren mit etwa 7‒8 % bei Bakterien
4 Die Gene sind nicht gleichmäßig auf die 46 menschlichen und beim Menschen sehr ähnlich, auch wenn natürlich die
Chromosomen verteilt. Genreiche Abschnitte wechseln sich absolute Zahl der Enzyme beim Menschen deutlich höher
mit Gen-armen Abschnitten ab; dies ist vermutlich der ist als bei Bakterien.
Grund für das Bandenmuster der Chromosomen nach 4 Im Unterschied zu Bakterien codiert das menschliche
Giemsa-Färbung. Die durchschnittliche Gendichte beträgt Genom allerdings für eine große Zahl von Transkriptions-
etwa 10 Gene/1 Mbp, bei einem durchschnittlichen Ab- faktoren sowie für Signal- und Regulatorproteine, die insge-
stand von etwa 40.000 bp zwischen den Genen. Besonders samt fast 20 % der codierenden Sequenz ausmachen. Zu-
wenige Gene finden sich auf Chromosom 13 (649 Gene) sätzlich codiert das menschliche Genom natürlich für eine
und dem Y-Chromosom (397 Gene), während Chromo- Vielzahl von Proteinen, die an der Immunabwehr beteiligt
som 1 sehr viele Gene (3.380) enthält. sind.
4 Überraschenderweise codieren nur etwa 2 % des Genoms
für Proteine, ribosomale RNA oder transfer-RNA. Aller- Es wird vermutet, dass humane Zellen trotz der nur etwa 25.000
dings sind die Introns häufig deutlich größer als die Exons protein-codierenden Gene etwa 150.000‒200.000 verschiedene
und machen daher in der Regel den größten Teil eines Gens Proteine bilden können. Vermutlich gelingt dies im Wesentli-
aus. Berücksichtigt man diese zu den Genen dazugehören- chen über zwei Mechanismen. Durch alternatives Spleißen
den Introns, dann beträgt der Genanteil im menschlichen (7 Kap. 47.2.3) können aus einem Gen mehrere verschiedene
Genom etwa 30 %. Genprodukte synthetisiert werden und durch posttranslationale
4 Ein durchschnittliches für Proteine codierendes Gen er- Modifikation (7 Kap. 49.3) können synthetisierte Proteine weiter
streckt sich über 27 kbp und enthält etwa 9 Introns. Die verändert werden, z. B. durch limitierte Proteolyse oder Glyco-
meisten Introns (234) sind im Gen für das Muskelprotein sylierung.
Titin vorhanden, während Histon-Gene keine Introns ent-
halten. Die codierende Sequenz besteht im Durchschnitt
10.3 · DNA als Trägerin der Erbinformation
145 10

. Abb. 10.13 Verteilung der Funktionen proteincodierender Gene in unterschiedlichen Genomen. Die Flächen der Tortendiagramme sind proportional
zur Zahl der Gene. Weitere Informationen unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ (National Center for Biotechnology Information, Stand Dezember
2011)

Das menschliche Genom enthält verschiedene 4 Transponierbare Sequenzen. In fast allen Pro-und Eu-
Arten von repetitiven Sequenzen karyonten finden sich DNA-Sequenzabschnitte, die die
Neben dem codierenden Anteil der Gene (Exons, ca. 2 % des Fähigkeit besitzen, ihre Position im Genom zu ändern. Sie
Genoms) und dem nicht-codierenden Anteil der Gene (Introns, werden deshalb als springende Gene oder Transposons
etwa 28 % des Genoms) enthält das menschliche Genom etwa bezeichnet. Je nach Länge wird zwischen SINE (short inter-
20 % bislang nicht charakterisierte Sequenzabschnitte. Die ver- spersed nuclear elements) bzw. LINE (long interspersed nuc-
bleibenden etwa 50 % bestehen aus Sequenzen mit einem hohen lear elements) unterschieden. Beim Menschen machen diese
Grad an Wiederholungen, sog. repetitiven Sequenzen. Man un- Sequenzen etwa 45 % des Genoms aus. Die Transposons
terscheidet im Einzelnen: scheinen keine Funktion zu besitzen, außer sich selbst zu
4 Einfache Sequenzwiederholungen (simple sequence re- erhalten, weshalb sie von Francis Crick als »egoistische
peats, SSR). Diese auch Satelliten-DNA genannten Abschnitte DNA« bezeichnet worden sind. Die Transposition erfolgt
machen etwa 3‒6 % des menschlichen Genoms aus und be- teilweise über ein RNA-Intermediat, das dann über eine
stehen aus repetitiven Sequenzen von etwa 2‒500 bp Länge. reverse Transkriptase wieder in DNA umgeschrieben wird.
Zu den SSRs zählen die Telomere (7 Kap. 44.5), die an den Diese als Retrotransposons bezeichneten Elemente sind
Chromosomenenden lokalisiert sind und bei denen die Se- vermutlich retroviralen Ursprungs.
quenzabfolge (TTAGGG) mehr als 1.500-mal wiederholt ist.
Zu den SSRs zählen auch die Centromere, an denen der Der nicht-codierende Anteil des Genoms ist ursprünglich als
Spindelapparat während der Zellteilung bindet (7 Kap. 13.2 »Ramsch-DNA« (junk-DNA) bezeichnet worden, allerdings zei-
und 43.2). Allerdings kann bislang nur wenigen SSRs eine gen neuere Untersuchungen, dass diese Bereiche eine ganz wich-
Funktion zugeordnet werden. Ganz kurze Sequenzwiederho- tige Rolle bei der Regulation der Genexpression spielen. Ein Ver-
lungen werden auch als STRs (short tandem repeats) bezeich- gleich der Genomsequenzen von Nagetieren (Rodentia) und
net; sie bestehen aus nur 2–5 sich wiederholenden Basenpaa- Beuteltieren (Marsupialia) zeigt, dass sich beide im Wesentlichen
ren. Individuelle Unterschiede in der Zahl der STR-Wieder- im nicht-codierenden Anteil des Genoms unterscheiden. Dies ist
holungen werden für genetische Profile genutzt, z. B. beim ein Hinweis darauf, dass der nicht-codierende Anteil des Ge-
Vaterschaftstest oder in der Gerichtsmedizin (Forensik) noms eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Arten spielt.
(7 Kap. 54).
146 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

Einzelnucleotid-Polymorphismen stellen die häufigs-


te DNA-Sequenzvariation des Humangenoms dar 1990 Man ist sich einig, dass das menschliche Genom vor
Unter einem Einzelnucleotidpolymorphismus (single nucleotide der Sequenzierung kartiert werden muss.
polymorphism, SNP) versteht man eine Sequenzvarianz in nur 1992 Francis Collins löst James Watson als Leiter des Projek-
einer Nucleotidbase innerhalb eines definierten DNA-Abschnitts tes ab. Verschiedene internationale Gruppen schlie-
zwischen verschiedenen Individuen einer Spezies. Wenn man ßen sich an.
diesen DNA-Abschnitt beim Menschen sequenziert, findet man 1997 Die internationalen Partner des Genomprojektes eini-
also bei einem bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung z. B. die gen sich während einer Tagung auf den Bermudas
Base T, beim Rest die Base C. SNPs machen etwa 90 % der gene- über die Bedingungen des öffentlichen Zugangs zu
tischen Unterschiede zwischen Individuen aus und können als den Sequenzdaten und verpflichten sich, Daten
genetische Marker dienen, deren Vererbung von Generation zu innerhalb von 24 Stunden zugänglich zu machen
Generation verfolgt werden kann. Man kennt inzwischen meh- (Bermuda-Prinzipien).
rere Millionen SNPs, von denen einige 10.000 in codierenden 1998 Craig Venter gründet die Firma Celera und kündigt die
Regionen liegen. Sie können, müssen aber nicht, Aminosäure- kommerzielle Sequenzierung des menschlichen Ge-
substitutionen verursachen. Liegen SNPs innerhalb von regula- noms nach einem einfacheren Verfahren an. Celera
torischen Regionen, so können sie zu Unterschieden in der Pro- wird sich nicht an die Bermuda-Prinzipien halten.
teinexpression führen. Gegenwärtig wird intensiv untersucht, 1999–2000 Durch internationale Kollaboration von Grup-
inwieweit bestimmte SNPs mit der individuellen Anfälligkeit für pen in den USA, Japan und Europa gelingt die voll-
bestimmte Erkrankungen korrelieren. ständige Sequenzierung der menschlichen Chromo-
somen 21 und 22.
2001 Zeitgleich wird die erste Rohsequenz des menschli-
Zusammenfassung chen Genoms, die etwa 90 % des Genoms umfasst,
10 Auf dem DNA-Doppelstrang sind die Gene in linearer Se- von der öffentlich geförderten Gruppe in der Zeit-
quenz lokalisiert. Während Bakterien über ein einziges ring- schrift Nature und von Craig Venter, Celera, in der Zeit-
förmiges DNA-Molekül verfügen, sind die DNA-Moleküle schrift Science veröffentlicht.
eukaryontischer Organismen auf die für jeden Organismus in 2003 Vorläufiger Abschluss der Sequenzierung des huma-
charakteristischer Zahl vorliegenden Chromosomen verteilt, nen Genoms; Aktualisierungen laufen noch immer
die allerdings erst während der Mitose sichtbar werden. So- (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/mapview/ – National
matische Zellen von Wirbeltieren enthalten einen diploiden, Center for Biotechnology Information).
Gameten dagegen nur einen haploiden Chromosomensatz.
Durch die Fortschritte der molekularbiologischen Verfahren
ist es inzwischen gelungen, die Genome von über 1.000 Or-
ganismen einschließlich des Menschen vollständig zu se- 10.4 Funktion und Struktur der RNA
quenzieren und zu analysieren. Als wichtiger Befund hat sich
dabei ergeben, dass keine direkte Beziehung zwischen der Zellen enthalten wesentlich mehr RNA als DNA, auch sind die
Komplexität eines Organismus und der Zahl seiner Gene be- Funktionen der RNA vielfältiger als die der DNA (. Tab. 10.3):
steht. Nur weniger als 2 % des menschlichen Genoms codie- 4 Aufgrund ihrer Fähigkeit zur spezifischen Basenpaarung
ren für Proteine, der Rest sind nicht-codierende Sequenzen, nimmt RNA an der Codierung und Decodierung geneti-
zu mehr als 50 % repetitive Sequenzen. scher Information teil und ist damit ein essentieller Be-
Die gesamte DNA einer Zelle macht deren Genom aus, die standteil der Transkriptions- und Translationsmaschinerie.
Gesamtzahl der in RNA transkribierten Gene, das Transkrip- 4 Im Gegensatz zur DNA können RNA-Moleküle über
tom und die Menge der in Proteine translatierten Gene das wichtige strukturgebende oder katalytische Eigenschaften
Proteom. verfügen. Sie sind Bestandteile z. B. der Ribosomen (7 Kap.
48), der Telomerase (7 Kap. 44) und des signal recognition
particle (SRP) (7 Kap. 49).
4 RNA-Moleküle dienen als Katalysatoren. Sie knüpfen die
Übrigens Peptidbindung bei der ribosomalen Proteinbiosynthese und
Geschichte eines gewaltigen Projektes sind am Vorgang des Spleißens der Prä-mRNA und der Prä-
1985 Charles De Lisi, Department of Energy, USA, diskutiert tRNA beteiligt. Häufig wird anstelle von Prä-mRNA auch
die Möglichkeiten der Sequenzierung des menschli- der Begriff hnRNA (heterogeneous nuclear-RNA) verwendet.
chen Genoms. Dies ist nicht ganz korrekt, da hnRNA nicht nur die zahlrei-
1988 James Watson gründet das Office of Human Genome chen Prä-mRNAs im Zellkern sondern auch alle Zwischen-
Research, später National Center for Human Genome stufen von Spleißprodukten der Prä-mRNA beschreibt.
Research und beginnt mit der Einwerbung öffentli- 4 RNA-Moleküle nehmen eine große Zahl regulatorischer
cher Mittel. Aufgaben wahr, die sich auf alle Aspekte der Genexpression
6 erstrecken, z. B. die Hemmung der Translation von mRNA
oder die Regulation der mRNA Stabilität (7 Kap. 47).
10.4 · Funktion und Struktur der RNA
147 10

. Tab. 10.3 Klassifizierung der RNA

Typ Bezeichnung Funktion Besprochen in Kapitel

Codierende RNA messenger-RNA (mRNA) Matrize bei der Proteinbiosynthese 46–48

Nicht-codierende RNA transfer-RNA (tRNA) Proteinbiosynthese 46–48


mit struktureller und
Ribosomale RNA (rRNA) Strukturelement der Ribosomen 46–48
z. T. katalytischer
Funktion Katalysator bei der Knüpfung der Peptidbin- 48
dung

small nuclear RNA (snRNA) Strukturelement der Spleißosomen 46

Spleißen der Prä-mRNA 46

small nucleolar RNA (snoRNA) Modifikation von RNA; Spleißen der Prä-rRNA 46

7SL-RNA im signal recognition particle Intrazellulärer Proteintransport 49


(SRP)

Ribonuclease P-RNA Reifung der Prä-tRNA 46

Telomerase-RNA DNA-Synthese an den Telomeren 44

Nicht-codierende RNA micro-RNA (miRNA) Abbau von mRNA 46


mit regulatorischer
small interfering RNA (siRNA) Hemmung der Translation 46
Funktion
Regulation der Genexpression

antisense-RNA Regulation der Genexpression 46

Xist-RNA Inaktivierung des X-Chromosoms 10


(X-inactive-specific transcript)

. Tab. 10.3 zeigt eine Einteilung der RNA-Moleküle nach funk- tRNA-Moleküls stattfinden, ergibt sich eine kleeblattförmi-
tionellen Gesichtspunkten. ge Sekundärstruktur (. Abb. 10.14B). Aus Röntgenstruktur-
analysen weiß man allerdings, dass die verschiedenen
Codierende RNA Messenger-RNAs (mRNA) dienen als Matrize Schleifen sehr eng beieinander liegen, sodass sich insgesamt
bei der Proteinbiosynthese. Sie entstehen aus Prä-mRNAs, den das Bild eines L-förmigen Stäbchens ergibt (. Abb. 10.14C).
primären Transkripten der für Proteine codierenden Gene (beim 4 Ribosomale RNA (rRNA) kommt in verschiedenen Frak-
Menschen ca. 25.000). Die einzelnen Schritte dieser Reaktions- tionen mit Sedimentationskoeffizienten zwischen 5S und
folge sind komplex, da sie nicht nur die Anheftung einer cap- 28S und entsprechend unterschiedlichen molekularen
Gruppe und eines Poly(A)-Endes beinhalten, sondern auch die Massen vor. Sie sind Bestandteile der Ribosomen. Die
Entfernung der Introns, die nicht für Proteine codieren 28S-rRNA spielt als Ribozym (katalytisch aktive RNA) bei
(7 Kap. 46.3.3). der ribosomalen Proteinbiosynthese als Peptidyltransferase
eine entscheidende Rolle für die Knüpfung der Peptidbin-
Nicht-codierende RNA mit strukturellen und z. T. katalytischen dung (7 Kap. 48.5).
Funktionen Diese umfangreiche, nicht für Proteine codierende 4 Small nuclear RNAs (snRNA) sind eine Klasse kleiner
Gruppe von RNA-Molekülen (non-coding RNA) nimmt entwe- RNA-Moleküle (von einigen hundert Nucleotiden Länge),
der als struktureller Bestandteil und/oder als Katalysator an ver- die sich im Zellkern befinden. Sie sind v. a. am Spleißen
schiedenen Aspekten der Genexpression teil: der Prä-mRNA (7 Kap. 46.3.3) beteiligt und immer mit
4 Transfer-RNAs (tRNAs) dienen nach Beladung mit der je- Proteinen zu small nuclear ribonucleoproteins (snRNPs)
weiligen Aminosäure als Adaptermoleküle für die Protein- assoziiert.
biosynthese (7 Kap. 48.2). Da in Proteinen insgesamt 20 un- 4 Small nucleolar RNAs (snoRNA) sind eine Klasse kleiner
terschiedliche Aminosäuren vorkommen können (mit Sele- RNA-Moleküle (etwa 100–170 Nucleotide), die im Nucleo-
nocystein sind es sogar 21, 7 Kap. 3.3.2 und 60), muss die lus lokalisiert sind. Zusammen mit Proteinen sind sie an der
Minimalausstattung einer Zelle aus wenigstens 20 tRNA- Modifikation von RNA-Molekülen beteiligt. Hierzu gehört
Molekülen bestehen. In Wirklichkeit liegt diese Zahl aber die 2’-O-Methylierung von Riboseresten oder der Einbau
höher, da für die einzelnen Aminosäuren eine unterschied- von Pseudouridinen.
liche Zahl von Codons (Degeneration des genetischen 4 Ribonuclease P-RNA. Ribonuclease P ist an der Prozessie-
Codes) vorkommt. Allen tRNA-Molekülen liegt ein ge- rung der Prä-tRNA beteiligt und unterscheidet sich von an-
meinsamer Bauplan zugrunde. Sie bestehen aus je 65– deren Ribonucleasen durch das Vorhandensein einer RNA,
110 Nucleotiden. Unter der Annahme, dass die maximal die zusammen mit dem Proteinanteil für die enzymatische
möglichen Basenpaarungen innerhalb eines einkettigen Aktivität essentiell ist.
148 Kapitel 10 · Nucleinsäuren – Struktur und Funktion

B C

. Abb. 10.14 Struktur einer tRNA. A Primär-, B Sekundärstruktur (Kleeblattstruktur), C 3D-Struktur der Phenylalanin-tRNA. Rot: Aminosäureakzeptorstelle
(CCA); gelb: Anticodon; grün: D (Dihydrouridin)-Schleife; blau: Ψ (Pseudouridin)-Schleife. (A, B Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung
von Taylor u. Francis, C PDB 1EVV)
10
4 Telomerase-RNA ist Bestandteil des Enzyms Telomerase
und wird für die Verlängerung der Telomeren-DNA wäh- Zusammenfassung
rend der DNA-Replikation benötigt (7 Kap. 44.5). Zur Expression der auf der DNA codierten Information ist de-
ren Transkription notwendig. Die dabei entstehende RNA
Nicht-codierende RNA mit regulatorischen Funktionen Nicht- wird in verschiedene Klassen eingeteilt:
codierende RNA-Moleküle haben eine Vielzahl von regulatori- 4 mRNA entsteht aus den als Prä-mRNA bezeichneten
schen Funktionen im gesamten Bereich der Genexpression. Aus Transkripten der proteincodierenden Gene und dient als
der ständig wachsenden Zahl derartiger regulatorischer RNAs Matrize bei der Proteinbiosynthese.
sollen stellvertretend vier Gruppen erwähnt werden: 4 Nicht-codierende RNAs mit strukturellen/katalyti-
4 micro-RNA (miRNA) und small interfering RNA (siRNA) schen Funktionen. Zu ihnen gehören v. a. die als Adap-
sind kleine, aus 20–30 Nucleotiden bestehende RNA-Mole- ter der Proteinbiosynthese dienenden tRNAs und die ri-
küle, die aus größeren Vorläufern herausgeschnitten wer- bosomalen RNAs. snRNAs und snoRNAs haben katalyti-
den. Sie dienen der Regulation der mRNA-Stabilität bzw. sche Funktionen beim Spleißvorgang und bei RNA-Mo-
der Hemmung der Translation (7 Kap. 47). difikationen. Ebenfalls katalytisch aktiv ist die RNA der
4 antisense-Transkripte sind in antisense-Richtung syntheti- Ribonuclease P. Die Telomerase-RNA wird für die Verlän-
sierte Transkripte von proteincodierenden Genen. Bisher gerung der Telomeren-DNA benötigt. Die SRP-RNA ist
sind im menschlichen Genom einige tausend derartiger am intrazellulären Proteintransport beteiligt.
Transkripte nachgewiesen worden, die die Genexpression 4 Nicht-codierende RNAs mit regulatorischen Funktio-
inhibieren können. nen. Eine große Zahl nicht-codierender RNAs hat regula-
4 Xist-RNA (X-inactive specific transcript, 16.481 Nucleotide torische Funktionen. miRNAs und siRNAs sind kleine
Länge) wird benötigt, um bei weiblichen Individuen eines RNAs, die den Abbau von mRNA regulieren bzw. die
der beiden X-Chromosomen zu inaktivieren. Translation hemmen können. Antisense-Transkripte von
proteincodierenden Genen sind große RNA-Transkripte,
Neben diesen im Zellkern codierten RNA-Spezies existiert in die für die Regulation der Genexpression benötigt wer-
geringen Mengen noch mitochondriale mRNA, rRNA und den. Darüber hinaus gibt es weitere regulatorische
tRNA. RNAs, z. B. für die Inaktivierung von X-Chromosomen
(Xist-RNA).

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


149 11

11 Biomembranen
Lutz Graeve, Matthias Müller

Einleitung membran durch einen hohen Anteil an Phosphatidylcholin und


Sphingolipiden aus, dagegen sind Phosphatidylserin, Phospha-
Alle lebenden Zellen sind von mindestens einer in sich geschlossenen tidylethanolamin und Phosphatidylinositol vorwiegend auf der
Biomembran umgeben, die das Zellinnere von der Umgebung abtrennt Innenseite der Lipiddoppelschicht zu finden (. Abb. 11.2). Diese
und somit den Stoffaustausch zwischen Zelle und Umwelt begrenzt. Da- Lipidasymmetrie muss unter Energieaufwand generiert und auf-
mit stellt die Biomembran eine der essentiellen Grundstrukturen des rechterhalten werden. Bei sterbenden Zellen, z. B. während einer
Lebens dar. Die irreversible Zerstörung der Zellmembran führt unmittel- Apoptose (7 Kap. 51), geht diese Asymmetrie verloren. Das Auf-
bar zum Zelltod. Alle höheren Zellen haben dazu intrazelluläre Reak- tauchen von Phosphatidylserin auf der Membranaußenseite
tionsräume (Zellorganellen) gebildet, die durch mindestens eine kann durch Bindung des Proteins Annexin 5 nachgewiesen wer-
Biomembran begrenzt werden. In diesem Kapitel werden grundlegende den und dient als Hinweis auf eine ablaufende Apoptose.
Eigenschaften von Biomembranen vorgestellt. Membranen unterschiedlicher Herkunft zeigen außerdem
eine unterschiedliche Lipidzusammensetzung. Beispielsweise ist
Schwerpunkte der Anteil an Cholesterin in der Plasmamembran meist höher als
in intrazellulären Membranen, der von Phosphatidylcholin dage-
4 Aufbau von Biomembranen und ihre physikochemischen
gen kleiner (. Abb. 11.3). Mitochondriale Membranen enthalten
Eigenschaften
beträchtliche Mengen an Cardiolipin, das in anderen Membranen
4 Membranmikrodomänen
nur in Spuren zu finden ist. (7 Abb. 3.6; . Abb. 11.3). Diese Un-
4 Membranproteine und Transport durch Membranen
gleichverteilung von Lipiden in verschiedenen zellulären Mem-
4 Biosynthese von Membranen
branen ist insofern überraschend, da viele dieser Membranen
(z. B. ER, Golgi-Apparat und Plasmamembran) durch einen vesi-
kulären Transport miteinander kommunizieren und ständig Lipi-
11.1 Aufbau und Eigenschaften de austauschen. Der Einbau von Lipiden in die Transportvesikel
von Biomembranen findet also nicht statistisch, sondern kontrolliert statt.

Biologische Membranen stellen eine unverzichtbare


Grundstruktur jeder Zelle dar. Sie sind für die 11.2 Membranfluidität
Abgrenzung der Zelle nach außen (Plasma-
membran) und für die Gliederung des Zellinneren Biologische Membranen besitzen nach unserer
in verschiedene Kompartimente verantwortlich heutigen Vorstellung eine flüssig-kristalline Struktur
Die strukturelle Grundlage aller zellulären Membranen ist die Bei biologischen Membranen können zwei Zustände unterschie-
Lipiddoppelschicht, die durch Zusammenlagerung amphiphiler den werden, der flüssig-geordnete und der flüssig-ungeord-
Lipide zustande kommt. Dies sind im Wesentlichen: nete Zustand (. Abb. 11.4). In welchem Zustand eine Membran
4 Die Phosphoglycerolipide: Phosphatidylcholin, vorliegt, hängt von der Lipidzusammensetzung und der Um-
Phosphatidylethanolamin, Phosphatidylserin und gebungstemperatur ab:
Phosphatidylinositol, 4 Bei einem hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren,
4 die Sphingolipide: Sphingomyelin und die Glykosphin- Sphingolipiden und Cholesterin, wird die Membran v. a.
golipide sowie bei niedrigen Temperaturen eher im flüssig-geordneten
4 Cholesterin (7 Kap. 3.2). Zustand vorliegen. Hierbei sind die Alkanketten der Fett-
säurereste von Membranlipiden dicht gepackt und maxi-
Die amphiphilen Lipide lagern sich dabei derart zusammen, mal gestreckt.
dass eine Doppelschicht entsteht, bei der die hydrophoben An- 4 Ein hoher Anteil an ungesättigten Fettsäuren und höhere
teile zueinander nach innen und die hydrophilen Kopfgruppen Temperaturen führen dagegen zu einem flüssig-ungeordne-
nach außen zum wässrigen Milieu weisen (. Abb. 11.1 und ten Zustand der Membran, bei dem die Beweglichkeit der
. Abb. 11.6). Lipide in der Membran deutlich zunimmt.
Biologische Membranen sind üblicherweise in sich selbst ge-
schlossen. Die Verteilung der Lipide zwischen den beiden Mem- Der Übergang von der geordneten in die ungeordnete Phase wird
branhalbschichten (membrane leaflets) ist dabei asymmetrisch. auch als Schmelzen der Membran bezeichnet, die zum Schmel-
So zeichnet sich die äußere Halbschicht einer tierischen Plasma- zen benötigte Temperatur als Schmelzpunkt.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
150 Kapitel 11 · Biomembranen

11

. Abb. 11.1 Lipidstruktur einer Zellmembran. Die schematische Darstellung zeigt einen Ausschnitt aus der Zellmembran mit der asymmetrischen Vertei-
lung von Phospholipiden (Phosphatidylcholin außen, Phosphatidylserin und -ethanolamin innen) und Sphingo- und Glykolipiden (außen) auf den beiden
Seiten der Lipiddoppelschicht. Im mittleren Teil bilden die Lipide ein lipid raft (orange), das besonders cholesterinreich ist und in dem die Phospho- und
Sphingolipide überwiegend gesättigte Fettsäurereste enthalten. Im lipid raft sind außerdem zwei lipidverankerte Proteine dargestellt, das extrazelluläre ist
mit einem Glycosyl-Phosphatidylinositol-Anker mit der Membran verhaftet. (Adaptiert nach Simons, K. und Ikonen, E., 2000)

Biologische Membranen haben in Abhängigkeit von der Ket- von Cholesterin führt zu einer Verbreiterung des Temperaturbe-
tenlänge und der Zahl der Doppelbindungen der vorkommen- reichs, in dem die Membran schmilzt und erhöht auch die Mem-
den Fettsäuren einen Schmelzpunkt zwischen 10 °C und 40 °C. branstabilität.
Je länger die Kohlenwasserstoffketten und je geringer die Zahl
der Doppelbindungen umso höher liegt der Schmelzpunkt. Kalt-
wasserfische besitzen einen besonders hohen Anteil an mehrfach 11.3 Lipid rafts oder membrane rafts
ungesättigten Fettsäuren, damit ihre Membranen auch bei nied-
rigen Temperaturen noch fluide sind. Das von Singer-Nicholson in den 70er Jahren des letzten Jahr-
Auch Natrium-, Kalium- und Calciumionen und Anteil und hunderts entwickelte Fluid-Mosaic-Modell der Biomembran
Art der Membranproteine beeinflussen die Membranfluidität. postulierte, dass Lipide wie auch Proteine innerhalb des Lipid-
Ein weiterer wichtiger Parameter ist der Cholesterinanteil. Cho- bilayers lateral frei diffundieren können und somit innerhalb
lesterin lagert sich zwischen die Fettsäurereste, seine polare OH- einer Membranhalbschicht eine homogene Verteilung der Lipid-
Gruppe weist dabei in Richtung der hydrophilen Kopfgruppen moleküle vorliegt. Im Gegensatz hierzu haben sich in den letzten
der Phospho- und Sphingolipide (. Abb. 11.1). Die Einlagerung Jahren Hinweise ergeben, dass die Lipide innerhalb der Mem-
11.3 · Lipid rafts oder membrane rafts
151 11

. Abb. 11.4 Lipidmembranen können in unterschiedlichen Aggregatzu-


ständen vorliegen. In Abhängigkeit von der Zusammensetzung und der
Umgebungstemperatur liegen Membranen im flüssig-geordneten oder
flüssig-ungeordneten Zustand vor. Hoher Anteil an mehrfach ungesättigten
Fettsäuren und hohe Temperaturen erhöhen die Fluidität der Membran

. Abb. 11.2 Asymmetrische Verteilung von Phospholipiden in der Plas-


mamembran. Die verschiedenen Phospho- und Sphingolipide verteilen
sich nicht statistisch über beide Membranhalbschichten. (Erläuterungen
s. Text)

. Abb. 11.5 Organisation von lipid/membrane rafts und Caveolae in


Membranen. A Lipid/membrane rafts sind reich an Cholesterin und Sphin-
. Abb. 11.3 Unterschiedliche zelluläre Membranen haben eine unter-
golipiden und bilden eine flüssig-geordnete Phase in der flüssig-ungeord-
schiedliche Zusammensetzung. Prozentuale Verteilung verschiedener
neten Lipiddoppelschicht. B Caveoline verfügen über Bindungsdomänen
Lipide in unterschiedlichen Membranen eines Hepatocyten aus der Ratte.
für Cholesterin und lagern sich haarnadelförmig in die flüssig-geordneten
(Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
Domänen von Membranen ein, ohne diese vollständig zu durchqueren.
Über eine Dimerisierungsdomäne (blau) bilden sich Dimere, die über
bran inhomogen verteilt sein können und dadurch Areale höhe- C-terminale Bereiche (grün) oligomerisieren. Dies führt zur Ausbildung
von Caveolae und ggf. zur Abschnürung von Vesikeln. (Adaptiert nach
rer (flüssig-ungeordnet) und niedrigerer (flüssig-geordnet) Razani et al. 2002)
Membranfluidität nebeneinander existieren (sog. Mikrodomä-
nen). Hierbei kommt es durch Zusammenlagerung v. a. von
Sphingolipiden und Cholesterin zur Ausbildung sog. lipid oder

Sphingomyelin Phosphatidylcholin Phosphatidylethanolamin Phosphatidylserin Phosphatidylinositol


152 Kapitel 11 · Biomembranen

membrane rafts, die als Flöße (engl. raft: Floß) mit einer flüssig-
geordneten Struktur in der ansonsten flüssig-ungeordneten
Membran umherschwimmen (. Abb. 11.5A). Derartige Struktu-
ren sind bei 4 °C in nicht-ionischen Detergentien wie 1 % Triton-
X-100 unlöslich und lassen sich durch Dichtegradientenzentri-
fugation isolieren und charakterisieren. Diese Untersuchungen
haben ergeben, dass zahlreiche Rezeptoren und an der zellulären
Signaltransduktion beteiligte Proteine (z. B. kleine und heterotri-
mere G-Proteine, Proteinkinasen der src-Familie, EGF-, PDGF-,
Endothelinrezeptoren, Adapterproteine (Grb2), Proteinkinase C
und die p85-Untereinheit der PI-3-Kinase, 7 Kap. 33 und 7 Kap.
35) in membrane rafts lokalisiert sind. Der künstliche Entzug
von Cholesterin aus der Membran (z. B. mittels Methyl-
β-Cyclodextrin) führt meist zu einer Auflösung der membrane-
raft-Strukturen und zu einer veränderten Signaltransduktion.
Aufgrund der geringen Größe der membrane rafts und ihrer
möglicherweise hohen Instabilität und Dynamik ist ihr direkter . Abb. 11.6 Assoziation von Proteinen mit Membranen. A Integrale
Nachweis bis heute aber schwierig und ihre Existenz und Bedeu- Transmembranproteine durchqueren die Lipiddoppelschicht komplett.
B Integrale, monotope Membranproteine tauchen nur in eine Lipid-
tung wird auch kontrovers diskutiert.
halbschicht ein. C Integrale, lipidverankerte Membranproteine sind über
covalent verknüpfte Lipide (dicke grüne Linien) mit der Membran verhaftet.
Eine spezielle Form der membrane rafts D Periphere Membranproteine sind über Kontakte zu integralen Membran-
stellen die Caveolae dar proteinen mit Membranen assoziiert (blau: Kohlenhydratseitenketten)
Caveolae wurden bereits vor über 50 Jahren elektronenmikros-
kopisch auf zahlreichen Zellen nachgewiesen. Diese stabilen
50–100 nm großen Plasmamembraninvaginationen enthalten mänen, welche 20–25 fast ausschließlich hydrophobe Amino-
11 ein als Caveolin bezeichnetes Protein, welches Cholesterin bin- säuren enthalten, die die nötigen Wechselwirkungen mit der Li-
det und in der cytoplasmatischen Membranschicht Haarnadel- pidphase der Membranen ermöglichen. Strukturell bestehen
strukturen ausbildet (. Abb. 11.5B). Es existieren drei Isoformen, Transmembrandomänen üblicherweise aus α-Helices, selten aus
Caveolin-1, -2 und -3, die durch verschiedene Gene codiert wer- zirkulären β-Faltblättern (sog. β-Tonnen). Viele Membranprote-
den. Caveolin-1 und -2 werden in vielen Zellen meist gemeinsam ine durchqueren die Membran mehrfach (z. B. heptahelicale Re-
exprimiert, Caveolin-3 findet sich nur in Muskelzellen. Durch zeptoren, 7 Kap. 33.3 und 35.3) und werden dann auch als poly-
Oligomerisierung erzwingt Caveolin die Membrankrümmung, tope Membranproteine bezeichnet.
was zur Ausbildung der Membraninvaginationen führt. Caveo- 4 Monotope Membranproteine sind nur mit einer Hälfte der
lae können unter Vesikelbildung abgeschnürt werden und sind Lipiddoppelschicht assoziiert (Caveoline s. o., Prostaglan-
an wichtigen zellbiologischen Phänomenen wie z. B. Fettsäure- din-H-Synthase(7 Kap. 22.3.2).
transport, Cholesterintransport, vesikulärer Transport von Pro- 4 Lipidverankerte Membranproteine sind durch covalente
teinen (Endocytose 7 Kap. 12, Transcytose 7 Kap. 70 und 7 Abb. Verknüpfung mit Lipiden in Membranen verankert. Als
61.20) und Signaltransduktion beteiligt. Durch seine Interaktion derartige Lipide kommen Isoprenoidreste, Fettsäurereste
mit Wachstumsfaktorrezeptoren und anderen Signalproteinen und Glycosyl-Phosphatidylinositol-Anker infrage
beeinflusst Caveolin-1 die Proliferation wie auch die Transfor- (7 Kap. 49.3.4).
mation von Zellen. Auf diese beiden Prozesse wirkt Caveolin-1
eher hemmend und verhält sich dementsprechend wie ein Tu- Alle genannten Proteine lassen sich nur nach Auflösung der
morsuppressor-Gen (7 Kap. 52.5.2, 53.2.3). Tumorzellen zeichnen Membranstruktur mit Hilfe von Detergentien(7 Abb. 3.8) isolie-
sich oft durch niedrige bzw. fehlende Caveolin-1-Expression aus. ren. Sie werden deshalb als integrale Membranproteine bezeich-
Einige Viren nutzen Caveolae als Eintrittspforte in die Zelle. net. Demgegenüber sind periphere Membranproteine über
Protein-Protein-Wechselwirkungen mit Membranen assoziiert.
Periphere Membranproteine können deshalb durch Zugabe von
11.4 Membranproteine Salzen oder Harnstoff ohne Zerstörung der Lipiddoppelschicht
von Membranen entfernt werden. Periphere Membranproteine
Biologische Membranen enthalten neben den können auch direkt an Membranlipide binden, z. B. Proteine mit
verschiedenen Lipiden immer Proteine Pleckstrin-Homologie-Domäne, die reversibel im Rahmen von
Der Proteinanteil unterschiedlicher zellulärer Membranen liegt Signaltransduktionsprozessen mit anionischen Phospholipiden
zwischen 20 % (Myelinmembran) und 80 % (mitochondriale In- (Phosphoinositolderivate) interagieren (7 Kap. 33.4.3).
nenmembran). Es lassen sich grundsätzlich drei Typen von Membranproteine sind meist Glykoproteine(7 Kap. 49.3.3).
Membranproteinen unterscheiden (. Abb. 11.6): Die Kohlenhydratketten sind dabei immer mit der im extrazel-
Transmembranproteine durchqueren mindestens einmal lulären oder extracytosolischen Raum befindlichen Proteindo-
vollständig die Membran. Sie besitzen hierzu Transmembrando- mäne kovalent verknüpft. Membranproteine sind wesentlich für
11.5 · Transport durch Membranen
153 11
. Abb. 11.7 Transportmechanismen. A Uniport, Symport und Antiport 7 A
geben an, ob ein oder mehrere Substrate in jeweils welcher Richtung trans-
portiert werden. B Passiver Transport: einfache Diffusion eines membran-
gängigen Substrates in Richtung des Konzentrationsgefälles; erleichterte
Diffusion eines nicht-membrangängigen Substrates mit Hilfe eines Trans-
portproteins in Richtung des Konzentrationsgefälles. C Aktiver Transport:
primär aktiver Transport eines Substrates mit Hilfe eines Transportproteins
entgegen des Konzentrationsgefälles unter direkter ATP-Spaltung; sekun-
där aktiver Transport eines Substrates (rot) im Symport mit einem zweiten
Molekül (grün), das durch einen primär aktiven Transport entgegen dem
Konzentrationsgefälle transportiert wurde

die Kommunikation der Zelle mit der Außenwelt und ermögli-


chen u. a.:
4 als Kanäle oder Carrier den Transport von Molekülen
durch die Membran
4 als nutritive Rezeptoren die Bindung und Endocytose von B

Nährstoffmolekülen (z. B. LDL)


4 als Signalrezeptoren die Bindung von löslichen oder mem-
branständigen Liganden und nachfolgend die Signaltrans-
duktion durch Signalmoleküle
4 als Cadherine oder Integrine die Zell-Zell- bzw. Zell-
Matrix-Kontakte
4 als Histokompatibiltätsantigene, T- und B-Zellrezeptoren
die Präsentation und Erkennung von Fremdstrukturen
(7 Kap. 70.4, 70.7, 70.8).

11.5 Transport durch Membranen

Reine Lipidmembranen sind für die meisten chemischen Mole-


küle impermeabel. Lediglich gelöste Gase wie O2 und CO2, Was-
ser und kleine unpolare Substanzen (z. B. Ethanol) und ungela-
dene Verbindungen (z. B. Harnstoff) können die Membran un-
gehindert durchqueren. Für hydrophile Substanzen, d. h. Koh- C
lenhydrate, Aminosäuren und alle Makromoleküle, stellt die
Membran eine Barriere dar, die nur mit Hilfe spezifischer Trans-
portproteine überwunden werden kann. Eine große Zahl an
Transmembranproteinen ist an diesen Transportprozessen betei-
ligt. Die Transportmechanismen können zum einen aufgrund
der Transportrichtung und zum anderen aufgrund ihrer Ener-
gieabhängigkeit unterschieden werden (. Abb. 11.7). So diffe-
renziert man zwischen:
4 Uniport, bei dem ein Substrat von der einen Seite der
Membran auf die andere Seite transportiert wird,
4 Symport, bei dem zwei Substrate von der einen Seite der
Membran auf die andere Seite transportiert werden, und
4 Antiport, bei dem ein Substrat in die eine Richtung, ein zwei-
tes in die Gegenrichtung transportiert wird (. Abb. 11.7A).

Diese Betrachtungsweise lässt energetische Fragen allerdings un-


berücksichtigt. Wenn man die Energetik von Transportprozessen
mit einbezieht, so unterscheidet man zwischen:
4 passivem Transport, bei dem ein Substrat entlang eines
bestehenden Konzentrationsgefälles transportiert und keine
Energie benötigt wird (. Abb. 11.7B), und
4 aktivem Transport, bei dem ein Substrat entgegen einem
Konzentrationsgefälle transportiert wird, und Energie, in
154 Kapitel 11 · Biomembranen

der Regel in Form von ATP, direkt oder indirekt den Trans-
port antreibt (. Abb. 11.7C).

Passiver Transport Die einfachste Form des passiven Transports


ist die einfache Diffusion durch eine Membran, wie sie z. B. ge-
löste Gase, Wasser oder kleine lipophile Substanzen zeigen. Inte-
ressanterweise gibt es für viele dieser Prozesse, die eigentlich
ohne Proteine ablaufen können und auch ablaufen, trotzdem
zusätzlich spezifische Transportproteine, wie z. B. die Aquapo-
rine (7 Kap 1.2 und 65.5.2) oder die Fettsäuretransporter (7 Kap.
21.1.3). Müssen Substrate, die nicht direkt die Membran per-
meieren können, entlang eines Konzentrationsgradienten trans-
portiert werden, benötigt man substratspezifische Transporter.
Diese integralen Membranproteine binden das Substrat auf der
einen Seite der Membran, durchlaufen eine Konformationsände-
rung und entlassen das Substrat auf der anderen Seite wieder.
Solche Transporter werden auch als Permeasen oder Carrier be-
zeichnet.
Kanäle sind eine weitere Gruppe von Transportprotei-
. Abb. 11.8 Kinetik der erleichterten Diffusion am Beispiel des Glucose-
nen, die im Gegensatz zu den Permeasen verschließbare Poren transporters GLUT4 in isolierten Fett- oder Muskelzellen. Die Kinetik ist
in der Membran bilden. Transportprozesse durch Permeasen wie bei einer klassischen Enzymkinetik hyperbolisch. Die Sättigung ist ein
und Kanäle, die entlang eines Konzentrationsgefälles ablaufen, wichtiger Hinweis darauf, dass die Diffusion mit einer limitierten Zahl von
bezeichnet man als erleichterte Diffusion. Im Gegensatz Transportern erfolgt. Durch eine Stimulierung der Zellen mit Insulin wird
die Zahl der an der Plasmamembran lokalisierten Transporter um ein Mehr-
zur einfachen Diffusion zeigt die erleichtere Diffusion eine Sät-
faches erhöht, wodurch sich die Maximalgeschwindigkeit erhöht, ohne
tigungskinetik ganz analog einer Enzymkinetik (7 Kap. 7.7)
11 und kann mathematisch vergeichbar beschrieben werden
dass sich die Halbsättigung verändert

(. Abb. 11.8). Die erleichterte Diffusion ist prinzipiell umkehr-


bar, d. h. kehrt sich das Konzentrationsgefälle um, so findet der
Transport in die Gegenrichtung statt. Klassisches Beispiel für . Tab. 11.1 nennt Beispiele der verschiedenen transportierenden
die erleichterte Diffusion ist die Aufnahme von Glucose in die ATPasen.
Zelle bzw. Abgabe aus der Zelle durch die aus 12 Transmem- Ein primär aktiver Transport liefert auch die Triebkraft für
branhelices aufgebauten Glucosetransporter der GLUT-Fami- einen sekundär aktiven Transportprozess. So wird z. B. die Ein-
lie (7 Kap. 15.1.1). Einfache und erleichterte Diffusion findet schleusung von Glucose aus dem Darmlumen in Enterocyten
nur bis zum Konzentrationsausgleich statt; dieser wird aber durch einen aktiv aufgebauten Natriumgradienten an der Plas-
häufig durch sofortige Metabolisierung des transportierten mamembran (außen hoch/innen niedrig) angetrieben. Dieser
Substrats verhindert. Transport findet als Symport mit jeweils zwei Natriumionen und
einem Glucosemolekül mit Hilfe des natriumabhängigen Glu-
Aktiver Transport Soll ein Substrat entgegen eines bereits beste- cosetransporters SGLT1/SLC5A1 (sodium dependent glucose
henden Gradienten transportiert werden, handelt es sich grund- transporter-1/solute carrier 5A1) statt (. Abb. 11.9). Dieser
sätzlich um einen endergonen Prozess, der nur durch Kopplung Transporter besitzt 14 Transmembranhelices, von denen die He-
mit einem exergonen Prozess, in der Regel der Spaltung von lices 10–13 für die Bindung und Durchschleusung von Glucose
ATP, vollzogen werden kann. Diese aktiven Transportprozesse und Na+-Ionen verantwortlich sind (. Abb. 11.9B). Dieser Trans-
werden noch in primär aktiven Transport und sekundär akti- porter gehört zur großen Gruppe der solute-Carrier, die über
ven Transport untergliedert. Bei ersterem ist die ATP-Spaltung 300 Mitglieder hat und in 47 Familien unterteilt wird (Nomen-
direkt an den Transportprozess gekoppelt. So pumpen z. B. Pro- klatur: SLCnXm, mit n = Nummer der Familie; X = A, B, C, Be-
tonenpumpen direkt unter ATP-Verbrauch Protonen aus dem zeichnung der Subfamilie; m = Nummer des Mitglieds). Der
Cytosol ins Endosom, um dieses anzusäuern (Uniport). Ein wei- Vorteil des sekundär aktiven Transports liegt darin, dass der
teres Beispiel wäre die Na+/K+-ATPase, die unter ATP-Verbrauch durch einen primär-aktiven Transport aufgebaute Ionengradient
im Antiport aus dem Cytosol drei Natriumionen nach außen genutzt wird, um Substrate, z. B. Glucose, quantitativ durch Sym-
und zwei Kaliumionen nach innen transportiert. Beide gehören port (in anderen Fällen durch Antiport) in Zellen aufzunehmen.
zu den Transport-ATPasen, die sich auf vier Gruppen aufteilen In einigen Fällen beobachtet man sogar einen tertiär aktiven
lassen: Transport, beispielsweise bei der Aufnahme von Dipeptiden aus
4 die F-ATPasen (bestehen aus F1/FO-Domänen) dem Darm. Hier wird der Natriumgradient genutzt, um einen
4 die P-ATPasen (werden während des Transports phospho- Protonengradienten zu erzeugen, der dann die Aufnahme von
ryliert) Dipeptiden antreibt (s. 7 Abb. 61.13).
4 die V-ATPasen (vacuoläreATPasen) und
4 die ABC-Transporter (ABC = ATP binding cassette)
11.6 · Biosynthese von Membranen
155 11
A
. Tab. 11.1 Übersicht über Transport-ATPasen

ATPase-Typ Beispiel Funktion

F-Typ- F1/F0-ATPase ATP-Synthese in der inneren


ATPase Mitochondrienmembran
(7 Kap. 19.1.3), auch in Chloro-
plasten und Bakterien; nutzt
zwar überwiegend Protonen-
gradient zur ATP-Synthese, kann
aber auch durch ATP-Hydrolyse
Protonen pumpen

P-Typ- Na+/K+-ATPase Erzeugung eines Membran-


ATPase potentials (7 Kap. 74)

Ca2+-ATPase Senkung des cytosolischen


Ca2+-Spiegels (7 Kap. 35.3.3) B
H+/K+-ATPase Säuresekretion der Belegzellen
des Magens (7 Kap. 61.1.2)

V-Typ- H+-ATPase Ansäuern des Lumens von


ATPase Endosom und Lysosom
(7 Kap. 12.1.5)

ABC- multi drug Entfernung von Chemothera-


Transporter Resistance (MDR) peutika u. a. (7 Kap. 62.4.1) aus
der Zelle

TAP-Transporter Import von Peptidfragmenten . Abb. 11.9 Sekundär aktiver Glucosetransport in Epithelzellen. A Der
ins ER zur Beladung von MHC-I auf der luminalen (apikalen) Seite lokalisierte Glucosetransporter SGLT1 ar-
(7 Kap. 70.5.1) beitet als Symporter und transportiert gemeinsam Glucose und Na+-Ionen.
Das Gefälle zwischen den luminalen und intrazellulären Na+-Ionenkonzent-
Cystic fibrosis Epithelialer Chloridkanal, Defekt rationen liefert die freie Energie für die Konzentrierung der Zucker im Cyto-
transmembrane ist Ursache der Mukoviszidose plasma. Dieses Gefälle ist Ergebnis der ATP-angetriebenen Na+/K+-ATPase
regulator (CFTR) (7 Kap. 61.3.4) auf der basolateralen Seite. Glucose verlässt die Zelle auf der basolateralen
Seite durch erleichterte Diffusion mittels GLUT-Transportern. B Partielles
Modell des SGLT1. Die Transmembransegmente 10–13 bilden zunächst eine
nach außen gerichtete halbe Pore. Nach Bindung von Glucose und zwei
11.6 Biosynthese von Membranen Na+-Ionen kommt es zu einer Konformationsänderung, bei der die Halb-
pore sich nach innen öffnet und die Liganden entlässt

Fast alle Enzyme der Lipidsynthese sind in den Membranen des


glatten endoplasmatischen Retikulums verankert, allerdings be-
wirkt ihre Lokalisation eine asymmetrische Verteilung der neu nem Blatt der Doppelschicht in das andere hinüberwechseln.
synthetisierten Lipide. So beginnt beispielsweise die Biosynthese Weil dabei die polaren Kopfgruppen der Membranlipide durch
des Sphingomyelins mit der Bildung von Ceramid aus Sphin- die hydrophobe Phase der Lipiddoppelschicht hindurchtauchen
gosin und einer Fettsäure auf der luminalen Seite des ER. Cera- müssen, tritt dieser Vorgang (der sog. Flip-Flop) spontan nur
mid wird zum Golgi-Apparat exportiert, wo entweder durch selten auf. Für einen benötigten raschen Austausch sorgt im en-
Verknüpfung mit Oligosaccharidseitenketten Glykolipide oder doplasmatischen Retikulum eine als Scramblase (engl. scramb-
durch Anheftung von Phosphorylcholin Sphingomyelin entsteht le = verquirlen, vermischen) bezeichnete Phospholipidtranslo-
(7 Kap. 22.2). Auch die hierfür verantwortlichen Enzyme befin- kase (. Abb. 11.10). Während die Aktivität der Scramblase zu
den sich ausschließlich auf der luminalen Membranseite, sodass einem Ausgleich der Lipidzusammensetzung beider Halbschich-
nach Transport zur Plasmamembran Sphingo- und Glykolipide ten führt, werden Lipidasymmetrien durch einen energieabhän-
weitestgehend nur in der extrazellulären Halbschicht zu finden gigen Transport aufrechterhalten bzw. erzeugt. Hierfür sind Flip-
sind. Die Enzyme der Phosphoglyceridbiosynthese sind dagegen pasen und Floppasen verantwortlich, die Phospholipide vom
auf der cytosolischen Seite des ER lokalisiert. äußeren Blatt zum inneren bzw. in umgekehrter Richtung trans-
portieren (. Abb. 11.10). So werden Phosphatidylethanolamin
Lipidtransferproteine und Membranvesikel und Phosphatidylserin von einer ATP-abhängigen Flippase
sind die wichtigsten Transportmöglichkeiten quantitativ auf die cytoplasmatische Halbschicht der Plasma-
für Membranlipide membran transferiert (. Abb. 11.2). Wie die Aktivität von
Durch die asymmetrisch verteilten Biosyntheseenzyme der Scramblasen, Flippasen und Floppasen in verschiedenen Mem-
Membranlipide ergibt sich zwangsläufig eine Lipidasymmetrie branen gesteuert wird, ist weitgehend unbekannt.
zwischen den beiden Halbschichten von Membranen, die jedoch Der Zusammenbruch der Lipidasymmetrie hat unterschied-
dadurch beeinflusst wird, dass einzelne Membranlipide von ei- liche Folgen. Er ist z. B.:
156 Kapitel 11 · Biomembranen

. Abb. 11.10 Wirkungsweise von Flippasen, Floppasen und Scram-


blasen. (Einzelheiten s. Text)

4 eine Voraussetzung der Thrombocytenaktivierung,


4 ein frühes Zeichen der Erythrocytenalterung,
4 am Substraterkennungsvorgang von Makrophagen oder
4 an der Auslösung der Apoptose beteiligt.

Mitochondrien sind am vesikulären Austausch nicht beteiligt, sie


synthetisieren keine Lipide selbst, ggf. werden bestimmte Lipide
hier jedoch modifiziert. Vermutlich stammen die mitochondri-
alen Lipide vom ER ab; jedenfalls legen dies elektronenmikros-
kopische Aufnahmen nahe, die ER und mitochondriale Memb-
ranen in unmittelbarer Nachbarschaft zeigen. Kürzlich wurde ein
Proteinkomplex (ERMES, ER – Mitochondria Encounter Struc-
11 ture) identifiziert, der am Phospholipidaustausch zwischen Mi-
tochondrien und dem ER beteiligt zu sein scheint.

Zusammenfassung
Biomembranen werden aus amphiphilen Lipiden, v. a. Phos-
pho-, Sphingo- und Glykolipiden sowie Cholesterin aufge-
baut. Diese Lipide verteilen sich asymmetrisch über die
beiden Lipidhalbschichten und in unterschiedlicher Zusam-
mensetzung auf die verschiedenen zellulären Membranen.
Die Lipidzusammensetzung beeinflusst die Membranfluidi-
tät und es existieren höchstwahrscheinlich Membranareale
mit unterschiedlicher Fluidität nebeneinander. Integrale und
mit ihnen assoziierte periphere Membranproteine sind in
Biomembranen eingebettet. Diese Proteine haben eine
wesentliche Funktion beim passiven und aktiven Transport
von Biomolekülen durch die Membran. Die Biosynthese der
Membranlipide erfolgt in den Membranen des glatten endo-
plasmatischen Retikulums. Durch z. T. ATP-abhängige Trans-
lokasen wird die für jede Membran typische Verteilung von
Lipiden im inneren bzw. äußeren Blatt der Doppelschicht
eingestellt.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


157 12

12 Zellorganellen und Vesikeltransport


Lutz Graeve, Matthias Müller

Einleitung
1882 Koch entdeckt die Bakterien
Lebende Organismen sind aus Zellen zusammengesetzt. Im einfachsten 1898 Golgi entdeckt den nach ihm benannten Apparat
Falle (Einzeller) besteht der gesamte Organismus aus nur einer Zelle, die 1932 Das Phasenkontrastmikroskop wird entwickelt
überwiegende Zahl von Organismen wird jedoch aus zahlreichen unter- 1939 Elektronenmikroskopische Darstellung des Tabak-
schiedlichen Zellen (Mehrzeller) gebildet, die in verschiedenen Gewe- mosaikvirus
ben und Organen organisiert sind und sehr unterschiedliche Formen 1945 Erste elektronenmikroskopische Aufnahmen von
und Funktionen haben. Zellen stellen die kleinste mögliche Einheit des eukaryontischen Zellen
Lebens dar, unterhalb dieser Ebene existiert kein Leben. Während der 1953 Watson und Crick entdecken die DNA-Doppel-Helix
Evolution haben sich zwei grundlegende Zelltypen herausgebildet, die 1971 Blobel und Sabatini formulieren eine erste Version der
prokaryontische Zelle und die eukaryontische Zelle. Prokaryonten sind Signalhypothese
einfacher aufgebaut und häufig Einzeller; zu ihnen gehören die Bakte- 1972 Singer und Nicolson entwerfen das Fluid-Mosaic-
rien und die Blaualgen. Eukaryonten zeigen einen wesentlich komplexe- Modell der Zellmembran
ren Aufbau mit Zellkern (Karyon) und Zellkompartimenten. Alle Pflanzen 1975 Milstein und Köhler entwickeln ein Verfahren zur
und Tiere sowie die Pilze gehören zu den Eukaryonten. Eukaryonten sind Herstellung monoklonaler Antikörper
während der Evolution vermutlich aus Prokaryonten hervorgegangen 1988 Konfokale Laser-Scanning-Mikroskope halten Einzug in
und haben ursprünglich symbiotisch lebende Prokaryonten dauerhaft die Zellbiologie
in ihre Struktur integriert und zwar in Form von Mitochondrien und 1994 Chalfie und Tsien entwickeln das green fluorescent
Chloroplasten (Endosymbiontentheorie). Da die meisten biochemi- protein als Marker
schen Vorgänge im Inneren von Zellen ablaufen, ist eine genaue Kennt-
nis zellulärer Strukturen und Funktionen unabdingbar für das Verständ-
nis dieser Prozesse. Zahlreiche Erkrankungen lassen sich als eine Funk-
tionsstörung zellulärer Strukturen erklären. 12.1 Die Zellkompartimente
Schwerpunkte Die typische eukaryontische Zelle zeigt
eine kompartimentierte Strukturierung,
4 Aufbau und Funktion der Zellorganellen
die verschiedene zelluläre Reaktionsräume in
4 Transport zwischen Cytoplasma und Zellkern über Impor-
sinnvoller Weise voneinander separiert
tine und Exportine
Eine Kompartimentierung der Zelle ist notwendig, damit bei-
4 Vesikulärer Transport zwischen den Membranen des
spielsweise Auf- und Abbauprozesse räumlich voneinander
Endomembransystems
getrennt stattfinden oder Proteine wie am Fließband einem
4 Signale der Proteinsortierung
mehrstufigen Umbau- und Reifungsprozess unterzogen wer-
den können. Grundlage aller Kompartimente ist die Biomem-
bran. Die wesentlichen Zellkompartimente (. Abb. 12.1), die
in fast jeder eukaryontischen Zelle identifiziert werden
Übrigens können, sind:
Meilensteine der Zellbiologie 4 Plasmamembran
1655 Hooke prägt den Begriff »Zelle« 4 Zellkern
1674 Leeuwenhoek entdeckt Protozoen 4 endoplasmatisches Retikulum
1833 Brown beschreibt den Zellkern in pflanzlichen Zellen 4 Golgi-Apparat
1838 Schleiden und Schwann formulieren die Zelltheorie, 4 Endosomen
nach der alle Pflanzen und Tiere aus Zellbausteinen 4 Lysosomen
aufgebaut sind 4 Mitochondrien
1857 Kolliker beschreibt die Mitochondrien in Muskelzellen 4 Peroxisomen
1879 Flemming beschreibt das Verhalten der Chromosomen 4 Lipidtröpfchen
während der Mitose
6

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
158 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

12

. Abb. 12.1 Aufbau einer tierischen Zelle. Schematische Darstellung einer idealisierten tierischen Zelle. (Einzelheiten s. Text)

Die meisten Kompartimente sind durch Das Endomembransystem ist während der Evolution ver-
vesikulären oder vesikotubulären Transport mutlich durch die Einstülpung der Plasmamembran einer einfa-
funktionell miteinander verknüpft und cher gebauten Urkaryontenzelle entstanden. Diese Membranein-
bilden das Endomembransystem stülpungen haben sich dann weiter zu den heutigen Komparti-
Nur Mitochondrien und Peroxisomen zählen nicht zum Endo- menten differenziert. Mitochondrien hingegen sind laut Endo-
membransystem (. Abb. 12.2). Das Endomembransystem stellt symbiontentheorie von eingewanderten, symbiotisch lebenden
also praktisch ein Kontinuum dar, in dem sich Lipide und Pro- Prokaryonten abgeleitet. Ursprünglich nahm man eine ähnliche
teine nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten bewegen können. So Entstehung auch für die Peroxisomen an. Es gibt aber neuere
wird ein Transmembranprotein, z. B. der LDL-Rezeptor (low- Hinweise darauf, dass Peroxisomen aus der Membran des endo-
density lipoprotein Rezeptor), an der Membran des rauen endo- plasmatischen Retikulums neu gebildet werden können. Dies
plasmatischen Retikulums synthetisiert, wandert dann über Ve- würde sie zu einem Teil des Endomembransystems machen.
sikel zum Golgi-Apparat, wird dort prozessiert, und wieder über
Vesikel an die Plasmamembran transportiert. Diesen Prozess
bezeichnet man als Exocytose. Bindet er hier seinen Liganden, 12.1.1 Die Plasmamembran
das low-density lipoprotein, wird er durch Endocytose wiederum
in Vesikel verpackt, die mit dem Endosom fusionieren. Das LDL Die Plasmamembran ist die Biomembran, die jede lebende Zelle
wird sogar noch weiter bis ins Lysosom transportiert und dort umgibt und sie von der Außenwelt abtrennt. Sie gibt jeder Zelle
abgebaut, wohingegen der Rezeptor meist zur Plasmamembran ihre Identität und verhindert den freien Stoffaustausch mit der
zurückkehrt. Ähnliche »Reisewege« innerhalb des Endomem- Umgebung. In komplexen Organismen müssen Zellen aber in
bransystems lassen sich auch für die verschiedenen Membran- koordinierter Weise untereinander Stoffe austauschen und mit-
lipide beschreiben. einander kommunizieren. Die Plasmamembran ist deshalb auch
Intermediärfilamente Caveola coated pit<k> Endosom Mitochondrium Kernmembran Kernpore Chromatin Nucleolus Lamine Zellkern endoplasmatisches
Retikulum raues endoplasmatisches Retikulum glattes Actinfilamente Plasmamembran Lipidtröpfchen Golgi-Apparat Lysosom Mikrotubuli multivesicular body <k>
Ribosomen Centriolen Peroxisomen
12.1 · Die Zellkompartimente
159 12
Epitheliale Zellen grenzen den Körper häufig zur Außenwelt
hin ab und bilden eine normalerweise dichte Barriere, die z. B.
das Eindringen von Mikroorganismen in den Körper verhindert.
In epithelialen Zellen ist die Plasmamembran in mindestens zwei
Domänen untergliedert, einer apikalen Membran, die die Zelle
nach außen hin abgrenzt (z. B. dem Darmlumen) und einer ba-
solateralen Membran, die zur Körperinnenwelt hinweist. Diese
Eigenschaft bezeichnet man auch als Zellpolarität. Apikale und
basolaterale Membranen sind durch eine unterschiedliche Pro-
tein- und Lipidzusammensetzung gekennzeichnet. Diese kann
nur dadurch aufrecht erhalten werden, dass zwischen apikaler
und basolateraler Membran eine Barriere den Austausch von
Proteinen und Lipiden durch laterale Diffusion verhindert.
Hierbei handelt es sich um tight junctions oder Zonulae oc-
cludentes, die die Zelle am apikalen Pol ringförmig umgeben
und sie mit den rundum sitzenden Nachbarzellen eng verbinden.
Tight junctions werden von viermal die Membran durchqueren-
den Adhäsionsproteinen (Tetraspan-Proteinen), den Claudinen
und Occludinen gebildet, die über ihre extrazellulären Anteile
homodimerisieren und intrazellulär mit verschiedenen Gerüst-
proteinen, wie den ZO-Proteinen, interagieren (. Abb. 12.3).
Unterhalb der Zonula occludens findet sich eine zweite ringför-
mige Verbindung, adherens junction oder Zonula adhaerens.
Diese Strukturen werden u. a. von E-Cadherinen benachbarter
Zellen gebildet, die Ca2+-abhängig miteinander homodimerisie-
ren (Cadherine = Ca-abhängige Adherine). Über Catenine sind
die E-Cadherine mit dem Actincytoskelett verbunden, das an
diesen Stellen benachbarte Zellen gürtelförmig umschließt.
Durch koordinierte Kontraktion können sich plattenförmige
Epithelien auf diese Weise biegen, einstülpen und schließlich
Epithelrohre bilden. β-Catenin, dessen zelluläre Konzentration
. Abb. 12.2 Endomembransystem. Schematische Darstellung der zellu- stark kontrolliert wird, kann nach Disintegration von
lären Kompartimente, die durch vesikulären Transport miteinander ver- Zellverbänden auch im Zellkern transkriptionell wirken.
knüpft sind. LDL-Rezeptoren sind an ihren verschiedenen »Reisestationen« Generell spielen diese Adaptorproteine auch eine wichtige Rolle
gezeigt. (Einzelheiten s. Text). (Aus Schmidt et al. 2010)
in der Proliferationskontrolle, sodass auf diesem Weg z. B.
Epitheldefekte durch Teilung randständiger Zellen wieder
der Ort, an dem diese Prozesse ablaufen. Hierfür ist eine große aufgefüllt werden. Eine dritte Membranstruktur epithelialer
Zahl von in die Plasmamembran integrierten Proteinen verant- Zellen in unmittelbarer Nachbarschaft zur Zonula occludens und
wortlich. Diese bewirken u. a.: adhaerens sind Desmosomen, kreisförmige Haftpunkte zwi-
4 geregelten Stoffaustausch schen Zellen, die durch die Cadherinhomologen Desmocollin
4 Bindung von Signalmolekülen und Weiterleitung des und Desmoglein gebildet und über Adaptorproteine (Plakophi-
Signals ins Zellinnere lin, Plakoglobin) mit den Intermediärfilamenten verbunden
4 Generierung verschiedener elektrochemischer Gradienten werden. An der Basalseite sind Epithelzellen über Integrine mit
(Membranpotential) der Basallamina verknüpft (7 Kap. 71.1.7).
4 Kontakt zu benachbarten Zellen Eine spezielle Form von Zell-Zell-Verbindungen stellen die
4 Kontakt zur umgebenden extrazellulären Matrix und gap junctions (Nexus) dar (. Abb. 12.3). Hierbei handelt es sich
4 Erkennung körperfremder Strukturen um Ansammlungen von wenigen bis zu tausenden von porenar-
tigen Membranproteinkomplexen, die das Cytoplasma zweier
Die Plasmamembran ist demnach kein statisches System, son- benachbarter Zellen direkt miteinander verbinden, sodass Ionen,
dern von einer hohen Dynamik gekennzeichnet. Ständig werden second messenger und andere kleinere Biomoleküle (<1 kDa)
durch Fusion intrazellulärer Vesikel mit der Plasmamembran durch die Poren von einer Zelle zur anderen diffundieren kön-
neue Lipide und Proteine an die Plasmamembran transportiert nen. Die gap junctions werden von Connexinen gebildet, Mem-
und in vergleichbarem Maße werden Lipide und Proteine durch branproteinen mit vier Transmembrandurchgängen, von denen
Endocytose wieder ins Zellinnere gebracht. Die Mechanismen, sich je sechs pro Membran zu einem ringförmigen Connexon
die diese beiden Prozesse steuern sind äußerst komplex und zusammenlagern. Zwei Halbkanäle aus je sechs Connexonen bil-
müssen gewährleisten, dass die Plasmamembran ihre Größe den dann die Poren der gap junctions, durch die die kommuni-
nicht verändert, es sei denn, die Zelle wächst. zierenden Membranen im Abstand von 2–4 nm (gap) gehalten

Plasmamembran Endocytose Exocytose Cytosol Endosom frühes sekretorisches Vesikel Endosom spätes Lysosomen Zisternen Golgi-Apparat endoplas-
matisches Retikulum Kernpore Kernhülle Zellkern
160 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

A B

. Abb. 12.3 Apikale und basolaterale Plasmamembran von Epithelzellen und ihre Verbindungsstrukturen. A Transmissionselektronenmikroskopische
Aufnahme der interzellulären Verbindung zwischen zwei epithelialen Zellen. Zonula occludens bzw. tight junction (roter Pfeil), Zonula adhaerens (grüner
Pfeil), Desmosom (blauer Pfeil). (A aus Kreft ME et al. 2006). B Schematische Darstellung von Zelladhäsionsmolekülen, cytoplasmatischen Adaptorproteinen
und mit ihnen verknüpften Cytoskelett-Elementen. β-Catenin ist im Cytosol an Verbindungen zum Cytoskelett und im Kern an der Regulation der Trans-
kription beteiligt

werden. Gap junctions spielen bei der interzellulären Kommuni- schlechtschromosomen, XX bei der Frau und XY beim Mann).
12 kation, der Weiterleitung von Aktionspotentialen, aber auch der Hier finden die wesentlichen Prozesse der DNA-Replikation
Nährstoffversorgung schlecht durchbluteter Organe eine Rolle. (7 Kap. 44) sowie die Transkription und das mRNA-Splei-
Durch Phosphorylierung der Connexine (z. B. durch Tyrosinki- ßen (7 Kap. 46) statt, das aus einer frisch transkribierten
nasen) kann die Aktivität von gap junctions reguliert werden. Prä-mRNA durch gezieltes Entfernen von Introns eine reife
Tumorzellen sind häufig durch einen Verlust von gap junctions mRNA generiert. Die einzelnen Chromosomen sind nur wäh-
gekennzeichnet. rend der Metaphase und Anaphase einer Mitose mikroskopisch
gut zu erkennen (. Abb. 12.4B), zwischen den Mitosen liegen sie
dekondensiert als Chromatin vor. Es wird das Heterochromatin,
12.1.2 Der Zellkern bei dem die DNA stark verdichtet und damit transkriptionell
inaktiv vorliegt, und das Euchromatin, in dem die DNA aufgelo-
Der Zellkern ist das einzige Zellorganell, das bereits im Licht- ckerter ist und aktiv transkribiert werden kann, unterschieden.
mikroskop deutlich erkennbar ist (. Abb. 12.4A). Der Zellkern Unter anderem mittels der Giemsa-Färbung kann man zwischen
wird von einer Doppelmembran umgeben, der Kernhülle, deren Hetero- und Euchromatin differenzieren. Beim Heterochroma-
äußere Membran mit dem endoplasmatischen Retikulum ein tin können unterschieden werden:
Kontinuum bildet (. Abb. 12.2). Bei jeder Mitose löst sich die 4 konstitutives Heterochromatin, das v. a. im Bereich der
Kernhülle auf und formt sich in den Tochterzellen neu. Die Kern- Centromere und Telomere vorliegt und zahlreiche repeti-
hülle ist von innen durch die Kernlamina ausgekleidet, die aus tive DNA-Sequenzen ohne proteincodierende Funktion
den Laminen gebildet wird, fibrillären Proteinen, die zur Familie enthält,
der Intermediärfilamente (7 Kap. 13.3) gehören. Kernhülle und 4 fakultatives Heterochromatin auch Sexchromatin genannt,
Kernlamina umgeben das Nucleoplasma oder Karyoplasma, das das in »stillgelegten« X-Chromosomen (Barr-Körper) zu
komplex strukturiert ist. Neuere Untersuchungen weisen auf die finden ist, und
Existenz auch eines nucleoplasmatischen Retikulums hin, dessen 4 funktionelles Heterochromatin, das abhängig von Zelltyp
physiologische Bedeutung aber noch nicht klar ist. Die Kernhül- und -differenzierung unterschiedliche Teile der Chromoso-
le ist an zahlreichen Stellen mit Kernporenkomplexen durch- men umfassen kann.
setzt (. Abb. 12.5); pro Zellkern existieren oft mehrere tausend
Kernporen. Eine bereits im Lichtmikroskop erkennbare Substruktur des
Der Zellkern ist die Informations- und Steuerungszentrale Zellkerns ist der Nucleolus, das Kernkörperchen (. Abb. 12.4).
der Zelle. Er enthält im Nucleoplasma das genetische Material in Hierbei handelt es sich um ein kugelförmiges, jedoch nicht
Form der DNA, die beim Menschen in 46 Chromosomen orga- von einer Membran umgebenes Gebilde, von dem es pro Zell-
nisiert sind (22 Paare autosomaler Chromosomen plus zwei Ge- kern eines oder mehrere gibt. In Proteinsynthese-aktiven Zellen

Claudin Occludin E-Cadherine Desmoglein Desmocollin Connexin α-Catenin β-Catenin Plakoglobin Plakophilin Intermediärfilamente
tight junctions<k> adherens junction<k> Desmosomen gap junctions<k>
12.1 · Die Zellkompartimente
161 12

A A

. Abb. 12.5 Strukturen von Kernporenkomplexen. A Rasterkraftmikro-


skopische (atomic force microscopy, AFM) Aufnahmen von Kernporenkom-
. Abb. 12.4 Zellkern. A Lichtmikroskopische Aufnahme eines Chondro- plexen der Oozyte des Krallenfrosches Xenopus laevis. Gezeigt ist die cyto-
cyten. Zellkern mit zwei Nucleoli (Pfeil), B kondensierte menschliche Chromo- plasmatische Seite der Poren. Die 8fache Symmetrie des Porenaufbaus ist
somen. (A aus Alvarez J et al. 2005, B aus Lin JY et al. 2004) gut zu erkennen. (Aus Sahin V 2006). B Räumlich-schematische Darstellung
des Kernporenkomplexes im Anschnitt. Die Pore besteht aus einem drei-
fachen Ring, dem zentralen Speichenring und den cytoplasmatischen und
können Nucleoli bis zu 25 % des Kernvolumens einnehmen. nucleären Kernporenringen. Ausgehend vom cytoplasmatischen und
Der Nucleolus ist der Ort der Transkription der ribosomalen- nucleären Ring erstrecken sich cytoplasmatische und nucleäre Porenfila-
RNAs (in der Pars fibrosa) und des Zusammenbaus der riboso- mente. Im Nucleoplasma verbinden sich die Filamente zu einem Korb,
dessen Boden der sog. distale Ring bildet
malen Untereinheiten (in der Pars granulosa). Außerdem fin-
det hier die Synthese von Nicotinamidadenindinucleotid
(NAD+) statt. Kernporen stellen die Verbindung
Eine weitere sphärische nucleäre Struktur mit einem Durch- zwischen Cytoplasma und Nucleoplasma her, über
messer von 0,1–2 μm sind die Cajal bodies. In diesen erstmals die wesentliche Transportprozesse ablaufen
1903 von Santiago Ramon y Cajal beschriebenen intranucleären Der permanente Stoffaustausch zwischen Cytoplasma und Zell-
Partikeln wird vermutlich der Zusammenbau und die Reifung kern ist eine wichtige Grundfunktion einer eukaryontischen Zel-
von nucleären Ribonucleoproteinkomplexen (nuclear RNPs) le. Ribo- und Desoxyribonucleosidtriphosphate, Enzyme der
vollzogen. Sie scheinen aber nicht direkt an Transkription und Replikation und Transkription, Histone und Transkriptionsfak-
Spleißen beteiligt zu sein. Als molekularer Marker von Cajal bo- toren sowie zahlreiche weitere Proteine müssen vom Cytosol in
dies wurde das Protein Coilin identifiziert. den Zellkern transportiert werden (Kernimport), wohingegen
Proteine und RNAs, die für das Spleißen von Prä-mRNAs die verschiedenen Transkriptionsprodukte (mRNAs, tRNAs
benötigt werden, sind in Interchromatingranula angereichert, u. a.) und nicht mehr benötigte Transkriptionsfaktoren aus dem
aber auch hier scheint es sich eher um ein Speicherkompartiment Zellkern ins Cytosol verlagert werden müssen (Kernexport)
als um das aktive Spleißzentrum zu handeln. (. Abb. 12.6). Alle diese Transportprozesse finden an den Kern-
porenkomplexen (nuclear pore complexes, NPCs) statt.

cytoplasmatisches Filament cytoplasmatischer Ring Kernporenkorb Kernmembran innere Kernmembran äußere


162 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

. Abb. 12.6 Stoffaustausch zwischen Zellkern und Cytoplasma. Im Kern findet die DNA-Replikation 1 und die Transkription der Prä-mRNA 2 , der 45S
rRNA 3 und verschiedener kleiner RNAs 4 statt. Nach diversen Prozessierungsschritten und Bildung von RNA-Proteinkomplexen (z. B. Ribosomen) wer-
12 den diese durch die Kernporen in das Cytosol exportiert. DNA- und RNA-bindende Proteine sowie die verschiedenen DNA- und RNA-Polymerasen werden
an cytosolischen Ribosomen translatiert und in den Zellkern importiert. Nucleotidbausteine können die Kernporen durch Diffusion durchqueren. (d)NTP:
(Desoxy-)Ribonucleosidtriphosphat; Pol: Polymerase; snRNA: small nuclear RNA

Kernporenkomplexe sind makromolekulare Strukturen len Kanal im Sinne eines molekularen Siebes aus. Sie sind darüber
(60–125 MDa), die einen wassergefüllten Kanal zwischen dem hinaus Andockstellen für die nucleären Transporter (s. u.).
Cytosol und dem Nucleoplasma bilden, der die äußere und inne-
re Kernmembran durchzieht. Dieser Kanal ist permanent offen Nucleocytoplasmatischer Transport Dem geregelten Transport
und lässt Ionen, Nucleotide und Proteine bis ca 40 kDa mehr durch den Kernporenkomplex unterliegen alle größeren Proteine
oder weniger ungehindert hindurch. Größere Proteine und und RNA-Spezies. Grundlegend für das Verständnis dieses
RNA-Moleküle bedürfen eines spezifischen Transportmechanis- Transports war die Entdeckung, dass die zu transportierenden
mus. Kernporenkomplexe bestehen aus ca. 30 unterschiedlichen Proteine, auch Cargo genannt, in ihrer Proteinstruktur die Infor-
Proteinen, den Nucleoporinen oder NUPs. Bei den meisten mation für den Transport in Form von Import- und Exportse-
NUPs handelt es sich um lösliche Proteine, lediglich drei NUPs quenzen tragen. Die Importsequenzen werden als nuclear locali-
sind Transmembranproteine, die den Kernporenkomplex in der zation sequences (NLS), die Exportsequenzen als nuclear export
Kernmembran verankern. Der Kernporenkomplex ist insgesamt sequences (NES) bezeichnet. In einigen Fällen sind diese Sequen-
kreisförmig und besitzt eine 8fache Symmetrie (. Abb. 12.5). zen als kurze Aminosäuremotive gut definiert und auch auf an-
Von den NUPs finden sich deshalb jeweils acht oder ein Vielfa- dere Proteine transferierbar, in anderen Fällen steht die genaue
ches von acht im Porenkomplex. Insgesamt besteht eine Kernpo- Bestimmung des Transportsignals aber noch aus und ist vermut-
re aus 500–1.000 NUPs. Dem zentralen Ring des Kernporen- lich in der dreidimensionalen Struktur des Proteins codiert. Die
komplexes sitzen jeweils ein cytoplasmatischer und ein nucleärer klassischen NLS sind ein Cluster aus ca. 5 basischen Aminosäu-
Ring auf, von dem aus je acht Filamente ins Cytosol bzw. Nucleo- ren bzw. zwei kleinere Cluster aus basischen Aminosäuren, un-
plasma weisen. Letztere sind zusätzlich querverbunden, sodass terbrochen von einem linker aus ca. 10 Aminosäuren. Gut cha-
eine korbartige Struktur (nuclear basket) entsteht. Die ca. 30 un- rakterisierte NES sind Aminosäuremotive mit 3–4 hydrophoben
terschiedlichen NUPs weisen eine überraschend geringe Zahl Aminosäuren, häufig Leucinen.
verschiedener Proteindomänen auf, zahlreiche NUPs, v. a. des Die Erkennung der NLS und NES, gefolgt von einer Bindung
zentralen Kanals, besitzen sog. FG-repeats, die durch vielfache an und dem Transport durch den NPC, wird durch Mitglieder
Wiederholungen kurzer Aminosäuremotive, die Phenylalanin (F) der Proteinfamilie der Karyopherine bewirkt. Beim Menschen
und Glycin (G) enthalten, gekennzeichnet sind. Diese FG-reichen sind bisher mindestens 20 Karyopherine identifiziert worden.
Domänen sind ungefaltet und füllen möglicherweise den zentra- Bis auf eine Ausnahme vermittelt ein Karyopherin entweder nur
12.1 · Die Zellkompartimente
163 12

. Abb. 12.7 Transport durch Kernporen. Im Cytosol werden Frachtmoleküle mit Kernlokalisierungssequenz NLS (Cargoimp) von einem Importin, beispiels-
weise dem Karyopherin-β, gebunden. Der Komplex bindet reversibel an cytoplasmatische und nucleoplasmatische Porenfilamente (CPF, NPF) und diffun-
diert dabei durch die Poren. Die notwendige Direktionalität wird durch eine Interaktion mit Ran-GTP, das nur im Kern gebildet wird, erzielt. Ran-GTP ver-
drängt die Fracht vom Importin und eskortiert Letzteres zurück ins Cytosol. Das Ran-GTP sorgt für den Export frachtfreier Importine und mit einer Fracht
(Cargoexp) komplexierter Exportine (hier crm1). Nach diesem ebenfalls reversiblen Durchgang wird das gebundene GTP unter Einwirkung eines cytosolischen
Ran-GTPase aktivierenden Faktors (Ran-GAP) hydrolysiert. Das Importin bzw. der Exportkomplex werden frei und können an einer weiteren Transportrunde
teilnehmen. Ran-GDP diffundiert alleine oder mit anderen Proteinen zusammen in den Kern und wird dort durch einen Guanosinnucleotidaustauschfaktor
(Ran-GEF) und GTP aktiviert

den Import eines Cargo-Moleküls (dann auch Importin genannt) Zellkern. An diesen Gradienten wird jetzt die Bindung von Ka-
oder aber den Export (dann auch Exportin genannt) (. Abb. ryopherin und Cargo gekoppelt, und zwar bezüglich Import und
12.7). Bisher sind etwas mehr Importine als Exportine charakte- Export in unterschiedlicher Weise. Während im Cytosol die Bin-
risiert worden. Da die Zahl der zu transportierenden Cargo- dung eines Importins an das in den Kern zu importierende Pro-
Moleküle bedeutend größer ist als die der Importine/Exportine, tein ohne Ran erfolgt, führt nach Translokation in den Zellkern
kann ein bestimmtes Karyopherin offensichtlich eine größere die Bindung von Ran-GTP an Importin zur Dissoziation des
Zahl an verschiedenen Proteinen transportieren. Alle bisher Importin-Cargo-Komplexes und damit zur Freisetzung des Car-
identifizierten Karyopherine können ihr Cargo direkt binden, gos. Umgekehrt bedarf es der Erkennung der NES eines zu expor-
einige benutzen aber auch Adaptorproteine, von denen Im- tierenden Cargos durch ein Exportin vorab der Bindung von Ran-
portin-α am besten charakterisiert ist. GTP, und alle drei Proteine werden gemeinsam durch den NPC
Neben den Karyopherinen spielt beim nucleocytoplasmati- transportiert. Im Cytosol bewirkt Ran-GAP bei Ran die Spaltung
schen Transport noch ein kleines G-Protein eine entscheidende von GTP zu GDP und der Exportin-Cargo-Ran-Komplex zerfällt.
Rolle. Es handelt sich um ein G-Protein aus der Ras-Superfamilie Auch die Rückkehr leerer Importine vom Zellkern in das Cyto-
und wird als Ran (ras-like nuclear) bezeichnet. Wie alle G-Pro- plasma ist an diesen Ran-GTP-Gradienten gekoppelt.
teine liegt Ran entweder in einer GDP-oder GTP-gebundenen Der nucleäre Export von mRNAs ist weniger gut verstanden,
Form vor. Ran steuert in entscheidender Weise die Richtung des läuft aber offensichtlich über RNA-bindende Proteine, die ge-
Transports, und zwar liegt Ran im Cytosol überwiegend in der meinsam mit der RNA mRNPs bilden. Der Export setzt einen
GDP-Form vor, im Zellkern aber in der GTP-Form (. Abb. 12.7). abgeschlossenen Spleißvorgang voraus (7 Kap. 46.3.3, 46.3.6).
Dieses Ungleichgewicht wird dadurch erreicht, dass ein Ran-GEF
(Ran-guanine nucleotide exchange factor) im Zellkern lokalisiert
ist, wohingegen sich im Cytosol ein Ran-GAP (Ran-GTPase acti- 12.1.3 Das endoplasmatische Retikulum
vating protein) findet. Ran-GEF bewirkt bei Ran einen Nucleotid-
austausch von GDP durch GTP, Ran-GAP wiederum steigert die Das endoplasmatische Retikulum (ER) ist ein weitverzweigtes in-
schwache endogene GTPase-Aktivität von Ran um den Fak- trazelluläres Membransystem, das einen Hohlraum umschließt,
tor 105. Ergebnis der Wirkung der beiden kompartimentalisierten das ER-Lumen. Das ER besteht aus zahlreichen Zisternen und
Enzyme ist ein steiler Gradient von Ran-GTP zwischen Zellkern Tubuli, ein Teil der ER-Membran umschließt auch als Kernhülle
und Cytoplasma, mit einer ca. 100fach höheren Konzentration im den Zellkern (. Abb. 12.2). Das ER findet sich in allen kernhalti-
164 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

gen Zellen, seine Größe und Ausdehnung ist aber vom Zelltyp go) wird dann über medial nach trans geleitet und dort in Vesikel
abhängig. Man unterscheidet zwischen glattem (smooth) ER und verpackt, die entweder mit der Plasmamembran oder mit dem
rauem (rough) ER. Letzteres erhält seine charakteristische »Rau- Endosom/Lysosom fusionieren (. Abb. 12.2). Die Membranen
heit« durch die Bindung von Ribosomen auf der cytoplasmati- von benachbarten Golgi-Zisternen sind nicht miteinander ver-
schen Seite. Dies weist auch schon auf die wesentliche Rolle des bunden, sondern tauschen Material ebenfalls über vesikulären
rauen ER hin, es ist nämlich der Ort der Biosynthese der meisten Transport aus. Ob dieser in beide Richtungen verläuft, also vor-
sekretorischen Proteine und Membranproteine. Hierbei wird die wärts (anterograd) und rückwärts (retrograd) oder ob sich die
auf der cytoplasmatischen Seite gebildete Polypeptidkette noch gesamte Golgi-Zisterne weiterbewegt und Vesikel nur für den
während ihrer Synthese (cotranslational) ungefaltet durch einen Rücktransport gebildet werden, ist derzeit noch umstritten.
Membrankanal, das Sec-Translocon, in das ER-Lumen hindurch- Die Hauptaufgabe des Golgi-Apparates ist die Prozessierung
geschleust, wo dann Faltung und Modifizierung erfolgen von Sekret- und Membranproteinen. Diese kann sich in einem
(7 Kap. 49.2.1). Dementsprechend haben Zellen mit großer Sekre- Umbau der Kohlenhydratseitenketten, in weiteren posttranslatio-
tionskapazität wie z. B. Hepatocyten oder Acinuszellen des exo- nalen Modifikationen wie Phosphorylierung oder Sulfatierung
krinen Pankreas ein besonders ausgeprägtes raues ER. Das glatte und in proteolytischen Spaltungen äußern. So erhalten viele Gly-
ER trägt keine Ribosomen und ist für verschiedene Stoffwechsel- koproteine hier ihre finalen Oligosaccharidstrukturen und viele
funktionen wichtig. So finden hier die Synthese von Phospholipi- Peptidhormone werden aus größeren inaktiven Vorstufen (Pro-
den, die Verlängerung und Desaturierung von Fettsäuren und hormonen) herausgeschnitten (z. B. Proopiomelanocortin) bzw.
bestimmte Schritte der Bildung von Steroiden statt. Eine weitere durch Proteolyse aktiviert (z. B. Konversion von Proinsulin zu
wichtige Funktion des glatten ER, v. a. der Leberzellen, ist die Be- Insulin, 7 Kap. 36.2). Die für die Prozessierung der reifenden
herbergung der Cytochrom-P450-Enzyme, die als Phase-I-Enzy- Proteine verantwortlichen Enzyme (z. B. Glycosyltransferasen)
me der Biotransformation für die Entgiftung zahlreicher Medika- sind in einzelnen Golgi-Zisternen lokalisiert und zwar in geord-
mente und Xenobiotica verantwortlich sind (7 Kap. 62.3). neter Weise, sodass z. B. der Umbau der Glycosylierung nach
Das Lumen des ER enthält im Wesentlichen die Enzyme, die einem genauen Plan in zahlreichen Einzelschritten erfolgen kann
an der Modifikation (z. B. Glycosylierung) und der Faltung (z. B. (7 Kap. 49.3.3). Nach dem Durchlauf durch den Golgi-Apparat
Ausbildung von Disulfidbrücken) von neugebildeten Sekret- gelangen die Proteine abschließend ins trans-Golgi-Netzwerk
und Membranproteinen beteiligt sind (7 Kap. 49.2.1). Darüber (TGN), wo letzte Modifizierungen und eine Sortierung der Pro-
hinaus stellt das ER-Lumen den wichtigsten intrazellulären Cal- teine für die unterschiedlichen Destinationen (konstitutive oder
12 ciumionenspeicher dar. Dieser ist bedeutend, da Ca2+-Ionen als regulierte Sekretion, Endosom, Lysosom, apikale oder basolate-
second messenger dienen und dementsprechend an zellulären rale Membran in epithelialen Zellen) stattfinden.
Signalketten beteiligt sind (7 Kap. 35.3.3). Durch Öffnung von
ligandengesteuerten Calciumkanälen in der ER-Membran
kommt es zum Einstrom von Ca2+-Ionen ins Cytosol und zur 12.1.5 Das Endosom
Aktivierung zahlreicher calciumbindender Proteine. Dieser Vor-
gang spielt v. a. bei der Muskelkontraktion eine entscheidende So wie ein durch Exocytose sezerniertes oder zur Plasmamemb-
Rolle; das spezialisierte ER von Skelettmuskelzellen wird als ran transportiertes Protein mehrere Kompartimente (ER, Golgi-
sarkoplasmatisches Retikulum bezeichnet (7 Kap. 63). Apparat) durchlaufen muss, gilt dies auch für Moleküle, die durch
Der Transport neusynthetisierter Sekret- und Membranpro- rezeptorvermittelte Endocytose in die Zelle aufgenommen wer-
teine vom ER zum Golgi-Apparat findet über Vesikel statt, die den (. Abb. 12.2). Nach Einstülpung und Abschnürung der Vesi-
von der ER-Membran ausknospen (. Abb. 12.2). Je nach Zelltyp kel von der Plasmamembran stellt hier das Endosom das erste
fusionieren diese direkt mit dem Golgi-Apparat oder aber mitei- Zielkompartiment dar, mit dem die Vesikel verschmelzen. Dabei
nander und bilden dann ein intermediäres Kompartiment, das gelangen die extrazellulären Anteile der Rezeptoren mit ihren Li-
ERGIC (ER-Golgi intermediate compartment), das als Ganzes ganden ins Lumen des Endosoms. Vom Endosom existieren meh-
weitertransportiert wird und ebenfalls mit dem Golgi-Apparat rere Reifungsstadien, die als frühes und spätes Endosom be-
fusioniert. zeichnet werden. Häufig werden endosomale Kompartimente
auch funktionell benannt, z. B. als CURL = compartment of un-
coupling of receptor and ligand oder Recycling-Endosom. In der
12.1.4 Der Golgi-Apparat endosomalen Membran lokalisierte Protonenpumpen (V-Typ-
ATPasen) transportieren aktiv Protonen in das Lumen des Endo-
Der Golgi-Apparat ist nach seinem Erstbeschreiber, dem italie- soms, was zu einer Ansäuerung dieses Kompartimentes (pH-
nischen Mediziner und Nobelpreisträger Camillo Golgi benannt. Wert ~ 6) führt. Hierdurch wird häufig die Bindung zwischen
Auch hier handelt es sich um ein System flacher membran- Ligand und Rezeptor gelöst und beide gelangen letztlich in unter-
umhüllter Zisternen. Diese sind jedoch im Gegensatz zum ER in schiedliche Kompartimente: der Rezeptor in ein Recycling-Kom-
einem auffällig geordneten Stapel (Golgi stack) angeordnet, von partiment, von dem aus eine Rückkehr zur Plasmamembran er-
dem jede Zelle üblicherweise nur einen besitzt, der meist kern- folgt, der Ligand in das späte Endosom und von da aus zum Lyso-
nah lokalisiert ist. Der Golgi-Apparat hat eine Orientierung von som. Späte Endosomen sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass
cis über medial nach trans. Vom ER kommende Vesikel fusionie- sich in ihnen die Membran auch nach innen ausstülpen kann, um
ren mit der cis-Seite oder bilden diese sogar aus. Ihr Inhalt (Car- nach Abschnürung die multivesicular bodies (MVBs) zu bilden.
12.1 · Die Zellkompartimente
165 12
Die Bildung interner Vesikel dient der Entfernung der Proteine 4 Autophagocytose bzw. Autophagie. Innerhalb der Zelle
aus der Membran der Endosomen, die anschließend im Lysosom bildet sich um ein spezifisches Areal eine Doppelmembran.
vollständig abgebaut werden sollen. Diese Membranproteine wer- Nach Fusion mit einem Lysosom wird alles, was sich inner-
den durch Ubiquitinierung (7 Kap. 49.3.2) an ihren cytosolischen halb der Membran befindet, abgebaut bis hin zu Organellen
Domänen markiert und dann von cytosolischen Eskortkomple- wie Mitochondrien oder Peroxisomen (7 Kap. 50.4).
xen (ESCORT, endosomal sorting complex required for transport)
erkannt. Eskortkomplexe sind letztlich auch an dem Invagina-
tionsprozess der Endosomenmembran beteiligt. 12.1.7 Das Mitochondrium
Das Endosom steht durch vesikulären Transport nicht nur
mit der Plasmamembran, sondern auch mit dem Golgi-Apparat Mitochondrien sind von einer Doppelmembran umschlossene
in enger Beziehung. So werden lysosomale Enzyme im Golgi- Zellorganellen, die für den Hauptteil der ATP-Synthese verant-
Apparat durch eine spezifische Markierung mit Mannose- wortlich sind. Man bezeichnet sie deshalb auch als »Kraftwerke«
6-Phosphat-Resten versehen, die im TGN eine spezifische Sor- der Zelle. Je nach Energiebedarf variiert deshalb auch die Zahl
tierung in solche Vesikel vermittelt, die direkt mit der endosoma- der Mitochondrien pro Zelle. Allerdings sind Mitochondrien
len Membran fusionieren. Somit ist gewährleistet, dass lyso- mobile und dynamische Organellen, die ständig miteinander fu-
somale Enzyme i.d.R. die Zelle nicht verlassen können. Spezielle sionieren und sich wieder trennen können. Im Mitochondrium
Formen des Endosoms sind u. a. das MHC-Klasse-II-Komparti- sind vier Reaktionsräume definierbar:
ment, in dem die Beladung von MHC-Klasse-II-Molekülen mit 4 äußere Mitochondrienmembran
lysosomal generierten Fremdpeptiden erfolgt (7 Kap. 70.5.2) und 4 innere Mitochondrienmembran
das GLUT4-Recycling-Kompartiment, in dem GLUT4-Glucose- 4 Intermembranraum
transporter auf einen Insulinstimulus zum Einbau in die Plasma- 4 mitochondriale Matrix
membran warten (7 Kap. 15.1.1). Inwieweit und wodurch sich
diese Membranstrukturen vom klassischen Recycling-Endosom Im Gegensatz zur äußeren Mitochondrienmembran weist die
unterscheiden, ist derzeit unklar. innere Mitochondrienmembran einen hohen Grad an Membran-
einstülpungen auf, die als Cristae bezeichnet werden und zu einer
erheblichen Vergrößerung der Membranoberfläche führen. Der
12.1.6 Das Lysosom Intermembranraum ist durch die zahlreichen in der äußeren Mi-
tochondrienmembran lokalisierten Porine mit dem Cytoplasma
Die eukaryontische Zelle ist in der Lage, Proteine und andere verbunden. Durch diese Poren können Ionen und kleinere Mole-
Makromoleküle nicht nur zu synthetisieren, sondern auch abzu- küle frei diffundieren, nicht aber z. B. das im Intermembranraum
bauen und in wiederverwertbare Bausteine, z. B. Aminosäuren, lokalisierte Cytochrom c, dessen Austritt aus dem Mitochondrium
Monosaccharide, Fettsäuren etc. zu zerlegen. Das zentrale Apoptose auslösen kann (7 Kap. 51.1). In der Mitochondrienma-
Organell hierfür ist das Lysosom. Hierbei handelt es sich um trix laufen wichtige Reaktionen des katabolen Stoffwechsels ab.
membranumhüllte, unregelmäßig geformte, meist rundliche Hier findet zum einen die β-Oxidation von Fettsäuren statt
Kompartimente mit einem Durchmesser von 100 nm bis 1 μm. (7 Kap. 21.2.1), zum anderen sind in der Matrix der Pyruvatdehy-
Lysosomen sind angefüllt mit zahlreichen unterschiedlichen drogenasekomplex (7 Kap. 18.2) und Enzyme des Citratcyclus
Hydrolasen wie Proteinasen, Lipasen, Nucleasen, Glycosidasen, (7 Kap. 18) lokalisiert.
Sulfatasen und Phosphatasen, die im sauren Milieu des Lysosoms In die innere Mitochondrienmembran sind die vier Kom-
(pH-Wert ~ 4–5) gemeinsam praktisch alle Biomakromoleküle plexe der Atmungskette integriert, in die die Reduktionsäquiva-
und phagocytierten Mikroorganismen verdauen können. Lysoso- lente NADH/H+ und FADH2, die während verschiedener Redox-
men stellen also praktisch den »Schrottplatz« der Zelle dar. Lyso- vorgänge gebildet werden, ihre Elektronen einspeisen. Diese
somale Enzyme werden am rauen ER synthetisiert und wie oben durchlaufen die Atmungskette und führen letztlich zur Reduk-
erwähnt bei der Passage durch den Golgi-Apparat mit einer Man- tion von Sauerstoff zu Wasser und zur Ausbildung eines Proto-
nose-6-Phosphat-Markierung versehen. Man kann primäre und nengradienten über der inneren Mitochondrienmembran. Die-
sekundäre Lysosomen unterscheiden. Primäre Lysosomen wer- ser Protonengradient treibt die ATP-Synthase an, die ebenfalls in
den von Vesikeln generiert, die vom Golgi-Apparat kommen und der inneren Mitochondrienmembran lokalisiert ist und auf der
die Hydrolasen in konzentrierter Form enthalten. Fusionieren Matrixseite die Synthese von ATP katalysiert (Atmungsketten-
diese primären Lysosomen mit späten Endosomen oder Phago- phosphorylierung) (7 Kap. 19.1).
somen entstehen sekundäre Lysosomen. Einige Zellen, z. B. Zel- Darüber hinaus finden Teile der Harnstoffsynthese (7 Kap.
len des Immunsystems, bilden auch sekretorische Lysosomen, 27.1.2), der Steroidhormonsynthese (7 Kap. 40) und der Häm-
die verdautes Material und spezifische Proteine (z. B. das poren- Biosynthese (7 Kap. 32.1) in den Mitochondrien statt.
formende Protein Perforin) in regulierter Weise sezernieren. Mitochondrien besitzen ein ringförmiges eigenes Genom,
Grundsätzlich gibt es mindestens zwei Mechanismen, wie das beim Menschen 16.569 bp groß ist und nur 37 Gene (13 Pro-
Makromoleküle ins Lysosom gelangen: tein-Gene, 22 tRNA-Gene und 2 rRNA-Gene) umfasst. Die
4 Endocytose oder Phagocytose. Makromoleküle werden überwiegende Mehrzahl der mitochondrialen Proteine (ca.
von außerhalb der Zelle ins Zellinnere gebracht und über 1.500) ist somit in der Kern-DNA codiert. Sie werden im Cyto-
das Endosom letztlich zum Lysosom transportiert. plasma synthetisiert und postranslational in das Mitochondrium
166 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

importiert (7 Kap 49.2.2). Die mitochondriale DNA ist nicht in


Nucleosomen verpackt und hat keine Introns. Auch der mito- Zusammenfassung
chondriale Translationsapparat ähnelt dem der Prokaryonten. Eukaryontische Zellen sind kompartimentiert, die verschie-
Mitochondrien replizieren sich autonom durch Teilung, die mi- denen zellulären Reaktionsräume sind durch eine oder zwei
tochondriale DNA wird üblicherweise maternal vererbt. Membranen voneinander getrennt.
Der Zellkern enthält die genetische Information, in ihm
finden Transkription und die Reifung der mRNA statt.
12.1.8 Das Peroxisom Import und Export von Proteinen in den bzw. aus dem
Zellkern ist signalvermittelt und erfolgt mit Hilfe von Karoy-
Peroxisomen (auch Microbodies genannt) sind runde, von einer pherinen. Endoplasmatisches Retikulum, Golgi-Apparat,
einfachen Membran umgebene Organellen mit einem Durchmes- Plasmamembran, Endosom und Lyosom stellen ein durch
ser von 0,1–1 μm. Sie sind in den meisten Zellen nachweisbar, vor Vesikeltransport verbundenes Kontinuum dar, in dem sich
allem aber in Leber- und Nierenzellen häufig zu finden. Eine Auf- Lipide und Proteine nach bestimmtem Gesetzmäßigkeiten
gabe der Peroxisomen ist die peroxisomale β-Oxidation lang- bewegen. Exo- und Endocytose sorgen dabei für die Sekre-
oder verzweigtkettiger Fettsäuren unter Verwendung von mole- tion bzw. Aufnahme von Proteinen und anderen Makro-
kularem Sauerstoff (7 Kap. 21.2.1) und die Entgiftung des dabei molekülen.
entstehenden Wasserstoffperoxids durch das Enzym Katalase: Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zelle, in den
Peroxisomen finden oxidative Prozesse statt.
2 H2O2 2 H2O+ O2

Die peroxisomale Katalase beseitigt auch andere freie Sauer-


stoffradikale und ist somit ein wichtiger Schutzfaktor gegen oxi- 12.2 Vesikulärer Transport
dativen Stress. Weitere Funktionen sind der oxidative Abbau ver-
schiedener Umweltgifte. Auch bei der Synthese von Etherlipiden, Die meisten zellulären Kompartimente sind durch einen vesiku-
Polyprenolen und Gallensäuren spielen Peroxisomen eine Rolle. lären Transport miteinander verknüpft, bei dem sowohl Mem-
Die Entstehung von Peroxisomen ist noch umstritten; es gibt branlipide und Membranproteine als auch im Vesikellumen se-
sowohl Hinweise für eine autonome Vermehrung durch Teilung lektiv verpacktes lösliches Material (sog. Cargo) ausgetauscht
12 wie auch für eine Entstehung aus ER-Membranen. Klar ist, dass werden. Eine der großen Leistungen der Zellbiologie war Ende
die löslichen peroxisomalen Proteine im Cytosol an freien Ribo- des letzten Jahrhunderts die Aufklärung der grundlegenden Me-
somen synthetisiert und posttranslational in die Peroxisomen chanismen der Vesikelbildung und die Erkenntnis, dass die hier-
importiert werden (7 Kap. 49.2.3). für notwendige Maschinerie zwischen Hefe und Mensch hoch
konserviert ist. Der Vorgang der Vesikelbildung an einer Donor-
membran und seiner Fusion mit der Zielmembran läuft im Prin-
12.1.9 Lipidtröpfchen zip immer nach folgendem Schema ab:
4 Rekrutierung sog. Mantelproteine (Clathrin-Triskelions
Lipidtröpfchen oder Fettvakuolen (lipid droplets) sind runde oder Coatamere) an die Donormembran
bis ovale im Cytoplasma eingelagerte Strukturen, die neutrale 4 Bildung einer Membranknospe (budding)
Fette (Triglyceride, Cholesterinester, Retinylester) speichern und 4 Abschnürung des umhüllten Vesikels
in zahlreichen Zelltypen zu finden sind. Adipocyten, die Zellen des 4 Verlust der Vesikelhülle (uncoating)
Fettgewebes, sind fast ausschließlich von Lipidtröpfchen ausge- 4 Andocken an die Zielmembran (docking)
füllt. Lipidtröpfchen sind nicht von einer kompletten Biomembran 4 Fusion mit der Zielmembran
umgeben, sondern nur von einer Halbschicht, überwiegend aus
Phospholipiden. Sie zeigen einen micellaren Aufbau, vergleichbar Bisher sind mindestens drei unterschiedliche Mantelproteine
den Lipoproteinpartikeln im Plasma (7 Abb. 24.1). Dieser Lipid- (coatamer proteins) identifiziert worden. Bei dem zuerst iden-
halbschicht ist eine Gruppe von Proteinen aufgelagert, die als tifizierten handelt es sich um Clathrin, ein Mantelprotein, das bei
Perilipin-Familie bezeichnet wird. Perilipine übernehmen dabei der Bildung von endocytotischen Vesikeln an der Plasmamem-
offensichtlich nicht nur strukturelle Aufgaben, sondern sind auch bran eine wesentliche Rolle spielt (. Abb. 12.8). Darüber hinaus
an der Regulation der Lipolyse beteiligt, indem sie den Zugang von findet auch der Transport zwischen Golgi-Apparat und Lyso-
lipolytischen Enzymen zum Fettspeicher steuern (7 Kap. 21.3.1). som mit Clathrin-beschichteten Vesikeln (clathrin coated
Auch die Entstehung von Lipidtröpfchen ist noch unklar. Ein vesicles) statt (. Abb. 12.9). Clathrin ist ein Hexamer, beste-
Modell geht von einer Entstehung aus der ER-Membran aus, hend aus drei schweren und drei leichten Ketten, die ein Tris-
indem zwischen den beiden Lipidhalbschichten zunehmend kelion bilden (. Abb. 12.8). Durch Zusammenlagerung zahl-
neutrale Lipide akkumulieren und so die beiden Halbschichten reicher Triskelia, die spontan auch im Reagenzglas stattfindet,
linsenförmig auseinanderdrängen. Wann und wie daraus ein wird ein kugelförmiger Korb mit hexagonaler und penta-
separates Organell entsteht, ist unbekannt. Es ist auch gezeigt, gonaler Strukturierung gebildet, der an die Nähte eines Fuß-
dass die Hülle der Lipidtröpfchen eine andere Lipidzusammen- balls erinnert. Über Adaptorproteine (AP1 bis AP4) werden
setzung als die ER-Membran aufweist. die Clathrinmoleküle an die Membran rekrutiert, wobei die
12.2 · Vesikulärer Transport
167 12

A B C

D E

. Abb. 12.8 Beteiligung von Clathrin und PI(4,5)P2 an der Endocytose. A Modell eines Clathrintriskelions aus drei leichten und drei schweren Ketten.
B Seitliche Betrachtung eines Triskelionmodells. C Clathrintriskelia assoziieren zu einer hexagonalen Struktur. D Intrazelluläre Seite der Plasmamembran
(Gefrierätzung) mit verschiedenen Stadien der Vesikelbildung. In den Arealen mit wabenartiger Beschichtung sind neben Hexa- auch Pentagone zu erken-
nen, die eine knospenartige Vorwölbung ermöglichen. Bei den kleineren Ausstülpungen ohne Waben handelt es sich um Caveolae. Die Fasern sind Actinfi-
lamente. (Aus Heuser JE, Anderson RG 1989, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier). E Modell der Bildung von Clathrinvesikeln. In Membranbereichen
mit verstärkter Bildung von PI(4,5)P2 kommt es zu einer Ansammlung von endocytierbaren Rezeptoren und einer Anlagerung von Clathrin und Adaptor-
proteinen, z. B. AP2, an die Plasmamembran. Clathrin unterstützt die Einstülpung der Membran, Dynamin die Abschnürung des Vesikels, nach der die Be-
schichtung abgelöst wird. Dies geht einher mit der Dephosphorylierung von PI (4,5) P2 zur PI(4)P

Adaptorproteine an die cytoplasmatischen Domänen spezifischer einstülpenden Membran (clathrin-coated pit). Die Abschnü-
Transmembranproteine (Cargo-Rezeptoren) binden und somit rung der Vesikel von der Membran erfolgt mit Hilfe der
deren Verpackung in den sich bildenden Vesikeln vermitteln. Bei GTPase Dynamin, die sich spiralförmig um den entstehenden
der rezeptorvermittelten Endocytose erkennt das Adaptorprote- Hals legt und diesen nach GTP-Spaltung vermutlich mechanisch
in AP2 Internalisierungsequenzen innerhalb der cytosolischen durchtrennt. Bei der Entstehung von Vesikeln spielen offen-
Domäne von internalisierenden Rezeptoren (. Abb. 12.8E), die sichtlich auch regulatorische Lipide eine wichtige Rolle, v. a.
in den allermeisten Fällen entweder auf einem Tyrosinrest ba- verschieden stark phosphorylierte Formen von Phosphati-
sieren (Tyrosin-Typ: Tyr-X-X- , mit für eine hydrophobe dylinositol (z. B. PI(4,5)P2; . Abb. 12.8E und 7 Abb. 35.8).
Aminosäure mit großer Seitenkette) oder durch zwei benach- Diese werden lokal vermehrt gebildet und rekrutieren eben-
barte Leucinreste mit saurer Umgebung (Di-Leucin-Typ) falls Adaptorproteine, die an der Vesikelbildung beteiligt
gekennzeichnet sind. Das Vesikel formt sich aus einer zunehmend sind.
168 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

12

. Abb. 12.9 Verschiedene Mantelproteine werden für unterschiedliche


Transportschritte verwendet. COPI sind für den retrograden Transport zwi- . Abb. 12.10 Bildung eines Transportvesikels an der Donormembran.
schen Golgi-Kompartimenten und ER verantwortlich, COPII für den antero- GEF, guanine nucleotide exchange factor. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert
graden Transport zwischen ER und cis-Golgi. Ob es einen anterograden Vesi- nach Lodish 2007)
keltransport zwischen den verschiedenen Golgi-Stapeln gibt, ist umstritten.
Clathrinvesikel werden am trans-Golgi und an der Plasmamembran gebildet.
(Adaptiert nach Lodish 2001)

Die anderen beiden Mantelproteine bezeichnet man als COPI GTP wird eine amphiphile Helix des Arf/Sar-Proteins expo-
und COPII (coatamer proteins). Sie sind für die Vesikelbildung niert, die zu dessen Rekrutierung an die Membran führt. An
im anterograden (COPII) und retrograden (COPI) Transport dieses binden jetzt die Mantelproteine 2 und die Vesikelbildung
zwischen ER und Golgi-Kompartimenten verantwortlich (. Abb. schreitet voran. Die Mantelproteine wiederum rekrutieren in
12.9). Auch diese Mantelproteine bilden korbförmig strukturier- das entstehende Vesikel transmembrane Cargo-Rezeptoren
te Membranmäntel. Unregelmäßiger geformt ist das kürzlich und diese binden an das zu transportierende Cargo 2 . Nach
beschriebene Retromer, ein Multiproteinkomplex, der offen- Vesikelabschnürung (z. B. durch Dynamin) kommt es durch
sichtlich für den Rücktransport von Proteinen, wie dem Manno- GTP-Hydrolyse 3 zu einer schnellen Absprengung des Mantels
se-6-Phosphat-Rezeptor, vom Endosom zum Golgi-Apparat 4 , denn dieser ist für die Fusion mit der Zielmembran störend.
verantwortlich ist. Wie findet jetzt ein Vesikel überhaupt seine Zielmembran?
Die Rekrutierung der Mantelproteine Clathrin, COPI und Hierfür ist eine weitere Klasse von Membranproteinen verant-
COPII an die Membran wird über kleine G-Proteine gesteuert, wortlich, die sich sowohl auf der Vesikelmembran wie auch auf
die zur Familie der Arf/Sar-Proteine gehören (. Abb. 12.10). der Zielmembran befinden, die sog. SNAREs (soluble NSF-attach-
Diese liegen in GDP-gebundener Form löslich im Cytoplasma ment protein receptors) (. Abb. 12.11). Hiervon gibt es beim
vor und werden durch membranständige Nucleotidaustausch- Menschen mindestens 35 verschiedene, einige finden sich auf der
faktoren (GEF) aktiviert 1 . Nach Austausch von GDP durch Vesikelmembran (v-SNAREs, v für vesicle), einige auf der Ziel-
12.3 · Proteinsortierung
169 12
taxin und SNAP-25) winden sich umeinander und bilden den
SNARE-Komplex 3 . Dies bringt Vesikel und Zielmembran so
nahe aneinander, dass die Fusion beider Membranen eingeleitet
werden kann 3 . Wie dieser letzte Schritt genau abläuft, ist noch
unklar. Ein Paradigma für diesen Prozess stellen verschiedene
virale Fusionsproteine dar, z. B. das Influenza-Hämagglutinin.
Hier kommt es durch pH-Veränderung und darauf folgende
Konformationsänderung zur Einlagerung hydrophober Fusions-
peptide in die Zielmembran, wodurch die virale Membran in
unmittelbare Nähe zur Zellmembran gebracht wird, was dann
eine Fusion zur Folge hat. Auf jeden Fall müssen nach der Fusion
v-SNAREs von den t-SNAREs wieder getrennt und retrograd
zurück zur Donormembran transportiert werden (Letzteres nicht
gezeigt). Dieser Prozess benötigt ATP, den N-ethylmaleimide sen-
sitive factor NSF aus der Familie der AAA+-ATPasen (7 Kap. 49.1.4)
und das α-soluble NSF-attachment protein α-SNAP 4 .
Neben den oben erwähnten Arf/Sar-Proteinen spielen auch
G-Proteine der Rab-Familie eine entscheidende Rolle beim vesi-
kulären Transport. Mit über 60 Mitgliedern handelt es sich um
die größte Gruppe monomerer GTPasen. Verschiedene Rab-
Proteine dekorieren unterschiedliche vesikuläre und komparti-
mentäre Membranen und stellen somit ein weiteres System der
Membranspezifität dar. Auch Rab-Proteine wandern zwischen
Cytosol (GDP-Form) und Membran (GTP-Form) hin und her
und regulieren die Assoziation weiterer Proteine mit der Memb-
ran. Von den zwei interagierenden Membranen tragen in der
Regel beide ein aktives Rab-Protein, die über die Bindung an
Rab-Effektoren das Andocken und die Fusion zeitlich koordinie-
ren und kontrollieren.

Zusammenfassung
Vesikulärer Transport zwischen verschiedenen zellulären
Kompartimenten beginnt mit der Bildung einer von Mantel-
proteinen umhüllten Membran-Knospe, die sich letztendlich
als ummanteltes Vesikel abschnürt. Nach Absprengung des
Mantels und vermittelt über eine spezifische Interaktion zwi-
schen Vesikel- und Zielmembranproteinen (v- und t-SNAREs)
kommt es zur Fusion des Vesikels mit der Zielmembran. Rab-
G-Proteine steuern Spezifität und zeitlichen Ablauf des vesi-
kulären Transports.

. Abb. 12.11 Andocken eines Transportvesikels an die Zielmembran mit


anschließender Fusion beider. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Lodish 12.3 Proteinsortierung
2001)

Die Kompartimentierung der Zelle in zahlreiche Reaktionsräu-


membran (t-SNAREs, t für target) 1 . SNAREs sind entweder me macht es erforderlich, dass Proteine nach der Synthese gezielt
über Transmembrandomänen (z. B. vesicle-associated membrane an den richtigen zellulären Wirkort transportiert werden. Eine
protein VAMP und Syntaxin) oder über Lipidmodifikationen in Fehllokalisation, z. B. von Enzymen oder Transportern, kann
der Membran verankert (z. B. soluble NSF-attachment protein gravierende Konsequenzen haben. Eine herausragende Leistung
SNAP-25) und durch helicale Bereiche auf der cytoplasmatischen der Zellbiologie war die Erkenntnis, dass Proteine innerhalb ih-
Seite (SNARE-Motive) charakterisiert 2 . Nach neuerer Nomen- rer Primärsequenz Aminosäuremotive tragen, die als »Adressen«
klatur unterscheidet man unter Bezugnahme auf strukturelle für ihre korrekte Sortierung sorgen. Ein derartiges Sortiersignal
Eigenschaften auch zwischen R-und Q-SNAREs (Arginin bzw. bedarf natürlich eines erkennenden Rezeptors und einer geeig-
Glutamin im zentralen Verdrillungsbereich). Jeweils vier Helices neten Transportmaschinerie. Günter Blobel erhielt 1999 den No-
(eine vom R-SNARE hier VAMP, drei von Q-SNAREs hier Syn- belpreis dafür, dass er mit seiner Signalhypothese den Grund-
170 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

. Tab. 12.1 Typische Proteinsortierungssignale

Zielorganell Lokalisation innerhalb Erkennung durch Abspaltung Art der Sequenz


des Proteins

Endoplasmatisches Retikulum N-Terminus Signal recognition particle + Positiv geladener N-Terminus,


(Translokation) (SRP) (7 Kap. 49.2.1) gefolgt von 7-15 zentralen hydro-
phoben Aminosäuren und 2–9
polaren Resten mit Signalpeptida-
se-Spaltstelle

Endoplasmatisches Retikulum C-Terminus KDEL-Rezeptor – Lys-Asp-Glu-Leu (KDEL)


(Retention von löslichen Proteinen)

Endoplasmatisches Retikulum Cytoplasmatische Coatamer protein COPI – Lys-Lys-X-X


(Retention von Membranproteinen) Domäne

cis-Golgi (Export von Membran- Cytoplasmatische Coatamer protein COPII – Asp/Glu-X-Asp/Glu


proteinen vom ER) Domäne

Mitochondrium (Matrix) N-Terminus TOM (translocase of the + Amphipathische Helix, auf einer
outer membrane)-Komplex Seite mit basischen auf der ande-
(7 Kap. 49.2.2) ren mit hydrophoben Aminosäuren

Peroxisom C-Terminus Peroxisomal targeting – Ser-Lys-Leu (SKL)


signal receptor (PTSR)
(7 Kap. 49.2.3)

Nucleus (Import) Verteilt Importine – Kurze Sequenz aus basischen


Aminosäuren bzw. zwei Cluster aus
basischen Aminosäuren

Nucleus (Export) Verteilt Exportine und RanGTP – Hydrophobe Aminosäuren, häufig


Leu
12 Lysosom (lösliche Proteine) Kohlenhydratanteil Mannose-6-Phosphat- – Mannose-6-Phosphat
Rezeptor

Endosom (über clathrin-coated Cytoplasmatische Adaptorprotein (AP2) – Tyr-X-X-


vesicles) Domäne oder
Leu-Leu

stein für diese Erkenntnisse gelegt und in der Folgezeit zusam- den meisten Fällen während oder nach der Translokation abge-
men mit anderen Forschern die experimentellen Nachweise da- spalten. Der Transport in den Zellkern dagegen ist reversibel und
für erbracht hat. viele Proteine (z. B. Transkriptionsfaktoren) wandern mehrere
Bei dem Transport neusynthetisierter Proteine zu ihren Ziel- Male zwischen Zellkern und Cytoplasma hin und her. Sie tragen
kompartimenten ist in aller Regel mindestens eine Biomembran deshalb permanente Import- und Exportsequenzen, die je nach
zu durchqueren. So müssen sekretorische Proteine die Membran Bedarf durch geeignete Maßnahmen exponiert oder verdeckt
des endoplasmatischen Retikulums überqueren, um in das Lu- werden, z. B. durch Bindung und Dissoziation von heat-shock-
men des ER zu gelangen. Proteine, die im Zellkern codiert wer- Proteinen oder durch Phosphorylierung/Dephosphorylierung.
den, ihre Funktion aber in der Matrix des Mitochondriums aus- Lösliche und transmembrane Proteine werden innerhalb des
üben, müssen die äußere und innere Mitochondrienmembran Endomembranensystems ebenfalls über bestimmte Signalse-
durchqueren und Proteine, die ihre Funktion im Zellkern aus- quenzen zu den jeweiligen Kompartimenten transportiert. So
üben, müssen die Kernmembran überwinden. Für all diese tragen Rezeptoren an der Plasmamembran in ihrer cytosolischen
Transportprozesse hat die Zelle ausgeklügelte Transportsysteme Domäne Internalisierungssequenzen, die den Einbau in clathrin-
entwickelt. Während man ursprünglich glaubte, dass Proteine coated vesicles vermitteln (s. o.). Lösliche ER-Proteine sind durch
möglicherweise im ungefalteten Zustand die Lipidmembran di- eine KDEL (Lys-Asp-Glu-Leu)-Sequenz charakterisiert, die da-
rekt durchdringen können (einige virale Proteine können das, für sorgt, dass diese Proteine das ER nicht verlassen oder aus dem
z. B. das HIV TAT-Protein), ist inzwischen klar, dass hierfür spe- cis-Golgi zurückgeholt werden, falls sie doch einmal dorthin ge-
zielle Proteinkanäle (z. B. Translocons und Kernporen) verant- langt sind. . Tab. 12.1 gibt eine Übersicht über verschiedene per-
wortlich sind. manente und nicht-permanente Signalsequenzen von Proteinen,
Die Sortierung von Proteinen in das endoplasmatische Reti- die bei den unterschiedlichen zellulären Transportmechanismen
kulum und in das Mitochondrium sind irreversible Prozesse. Die eine Rolle spielen.
hierfür verantwortlichen Signalsequenzen werden deshalb in
12.3 · Proteinsortierung
171 12

Viren
Viren sind submikroskopisch kleine (Durchmesser 20–300 nm) Infek-
tionserreger, die aus Nucleinsäuren (RNA oder DNA), Proteinen und
häufig auch einer Lipidmembran bestehen (. Abb. 12.12). Aufgrund
ihrer geringen Größe können sie nur im Elektronenmikroskop sichtbar
gemacht werden. Viren zählt man nicht zur belebten Natur, da sie kei-
nen eigenen Stoffwechsel besitzen. Viren vermehren sich intrazellulär
und nutzen die Biosynthesemaschinerie ihrer Wirtszelle für ihre eigenen
Bedürfnisse. Viren können extrem kleine Genome besitzen, mit nur we-
nigen Tausend Basenpaaren, die für nur eine Handvoll Proteine codieren
(z. B. Retroviren); es gibt aber auch Viren mit Genomen von 250 000 bp
und mehr (z. B. Herpes- oder Pockenviren). Viren werden in Familien ein-
geteilt, wobei u. a. folgende Kriterien berücksichtigt werden:
4 die Art des Genoms,
4 das Vorhandensein einer Membranhülle,
4 die Struktur und die Symmetrie des Proteinmantels (Capsid oder
Nucleocapsid), der das Genom umgibt und aus mehr oder weniger
identischen Capsomeren besteht.

(Übersicht über die derzeit bekannten Virusfamilien s. www.ICTVonline.


org).
Als virales Genom können RNA oder DNA dienen, und zwar sowohl als
Einzelstrang als auch als Doppelstrang. Bei Viren mit einem einzelsträn-
. Abb. 12.12 Aufbau eines Virus mit Membranhülle
gigen RNA-Genom kann dieses codierend sein (Positivstrang-Viren, sen-
se-Orientierung) oder nicht-codierend (Negativstrang-Viren, anti-sense-
Orientierung). Bei den Viren mit Positivstrang-RNA kann die virale RNA viren für Enzyme, die die 5’-cap-Struktur von mRNAs abspalten (de-cap-
direkt als mRNA in der Proteinsynthese eingesetzt werden, es ist also ping enzymes) und somit den turnover zellulärer mRNAs beeinflussen
keine Transkription nötig. In diesem Fall ist auch die nackte RNA infekti- können.
ös. Das Genom dieser Viren codiert u. a. für eine RNA-abhängige RNA- Eine typische virale Infektion wie die mit dem AIDS (Aquired Immune
Polymerase, die die einzelsträngige RNA in einen Negativstrang über- Deficiency Syndrom) auslösenden humanen Immundefizienzvirus (HIV)
setzt, der dann wiederum als Matrize für die Synthese eines Positivstran- lässt sich in folgende Phasen gliedern (. Abb. 12.13):
ges dient. Bei den Viren mit Negativstrang-RNA muss diese zuerst von 4 Anhaftung (Adsorption) des Virus an die Plasmamembran
einer RNA-abhängigen RNA-Polymerase in mRNAs übersetzt werden, 4 Fusion von Virushülle und Zellmembran (nur bei membran-
die dann die Synthese viraler Proteine veranlassen. Diese RNA-Polyme- umhüllten Viren)
rase muss das Viruspartikel in seinem Nucleocapsid mitbringen. 4 Freisetzung des Genoms
Bei den Influenzaviren ist das Negativstrang-RNA-Genom segmentiert, 4 Umschreibung in DNA und Integration in Wirts-DNA (nur bei Retro-
d. h. einzelne Gene sind auf unterschiedliche RNA-Molekülen (in der Re- viren)
gel 7 bis 8) verteilt. Die Gene für die beiden Hüllproteine der Influenza- 4 Expression der Virusgene
viren Hämagglutinin und Neuraminidase existieren in verschiedenen 4 Replikation des Virusgenoms
Varianten (aus ihnen beziehen die Influenzaviren auch ihre Subtypbe- 4 Einbau von viralen Hüllproteinen in die Plasmamembran
zeichnung, z. B. H1N1). Wenn zwei Virusstämme, die auf unterschiedli- 4 Knospung und Freisetzung von neuen Viren
chen Wirten wachsen (z. B. Ente und Mensch) gemeinsam einen dritten
Wirt (z. B. Schwein) infizieren, kann es durch eine Durchmischung der Die Anheftung (Adsorption) findet über die Bindung an Zelloberflä-
segmentierten Genome zur Bildung neuer hochinfektiöser Varianten chenstrukturen statt. Dies können Proteine oder Oligosaccharide von
kommen, die dann gefährliche weltweite Pandemien auslösen können Glykoproteinen und Glykolipiden sein. HIV bindet z. B. an zwei unter-
(antigenic shift). schiedliche zelluläre Membranproteine, zum einem an CD4, einem Zell-
Die große Gruppe der Retroviren verfügt über eine einzelsträngige RNA oberflächenmarker von T-Helferzellen, Monocyten und Makrophagen
mit positiver Orientierung, die nach Infektion in einen DNA-Doppel- und zum anderen an bestimmte Chemokinrezeptoren (CCR5, CXCR4)
strang übersetzt werden muss. Für diesen ungewöhnlichen Schritt be- (7 Kap. 34.2.4). Menschen, die aufgrund einer seltenen Mutation die
sitzen die Retroviren eine RNA-abhängige DNA-Polymerase, die sog. Re- Chemokinrezeptorgene nicht exprimieren, scheinen weitgehend vor
verse Transkriptase (7 Kap. 10.3.1 und 54.3). Die Entdeckung dieses En- einer HIV-Infektion geschützt zu sein.
zyms 1970 durch Howard Temin und David Baltimore war eine der Die Penetration des Virus kann direkt an der Plasmamembran oder aber
Schlüsselentdeckungen der Molekularbiologie. Durch dieses Enzym nach rezeptorvermittelter Endocytose des Viruspartikels in endocytoti-
kann eine gespleißte eukaryontische mRNA in eine intronfreie cDNA schen Vesikeln stattfinden. Der niedrige pH-Wert des Endosoms akti-
rückübersetzt werden, was die Grundvoraussetzung für die Expression viert dabei häufig virale Fusionsproteine (z. B. Influenza-Hämagglutinin),
eines eukaryontischen Proteins in Prokaryonten ist (7 Kap. 54.3). Ohne die die Verschmelzung der Viruslipidhülle und der endosomalen Mem-
die »Erfindung« der Reversen Transkriptase durch Viren hätte sich die bran vermitteln, wodurch das Nucleocapsid ins Cytosol freigesetzt wird
Molekularbiologie nicht in der Weise entwickeln können wie sie es tat. (uncoating).
Viren mit DNA-Genomen nutzen häufig die zelluläre Transkriptions- und Die Expression viraler Gene, die Replikation und der Zusammenbau
Replikationsmaschinerie, obwohl es auch hier Familien gibt, die z. B. für neuer Viruspartikel läuft für die verschiedenen Virustypen nach jeweils
eigene DNA-Polymerasen codieren. Alle Viren benutzen den zellulären charakteristischen Szenarien ab. Bei den lipidumhüllten Viren ist
Translationsapparat. Durch verschiedene Strategien gelingt es den Vi- mindestens eines der viralen Proteine ein transmembranes
ren, die zelluläre Proteinsynthese abzuschalten und dafür die Synthese Glykoprotein, das am ER translatiert und über den Exocytoseweg zur
viraler Proteine durchzusetzen. So codiert z. B. das Genom der Pocken- Plasmamembran transportiert wird. Hier markiert es die Stelle, an der

6
172 Kapitel 12 · Zellorganellen und Vesikeltransport

12

. Abb. 12.13 Infektionszyklus des humanen Immundefizienzvirus. Für die Bindung des Virus an die Zelloberfläche und seine nachfolgende Auf-
nahme ist neben dem CD4-Protein ein Chemokinrezeptor notwendig. Dabei kann es sich entweder um einen CC-Chemokinrezeptor (CCR5) oder
einen CXC-Chemokinrezeptor (CXCR4) handeln. Sie bestimmen den Zelltropismus des Virus und sind dafür verantwortlich, ob die Virusvarianten
Makrophagen oder T-Lymphocyten infizieren. Nach der Aufnahme des Virus und der Freisetzung des RNA-Genoms wird dieses mit Hilfe der viralen
reversen Transkriptase (RT) in doppelsträngige DNA umgeschrieben und als die Provirus-DNA in das zelluläre Genom integriert. Von dort werden
die einzelnen viralen Gene transkribiert und translatiert, sodass anschließend der Zusammenbau neuer Viren und deren Freisetzung durch Knos-
pung erfolgen können. Das env-Gen codiert für ein Transmembranprotein ENV, das am rER translatiert wird und aus dem proteolytisch die Trans-
membranproteine gp120 und gp41 entstehen. Sie dienen der Knospung des Virus an der Plasmamembran. Die cytoplasmatisch gebildeten Capsid-
proteine werden ebenfalls proteolytisch prozessiert, bevor sie gemeinsam mit der neugebildeten Virus-RNA das Nucleocapsid formen

die neugebildeten Nucleocapside von innen an die Plasmamembran lösung von Tumorerkrankungen führen. Eine Reihe von Retroviren tra-
andocken und dann eine Membranknospe bilden, die sich schließlich gen virale Onkogene (z. B. src des Rous-Sarkoma-Virus), das sind mu-
als neues Viruspartikel von der Zelle abschnürt. tierte zelluläre Gene, deren Produkte an Schlüsselstellen der zellulären
Neben diesem akuten »lytischen« Infektionszyklus, der in der Regel Wachstumsregulation sitzen (7 Kap. 53). Eine permanente Expression
zum Untergang der infizierten Zelle durch Apoptose, Nekrose oder im- oder Aktivierung derartiger Onkogene kann bei der Tumorentstehung
munvermittelter Zell-Lyse führt, gibt es auch persistierende oder laten- eine wichtige Rolle spielen. Beim Menschen sind z. B. gewisse Papil-
te Infektionszyklen (z. B. Hepatitis-B- und C-Viren, Papillomviren, Her- lomviren für die Entstehung des Zervixkarzinoms ursächlich verant-
pesviren). Hier werden nur in geringem Umfang oder gar keine Viren wortlich. Zudem werden verschiedene persistierende Infektionen mit
gebildet und die Schädigungen verlaufen über sehr lange (manchmal unterschiedlichen DNA-Viren beim Menschen mit bestimmten Tumor-
lebenslange) Zeiträume. Bei latenten Infektionen lösen häufig psychi- entitäten in Verbindung gebracht (primäres Leberzellkarzinom: Hepati-
scher und physischer Stress eine erneute Expression viraler Gene aus. tis B- und C-Viren; Burkitt-Lymphom: Epstein-Barr-Virus; Kaposi-Sar-
In einigen Fällen (z. B. Retroviren) können auch Teile des viralen Ge- kom: Humanes Herpesvirus 8, häufig in Kombination mit einer HIV-In-
noms in die Wirtszell-DNA integriert werden und sind dort über lange fektion).
Zeiträume nachweisbar. Je nach Integrationsort kann dies u. a. zur Aus-
12.3 · Proteinsortierung
173 12

Zusammenfassung
Proteine müssen noch während oder nach ihrer Synthese
in das richtige Zellkompartiment transportiert werden. Die
Information für diesen Sortierungsprozess ist in der Primär-
sequenz in Form von »Proteinadressen« festgelegt. Diese
werden durch entsprechende Rezeptoren erkannt und die
zu sortierenden Proteine dadurch an bestimmte Transport-
prozesse gekoppelt. Nach einmaligen und irreversiblen
Transportschritten wird die Proteinadresse häufig proteoly-
tisch abgespalten.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


13 Cytoskelett
Lutz Graeve, Matthias Müller

Einleitung mit anderen zellulären Strukturen (z. B. Zelladhäsionsmolekülen)


verbinden und das ganze System dynamisch regulieren.
Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts war umstritten, ob und in Das Cytoskelett sorgt für die Trennung der Chromosomen
welchem Ausmaß das Cytosol einer Zelle durch ein Cytoskelett struktu- während der Zellteilung und bewirkt die Einschnürung der sich
riert ist. Entsprechende faserartige Strukturen in elektronenmikroskopi- teilenden Zelle bis zur Bildung zweier Tochterzellen (. Abb.
schen Aufnahmen wurden oft für Fixierungsartefakte gehalten. Mit der 13.1D). Es unterstützt die fragile Plasmamembran und sorgt da-
Einführung immuncytochemischer Methoden gelang dann endgültig für, dass Epithelzellen stabil miteinander verbunden werden und
der Nachweis, dass eukaryontische Zellen von einem hochstrukturierten großen mechanischen Einflüssen (z. B. der Darmperistaltik) wi-
Netzwerk aus unterschiedlichen cytosklelettären Elementen durch- derstehen können. Mithilfe sog. Motorproteine, die unter ATP-
zogen sind. Diese sind an der dynamischen Organisation von Zellform Verbrauch mechanische Bewegungen durchführen können, be-
und -bewegung, der Zellteilung, der Verankerung von Zelladhäsions- wirkt das Cytoskelett die Kontraktion von Muskelzellen und die
proteinen und dem intrazellulären Transport unterschiedlichster mem- Bewegung von Organellen innerhalb der Zelle. Mobile Zellen
branärer Strukturen beteiligt. (z. B. neutrophile Granulocyten und Makrophagen) können sich
mithilfe des Cytoskeletts durch Gewebe hindurch bewegen, um
Schwerpunkte Pathogene aufzufinden und zu bekämpfen. Das Cytoskelett er-
laubt Spermien zu schwimmen und Fibroblasten über Oberflä-
4 Aufbau, Dynamik und Funktion der Elemente des Cyto-
chen hinwegzuwandern. In Neuronen schließlich ist das Cyto-
skletts
skelett für das Auswachsen von Dendriten und Axonen
4 Bedeutung des Cytoskeletts für pathobiochemische
unerlässlich. Dabei zeigt das Cytoskelett auf der einen Seite eine
Prozesse und pharmakologische Intervention
hohe Flexibilität und Dynamik, die innerhalb kürzester Zeit auf
4 Aufbau und Funktion von Motorproteinen
13 Veränderungen der Umwelt reagieren kann, bildet aber auf der
anderen Seite oft auch sehr stabile Strukturen aus, die über lange
Zeiträume unverändert erscheinen.
Die typische eukaryontische Zelle ist durch ein aus
mindestens drei unterschiedlichen grundlegenden Alle Cytoskelettstrukturen werden durch Poly-
Elementen gebildetes Cytoskelett charakterisiert merisation kleinerer Proteinuntereinheiten gebildet
Das Cytoskelett fast jeder Zelle besteht aus: Mikrofilamente, Mikrotubuli und Intermediärfilamente können
4 Intermediärfilamenten, die aus zahlreichen unterschied- eine beträchliche Länge von mehreren hundert Mikrometern
lichen eher stäbchenförmigen Strukturen zusammengesetzt erreichen und somit die Zelle komplett durchqueren. Die
sind und einen Durchmesser von 10 nm besitzen (. Abb. Proteine, aus denen das Cytoskelett aufgebaut ist, sind aber nur
13.1A). wenige Nanometer groß. Cytoskelettstrukturen werden also
4 Mikrofilamenten oder Actinfilamenten, die aus langen durch Polymerisation von oft mehreren tausend gleichen Unter-
Ketten aneinandergereihter globulärer Actinmoleküle einheiten gebildet, die durch Aneinanderlagerung lange filamen-
bestehen und einen Durchmesser von 7–9 nm besitzen töse oder tubuläre Strukturen ausbilden. Das Studium dieser
(. Abb. 13.1B). Strukturen und ihrer Dynamik wurde wesentlich erleichtert,
4 Mikrotubuli, die aus röhrenförmig aneinandergelagerten indem sich diese Proteine aufreinigen und auch in vitro im Rea-
Strängen von polymerisierten αβ-Tubulinen bestehen und genzglas unter geeigneten Bedingungen zur Polymerisation
einen Durchmesser von 25 nm besitzen (. Abb. 13.1C, D). bringen ließen.

Während Actinfilamente und Mikrotubuli in praktisch allen Zel-


len zu finden sind, gibt es viele unterschiedliche Intermediärfila- 13.1 Mikro- oder Actinfilamente
mentproteine, die in zelltypspezifischer Weise exprimiert werden
und auch zur Identifizierung bestimmter Zellarten herangezogen Aufbau Die Mikrofilamente bestehen aus dem globulären
werden können (. Tab. 13.1). Einige Intermediärfilamentproteine, 42 kDa großen Protein G-Actin. Actin ist mit 1–10 % Anteil am
z. B. die Lamine, die von innen die Zellkernmembran auskleiden, Gesamtproteingehalt in vielen Zellen das häufigste Protein. Das
finden sich aber in allen kernhaltigen Zellen. Neben diesen grund- humane Genom enthält 6 Actin-Gene, die gewebsspezifisch ex-
legenden Strukturen gibt es hunderte von Proteinen, die mit den primiert werden, funktionelle Unterschiede zwischen den ver-
Cytoskelettelementen assoziieren und diese untereinander und schiedenen Formen scheint es jedoch nicht zu geben. Polymeri-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
13.1 · Mikro- oder Actinfilamente
175 13

A B

C D

. Abb. 13.1 Darstellung wichtiger Elemente des Cytoskeletts durch Immunfluoreszenzmikroskopie in Synoviocyten. A Darstellung von Vimentin-
Intermediärfilamenten durch spezifische Antikörper. Das wabige Flechtwerk der Filamentbündel erstreckt sich über das ganze Cytoplasma. B Darstellung
von Actinfilamenten mit Alexa 488-konjugiertem Phalloidin. Die angespannten Actinfilamentbündel entsprechen den Stressfilamenten, die in fokale Kon-
takte münden. C Darstellung von Mikrotubuli mit Tubulinantikörpern. Die flexiblen Mikrotubuli erstrecken sich meist radial vom Kern zur Peripherie.
D Spindelapparat während der Anaphase. (Aus Berg KD et al. 2009)

siert G-Actin zu helicalen Filamenten, wird es als F-Actin be- gerung von Untereinheiten, dagegen am Minus-Ende eine Ab-
zeichnet. F-Actin besteht praktisch aus zwei helical umeinander dissoziierung statt. Man erhält also stabile Filamente, die ihre
gewundenen Protofilamenten (. Abb. 13.2). G-Actin trägt eine Untereinheiten ständig austauschen. Würde man ein einzelnes
Bindungstasche für ATP oder ADP, die auch immer mit einem Actinmolekül verfolgen, so würde es am Plus-Ende in ein Fila-
der beiden Nucleosidphosphate besetzt ist. In der ATP-gebunde- ment eingebaut werden, langsam zum Minus-Ende wandern und
nen Form wird G-Actin üblicherweise in F-Actin eingebaut, dort schließlich wieder abdissoziieren. Dieses Phänomen be-
nach kurzer Zeit im Filament wird das ATP dann zu ADP hyd- zeichnet man auch als treadmilling (Tretmühle) (. Abb. 13.2).
rolisiert. Innerhalb eines Filaments zeigen alle Actinmoleküle in Die beschriebene Dynamik von Actinfilamenten lässt sich in
die gleiche Richtung. Actinfilamente zeigen eine Polarität und dieser einfachen Weise aber nur mit gereinigten Komponenten
man unterscheidet ein Plus- (auch barbed oder stumpfes) und ein in vitro studieren. In der Zelle gibt es zahlreiche Proteine, die die
Minus (auch pointed oder spitzes)-Ende. Beide Enden sind in der Polymerisation und den Abbau, die Zerschneidung von langen
Lage, G-Actin anzulagern und damit das Filament zu verlängern. Filamenten in kürzere usw. regulieren.
Die Polymerisation erfolgt allerdings nur, wenn die Konzentra- Wichtige regulatorische Proteine sind Profilin, das an der In-
tion an freiem G-Actin über einem kritischen Schwellenwert nenseite der Plasmamembran sitzt und nach Aktivierung die
liegt. Sinkt die Konzentration unter den Schwellenwert, dissozi- Bildung von Actinfilamenten fördert, β4-Thymosin, das G-Actin
iert G-Actin aus dem F-Actin und das Filament wird kürzer. Für bindet und dessen Polymerisation blockiert, sowie Cofilin/Actin-
das Plus- und Minus-Ende gelten unterschiedliche kritische depolymerizing factor (ADF), das die Depolymerisation am Mi-
Konzentrationen, wobei die am Plus-Ende deutlich niedriger ist nus-Ende fördert und Actinfilamente fragmentiert. Andere frag-
als die am Minus-Ende. Liegt die aktuelle G-Actinkonzentration mentierende Proteine sind Severin und Gelsolin, die auch
zwischen diesen beiden Werten, findet am Plus-Ende eine Anla- gleichzeitig die neu entstehenden Enden durch Bindung ver-
176 Kapitel 13 · Cytoskelett

. Abb. 13.2 Aufbau eines Actinfilaments und sein treadmilling. A Lösliches G-Actin polymerisiert spontan zu Filamenten (F-Actin), wobei die Plus-Enden
schneller wachsen als die Minus-Enden. B Liegt die Konzentration an G-Actin zwischen den Schwellenwerten für die beiden Enden werden am Plus-Ende
Actineinheiten addiert, am Minus-Ende abdissoziiert, dies führt zum treadmilling (Tretmühle). (Adaptiert nach Lodish 2001)

schließen und somit stabilisieren können (capping). Derartige 4 Muskelkontraktion


capping-Proteine, zu denen auch CapZ (blockiert Plus-Enden) 4 Stabilisierung von Zellmembranausstülpungen,
und Tropomodulin (blockiert Minus-Enden) gehören, sind v. a. z. B. Microvilli
für stabile Actinfilamente z. B. im Cytoskelett unterhalb der Ery- 4 Zellformgebung, z. B. im Erythrocyten
throcytenmembran und im Muskelsarcomer wichtig. Für die 4 gemeinsam mit Myosin II Ausbildung des kontraktilen
Verzweigung von Actinfilamenten, z. B. bei der Ausbildung von Rings zur Trennung zweier Tochterzellen nach Mitose
13 Lamellipodien, ist der Arp2/3-Komplex verantwortlich, der die 4 Zellwanderung, z. B. bei der Wundheilung und Tumor-
Ausbildung neuer Stränge im 70°-Winkel zu bestehenden Fila- metastasierung
menten initiiert. Andere actinbindende Proteine wie Filamin 4 Zellkontraktion, z. B. von Thrombocyten während des
und das in Mikrovilli anzutreffende Villin sind in der Lage, Ac- Wundverschlusses
tinfilamente kreuzweise oder parallel querzuvernetzen. 4 Vesikeltransport
Das Actincytoskelett einer Zelle unterliegt einer komplexen 4 axonales Wachstum
Dynamik aus Auf-, Ab- und Umbau, die durch extrazelluläre 4 Aufbau von Stereocilien in den Haarzellen des Innenohrs
Signale über Protein- und Lipidkinasen, Phosphatasen und einer
Gruppe von kleinen G-Proteinen gesteuert wird. Letztere sind Viele dieser Funktionen bedürfen der Interaktion von Actin mit
die Mitglieder der Rho-G-Protein-Familie: Cdc42, Rac und Rho. anderen Cytoskelettelementen.
Wie andere G-Proteine sind dies »molekulare Schalter«, die zwi-
schen einem inaktiven, GDP-gebundenen und einem aktiven, Pathobiochemie
GTP-gebundenen Zustand hin- und herschalten (7 Kap. 33.4.4). Listeria monocytogenes, ein fakultativ intrazellulär sich vermeh-
Eine Aktivierung von Cdc42 fördert die Ausbildung von Filo- rendes Gram-positives Bakterium, ist Auslöser der Listeriose,
podien, dünnen fingerförmigen Ausstülpungen der Plasma- einer von Käse aus nicht-pasteurisierter Milch übertragenen In-
membran, die von wenigen langen Actinfilamenten durchzogen fektionserkrankung mit besonderer Gefahr für Schwangere.
sind. Wird Rac aktiviert, kommt es zur Bildung von Lamelli- Nach der Infektion einer Säugetierzelle bewegen sich die Liste-
podien, eher flachen, lippenförmigen Ausstülpungen der Zell- rien mit einer Geschwindigkeit von 10 μm/min durch das Cyto-
membran, in denen vor allem kürzere, verzweigte Actinfilamen- plasma, angetrieben durch eine Actinpolymerisation an einem
te vorherrschen. Diese Strukturen bilden u. a. wandernde Zellen Ende des Bakteriums, die auf einer Aktivierung des Arp2/3-
an der vorwärts gerichteten Zellmembranseite aus. Rho selbst ist Komplexes durch ein bakterielles Hüllprotein ActA beruht. Mit-
für die Ausbildung sog. Stressfasern und die Entstehung von tels dieses »Antriebs« wird die Wirtszelle zur Bildung von bakte-
fokalen Adhäsionskontakten verantwortlich (7 Kap. 71.1.7, riengefüllten Filopodien gezwungen, die der Infektion von Nach-
7 Abb. 71.14). In Letzteren werden die Actinfilamente über Inte- barzellen dienen.
grine mit der extrazellulären Matrix verknüpft. Die Duchenne-Muskeldystrophie (7 Kap. 63.5) beruht auf
Die Funktionen des Actinfilamentsystems sind aufgrund sei- einem Gendefekt im Dystrophin-Gen, das für ein actinbinden-
nes universalen Vorkommens und seiner komplexen Dynamik des Protein codiert, welches im Muskel das submembranäre Ac-
vielfältig: tincytoskelett mit einem Membranglykoprotein verknüpft.
13.2 · Mikrotubuli
177 13
A B C

. Abb. 13.3 Struktur von Mikrotubuli und Mechanismus ihrer polaren Verlängerung bzw. Verkürzung. A Kryoelektronenmikroskopische Darstellung
eines Segments eines aus 15 Protofilamenten bestehenden Mikrotubulus. Rot umrahmt ist ein Grundbaustein aus α- und β-Untereinheiten. B Kristallogra-
phische Modelle (ribbon diagram) von α- (unten) und β-Tubulin (oben) mit gebundenem GTP bzw. GDP (lila), die in das in A gezeigte Tubulinmodell einge-
passt worden sind. C Modell der Depolymerisation und Polymerisation. α-Tubulin bindet GTP und bildet stabile Heterodimere mit β-Tubulin aus. Durch Bin-
dung von GTP (magenta) an β-Tubulin wird die Konformation der Dimere verändert. Danach können diese Bausteine am Plus-Ende in den Mikrotubulus
eingebaut werden. Mittels einer dem β-Tubulin eigenen GTPase-Aktivität wird GTP zu GDP (orange) langsam gespalten. Die GDP-haltigen Dimere tendieren
dazu, die Filamente nach außen zu krümmen, können dies jedoch nur am Minus-Ende bewirken. Von den auseinander driftenden Filament-Enden lösen
sich die Dimere ab. Durch raschen Austausch von GDP gegen das cytosolische GTP stehen die meisten Dimere für die Verlängerung des Plus-Endes zur Ver-
fügung. Die Gesamtlänge der Mikrotubuli ändert sich nur dann, wenn die Polymerisation am Plus-Ende schneller oder langsamer erfolgt als die Depolyme-
risierung am Minus-Ende. Die im Tubulus eingebauten Dimere entfernen sich vom Plus- und nähern sich dem Minus-Ende (treadmilling)

Verschiedene Pilzgifte beeinflussen das Actincytoskelett. So des β-Tubulins blockiert und damit nicht hydrolysierbar ist, kann
binden Cytochalasine an Actinfilamente und blockieren eine das an β-Tubulin gebundene GTP zu GDP hydrolysiert und auch
weitere Polymerisation. Dies führt u. a. zur Hemmung der Zell- ausgetauscht werden (. Abb. 13.3). Durch Kopf-Schwanz-Zu-
teilung und zur Apoptose. Phalloidin, ein Gift des Grünen Knol- sammenlagerung von α- und β-Tubulin-Heterodimeren werden
lenblätterpilzes Ammanita phalloides, lagert sich an F-Actin an Protofilamente gebildet, die sich kreisförmig zu den Mikrotubu-
und verhindert dessen Depolymerisation. Mit Fluoreszenzfarb- li zusammenlagern. Meist bilden 13, manchmal auch mehr Pro-
stoffen markiertes Phalloidin wird in der molekularen Zellbiolo- tofilamente einen Mikrotubulus. Werden Doublet- oder Triplett-
gie eingesetzt, um das Actincytoskelett sichtbar zu machen mikrotubuli gebildet, besteht der zweite bzw. dritte Ring aus je
(. Abb. 13.1B). zehn zusätzlichen Protofilamenten. Wie Actinfilamente haben
auch Mikrotubuli eine Polarität, wobei das β-Tubulin mit der
Nucleotidphosphatbindungsstelle das Plus-Ende markiert. Mik-
13.2 Mikrotubuli rotubuli wachsen v. a. durch Anheftung von Heterodimeren am
Plus-Ende, das Minus-Ende ist weniger dynamisch und auch
Im Gegensatz zu den fibrillären Actinfilamenten handelt es sich häufig durch weitere Proteine blockiert. Der Einbau von Hetero-
bei den Mikrotubuli um zylinderförmige Röhren mit einem dimeren am Plus-Ende erfolgt, wenn diese GTP am β-Tubulin
Durchmesser von ca. 25 nm (. Abb. 13.3). Schon aufgrund ihres gebunden haben. Nach kurzer Zeit im Mikrotubulus wird dieses
Aufbaus sind sie wesentlich steifer als Intermediär- und Mikro- zu GDP hydrolisiert. Solange weitere GTP-Tubuline addiert wer-
filamente. Die Grundeinheiten der Mikrotubuli sind Hetero- den können, wächst der Mikrotubulus weiter, sobald diese aber
dimere, bestehend aus zwei nahe verwandten Proteinen, α- und aufgebraucht sind und das Ende jetzt auch GDP-Tubuline ent-
β-Tubulin, mit einer molekularen Masse von je 55 kDa. Das hält, wird es instabil und verkürzt sich durch Dissoziation von
menschliche Genom enthält je 6 Gene für α- und β-Tubulin. Eine Heterodimeren wieder. Die Enden von Mikrotubuli sind also
weitere Form, γ-Tubulin, scheint nur bei der Bildung des Poly- dynamisch instabil und wachsen und schrumpfen unablässig.
merisationskeims eine Rolle zu spielen. α- und β-Tubulin können Durch Interaktion mit verschiedenen Proteinen können Mikro-
vergleichbar dem Actin Nucleosidtriphosphate binden, in die- tubuli aber erheblich stabilisiert werden.
sem Fall allerdings nicht ATP, sondern GTP. Während das an In vielen Zellen verlaufen die Mikotubuli von einem kernnah
α-Tubulin gebundene GTP im Heterodimer durch die Bindung gelegenen Centrosom oder Mikrotubuli-Organisationscentrum
178 Kapitel 13 · Cytoskelett

A B sen sie häufiger von einem Mikrotubulus auf einen anderen »um-
steigen«, um zu ihrem Ziel zu gelangen.

Pathobiochemie
Wie bei den Actinfilamenten gibt es auch bei Mikrotubuli Natur-
gifte, die die Dynamik des Auf- und Abbaus beeinflussen kön-
nen. An erster Stelle zu nennen wäre hier Colchicin, das Gift der
Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale). Colchicin bindet an
freie Tubulindimere und verhindert ihren Einbau in Mikrotubu-
li. Dadurch blockiert es die Ausbildung der Mitosespindeln.
. Abb. 13.4 Organisationszentren (MTOCs) und Polarität von Mikrotu- Ähnlich wirken die Vinca-Alkaloide Vinblastin und Vincristin,
buli. A Ein kernnah gelegenes MTOC enthält zwei Centriolen (rot), von de- die aus Catharanthus roseus, früher Vinca rosea, isoliert werden
nen aus Mikrotubuli (grün) sternförmig in die Peripherie ausstrahlen mit
können und als Chemotherapeutika in der Krebstherapie einge-
dem Plus-Ende in der Peripherie. B Bei der Mitose verdoppeln sich die
MTOCs und wandern an entgegengesetzte Zellpole, von wo aus sie mittels
setzt werden. Das Chemotherapeutikum Paclitaxel (Taxol) aus
Kinetochormikrotubuli und Spindelmikrotubuli die Trennung der homolo- der pazifischen Eiche (Taxus brevifolia) dagegen bindet an
gen Chromosomen (blau) bewirken. (Adaptiert nach Lodish 2007) β-Tubulin an den Plus-Enden und verhindert die Freisetzung
von Heterodimeren. Es wirkt also über eine Stabilisierung der
Mikrotubuli und hemmt ebenfalls die Mitose. Andere Funktio-
(MTOC) radial nach außen (. Abb. 13.4). Der Minus-Pol der nen von Mikrotubuli werden jedoch nicht beeinflusst.
Mikrotubuli ist dabei im MTOC lokalisiert, das dynamischere Zu den Mikrotubuli-assoziierten Proteinen gehört das Tau-
Plus-Ende liegt also in der Zellperipherie. In den MTOCs befin- Protein, das vor allem in Nervenzellen exprimiert wird. Mutati-
den sich die Centriolen, röhrenförmige Gebilde, die selbst aus 9 onen im dazugehörigen Gen mapt können beim Menschen zu
relativ kurzen Triplett-Mikrotubuli bestehen. Üblicherweise sind erblichen Erkrankungen wie dem Morbus Pick und anderen
im MTOC zwei Centriolen rechtwinkelig zueinander orientiert. neurodegenerativen Erkrankungen führen. Gehen diese Erkran-
Hier findet u. a. die Neubildung von Mikrotubuli statt. Aus den kungen mit einer Ablagerung des Tau-Proteins einher, spricht
Centriolen entsteht nach Verdoppelung und Wanderung an die man auch von Tauopathien. Die bekannteste Tauopathie ist der
Zellperipherie der Spindelapparat, der im Rahmen einer Zell- Morbus Alzheimer (7 Kap. 74.5.1). Bei dieser Erkrankung kommt
teilung (Mitose oder Meiose) für die Verteilung der Chromoso- es offensichtlich zu einer verstärkten Phosphorylierung von Tau-
menpaare oder der homologen Chromosomen auf die Tochter- Proteinen. Dies wiederum führt zur Bildung von »Alzheimer-
13 zellen verantwortlich ist (. Abb. 13.4 und 7 Abb. 43.2). Dabei Fibrillen« auch paired helical filaments (PHF) genannt und zum
sind die Plus-Enden der Mikrotubuli über Kinetochore mit den Zelltod. Derartige Ablagerungen können als neurofibrilläre
Centromeren der Chromosomen verbunden (Kinetochormikro- Läsionen in den Gehirnen von Alzheimer-Patienten beobachtet
tubuli). Die Verkürzung der Kinetochormikrotubuli führt zur werden.
Trennung der Chromosomenpaare. Gleichzeitig bewirken sog.
Spindelmikrotubuli das Auseinanderdriften der Spindelpole,
dieser Vorgang benötigt auch Motorproteine (7 Kap. 13.4). Inte- 13.3 Intermediärfilamente
ressanterweise spielt bei der Ausbildung des Spindelapparates
auch die Ran-GTPase eine regulatorische Rolle, die bereits in Intermediärfilamente haben einen Durchmesser von ca. 10 nm,
7 Kap. 12.1.2 als Regulator des Kernimports und -exports be- liegen also größenmäßig zwischen den Mikrofilamenten und
sprochen wurde. den Mikrotubuli (daher der Name) und stellen die dritte Säule
Bei folgenden weiteren Vorgängen spielen Mikrotubuli eine des Cytoskeletts dar. Sie verleihen den Zellen mechanische Zug-
entscheidende Rolle: festigkeit und Elastizität. Intermediärfilamente können an der
4 Aufbau und Schlagbewegung von Cilien und Geißeln Plasmamembran u.a. mit den Zelladhäsionsproteinen von Des-
4 Transport von Vesikeln mosomen und Hemidesmosomen verknüpft sein (7 Abb. 12.3).
4 Umhüllung von Mikroorganismen durch Makrophagen Intermediärfilamente kommen in einer großen Vielfalt vor und
4 Zellwanderung werden oft gewebsspezifisch exprimiert. Zelltypen lassen sich
4 Wachstum von Nervenfortsätzen deshalb häufig über den Nachweis bestimmter Intermediärfila-
mentproteine identifizieren. Im Gegensatz zu den Actinfilamen-
Die Axone von Nervenzellen verbinden die Synapsen mit dem ten und den Mikrotubuli, die aus globulären Proteinen aufgebaut
Zellkörper und können bis über einen Meter lang sein. Um Ve- sind, haben die Intermediärfilamentproteine eine längliche
sikel vom Zellkörper zu den Synapsen transportieren zu können, Struktur (. Abb. 13.5). Jeweils zwei Peptidketten winden sich
müssen demnach erhebliche Wegstrecken zurückgelegt werden. mittels zentraler coiled-coil -Domänen umeinander (7 Kap. 5.2.2)
Die Axone sind von verschieden langen und überlappend ange- und tragen N- und C-terminal nicht-helicale Bereiche. Diese pa-
ordneten stabilen Mikrotubuli durchzogen, die alle die gleiche rallel orientierten Dimere lagern sich antiparallel und ver-
Polarität besitzen (Plus-Ende weist in Richtung der Synapse). An setzt mit einem zweiten Dimer zusammen und bilden als Tetra-
diesen Mikrotubuli entlang werden die Vesikel mit Hilfe von mer den Grundbaustein aller Intermediärfilamente. Durch An-
Kinesin-Motorproteinen (7 Kap. 13.4) transportiert. Dabei müs- einander- und Hintereinanderlagerung der Tetramere entstehen
13.4 · Motorproteine
179 13
A B

. Abb. 13.6 Kinesin, Dynein und intrazellulärer Vesikeltransport. A Do-


mänenstruktur des Motorproteins Kinesin. Es besteht aus jeweils zwei leich-
ten (LK) und zwei schweren (SK) Polypeptidketten. Die SK enthalten je eine
myosinähnliche Motordomäne (M), die ATP und Tubulin binden kann, und
lang gestreckte α-helicale Sequenzen. Untereinander bilden zwei SK eine
doppelhelicale coiled-coil-Domäne, deren Enden zusammen mit den leich-
ten Ketten zwei weitere Domänen ausbilden, die für die Bindung der Fracht
(Vesikel) zuständig sind (oben). B Die Motorproteine Kinesin und Dynein
binden Organellen mittels Adaptorproteinen und transportieren die Fracht
zum Plus- bzw. zum Minus-Ende. Dabei arbeiten die beiden »Füße« mit
Intermediärfilament ihren Motordomänen im Gegentakt. LK: leichte Kette; SK: schwere Kette der
Kinesinmoleküle

. Tab. 13.1 Einteilung der Intermediärfilamentproteine in fünf


Klassen und ihr Vorkommen
. Abb. 13.5 Aufbau von Intermediärfilamenten. (Einzelheiten s. Text)
Typ Vertreter Vorkommen

Typ I Keratin 9–28 Epithelien


Saure Keratine
Protofilamente, Protofibrillen und schließlich Intermediärfila-
mente. Aufgrund der antiparallelen Anordnung verfügen die Typ II Keratin 1–8, Epithelien
Basische Keratine 71–80
Bausteine wie auch die entstehenden Filamente über keine Pola-
rität. Auch die Dynamik dieser Strukturen ist von der der Actin- Typ III Desmin Muskel
Vimentinartige Glial fibrillary Astrocyten, Gliazellen
filamente und Mikrotubuli deutlich unterschieden, bei ausdiffe-
Intermediärfilament- acidic protein Periphere Neurone
renzierten Zellen findet kein wesentlicher Umbau des Inter- proteine GFAP Fibroblasten, Leuko-
mediärfilamentsystems mehr statt. Ausnahme bilden die Lamine, Peripherin cyten, Endothelzellen
die den Zellkern von innen auskleiden und bei jeder Zellteilung Vimentin
ab- und wieder aufgebaut werden. Typ IV Neurofilamente- Neurone
Typisch für die Haut und andere epitheliale Gewebe sind die Axonale Intermediär- L,-M,-H
Keratine, eine große Familie filamentöser Proteine. Im humanen filamentproteine α-Internexin
Genom sind inzwischen mehr als 50 funktionelle Keratin-Gene Nestin
identifiziert worden. Je nach Aminosäurezusammensetzung Typ V Lamin A,B,C Nucleus kernhaltiger
handelt es sich bei den Genprodukten um saure oder basische Nucleäre Intermediär- Zellen
Proteine. Je ein saures und ein basisches Keratin bilden dabei ein filamentproteine
Dimer. Cytokeratine vermitteln die Elastizität und Druckstabili-
tät der Haut. . Tab. 13.1 nennt einige weitere wichtige Interme-
diärfilamentproteine. 13.4 Motorproteine
Pathobiochemie Bewegungsvorgänge ganzer Zellen oder zellulärer Strukturen
Mutationen in Genen von Keratinen oder desmosomalen Prote- sind gekennzeichnet durch eine Verschiebung intrazellulärer cy-
inen können schwerwiegende Fehlfunktionen der Haut auslösen. toskelettärer Elemente gegeneinander bzw. durch die Bewegung
So neigen Patienten mit einer Epidermolysis bullosa bei mecha- von zellulären Strukturen wie Vesikeln an cytoskelettären Ele-
nischer Belastung der Haut zur Blasenbildung (7 Kap. 73.5). menten entlang. Derartige mechanische Bewegungsvorgänge
bedürfen einer besonderen Klasse von Enzymen, den sog.
180 Kapitel 13 · Cytoskelett

Motorproteinen. Diese Mechanoenzyme sind in der Lage, die 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Hydrolyse von ATP in Bewegungsvorgänge zu transformieren.
Die wesentlichen Motorproteine sind:
4 Myosine, die sich an Actinfilamenten entlang bewegen,
4 Kinesine, die verschiedene Frachten in anterograder Rich-
tung an Mikrotubuli entlang transportieren und
4 Dyneine, die verschiedene Frachten in retrograder Rich-
tung an Mikrotubuli entlang transportieren.

Allen Motorproteinen strukturell gemeinsam ist eine globuläre


Motordomäne, die über einen Hals mit einem filamentösen
Schwanz verknüpft ist (. Abb. 13.6A). Letzterer ist häufig für die
Bindung der zu transportierenden »Fracht« verantwortlich. Die
Motordomäne enthält sowohl die Bindungsstelle für das jeweili-
ge Cytoskelett-Element wie auch die ATP-Bindungsstelle. Die
Hydrolyse von ATP – genau genommen die Freisetzung der ab-
gespaltenen Phosphatgruppe – führt dabei zu einer Konforma-
tionsänderung des Moleküls, die den Bewegungsvorgang verur-
sacht (power stroke). Besonders gut untersucht ist dieser Vorgang
beim Myosin II des Skelettmuskels (s. Querbrückenzyklus;
7 Abb. 63.2). Neben dem Muskelmyosin gibt es eine Reihe von
Nicht-Muskel-Myosinen, die für verschiedene Transport- und
Bewegungsvorgänge in der Zelle verantwortlich sind.
Der gleiche Mechanismus gilt für die mikrotubulären Motor-
proteine, die Membranvesikel und tubuläre Elemente, Mito-
chondrien und andere zelluläre Strukturen an den Mikrotubuli-
strängen entlang transportieren können. Ähnlich wie das Myo-
sin V haben Kinesine und Dyneine eine dimere Struktur mit
zwei Motordomänen, von denen jeweils eine immer mit dem
13 Cytoskelettelement verbunden bleibt, während sich die andere
am Filament entlang bewegt, es kommt also quasi zu einem »Ent-
langschreiten« am Filament (. Abb. 13.6). Die Bewegungsvor-
gänge von Myosinen und Kinesinen/Dyneinen an ihren Cyto-
skelettelementen entlang kann man durch elegante in vitro-Ver-
suche sichtbar machen. Bei dem sog. sliding filament assay wer-
den die Motorproteine auf einem Objektträger fixiert und
isolierte fluoreszenzmarkierte Filamente dazugegeben. Nach
ATP-Gabe schieben die fixierten Motorproteine die Filamente
über den Objektträger, was im Fluoreszenzmikroskop beobach-
tet werden kann.

Zusammenfassung
Das Cytoskelett besteht aus Actin- oder Mikrofilamenten,
Mikrotubuli und Intermediärfilamenten. Diese Strukturen
entstehen aus der Aneinanderlagerung zahlreicher jeweils
gleichartiger globulärer oder filamentöser Proteinunterein-
heiten. Bei den Actinfilamenten und Mikrotubuli wird zwi-
schen einem Plus- und einem Minus-Ende, die sich durch
eine unterschiedliche Dynamik bezüglich der Assoziation
und Dissoziation von Untereinheiten auszeichnen, differen-
ziert. Zahlreiche assozierte Proteine modulieren diese Pro-
zesse. Motorproteine können als Mechanoenzyme eine ATP-
Spaltung in mechanische Bewegungsvorgänge übersetzen
und sind Grundlage zahlreicher zellulärer Bewegungspro-
zesse.
181 II

Zellulärer Metabolismus

Kapitel 14 Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydrat-


stoffwechsels – 183
G. Löffler, M. Müller

Kapitel 15 Mechanismen der Glucosehomöostase – 199


G. Löffler, M. Müller

Kapitel 16 Zucker – Bausteine von Glykoproteinen


und Heteroglycanen – 214
G. Löffler

Kapitel 17 Pathobiochemie des Kohlenhydratstoffwechsels – 222


G. Löffler

Kapitel 18 Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2


und H2O – 226
U. Brandt

Kapitel 19 Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung – 235


U. Brandt

Kapitel 20 Oxidoreduktasen und oxidativer Stress – 252


U. Brandt

Kapitel 21 Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung


der Fettspeicher – 257
G. Löffler

Kapitel 22 Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und


Sphingolipiden – 279
G. Löffler

Kapitel 23 Stoffwechsel von Cholesterin – 292


G. Löffler

Kapitel 24 Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut – 300


G. Löffler

Kapitel 25 Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels – 307


G. Löffler

Kapitel 26 Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel


und Stickstoffumsatz – 313
K.-H. Röhm
Kapitel 27 Funktioneller Aminosäurestoffwechsel – 325
K.-H. Röhm

Kapitel 28 Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels – 352


K.-H. Röhm

Kapitel 29 Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung


und Abbau – 357
M. Löffler

Kapitel 30 Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung


und Abbau – 365
M. Löffler

Kapitel 31 Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels – 372


M. Löffler

Kapitel 32 Porphyrine – Synthese und Abbau – 379


M. Müller, H. E. Blum, P. E. Petrides
183 14

14 Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels


Georg Löffler, Matthias Müller

Einleitung Von den Hepatocyten werden sie aufgenommen und so verar-


beitet, dass
Nahrungskohlenhydrate enthalten neben Fructose und Galactose 4 die Glycogenvorräte der Leber durch Glycogensynthese
hauptsächlich die aus dem Stärkeabbau stammende Glucose. Intra- aufgefüllt werden,
zellulär wird Glucose in der Glycolyse unter ATP-Gewinn oxidativ zu 4 aus der aufgenommenen Glucose Bausteine für die Bio-
Pyruvat umgesetzt. Unter aeroben Bedingungen, d. h. in Anwesenheit synthese von Monosacchariden, Heteroglycanen, Lipiden
von Sauerstoff, wird Pyruvat unter hohem Energiegewinn weiter zu CO2 und Aminosäuren gebildet werden,
und H2O abgebaut, wie in 7 Kap. 18 und 19 beschrieben wird. In Eryth- 4 die Leber gerade so viel Glucose in die Blutzirkulation ab-
rocyten sowie im Muskel bei Vorliegen von Sauerstoffmangel endet der gibt wie zur Aufrechterhaltung einer konstanten Blutgluco-
Glucoseabbau hingegen beim Lactat. Diese Umwandlung von Glucose sekonzentration benötigt wird.
in Lactat ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt und entspricht den
Gärungsprozessen einzelliger Organismen. Der Pentosephosphatweg Fructose bzw. Galactose, die aus den Nahrungskohlenhydraten
ist ein alternativer oxidativer Abbauweg der Glucose und liefert das für stammen, können nach Umwandlung in Glucosemetabolite in
viele Biosynthesen und den Oxidationsschutz notwendige NADPH. Au- den Stoffwechsel eingeschleust werden.
ßerdem entstehen auf diesem Weg Ribose und andere Pentosen. Gluco- Glucose ist Ausgangspunkt bzw. das Ziel zahlreicher Stoff-
se wird v. a. in der Leber und dem Muskelgewebe in Form des Glucose- wechselwege, die außer in der Leber auch in den extrahepatischen
polymers Glycogen gespeichert, das strukturell große Ähnlichkeit mit Geweben ablaufen können:
der pflanzlichen Stärke hat. Die Gluconeogenese ist die endogene Syn- 4 Abbau von Glucose zu Lactat durch anaerobe Glycolyse
these von Glucose aus Nicht-Kohlenhydraten wie den Aminosäuren. Sie 4 Abbau von Glucose zu CO2 und H2O in der aeroben Glyco-
ist für die Versorgung glucosepflichtiger Organe wie Erythrocyten, ZNS, lyse zusammen mit Citratzyklus und oxidativer Phosphory-
und Nierenmark bei Nahrungsentzug verantwortlich und findet vorwie- lierung
gend in Leber und Niere statt. 4 Abbau von Glucose im Pentosephosphatweg (Hexose-
Der Abbauweg der Fructose mündet in den der Glucose ein. In den monophosphatweg)
Spermien ist Fructose das wichtigste Energiesubstrat. Glucose als 4 Biosynthese des Homoglycans Glycogen als intrazelluläre
Ausgangspunkt anderer Zuckermoleküle sowie der Stoffwechsel von Speicherformen der Glucose
Galactose sind Themen von 7 Kap. 16. 4 Biosynthese von Glucose durch Gluconeogenese
4 Biosynthese von verschiedenen Monosacchariden aus
Schwerpunkte Glucose (7 Kap. 16.1)
4 Glucose als Ausgangspunkt zahlreicher Stoffwechselwege
4 Glycolyse
14.1.1 Glycolyse – Abbau von Glucose
4 Fructosestoffwechsel
und Fructose zu Pyruvat und Lactat
4 Pentosephosphatweg
4 Glycogensynthese
Die Glycolyse umfasst eine Reaktionsfolge,
4 Glycogenolyse
in der Glucose zu Pyruvat abgebaut wird
4 Gluconeogenese
Die Summengleichung der zentralen Reaktionsfolge der Glyco-
lyse lautet:

Glucose + 2 NAD+ 2 Pyruvat + 2 NADH + 2 H+;


14.1 Katabole Verwertung von Glucose ΔG0 = –146 kJ/mol
und Fructose
Wie dem negativen ΔG0 zu entnehmen ist, handelt es sich um
Nahrungskohlenhydrate bestehen zum überwiegenden Teil eine exergone Reaktion. Ein Teil der frei werdenden Energie
aus Stärke, außerdem aus Disacchariden wie Saccharose bzw. kann aus diesem Grund in Form von ATP konserviert werden.
Lactose. Nach Verdauung im Intestinaltrakt entstehen aus den Die Glycolyse eukaryonter Zellen läuft im Cytosol ab. Wie
Nahrungskohlenhydraten Glucose und in geringeren Mengen der in . Abb. 14.2 zusammengestellten Reaktionssequenz der
Fructose oder Galactose. Diese Monosaccharide werden resor- Glycolyse zu entnehmen ist, kann diese in zwei unterschiedliche
biert und gelangen über die V. portae zur Leber (. Abb. 14.1). Abschnitte eingeteilt werden.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
184 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

. Abb. 14.1 Übersicht über die Hauptwege des Glucosestoffwechsels. Im Darm resorbierte Monosaccharide, hauptsächlich Glucose, gelangen über
die V. portae zur Leber. Von der aufgenommenen Glucose wird so viel in das Kreislaufsystem abgegeben, wie zur Konstanthaltung der Blutglucosekonzen-
tration benötigt wird. Der Rest wird als Glycogen gespeichert, oxidiert oder für andere Biosynthesen verwendet. In den extrahepatischen Geweben wird
14 Glucose zur Energiegewinnung oxidiert oder für Biosynthesen verwendet. (Einzelheiten s. Text)

Im ersten Abschnitt der Glycolyse wird Glucose zu der Hexokinase aus einem gemeinsamen Vorläufermolekül
Glycerinaldehyd-3-Phosphat (Glyceral-3-Phosphat) mit einer Masse von 50 kDa entstanden sind.
und Dihydroxyacetonphosphat (Glyceronphosphat)
gespalten Glucose-6-Phosphat ist nicht nur Intermediat der Glycolyse,
Der erste Abschnitt der Glycolyse umfasst fünf Schritte: sondern auch Ausgangspunkt für die Glycogenbiosynthese
(7 Kap. 14.2.1), die Monosaccharidsynthese (7 Kap. 16.1 und
ATP-abhängige Phosphorylierung von Glucose zu Glucose- 16.2) und den Pentosephosphatweg (7 Kap. 14.1.2).
6-Phosphat
Diese Reaktion wird durch die Hexokinasen katalysiert, die Isomerisierung von Glucose-6-Phosphat zu Fructose-6-Phosphat
in insgesamt vier Isoformen vorkommen: Das hierfür verantwortliche Enzym ist die Hexosephosphat-
4 Die gewebsspezifisch exprimierten Hexokinasen I–III isomerase.
(HKI–III) haben eine molekulare Masse von etwa 100 kDa,
Michaeliskonstanten für Glucose im Bereich von ATP-abhängige Phosphorylierung von Fructose-6-Phosphat zu
0,1 mmol/l und werden durch physiologische Konzentratio- Fructose-1,6-Bisphosphat Das hierfür notwendige Enzym ist
nen von Glucose-6-Phosphat gehemmt. die Phosphofructokinase 1 (PFK1, Fructose-6-Phosphat-1-
4 Die Hexokinase IV (HKIV) wird auch als Glucokinase (GK) Kinase). Sie ist das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der
bezeichnet. Glucokinase wird spezifisch in Hepatocyten und Glycolyse und wird durch Änderung der Genexpression sowie
den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas expri- allosterische Faktoren reguliert (7 Kap. 15.3).
miert, hat eine Michaelis-Konstante für Glucose im Bereich
von 10 mmol/l und wird nicht durch Glucose-6-Phosphat Spaltung von Fructose-1,6-Bisphosphat in Glycerinaldehyd-
gehemmt (7 Kap. 15.1.2). Ihre molekulare Masse beträgt 3-Phosphat und Dihydroxyacetonphosphat Die bisher erfolgte
50 kDa. Aufgrund der Homologie in den Aminosäurese- Verschiebung der Carbonylgruppe des Glucose-6-Phosphats von
quenzen liegt die Vermutung nahe, dass die vier Isoformen C-Atom 1 auf das C-Atom 2 unter Bildung von Fructose-1,6-
14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
185 14
A B

. Abb. 14.2 Reaktionsfolge der Glycolyse. A Umwandlung von Glucose in die beiden Triosephosphate Dihydroxyacetonphosphat (Glyceronphosphat) und
Glycerinaldehyd-3-Phosphat (Glyceral-3-Phosphat). B Umwandlung von Fructose-1,6-Bisphosphat in Lactat. Zum besseren Verständnis der Aldolasereaktion
ist in b Fructose-1,6-Bisphosphat in der offenkettigen Form dargestellt. Die beiden energieliefernden Reaktionen sind rot hervorgehoben. TIM: Triosephos-
phatisomerase. (Einzelheiten s. Text)

Bisphosphat ist die Voraussetzung für diese Aldolspaltung, deren Im zweiten Abschnitt der Glycolyse erfolgt ein
Produkte auch als Triosephosphate bezeichnet werden. Nettogewinn von ATP
In tierischen Geweben kommen zwei Aldolasen vor, die In den sich nun anschließenden energieliefernden Reaktionen
sich durch ihre Affinität zum Substrat Fructose-1,6-Bisphosphat des zweiten Abschnitts der Glycolyse wird Glycerinaldehyd-
unterscheiden. Die Aldolase A wird auch als muskeltypische 3-Phosphat oxidiert, wobei als primäres Endprodukt Pyruvat
Form des Enzyms bezeichnet und findet sich in den meisten entsteht:
Geweben, während die Aldolase B nur in Leber und Nieren
nachzuweisen ist. Beide Enzyme können außer Fructose-1,6- Oxidation von Glycerinaldehyd-3-Phosphat zu 1,3-Bisphospho-
Bisphosphat auch Fructose-1-Phosphat spalten. Das Verhältnis glycerat Diese Reaktion ist der energiekonservierende Schritt
der Spaltungsgeschwindigkeit von Fructose-1,6-Bisphosphat der Glycolyse, da das entstehende 1,3-Bisphosphoglycerat eine
und Fructose-1-Phosphat beträgt für das Muskelenzym 50:1, für Carbonsäure-Phosphorsäure-Anhydridgruppe enthält. Carbon-
das Leberenzym jedoch etwa 1:1, was für den Fructosestoffwech- säure-Phosphorsäure-Anhydride sind energiereiche Verbindun-
sel von Bedeutung ist (s. u.). gen (7 Kap. 4.3). Wegen der Triosephosphatisomerase beschreitet
Dihydroxyacetonphosphat ebenfalls diesen Weg, da es mit der
Isomerisierung von Glycerinaldehyd-3-Phosphat zu Dihydroxy- Triosephosphatisomerase zu Glycerinaldehyd-3-Phosphat iso-
acetonphosphat Diese Reaktion wird durch die Triosephospha- merisiert werden kann.
tisomerase katalysiert. Durch sie können die beiden Triosephos- Die für die Reaktion verantwortliche Glycerinaldehyd-
phate ineinander überführt werden. 3-Phosphatdehydrogenase ist ein Tetramer aus vier identi-
schen Polypeptidketten. Im aktiven Zentrum jeder monomeren
Peptidkette befindet sich ein Cysteinylrest, dessen SH-Gruppe
Glucose# Hexokinase Glucose-6-Phosphat# Hexosephosphatisomerase Fructose-6-Phosphat# Phosphofructokinase 1 Fructose-1,6-Bisphosphat# Aldolase Glycerinaldehyd-
3-Phosphat# Dihydroxyacetonphosphat# 1,3-Bisphosphoglycerat# Phosphoglyceratkinase 3-Phosphoglycerat# Phosphoglyceratmutase 2-Phosphoglycerat# Enolase Phos-
phoenolpyruvat# Pyruvatkinase Pyruvat# Lactatdehydrogenase Lactat# Dihydroxyacetonphosphat#
186 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

an der enzymatischen Reaktion teilnimmt. Außerdem ist NAD+


in einer spezifischen Tasche des Enzyms nicht-covalent gebun-
den. Der molekulare Mechanismus der Energiekonservierung ist
in . Abb. 14.3 dargestellt:
4 Die Carbonylgruppe des Glycerinaldehyd-3-Phosphats
reagiert mit der SH-Gruppe im aktiven Zentrum des
Enzyms, wobei ein Thiohalbacetal gebildet wird.
4 Dieses wird mit dem enzymgebundenen NAD+ oxidiert,
wobei NADH/H+ und ein Thioester entstehen.
4 NADH/H+ wird vom Enzym abgegeben und durch ein
neues NAD+ ersetzt.
4 Im Gegensatz zu Thiohalbacetalen haben Thioester ein
hohes Gruppenübertragungspotential und gehören somit
zu den energiereichen Verbindungen (7 Kap. 4.2).
4 Der energiekonservierende Schritt der Reaktion beruht auf
der phosphorolytischen Spaltung des Thioesters. Dabei
entsteht 1,3-Bisphosphoglycerat und die SH-Gruppe des
Enzyms wird regeneriert.

Die beiden im 1,3-Bisphosphoglycerat vorliegenden Phosphat-


gruppen unterscheiden sich grundsätzlich. Diejenige in Posi-
tion 3 ist ein Phosphorsäureester, dagegen handelt es sich bei
dem Phosphat in Position 1 um ein Carbonsäure-Phosphor-
säure-Anhydrid. Damit wird durch die phosphorolytische Spal-
tung das hohe Gruppenübertragungspotential des Thioesters in
Form eines gemischten Phosphorsäureanhydrids erhalten, was
insgesamt einer Konservierung der durch die Redoxreaktion
freigewordenen Energie entspricht.1

Erste ATP-Bildung Übertragung des energiereichen Phosphats


des 1,3-Bisphosphoglycerats auf ADP unter Bildung von ATP
und 3-Phosphoglycerat. Das für die Reaktion verantwortliche
14 Enzym ist die Phosphoglyceratkinase. Von ihr sind eine Reihe
genetischer Defekte bekannt, die zu Störungen der Glycolyse füh-
ren. Da in der Glycolyse aus einem Glucosemolekül zwei Moleküle . Abb. 14.3 Reaktionsmechanismus der Glycerinaldehyd-3-Phosphat-
dehydrogenase. An die funktionelle SH-Gruppe des Enzymproteins addiert
Triosephosphat gebildet werden, werden auch zwei Moleküle
sich der Carbonylkohlenstoff des 3-Phosphoglycerinaldehyds. Das entste-
ATP erzeugt. Diese Art von ATP-Gewinnung wird im Gegensatz hende Thiohalbacetal wird zum Thioester oxidiert, der phosphorolytisch
zur oxidativen Phosphorylierung der Mitochondrien als Sub- vom Enzymprotein unter Bildung von 1,3-Bisphosphoglycerat (3-Phospho-
stratkettenphosphorylierung bezeichnet. glyceroylphosphat) abgespalten wird
In den Erythrocyten der Säugetiere, einiger Vögel und Rep-
tilien sowie vieler Amphibien kann der durch Phosphoglycerat-
kinase katalysierte Schritt umgangen werden (7 Kap. 68.2.4). Mit Bildung von 2-Phosphoglycerat aus 3-Phosphoglycerat Das
Hilfe der Bisphosphoglyceromutase wird 1,3-Bisphosphoglyce- hierfür verantwortliche Enzym ist die Phosphoglyceratmutase.
rat unter Verlust der energiereichen Bindung in 2,3-Bisphospho- Durch diese Reaktion wird der Phosphatrest von Position 3 nach
glycerat umgewandelt. Dieses wirkt am Hämoglobin als alloste- Position 2 des Phosphoglycerats verschoben.
rischer Effektor, durch den die Sauerstoffbindungskurve des
Hämoglobins nach rechts verschoben wird. In Anwesenheit von Bildung von Phosphoenolpyruvat aus 2-Phosphoglycerat Diese
2,3-Bisphosphoglycerat wird damit den Erythrocyten die Abga- durch das Enzym Enolase katalysierte Reaktion schließt die De-
be des Sauerstoffs an die Gewebe erleichtert (7 Kap. 68.3.3). Der hydratation und Umverteilung von Energie innerhalb des Phos-
Abbau von 2,3-Bisphosphoglycerat erfolgt durch die 2,3-Bis- phoglycerats ein. Der Phosphatrest in Position 2 des Phos-
phosphoglyceratphosphatase, wobei 3-Phosphoglycerat und phoenolpyruvats gehört zu den energiereichen Phosphaten
anorganisches Phosphat entstehen. (7 Kap. 4.3).

Zweite ATP-Bildung Übertragung des energiereichen Enolphos-


1 Die Bezeichnung 1,3-Biphosphoglycerat ist, obwohl allgemein eingeführt,
streng genommen nicht korrekt. Da es sich um das Phosphorsäurean-
phats des Phosphoenolpyruvats auf ADP unter Bildung von ATP
hydrid der 3-Phosphoglycerinsäure handelt, müsste es eigentlich 3-Phos- und Pyruvat. Das für die Reaktion verantwortliche Enzym ist die
phoglyceroylphosphat heißen. Pyruvatkinase. In der Bilanz werden also pro mol Glucose noch

Glycerinaldehyd-3-Phosphat# Thiohalbacetale# Thioester# 1,3-Bisphosphoglycerat#


14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
187 14
einmal durch Substratkettenphosphorylierung 2 mol ATP gebil- Reduktion von Pyruvat zu L-Lactat Die hierfür verantwortliche
det. Anders als bei der Bildung von 1,3-Bisphosphoglycerat (s. o.) Lactatdehydrogenase ist ein tetrameres Enzym, das in Form
stammen die auf ADP übertragenen Phosphatgruppen des Phos- von fünf verschiedenen Isoenzymen vorkommt, die sich in ihrem
phoenolpyruvats nicht aus dem Pool an anorganischem Phos- KM-Wert gegenüber Pyruvat unterscheiden (7 Kap. 7.3). Als
phat, sondern aus den beiden ATP-verbrauchenden Phospho- Reduktionsmittel dient NADH/H+, das dabei zu NAD+ reoxidiert
rylierungen zu Beginn der Glycolyse, die damit in der Bilanz wird. Da damit das für die Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehyd-
wieder ausgeglichen werden. rogenase benötigte NAD+ regeneriert wird, kann die Glycolyse
auch bei vollständigem Sauerstoffmangel ablaufen.
Reversibilität Die meisten Reaktionen der Glycolyse sind grund-
sätzlich reversibel. Dies trifft jedoch nicht zu für die von Bildung von Ethanol in Hefezellen In Hefezellen endet unter
4 Hexokinase (Glucokinase) anaeroben Bedingungen die Glycolyse nicht beim Lactat. Hier
4 Phosphofructokinase und wird vielmehr Pyruvat zunächst durch Decarboxylierung in
4 Pyruvatkinase Acetaldehyd umgewandelt, welches dann analog der Lactat-
katalysierten Reaktionen. dehydrogenase durch die Alkoholdehydrogenase in einer
NADH-abhängigen Reaktion zu Ethanol reduziert wird. Damit
Diese sind unter physiologischen Bedingungen irreversibel und wird auch hier das für die Glycolyse benötigte NAD+ regeneriert:
werden umgangen, wenn Glucose aus Nicht-Kohlenhydratvor-
stufen synthetisiert werden muss. Die Umgehungsreaktionen Pyruvatdecarboxylase:
werden ausführlich im Abschnitt Gluconeogenese (7 Kap. 14.3) Pyruvat Acetaldehyd + CO2
besprochen.
Alkoholdehydrogenase:
Unter anaeroben Bedingungen muss das während Acetaldehyd + NADH + H+ Ethanol + NAD+
der Glycolyse gebildete NADH/H+ in Abwesenheit
von Sauerstoff reoxidiert werden Die Decarboxylierung des Pyruvats zum Acetaldehyd ähnelt
Die Glycolyse ist entwicklungsgeschichtlich wohl ein sehr alter der Anfangsreaktion des Pyruvatdehydrogenasekomplexes
Stoffwechselweg, da die Reaktionsfolge der Glycolyse bei allen eu- (7 Kap. 18.2). Wie dort benötigt die Pyruvatdecarboxylase der
karyontischen Zellen und den meisten Prokaryonten identisch ist. Hefe das Vitamin Thiamin in Form des Thiaminpyrophosphats
Deswegen ist es notwendig, dass sie auch unter anaeroben Bedin- als Cofaktor. An diesem Cofaktor wird Pyruvat unter Bildung von
gungen ablaufen kann. Dies setzt allerdings eine Reoxidation des Hydroxyethylthiaminpyrophosphat decarboxyliert, welches
gebildeten NADH/H+ voraus. Möglichkeiten hierfür sind: dann zu Thiaminpyrophosphat und Acetaldehyd gespalten wird.
4 die NADH/H+-abhängige Reduktion von Pyruvat zu Lactat,
die in vielen Zelltypen einschließlich menschlicher Zellen Der anaerobe Abbau von Glucose in der Glycolyse
vorkommt und als Milchsäuregärung bezeichnet wird, oder liefert 2 ATP, die vollständige Oxidation wesentlich
4 der Abbau des Glucosemoleküls zu Ethanol, der in der Hefe mehr
stattfindet und alkoholische Gärung genannt wird. In . Tab. 14.1 ist die Energiebilanz der Glycolyse zusammengefasst.
Unter anaeroben Bedingungen werden pro mol Glucose 2 mol
Die Summengleichungen der beiden Formen der Gärung (oder ATP benötigt, um das Fructose-1,6-Bisphosphat zu bilden. Die
Fermentierung) lautet: beiden energieliefernden Reaktionen der Glycolyse führen zur Bil-
dung von zusammen 4 mol ATP, sodass in der Endbilanz pro mol
Glucose + 2 ADP + 2 Pi 2 Lactat + 2 ATP; ΔG0 = –136 kJ/mol abgebauter Glucose ein Energiegewinn von 2 mol ATP erzielt wird.
Unter aeroben Bedingungen wird das in der Glycolyse
Glucose + 2 ADP + 2 Pi 2 Ethanol + 2 CO2 + 2 ATP; gebildete Pyruvat in die mitochondriale Matrix transloziert
ΔG0 = ‒165 kJ/mol und dort durch den Pyruvatdehydrogenasekomplex zu Acetyl-

. Tab. 14.1 Energiebilanz der anaeroben Glycolyse

Enzym Reaktion ATP-Ausbeute

Hexokinase/Glucokinase Glucose + ATP Glucose-6-P + ADP –1 ATP

Phosphofructokinase Fructose-6-P + ATP Fructose-1,6-P2 + ADP –1 ATP

Phosphoglyceratkinase 1,3-Bisphosphoglycerat + ADP 3-Phosphoglycerat + ATP +2 ATP


(aus Glucose entstehen zwei 1,3-Bisphosphoglycerat)

Pyruvatkinase Phosphoenolpyruvat + ADP Pyruvat + ATP +2 ATP


(aus Glucose entstehen zwei Phosphoenolpyruvat)

Summe +2 ATP
188 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

. Abb. 14.4 Anaerobe und aerobe Glycolyse im Überblick. Nach Aufnahme in die Zelle wird Glucose phosphoryliert und durchläuft die Reaktionen der
Glycolyse bis auf die Stufe des Pyruvats. Unter anaeroben Bedingungen muss Pyruvat in Lactat umgewandelt werden, um das für die Glycolyse benötigte
NAD+ zu erzeugen. In der Regel wird Lactat von den Zellen abgegeben. Die Energieausbeute beträgt 2 mol ATP pro mol Glucose (gelbes Raster). Unter ae-
roben Bedingungen wird Pyruvat in die Mitochondrien aufgenommen und dort durch oxidative Decarboxylierung in Acetyl-CoA umgewandelt. Dieses
durchläuft den Citratzyklus und wird dabei zu CO2 und Reduktionsäquivalenten in Form von NADH/H+ und FADH2 zerlegt. Deren sauerstoffabhängige Re-
oxidation liefert Wasser und ist an die ATP-Bildung aus ADP und Pi geknüpft. Insgesamt beträgt die ATP-Ausbeute ca. 30 mol ATP pro mol Glucose. Über
den Mechanismus von Pyruvatoxidation, Citratzyklus, Atmungskette und oxidativer Phosphorylierung s. 7 Kap. 18 und 19. PM: Plasmamembran

Coenzym A umgesetzt (7 Kap. 18.2) und im Citratzyklus zu CO2 rose (Speisezucker, Obst). Im Intestinaltrakt wird Saccharose
und H2O abgebaut. Dies führt zu einer im Vergleich zur anaero- durch die dort lokalisierten Disaccharidasen (7 Kap. 61.3.1)
ben Glycolyse wesentlich günstigeren Energiebilanz. gespalten und die dabei freigesetzte Fructose nach Resorption
14 . Abb. 14.4 gibt einen Überblick über die Beziehungen zwi- über die Pfortader zur Leber transportiert. Nur in Hepatocyten
schen anaerober und aerober Glycolyse sowie einen Vergleich (und Spermien! s. u.) kann Fructose durch folgende Reaktionen
der jeweiligen Energieausbeuten: abgebaut werden (. Abb. 14.5):
4 Das im Zug der Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehydrogenase 4 ATP-abhängige Phosphorylierung von Fructose durch die
anfallende NADH/H+ kann in der Atmungskette oxidiert Fructokinase zu Fructose-1-Phosphat.
werden. Hierzu ist allerdings sein Transport vom cytoso- 4 Spaltung von Fructose-1-Phosphat durch die in der Leber
lischen in den mitochondrialen Raum erforderlich. Da und den Nieren vorkommende Aldolase B. Die Reaktions-
NADH nicht die innere Mitochondrienmembran passieren produkte sind D-Glycerinaldehyd und Dihydroxyaceton-
kann, muss es den Malat/Aspartat-Zyklus durchlaufen phosphat.
(7 Kap. 19.1.1). Der in manchen Geweben ablaufende 4 D-Glycerinaldehyd wird durch das Enzym Triosekinase zu
α-Glycerophosphatzyklus (7 Kap. 19.1.2) liefert aus cyto- Glycerinaldehyd-3-Phosphat phosphoryliert und so in die
solischem NADH/H+ intramitochondriales FADH2. Glycolyse eingeschleust.
4 Das in der mitochondrialen Matrix aus Pyruvat entstehende
Acetyl-CoA kann im Citratzyklus zu CO2 abgebaut werden. Die für den Fructoseabbau benötigten Reaktionen laufen schnel-
Hierbei entstehen pro Pyruvat insgesamt vier NADH/H+, ler als die Glycolyse ab. Wahrscheinlich ist dies darauf zurück-
ein FADH2 und ein GTP durch Substratkettenphosphory- zuführen, dass die durch Glucokinase, Phosphohexoseisomerase
lierung. NADH/H+ und FADH2 werden in der Atmungs- und Phosphofructokinase katalysierten Reaktionen umgangen
kette mit Sauerstoff reoxidiert und dabei durch oxidative werden.
Phosphorylierung pro NADH/H+ 2,7 und pro FADH2
1,6 ATP gewonnen. In extrahepatischen Geweben kann Fructose
aus Glucose gebildet werden
Die Leber ist das wichtigste Organ Über den sog. Polyolweg kann Glucose in Fructose umge-
für den Fructoseabbau wandelt werden (. Abb. 14.6). Dabei katalysiert zunächst das
Fructose wird in z. T. beträchtlichen Mengen mit der Nahrung Enzym Polyoldehydrogenase (Aldosereduktase) die NADPH-
zugeführt, im Wesentlichen in Form des Disaccharids Saccha- abhängige Reduktion von Glucose zu Sorbitol. Dieses kann
14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
189 14
seinerseits durch das Enzym Sorbitoldehydrogenase (Ketose-
reduktase) in einer NAD+-abhängigen Reaktion zu Fructose
oxidiert werden.
In den Samenblasen, wo Fructose in beträchtlichen Mengen
produziert wird, finden sich besonders hohe Aktivitäten der
Enzyme des Polyolweges. Sie ist das wichtigste Substrat zur
Deckung des Energieverbrauchs der Spermien. Da die Biosynthese
der beiden Enzyme des Polyolwegs in den Samenblasen unter der
Kontrolle von Testosteron steht, erlaubt die Bestimmung der
Fructosekonzentration in der Spermaflüssigkeit Rückschlüsse
auf die Testosteronproduktion der Testes bzw. die Funktion der
Samenblasen.

14.1.2 Der Pentosephosphatweg – Bildung


von Pentosen und NADPH/H+

Im Pentosephosphatweg findet eine Dehydrierung


und Decarboxylierung von Glucose statt
Im Pentosephosphatweg (Synonyme: Pentosephosphatzyklus,
Hexosemonophosphatweg,) wird im Cytosol aus Glucose-6-
Phosphat durch Oxidation und Decarboxylierung des C-Atom 1
Ribulose-5-Phosphat gebildet. Dieses kann zu Ribose-5-Phos-
phat isomerisiert und als essentieller Baustein für die Nucleotid-
biosynthese benutzt werden. Alternativ wird es in einem zykli-
schen Prozess in Fructose-6-Phosphat und Glycerinaldehyd-
3-Phosphat umgewandelt. Durch mehrfaches Zyklisieren kann
Glucose im Pentosephosphatweg vollständig zu CO2 oxidiert
werden. Ein wichtiger Unterschied zur Glycolyse ist, dass der
bei den oxidativen Reaktionen/Dehydrierungsreaktionen ent-
stehende Wasserstoff auf NADP+ und nicht auf NAD+ übertragen
wird. NADPH ist u. a. das wasserstoffübertragende Coenzym für
reduktive, hydrierende Biosynthesen, beispielsweise die Fett-
säure- oder Steroidhormonbiosynthese (7 Kap. 21.2.3 und 40.2.2).
Außerdem wird es beim Abbau von H2O2 benötigt, spielt also eine
wichtige Rolle bei der Antwort auf oxidativen Stress (7 Kap. 17.3).
Formal kann man die Reaktionsfolge des Pentosephosphat-
weges in zwei Phasen einteilen:
. Abb. 14.5 Fructosestoffwechsel der Leber. Die für die Leberzelle typi-
schen Reaktionen des Fructosestoffwechsels sind die durch Fructokinase,
4 In der oxidativen Phase wird Glucose-6-Phosphat unter
Aldolase B und Triosekinase katalysierten Reaktionen. Der rote Balken gibt Bildung der Pentose Ribulose-5-Phosphat dehydriert
den bei hereditärer Fructoseintoleranz (7 Kap. 17.2.1) vorliegenden Enzym- (oxydiert) und decarboxyliert.
defekt wieder 4 In der nicht-oxidativen Phase werden Pentosen und Hexosen
ineinander umgewandelt.

In der ersten Phase des Pentosephosphatweges


entstehen NADPH/H+ und Pentosephosphate
Das Enzym Glucose-6-Phosphatdehydrogenase katalysiert
die Dehydrierung von Glucose-6-Phosphat zu 6-Phosphoglu-
conolacton, wobei NADPH/H+ entsteht (. Abb. 14.7). 6-Phos-
phogluconolacton wird durch die Gluconolactonhydrolase zu
6-Phosphogluconat hydrolysiert. Der sich anschließende Schritt
ist ebenfalls oxidativ und wird durch die 6-Phosphogluconatde-
hydrogenase katalysiert. Auch dieses Enzym benötigt NADP+
. Abb. 14.6 Extrahepatische Synthese von Fructose aus Glucose mit als Wasserstoffakzeptor. Das bei der Reaktion intermediär
Hilfe der Polyoldehydrogenase und der Sorbitoldehydrogenase entstehende 3-Keto-6-Phosphogluconat trägt die Konfigura-
tion einer β-Ketosäure und decarboxyliert sehr rasch spontan,
wobei neben CO2 die Pentose Ribulose-5-Phosphat entsteht

Fructose# Fructokinase Fructose-1-Phosphat# Aldolase B Dihydroxyacetonphosphat# D-Glycerinaldehyd# Triosekinase Glycerinal-


dehyd-3-Phosphat#
190 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

4 Durch die Ribulose-5-Phosphatisomerase kann die ent-


sprechende Aldopentose, nämlich Ribose-5-Phosphat,
gebildet werden. Diese Reaktion gleicht der Umwandlung
von Glucose-6-Phosphat in Fructose-6-Phosphat in der
Glycolyse. Ribose-5-Phosphat kann als Baustein für die Bio-
synthese von Nucleosiden und Nucleotiden verwendet
werden (7 Kap. 29.1; 30.1).
4 Die Transketolase katalysiert die Übertragung der
C-Atome 1 und 2 (blau in . Abb. 14.8) der Ketose Xylulose-
5-Phosphat auf den Carbonylkohlenstoff der Aldose
Ribose-5-Phosphat. Damit entsteht aus Xylulose-5-Phos-
phat und Ribose-5-Phosphat der aus 7 C-Atomen bestehen-
de Ketozucker Sedoheptulose-7-Phosphat und die Aldose
Glycerinaldehyd-3-Phosphat. Ein Cofaktor der Transketo-
lase ist Thiaminpyrophosphat (7 Kap. 59.2). Der Keto-
zucker wird dabei an Thiaminpyrophosphat angelagert,
nach Aufspaltung des Moleküls bleibt ein Rest aus 2 C-Ato-
men als aktiver Glycolaldehyd am Thiaminpyrophosphat
gebunden und wird so übertragen.
4 Sedoheptulose-7-Phosphat und Glycerinaldehyd-3-Phos-
phat reagieren mit dem Enzym Transaldolase. Dies führt
zur Übertragung eines Dihydroxyacetonrests aus den
C-Atomen 1‒3 des Sedoheptulose-7-Phosphats (gelber
Kasten in . Abb. 14.8) auf die Aldose Glycerinaldehyd-
3-Phosphat. Dabei entstehen Fructose-6-Phosphat und die
Aldose Erythrose-4-Phosphat mit 4 C-Atomen.
4 Ein weiteres Molekül Xylulose-5-Phosphat dient unter
Katalyse der Transketolase als Donor eines aktiven Glycol-
aldehydes, der auf Erythrose-4-Phosphat übertragen wird.
Dabei entsteht noch einmal ein Molekül Fructose-6-Phos-
phat und Glycerinaldehyd-3-Phosphat.

14 Fructose-6-Phosphat und Glycerinaldehyd-3-Phosphat können


mit Reaktionen der Gluconeogenese wieder in Glucose-6-Phos-
phat umgewandelt oder über die Glycolyse weiter abgebaut wer-
den (s. u.).

Der Pentosephosphatweg dient der Erzeugung


. Abb. 14.7 Oxidation und Decarboxylierung von Glucose-6-Phosphat von NADPH/H+ und Ribose-5-Phosphat
zu Ribulose-5-Phosphat im oxidativen Teil des Pentosephosphatwegs
Der Pentosephosphatweg spielt quantitativ eine besondere Rolle
in den Geweben, in denen NADPH-abhängige reduktive Bio-
(. Abb. 14.7). Die Reoxidation des gebildeten NADPH/H+ er- synthesen in größerem Umfang ablaufen.
folgt über NADPH/H+-verbrauchende Prozesse (s. u.). Hierzu gehören:
4 die Leber, das Fettgewebe und die laktierende Brustdrüse
Der nicht-oxidative Teil des Pentosephosphatweges wegen ihrer sehr aktiven Fettsäurebiosynthese,
erlaubt eine Rückgewinnung von Hexosen 4 die Nebennierenrinde, die Ovarien und die Testes wegen
aus Pentosen oder die Synthese von Pentosen der Cholesterin- und Steroidhormonbiosynthese und
aus Hexosen 4 die Erythrocyten. Wegen der in ihnen besonders hohen
Für die zweite Phase des Pentosephosphatweges sind die beiden O2-Konzentration werden die Thiolgruppen wichtiger Pro-
Enzyme Transketolase und Transaldolase von besonderer Be- teine (z. B. Glycerinaldehyd-3-Phosphatdehydrogenase)
deutung (. Abb. 14.8). Ribulose-5-Phosphat ist allerdings kein durch Oxidation zu Disulfidgruppen oxidiert. Dies kann
Substrat dieser Enzyme. Es muss durch zwei weitere Enzyme durch die in Erythrocyten besonders hohen Glutathionkon-
umgelagert werden. Die Reaktionsfolge ist reversibel; ausgehend zentrationen verhindert werden, allerdings entsteht dabei
von Ribulose-5-Phosphat läuft sie folgendermaßen ab: Glutathiondisulfid. Dieses wird durch das Enzym Glutathion-
4 Die Ribulose-5-Phosphatepimerase führt zu einer Ände- reduktase reduziert, wobei NADPH/H+ als Wasserstoffdonor
rung der Konfiguration am C-Atom 3 der Ribulose, wobei dient (7 Kap. 68.2.4). Darüber hinaus ist Glutathion für die
Xylulose-5-Phosphat entsteht. Peroxyd-Eliminierung von großer Bedeutung (7 Kap. 20.2).

Glucose-6-Phosphat# Glucose-6-Phosphatdehydrogenase 6-Phosphogluconolacton# Gluconolactonhydrolase 6-Phosphoglu-


conat# 6-Phosphogluconatdehydrogenase 3-Keto-6-Phosphogluconat# Ribulose-5-Phosphat#
14.1 · Katabole Verwertung von Glucose und Fructose
191 14

. Abb. 14.8 Bildung von Fructose-6-Phosphat und Glycerinaldehyd-3-Phosphat aus Ribulose-5-Phosphat. Da alle Reaktionen reversibel sind, kann die
Reaktionssequenz auch zur Biosynthese von Pentosen aus Hexosen benutzt werden. (Einzelheiten s. Text)

In Skelettmuskeln und im Herzmuskel ist die Aktivität des Pen- der Glycolyse weiter abgebaut werden (z. B. bei gleichzeitigem
tosephosphatwegs dagegen gering. Energiebedarf) oder aber über Reaktionen der Gluconeogenese
In den NADPH/H+-verbrauchenden Geweben zeigt der Pen- wieder in Glucose-6-Phosphat umgewandelt werden. Nur in
tosephosphatweg unterschiedliche Funktionsweisen, je nach- diesem speziellen Fall kann man von einem Pentosephosphat-
dem, ob der Bedarf an NADPH/H+ größer oder etwa gleich dem zyklus sprechen.
an Pentosen ist. Werden gleich viel Pentosen wie NADPH/H+ Betrachtet man lediglich die Bilanz des Pentosephosphat-
benötigt, ist nur der oxidative Teil des Pentosephosphatweges zyklus, so besteht er in einem oxidativen Abbau von Glucose zu
erforderlich. Überwiegt dagegen der Bedarf an NADPH/H+, CO2 und NADPH/H+. Wenn man nämlich die Reaktionen mit
werden die überschüssigen Pentosen im nicht-oxidativen Teil des 6 Molekülen Glucose-6-Phosphat beginnt, endet man bei 6 CO2
Pentosephosphatweges zu Fructose-6-Phosphat und Glycerin- und 5 Glucose-6-Phosphat (und 12 NADPH/H+). Ein Glucose-
aldehyd-3-Phosphat umgewandelt. Diese können entweder in molekül ist also vollständig zu CO2 abgebaut worden.

Xylulose-5-Phosphat# Ribulose-5-Phosphat# Ribose-5-Phosphat# Epimerase Isomerase Transketolase Transaldolase Sedoheptulose-7-Phosphat#


Erythrose-4-Phosphat# Glycerinaldehyd-3-Phosphat# Fructose-6-Phosphat#
192 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

Da nur relativ kleine Mengen von Pentosen über die Nah-


rung aufgenommen werden, ist der Pentosephosphatweg für die . Tab. 14.2 Kohlenhydratspeicher in Leber und Muskulatur
Nucleotid- und Nucleinsäurebiosynthese wichtig (7 Kap. 29.1; des Menschen (maximale Werte) im Vergleich zur Glucosemenge
in der extrazellulären Flüssigkeit
30.1). Dies trifft auch für Gewebe mit nur geringen Aktivitäten
an Glucose-6-Phosphat- und 6-Phosphogluconatdehydrogenase Gewebe Konzentration Gesamtmenge
zu, wo demnach der Bedarf an Pentosen höher ist als der von (g/100 g Gewebe) (g)
NADPH/H+. Hier laufen, ausgehend von Fructose-6-Phosphat
Leberglycogen 0–10 0–150
und Glycerinaldehyd-3-Phosphat, die Reaktionen des nicht-
oxidativen Teils des Pentosephosphatweges rückwärts bis auf die Muskelglycogen 1 250
Stufe der Pentosephosphate. Extrazelluläre Glucose 0,1 15
Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym des Pentosephos-
phatweges ist die Glucose-6-Phosphatdehydrogenase. Ihre Regu-
lation erfolgt auf zweifache Weise: Leber und Muskulatur (. Tab. 14.2). Kurz nach einer kohlen-
4 Kohlenhydratreiche Ernährung führt zusammen mit In- hydratreichen Mahlzeit kann die Leber 5–10 % Glycogen enthal-
sulin und Glucocorticoidhormonen zu einer Induktion ten, nach 12- bis 18-stündigem Fasten ist sie dagegen praktisch
des Enzyms. Dies ermöglicht die Bereitstellung des für die glycogenfrei. Der Glycogengehalt der Muskulatur steigt norma-
Fettsäurebiosynthese benötigten NADPH/H+. lerweise nicht über 1 % (. Tab. 14.2).
4 Außer durch Induktion wird die Aktivität der Glucose- Die Biosynthese von Glycogen aus Glucose ist in . Abb. 14.9
6-Phosphatdehydrogenase durch den Quotienten von dargestellt und erfolgt in folgenden Schritten:
NADPH/NADP+ reguliert. Er beträgt normalerweise etwa 4 Nach Phosphorylierung von Glucose zu Glucose-6-Phosphat
100/1. Jede Steigerung des NADPH/H+-Verbrauchs führt (Hexokinase, Glucokinase) wird dieses durch das Enzym
zu einer Verringerung des Quotienten. Dadurch wird eine Phosphoglucomutase in Glucose-1-Phosphat überführt.
Aktivierung des Enzyms ausgelöst. 4 Für den Einbau von Glucose in Glycogen muss Glucose-
1-Phosphat aktiviert werden. Hierfür reagiert es mit
Uridintriphosphat (UTP) unter Bildung von Uridindiphos-
Zusammenfassung phatglucose (UDP-Glucose). Das für diese Reaktion ver-
Für alle Zellen des menschlichen Organismus ist Glucose antwortliche Enzym ist die Glucose-1-Phosphat-UTP-
der wichtigste Energielieferant. Die zwei wesentlichsten Transferase oder UDP-Glucosepyrophosphorylase (ge-
Stoffwechselwege für ihren Abbau sind: nauer UTP-Glucose-1-Phosphat-Uridyltransferase). Es
4 die Glycolyse und katalysiert die Knüpfung einer Phosphorsäureanhydrid-
4 der Pentosephosphatweg bindung zwischen dem Phosphatrest am C1 der Glucose
und dem α-Phosphat des UTP, wobei dessen β- und
14 Läuft die Glycolyse unter anaeroben Bedingungen ab, so ist γ-Phosphate als Pyrophosphat abgespalten werden. Da
Lactat (in der Hefe Ethanol) ihr Endprodukt. Pro mol Glucose Pyrophosphatasen in jeder Zelle in hoher Aktivität vorkom-
werden 2 mol ATP gebildet. Vom energetischen Standpunkt men, wird Pyrophosphat rasch in anorganisches Phosphat
aus wesentlich ergiebiger ist die physiologischerweise in gespalten, was das Gleichgewicht der UDP-Glucosebio-
allen Geweben außer Erythrocyten und Nierenmark statt- synthese in Richtung der UDP-Glucose verschiebt.
findende aerobe Glycolyse, wobei aus Glucose CO2 und H2O 4 Unter Einwirkung des Enzyms UDP-Glycogentransglu-
gebildet wird. Fructose wird über einen nur in der Leber cosylase oder Glycogensynthase wird das auf diese Weise
vorkommenden Nebenweg der Glycolyse in den Stoffwech- aktivierte Glucosemolekül auf ein Starter-Glycogen (primer-
sel eingeschleust. glycogen) übertragen. Hierbei wird eine glycosidische Bin-
Ein alternativer Stoffwechselweg der Glucose ist der Pentose- dung (7 Kap. 3.1.3) zwischen dem C-Atom 1 der aktivierten
phosphatweg, der zur Bildung von NADPH/H+ und Ribose- Glucose und dem C-Atom 4 des terminalen Glucosylrests
5-Phosphat führt. am Starter-Glycogen geknüpft. Uridindiphosphat wird frei.
Insgesamt erfordert der Einbau eines Moleküls Glucose in
Glycogen also die Spaltung von drei Phosphorsäureanhy-
dridbindungen.
14.2 Bildung und Verwertung
der Glycogenspeicher Auf diese Weise werden die Zweige des Glycogenbaums durch
α-1,4-glycosidische Bindungen verlängert. Hat die Kette eine
14.2.1 Glycogensynthese Länge von 6–11 Glucoseresten erreicht, tritt als weiteres Enzym
das branching enzyme oder die Amylo-1,4 1,6-Transglucosylase
Der wesentliche Schritt der Glycogenbiosynthese in Aktion. Dieses Enzym überträgt einen aus wenigstens 6 Glu-
ist die Verlängerung bereits vorhandener coseresten bestehenden Teil der 1,4-glycosidisch verknüpften
Glycogenmoleküle mit UDP-Glucose Kette auf einen Glucoserest dieser oder einer benachbarten Ket-
Glycogen lässt sich außer in Erythrocyten in allen Zellen des te, wobei ohne weiteren ATP-Verbrauch eine 1,6-glycosidische
Organismus nachweisen. Die Hauptmasse findet sich jedoch in Bindung entsteht (. Abb. 14.10). Durch diesen Vorgang kommt
14.2 · Bildung und Verwertung von Glycogenspeicher
193 14

. Abb. 14.9 Einzelschritte der Glycogenbiosynthese. Glucose-6-Phosphat wird durch die Phosphoglucomutase in Glucose-1-Phosphat überführt,
welches mit UTP zu UDP-Glucose reagiert (Glucose-1-Phosphat-UTP-Transferase). Der Glucoserest der UDP-Glucose wird auf die terminale 4-OH-Gruppe
eines Starterglycogens übertragen (Glycogensynthase), wobei UDP freigesetzt und das Glycogen um eine Glycosyleinheit verlängert wird. Als Starter-
Glycogen dient normalerweise schon vorhandenes zelluläres Glycogen. Glycogenin wird nur bei der de novo Synthese eines Glycogenmakromoleküls
verwendet

es zu den für Glycogen (und Amylopektin) typischen Verzwei- 4 Glycogenin ist ein cytosolisches Protein mit einer Glycosyl-
gungsstellen. transferaseaktivität.
4 Deswegen ist Glycogenin imstande, sich selbst an einem
Für die de novo-Synthese von Glycogen ist das Tyrosylrest zu glycosylieren. Insgesamt werden bis zu
Protein Glycogenin erforderlich 8 Glucosylreste autokatalytisch angefügt. Der Donor der
Der oben dargestellte Mechanismus erklärt nicht die Neuentste- Glycosylgruppe ist UDP-Glucose.
hung von Glycogenmolekülen. Hierfür wird das Protein Glyco- 4 An das glycosylierte Glycogenin lagert sich die Glycogen-
genin benötigt: synthase an und beginnt mit der Anheftung weiterer
Glucosereste wie oben beschrieben.
4 Die anderen Enzyme der Glycogensynthese vervollständigen
dann das Glycogenmolekül.

14.2.2 Glycogenolyse

Der Abbau des Glycogens (Glycogenolyse) erfolgt nicht durch


hydrolytische, sondern durch phosphorolytische Abspaltung der
einzelnen Glucosereste:
4 Das erste Produkt des Glycogenabbaus ist Glucose-1-Phos-
phat. Es entsteht durch Spaltung der 1,4-glycosidischen
Bindungen im Glycogen unter Einbau von anorganischem
. Abb. 14.10 Biosynthese der Verzweigungsstellen in Glycogenmole-
Phosphat. Diese Reaktion ist also nicht an die Hydrolyse
külen durch die Amylo-1,4 1,6-Transglucosylase. Zur Vereinfachung von ATP gekoppelt. Das hierfür verantwortliche Enzym ist
wurden die Hydroxylgruppen weggelassen. (Einzelheiten s. Text) die Phosphorylase (eigentlich Glycogenphosphorylase)

Phosphoglucomutase Glucose-1-Phosphat-UTP-Transferase Glucose-6-Phosphat# UDP-Glucose# UTP# UDP# Glycogen# Gly-


cogensynthase Glycogenin# Starterglycogen#
194 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

hierfür notwendige Proton stammt vom anorganischen


Phosphat, das hierzu ein Proton vom Pyridoxalphosphat
übernehmen muss. Übrig bleibt das ursprünglich terminale
Glucosemolekül, das jetzt als Carbeniumion vorliegt. Es
wird nun vom Orthophosphat unter Bildung von Glucose-
1-Phosphat angegriffen und dabei ein Proton an das Pyri-
doxalphosphat zurückgegeben. Dieses dient also bei der
Phosphorylasereaktion als Säure-Basen-Katalysator.
4 Die Phosphorylase baut die äußeren Ketten des Glycogen-
moleküls bis etwa 4 Glucoseeinheiten vor der nächsten
1,6-glycosidischen Verzweigungsstelle ab.
4 Fortgesetzt wird der Glycogenabbau durch das debranching
enzyme (»Entzweigungsenzym«). Dessen α(1,4) α(1,4)-
Glucantransferaseaktivität überträgt eine Trisaccharid-
einheit von den restlichen vier Glucoseeinheiten auf eine
. Abb. 14.11 Phosphorolytische Spaltung des Glycogens zu Glucose- andere Kette, wobei die Verzweigungspunkte freigelegt
1-Phosphat unter Katalyse der Glycogenphosphorylase werden. Die Spaltung der 1,6-glycosidischen Bindung
erfolgt hydrolytisch durch die Amylo-1,6-Glucosidaseak-
tivität des debranching enzyme (. Abb. 14.13). Nur die
(. Abb. 14.11). Dieses Enzym ist für den Glycogenabbau 1,6-glycosidischen Bindungen werden somit hydrolytisch
(Glycogenolyse) geschwindigkeitsbestimmend. gespalten, was im Gegensatz zur phosphorolytischen
4 Die aus zwei identischen Untereinheiten bestehende Glyco- Spaltung durch die Phosphorylase zur Bildung von freier
genphosphorylase trägt an jeder Untereinheit ein covalent Glucose führt. Durch die gemeinsame Wirkung des
gebundenes Pyridoxalphosphat (7 Kap. 59.5). Anders als debranching enzyme und der Phosphorylase wird Glycogen
bei den Enzymen des Aminosäurestoffwechsels ist hier die also zu Glucose-1-Phosphat und Glucose abgebaut.
Phosphatgruppe des Pyridoxalphosphats in die Katalyse
eingeschaltet. Wie in . Abb. 14.12 dargestellt, wird zunächst Wegen der Reversibilität der Phosphoglucomutasereaktion wird
die terminale α-1,4-Bindung gespalten, wobei eine neue Glucose-1-Phosphat leicht in Glucose-6-Phosphat umgewan-
4-OH-Gruppe am verbleibenden Glycogen entsteht. Das delt. Zur Glucosefreisetzung muss Glucose-6-Phosphat unter

14

. Abb. 14.12 Katalysemechanismus der Glycogenphosphorylase. Über einen Lysinrest (Lys) kovalent an die Phosphorylase gebundenes Pyridoxal-
phosphat (PALP) wirkt als Säure-Basen-Katalysator bei der Spaltung der 1,4-glycosidischen Bindung im Glycogen mit anorganischem Phosphat (grün ein-
gefärbt) unter Bildung von Glucose-1-Phosphat. (Einzelheiten s. Text)

Glycogen# Glycogenphosphorylase Glucose-1-Phosphat# Glycogen# Glucosylrest verkürztes#


14.3 · Die Gluconeogenese – endogene Glucoseproduktion
195 14
14.3 Die Gluconeogenese –
endogene Glucoseproduktion

Die Glucosebiosynthese aus Nicht-Kohlenhydrat-


vorstufen wird als Gluconeogenese bezeichnet
Die Gluconeogenese stellt die Versorgung des Organismus mit
Glucose dann sicher, wenn diese nicht mit der Nahrung aufge-
nommen wird. Dies ist von besonderer Bedeutung für die Ery-
throcyten (7 Kap. 68.2.4) und das Nierenmark (7 Kap. 65.2), die
Glucose als einzige Energiequelle benutzen. Auch das Nerven-
system ist auf die Verwertung von Glucose angewiesen. Erst
nach mehrtägigem Fasten erlangt es die Fähigkeit zur Oxidation
von Ketonkörpern (7 Kap. 74.4). Bei Säugern und damit beim
Menschen ist die enzymatische Ausstattung zur vollständigen
Synthese von Glucose nur in Leber, Nieren und der intestinalen
Mukosa vorhanden.
Substrate der Gluconeogenese sind:
4 das von Muskulatur und Erythrocyten produzierte Lactat,
4 die verschiedenen glucogenen Aminosäuren, die v. a. in der
Muskulatur durch Proteolyse entstehen (7 Kap. 38.1.3),
4 das durch das Fettgewebe freigesetzte Glycerin (7 Kap. 38.1.3).

. Abb. 14.13 Abbau der Verzweigungsstellen im Glycogenmolekül Drei Schlüsselreaktionen unterscheiden Gluconeo-
durch die α-(1,4) α(1,4)-Glucantransferaseaktivität und die Amylo-1,6- genese und Glycolyse
Glucosidaseaktivität des debranching enzyme. Zur Vereinfachung sind die
Die Reaktionen der Gluconeogenese sind überwiegend eine
Hydroxylgruppen weggelassen. (Einzelheiten s. Text)
Umkehr der Glycolyse. Allerdings müssen die drei aus thermo-
dynamischen Gründen irreversiblen Reaktionen, die der
Katalyse der Glucose-6-Phosphatase zu Glucose und Pi gespalten Glucokinase (Hexokinase), der Phosphofructokinase und der
werden. Dieses Enzym ist in hohen Aktivitäten nicht in der Mus- Pyruvatkinase, umgangen werden (. Abb. 14.14). Das ΔG0 al-
kulatur wohl aber in Leber und Nieren vorhanden. Deshalb neh- ler drei Reaktionen der Glycolyse ist so negativ, dass ein nen-
men auch nur diese beiden Organe an der Aufrechterhaltung der nenswerter Substratdurchsatz bei den in der Zelle vorkommen-
Blutglucosekonzentration teil. den Metabolitkonzentrationen in umgekehrter Richtung un-
möglich ist.

Zusammenfassung Umgehung der Pyruvatkinase Betrachtet man die Gluconeo-


Glycogen ist das wichtigste Speicherkohlenhydrat tierischer genese aus Lactat oder Alanin, so ist nach Umwandlung dieser
Gewebe. Es kommt in unterschiedlichen Konzentrationen in Verbindungen in Pyruvat die erste für die Gluconeogenese typi-
allen Zelltypen außer den Erythrocyten vor. Mengenmäßig sche Reaktionssequenz die Bildung von Phosphoenolpyruvat
am bedeutendsten sind die Glycogenvorräte in (. Abb. 14.15).
4 Leber (Gesamtmenge ca. 150 g) und Die Umgehung der Pyruvatkinase kommt durch folgende
4 Skelettmuskulatur (Gesamtmenge ca. 250 g) Reaktionen zustande:
Durch das mitochondriale Enzym Pyruvatcarboxylase wird
Glycogen wird aus Glucose synthetisiert. Hierzu ist die Akti- Pyruvat zu Oxalacetat carboxyliert. Die Pyruvatcarboxylase ge-
vierung von Glucose zu UDP-Glucose notwendig. Die Glyco- hört in die Gruppe der Biotin- und ATP-abhängigen Carboxy-
gensynthase knüpft Glucoseeinheiten in α-1,4-Bindung lasen (7 Kap. 59.7). Zur anaplerotischen Funktion der Pyruvat-
an bereits bestehendes Glycogen oder an das Glycoprotein carboxylase s. 7 Kap. 18.4.
Glycogenin. Das branching enzyme führt die α-1,6- 4 Durch die Phosphoenolpyruvatcarboxykinase (PEPCK)
Verzweigungen im Glycogenmolekül ein. wird das durch die Pyruvatcarboxylase gebildete Oxalacetat
Für den Glycogenabbau ist die Phosphorylase verantwort- decarboxyliert und gleichzeitig phosphoryliert. Die Trieb-
lich, die eine phosphorolytische Spaltung der α-1,4-gly- kraft für die Bildung des Phosphoenolpyruvats liegt in der
cosidischen Bindungen im Glycogen unter Bildung von Decarboxylierung des Oxalacetats, wobei gleichzeitig die
Glucose-1-Phosphat ermöglicht. Für die Entfernung von Ver- Einführung einer energiereichen Enolphosphatbindung
zweigungsstellen ist das debranching enzyme notwendig. durch Verbrauch von GTP möglich ist.
Glucose-1-Phosphat kann zu Glucose-6-Phosphat und –
in der Leber und in den Nieren – in Glucose umgewandelt Zusätzliche Probleme ergeben sich durch die Verteilung der an
werden. der Umgehung der Pyruvatkinase beteiligten Enzyme auf das
mitochondriale bzw. cytosolische Kompartiment:
196 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

14

. Abb. 14.14 Einzelreaktionen von Glycolyse und Gluconeogenese. Die Reaktionsfolge der Gluconeogenese ist violett dargestellt. Sie unterscheidet sich
durch vier enzymkatalysierte Schritte von der Glycolyse. Die Bezeichnungen der jeweils verantwortlichen Enzyme sind ebenfalls rot hervorgehoben. Nur
Leber, Niere und die intestinale Mukosa verfügen über diese vier Enzyme und sind deswegen zur Gluconeogenese imstande. Neben Lactat sind glucogene
Aminosäuren und Glycerin Substrate der Gluconeogenese. (Einzelheiten s. Text)

4 Die Pyruvatcarboxylase ist ein Enzym der mitochondrialen


Matrix. Das von ihr produzierte Oxalacetat ist also mito-
chondrial lokalisiert (. Abb. 14.16 A).
4 Von der Phosphoenolpyruvatcarboxykinase existieren
2 Isoenzyme, die mitochondriale PEPCKmt und die cyto-
solische PEPCKcyt. Nur das cytosolische Isoenzym wird re-
guliert, z. B. durch cAMP bzw. Insulin (7 Kap. 15.3.2).
4 Aufgrund dieser Tatsache geht man davon aus, dass für die
Gluconeogenese hauptsächlich die cytosolische PEPCK
verantwortlich ist. Da Oxalacetat mangels eines entspre-
chenden Transportsystems nicht durch die mitochondriale
. Abb. 14.15 Biotinabhängige Carboxylierung von Pyruvat zu Oxalacetat
Innenmembran gelangen kann, muss der in . Abb. 14.16 C
und Decarboxylierung und Phosphorylierung von Oxalacetat zu Phospho- beschriebene Weg eingehalten werden. Intramitochondrial
enolpyruvat wird Oxalacetat zu Malat (mitochondriale Malatdehydro-
Glykolyse Hexokinase Glucokinase Gluconeogenese Glucose-6-Phosphatase Phosphofructokinase 1 Fructose-1,6-Bisphosphatase Glycerin-3-Phosphat-Dehydroge-
nase Glycerinkinase Pyruvatkinase Phosphoenolpyruvatcarboxykinase glucogene Aminosäuren Pyruvatcarboxylase Aminosäuren glucogene Pyruvat# Oxalacetat#
Phosphoenolpyruvat# Pyruvatcarboxylase Biotin Phosphoenolpyruvatcarboxykinase
14.3 · Die Gluconeogenese – endogene Glucoseproduktion
197 14

. Abb. 14.16 Verteilung der Reaktionen zur Bildung von Phosphoenolpyruvat aus Pyruvat auf das mitochondriale und cytoplasmatische Komparti-
ment. Für die Ausschleusung des mitochondrial aus Pyruvat erzeugten Oxalacetats (A) bestehen zwei Möglichkeiten. (B) stellt die mitochondriale Bildung
von PEP und dessen Transport durch die innere Mitochondrienmembran dar, (C) die mitochondriale Reduktion von Oxalacetat zu Malat, dessen Export ins
Cytosol sowie die anschließende Oxidation zu Oxalacetat und Reaktion zu cytosolischem PEP. Bei (C) erfolgt gleichzeitig ein Export von NADH ins Cytosol.
PEP: Phosphoenolpyruvat; PEPCKcyt: cytosolische Phosphoenolpyruvatcarboxykinase; PEPCKmt: mitochondriale Phosphoenolpyruvatcarboxykinase;
1 = Pyruvat-Carrier; die unter 2 bzw. 3 dargestellten Carrier sind mitochondriale Austausch-Carrier (7 Tab. 19.1) IMM = innere Mitochondrienmembran.
(Einzelheiten s. Text)

genase) reduziert und dieses durch entsprechende Carrier In der intestinalen Mukosa lassen sich in relativ hoher Akti-
in das Cytosol exportiert. Anschließend erfolgt eine Oxida- vität PEPCK, Fructose-1,6-Bisphosphatase und Glucose-6-Phos-
tion des Malats durch die cytosolische Malatdehydrogena- phatase nachweisen. Vor allem während längeren Hungerns
se. Das dabei entstehende Oxalacetat ist Substrat der cyto- stammen etwa 20 % der Glucoseproduktion aus der Mukosa. In
solischen PEPCK. Dieser Mechanismus geht mit dem der quergestreiften Muskulatur und im Fettgewebe sind die
Transfer von mitochondrialem NADH ins Cytosol einher. Enzyme der Gluconeogenese nur in geringsten Konzentrationen
Auf diese Weise wird der NADH-Bedarf der Gluconeo- nachweisbar.
genese gedeckt. Die Gluconeogenese aus Pyruvat benötigt beträchtliche Ener-
4 Das durch die mitochondriale PEPCK erzeugte Phospho- giemengen. Vom Pyruvat bis auf die Stufe der Triosephosphate
enolpyruvat kann durch entsprechende Transporter werden 3 mol ATP pro mol Triosephosphat, also 6 mol ATP
(. Abb. 14.16 B) aus den Mitochondrien ausgeschleust und pro mol Glucose verbraucht. Davon werden je eines für die Bil-
so direkt der Gluconeogenese zugeführt werden. Es ist dung von Oxalacetat aus Pyruvat, von Phosphoenolpyruvat aus
allerdings unklar, welche Bedeutung dieser Weg hat. Oxalacetat (GTP ist energetisch gesehen äquivalent zu ATP) und
von 1,3-Bisphosphoglycerat aus 3-Phosphoglycerat benötigt.
Umgehung der Phosphofructokinase 1 Die Umwandlung von
Fructose-1,6-Bisphosphat zu Fructose-6-Phosphat erfolgt durch Die Gluconeogenese hat enge Beziehungen zum
eine Fructose-1,6-Bisphosphatase. Das Enzym kommt v. a. in Lipid- und Aminosäurestoffwechsel
der Leber und in den Nieren vor. Während der Lipolyse gibt das Fettgewebe nicht nur Fett-
säuren, sondern auch Glycerin in beträchtlichen Mengen ab
Umgehung der Glucokinase (Hexokinase) Die Glucosebildung (7 Kap. 38.1.3). Glycerin wird besonders in der Leber und den
aus Glucose-6-Phosphat ist nur in Gegenwart einer weiteren spe- Nieren in den Stoffwechsel eingeschleust. Diese Gewebe ver-
zifischen Phosphatase, der Glucose-6-Phosphatase, möglich. fügen über das hierzu notwendige Enzym Glycerinkinase,
Dieses Enzym kommt in hoher Aktivität in Leber und Nieren als welches Glycerin zu Glycerin-3-Phosphat phosphoryliert. Gly-
den Hauptorganen der Gluconeogenese vor. cerin-3-Phosphat wird durch die Glycerin-3-Phosphatdehydro-
198 Kapitel 14 · Glucose – Schlüsselmolekül des Kohlenhydratstoffwechsels

genase in Dihydroxyacetonphosphat umgewandelt und der


Gluconeogenese zugeführt (. Abb. 14.14).
Auch in den Mukosazellen des Intestinaltrakts lässt sich eine
beträchtliche Glycerinkinaseaktivität nachweisen. Das dabei
gebildete Glycerin-3-Phosphat wird allerdings nicht für die
Gluconeogenese, sondern für die Synthese von Triacylglycerinen
verwendet.
Mengenmäßig noch bedeutender für die Gluconeogenese
sind die glucogenen Aminosäuren. Sie werden durch Proteolyse
in jedem Gewebe, besonders aber in der Skelettmuskulatur, frei-
gesetzt. Nach Transaminierung (7 Kap. 26.3.1) liefern sie ent-
weder Pyruvat oder Zwischenprodukte des Citratzyklus mit
vier oder mehr C-Atomen.
Auch Propionat kann zur Gluconeogenese beitragen. Es wird
als Propionyl-CoA beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren
(7 Kap. 21.2.1) und der Aminosäuren Valin, Isoleucin, Methio-
nen und Threonin (7 Abb. 27.22) gebildet. Die für die Gluconeo-
genese notwendigen Reaktionen bestehen in einer Carboxylie-
rung von Propionyl-CoA mit anschließender Umlagerung zu
Succinyl-CoA, welches über den Citratzyklus in die Gluconeo-
genese eintreten kann (7 Abb. 21.9).

Zusammenfassung
Die Gluconeogenese findet überwiegend in der Leber und
den Nieren statt und dient der Neusynthese von Glucose aus
Nicht-Kohlenhydratvorstufen. Hierfür kommen in Frage:
4 Lactat
4 Glycerin
4 glucogene Aminosäuren

Die Einzelreaktionen der Gluconeogenese sind im Wesent-


14 lichen eine Umkehr der Glycolyse. Allerdings müssen aus
energetischen Gründen folgende Reaktionen umgangen
werden:
4 die Pyruvatkinase durch Pyruvatcarboxylase und
Phosphoenolpyruvatcarboxykinase
4 die Phosphofructokinase 1 durch die Fructose-1,6-Bis-
phosphatase
4 die Glucokinase (Hexokinase) durch die Glucose-6-Phos-
phatase

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199 15

15 Mechanismen der Glucosehomöostase


Georg Löffler, Matthias Müller

Einleitung liche Ähnlichkeiten auf, werden gewebs- bzw. zellspezifisch ex-


primiert und zum Teil durch externe Stimuli reguliert.
Der in 7 Kap. 14 beschriebene, weitverzweigte Stoffwechsel der Glucose Die Aminosäuresequenz aller Glucosetransporter zeigt, dass
unterliegt einer komplizierten Regulation. Diese setzt bereits auf der sie sich jeweils mit insgesamt 12 hydrophoben Transmembran-
Stufe der Glucoseaufnahme in die Zellen ein. Die Konzentration an domänen in der Plasmamembran anordnen (7 Kap. 11.4).
Glucose-6-Phosphat, als dem zentralen Ausgangspunkt des Glucose- . Abb. 15.1A und B stellen die Raumstruktur von Glucose-
stoffwechsels, wird vielfältig kontrolliert. Die Regulation von Glycolyse transportern am Beispiel von GLUT1 dar. Die 12 Transmem-
und Gluconeogenese erfolgt hormonell wie allosterisch. Vor allem Pro- branhelices sind so angeordnet, dass eine zentrale Pore entsteht,
teinkinasen und Proteinphosphatasen koordinieren die Auffüllung und in die die Helix H 7 hineinragt, die möglicherweise für die
die Mobilisierung der zellulären Glycogenvorräte mit dem Energie- Spezifität des Transporters verantwortlich ist.
bedarf von Zellen und Gewebe. Strukturell und funktionell am besten charakterisiert sind die
Glucosetransporter der Klasse I. Es handelt sich um GLUT1, 2,
Schwerpunkte 3, 4 und 14.
4 GLUT1 ist am weitesten verbreitet. Er kommt besonders in
4 Glucosetransporter
fetalen, aber auch in vielen adulten Säugerzellen vor, häufig
4 Die zentrale Rolle von Glucose-6-Phosphat im Glucosestoff-
allerdings in Verbindung mit anderen gewebsspezifischeren
wechsel
Transporterisoformen. Offenbar hat GLUT1 eine besondere
4 Regulation von Glycogenabbau und Glycogensynthese
Bedeutung für die Glucoseversorgung der Zellen des
4 Regulation der Glycolyse
Zentralnervensystems, da er in den Kapillaren des Zentral-
4 Regulation der Gluconeogenese
nervensystems, die die Blut-Hirn-Schranke bilden, sehr
stark exprimiert wird. Beim Menschen steuert GLUT1
auch die Glucoseaufnahme in die β-Zellen der Langerhans-
Inseln des Pankreas (7 Kap. 36.3).
15.1 Glucosetransport durch Membranen 4 GLUT2 wird in Hepatocyten und auf der basolateralen Seite
der Epithelzellen von intestinaler Mukosa und Nieren ex-
15.1.1 Membranständige Glucosetransporter primiert. Auffallend ist seine KM für Glucose. Sie beträgt ca.
42 mmol/l und ist damit etwa doppelt so hoch wie die des
Nahezu alle Zelltypen, von den einfachsten Bakterien bis hin zu GLUT1-Transporters mit 18–21 mmol/l. In der Leber bildet
den komplexesten Neuronen des menschlichen Zentralnerven- das GLUT2-Transportprotein zusammen mit der Gluco-
systems, müssen Glucose mit Hilfe entsprechender Transport- kinase (Hexokinase IV) ein System, das schon bei geringer
systeme durch ihre Plasmamembranen transportieren. Beim Zunahme der Blutglucosekonzentration mit einer deut-
Säuger und damit auch beim Menschen kommen im Prinzip lichen Erhöhung von Glucoseaufnahme und Glucosestoff-
zwei mechanistisch unterschiedliche Glucosetransportsysteme wechsel reagiert, weswegen es auch als Teil eines Glucose-
vor (7 Kap. 11.5): sensors dient. Da die Glucokinase aufgrund ihres deutlich
4 der sekundär aktive, natriumabhängige Glucosetransport geringeren KM-Wertes für Glucose (6–8 mmol/l) schon
an der luminalen Seite der Epithelien des Intestinaltrakts bei niedrigeren Blutglucosekonzentrationen gesättigt ist
und der Nieren, als GLUT2, ist sie geschwindigkeitsbestimmend für die
4 die Glucoseaufnahme durch erleichterte Diffusion in allen Glucoseaufnahme in diese Zellen. In den Epithelzellen des
Zellen des Organismus. Intestinaltrakts und der Nieren wird das GLUT2-Transport-
system für die Bewältigung der hohen transepithelialen
Das Phänomen der erleichterten Diffusion von Glucose beruht Substratflüsse nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten be-
auf der Funktion spezifischer als Glucosetransporter (GLUT = nötigt.
glucose transporter) dienender Carrier in der Plasmamembran, 4 GLUT3 findet sich bevorzugt in den Neuronen des Gehirns.
da freie Glucose die Lipiddoppelschicht der Membranen nicht Die Glucosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit
passieren kann. des Gehirns ist niedriger als im Serum, da Glucose zunächst
Insgesamt sind bis jetzt 14 Glucosetransporter für die er- mit Hilfe von GLUT1 durch die Kapillarendothelien des
leichterte Diffusion von Glucose beschrieben worden, die sich Gehirns transportiert werden muss (Blut-Hirn-Schranke,
drei Klassen zuordnen lassen. Sie weisen untereinander beträcht- 7 Kap. 74.3.2). Deshalb ist es sinnvoll, dass GLUT3 sich

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
200 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

A B

. Abb. 15.1 Membrantopologie von Glucosetransportern am Beispiel des GLUT1. A Rekonstruktion der räumlichen Beziehungen der 12 Transmembran-
helices zueinander in der Seitenansicht. B Aufsicht auf die Struktur der 12 Transmembranhelices von der Außenseite der Membran. H1–H12: Helix 1–Helix 12.
(Mit freundlicher Genehmigung von K. Kaßler)

durch einen besonders niedrigen KM-Wert für Glucose aus- A


zeichnet, die eine ausreichende Glucoseaufnahme im Ner-
vensystem auch bei niedrigen Glucosekonzentrationen ge-
währleistet.
4 GLUT4 kommt ausschließlich in Adipocyten, Skelettmuskel-
und Herzmuskelzellen vor. GLUT4 ist für die Regulierbar-
keit der Glucoseaufnahme durch Insulin verantwortlich.
Diese Tatsache ist von großer Bedeutung, da im Nüchtern-
zustand 20 %, bei erhöhten Insulinkonzentrationen jedoch
75–95 % des Glucoseumsatzes des Organismus auf die Ske- B C
15 lettmuskulatur entfallen, in der die vermehrt aufgenommene
Glucose nahezu vollständig in Glycogen umgewandelt wird.
Der zellbiologische Mechanismus des Insulineffekts auf den
Glucosetransport ist in . Abb. 15.2A–C dargestellt. GLUT4-
Transporter befinden sich sowohl in der Plasmamembran
als auch in spezifischen, vesikulären Kompartimenten im
Cytosol. Durch Fusionierung der Vesikel mit der Plasma-
membran kann in dieser die Zahl der Glucosetransporter . Abb. 15.2 Beeinflussung der Verteilung von GLUT4-Transportern
erhöht oder durch Endocytose entsprechender Vesikel er- zwischen Plasmamembran und intrazellulären Vesikeln durch Insulin.
niedrigt werden. Bei niedrigen Insulinkonzentrationen wird A Ohne Insulin liegen die Transporter bevorzugt in der Membran intrazellu-
lärer Vesikel vor. Die Bindung von Insulin an seinen Rezeptor (7 Kap. 36.6)
der clathrinabhängige endocytotische Weg (7 Kap. 12.1.5) löst die Translokation der intrazellulären Vesikel in die Plasmamembran
bevorzugt, sodass nur wenig funktionelle Transporter in der (PM) aus. B In Adipocyten wurde das GLUT4-Protein als Fusionsprotein mit
Plasmamembran vorhanden sind. Insulin verschiebt das GFP (green fluorescent protein) dargestellt (7 Kap. 54.4). In Abwesenheit von
Gleichgewicht in Richtung der Fusionierung der Vesikel mit Insulin sind die meisten Transportermoleküle im Cytoplasma lokalisiert.
der Plasmamembran, sodass die Zahl der funktionellen C Nach Zugabe von Insulin zeigt sich, dass ein großer Teil der GLUT4-Trans-
porter in die Plasmamembran verlagert wird
Transportmoleküle in der Plasmamembran deutlich zu-
nimmt. Die dabei ablaufenden Signaltransduktionsvorgänge
sind in 7 Kap. 36.6 beschrieben. Die GLUT-Transporter der Klassen II und III werden in unter-
4 GLUT14 hat strukturell große Ähnlichkeit mit GLUT3, wird schiedlichem Umfang in verschiedenen Geweben und Zelltypen
jedoch ausschließlich in den Testes exprimiert. exprimiert. Die Vorstellungen über ihre Funktion sind mit weni-
4 GLUT1, GLUT2 und GLUT3 transportieren neben Glucose gen Ausnahmen noch unklar.
auch Dehydroascorbinsäure (oxidiertes Vitamin C) 4 GLUT5 und möglicherweise auch GLUT11 sind Fructose-
(7 Kap. 59.1). transporter und kommen in hoher Konzentration in den
15.1 · Glucosetransport durch Membranen
201 15
apikalen Membranen der intestinalen Enterocyten und der
Plasmamembran reifer Spermatocyten vor.
4 Der zur GLUT-Klasse III zählende Transporter HMIT
(H+-coupled myo-inositol transporter) ist für den Transport
von Inositol verantwortlich. Glucose wird von HMIT nicht
transportiert.

15.1.2 Der Stoffwechselknotenpunkt


Glucose-6-Phosphat

Mit Ausnahme der direkten Umwandlung von Glucose in Fruc-


tose über den Polyolweg (7 Kap. 14.1.1) ist Glucose-6-Phosphat
Ausgangspunkt sämtlicher von Glucose ausgehender Stoff-
wechselwege.

In extrahepatischen, insulinabhängigen Geweben


wird die Glucose-6-Phosphat-Konzentration durch
die Hexokinase II reguliert . Abb. 15.3 Bildung und Verwertung von Glucose-6-Phosphat in extra-
. Abb. 15.3 stellt die Bildung und Verwertung von Glucose- hepatischen, insulinabhängigen Geweben (Muskel- und Fettgewebe);
6-Phosphat in extrahepatischen, insulinabhängigen Geweben dicker grüner Pfeil: Induktion, dünne Pfeile: Aktivierung (grün) bzw. Hem-
mung (rot). (Einzelheiten s. Text)
dar, also v. a. in der Skelettmuskulatur und dem Fettgewebe.
Nach dem Transport von Glucose in die Zelle unter Katalyse des
GLUT4-Transporters wird Glucose durch die Hexokinase II
zu Glucose-6-Phosphat phosphoryliert. Dieses bildet den Start- abhängigen extrahepatischen Geweben. Die Regulation der
punkt für die Biosynthese von Glycogen und einer Reihe von Glucose-6-Phosphat-Konzentration in den Hepatocyten ist je-
Monosacchariden, die für die Biosynthese komplexer Kohlen- doch wesentlich komplexer als in extrahepatischen Geweben.
hydrate gebraucht werden (7 Kap. 16.1). Außerdem startet von Das beruht v. a. auf der Existenz der Glucose-6-Phosphatase
Glucose-6-Phosphat der Abbau über die Glycolyse bzw. den in der Leber. . Abb. 15.4 stellt die in der Leber vorliegenden Ver-
Pentosephosphatweg. Bei der Regulation des Glucose-6-Phos- hältnisse dar.
phat-Spiegels spielt Insulin eine wichtige Rolle: 4 Glucose wird proportional zur extrazellulären Konzentra-
4 Insulin stimuliert die Glucoseaufnahme durch Transloka- tion durch den Transporter GLUT2 in die Hepatocyten
tion von GLUT4 in die Plasmamembran (7 Kap. 15.1.1). transportiert (7 Kap. 15.1.1).
4 Insulin induziert die Hexokinase II. 4 Das für die Glucosephosphorylierung in den Hepatocyten
verantwortliche Enzym ist die Glucokinase (Hexokinase IV).
Auch Glucose-6-Phosphat hat regulatorische Funktionen: Bei niedrigen Glucosekonzentrationen bildet die Glucokina-
4 Es ist ein Inhibitor der Hexokinase II. se einen Komplex mit einem als Glucokinase-Regulator-
4 Es stimuliert die Glycogenbiosynthese (7 Kap. 14.2.1). protein (GKRP) bezeichneten Protein. Dieses bindet die
Glucokinase, inaktiviert sie dadurch und transloziert sie in
Diese Regulationsmechanismen kommen in Gang, sobald die den Zellkern. Hohe intrazelluläre Glucosekonzentrationen
extrazelluläre Glucosekonzentration ansteigt, z. B. nach einer führen zu einer Lösung der Bindung von Glucokinase an
kohlenhydratreichen Mahlzeit. Das unter diesen Bedingungen GKRP. Da die Glucokinase ein nucleäres Exportsignal
vermehrt freigesetzte Insulin (7 Kap. 36.3) induziert die für die (7 Kap. 12.1.2) trägt, gelangt sie ins Cytosol und steht zur
Glucoseverwertung wichtige Hexokinase II und sorgt darüber Phosphorylierung von Glucose zur Verfügung.
hinaus für die vermehrte Glucoseaufnahme. Die aktivierende 4 Insulin hat zwar keinen Einfluss auf die Aktivität des
Wirkung von Glucose-6-Phosphat auf die Glycogenbiosynthese Glucosetransporters GLUT2, ist jedoch ein starker Induktor
bewirkt, dass die aufgenommene Glucose zur Auffüllung der der Glucokinase. Die Aktivität der Fructokinase wird im
Glycogenvorräte benutzt wird. Eine Überschwemmung der Gegensatz zu Glucokinase nicht durch Insulin induziert.
Zelle mit Glucose-6-Phosphat wird durch die Hemmwirkung Deshalb wird Fructose auch aus dem Blut diabetischer
dieses Metaboliten auf die Hexokinase II verhindert (feedback- Patienten mit normaler Geschwindigkeit in die Leber auf-
Hemmung). genommen.
4 Im Leber- und Nierengewebe, das zur Gluconeogenese
Das Gleichgewicht zwischen Glucokinase und befähigt ist, ist Glucose-6-Phosphat auch ein Zwischen-
Glucose-6-Phosphatase ist für den Glucose-6- produkt der Gluconeogenese (7 Kap. 14.3). Durch die Glu-
Phosphat-Spiegel der Hepatocyten entscheidend cose-6-Phosphatase wird Glucose-6-Phosphat in Glucose
Prinzipiell sind die ersten Schritte des Glucosestoffwechsels in und anorganisches Phosphat gespalten und Glucose dann
der Leber die gleichen wie in den oben dargestellten insulin- von den Hepatocyten abgegeben.
202 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

. Abb. 15.4 Bildung und Verwertung von Glucose-6-Phosphat in Hepatocyten. ER: endoplasmatisches Retikulum; G-6-Pase: Glucose-6-Phosphatase;
GK: Glucokinase; GKRP: Glucokinase-Regulatorprotein; Glc: Glucose; Glc-6-P: Glucose-6-Phosphat; PM: Plasmamembran; TL: Glucose-6-Phosphattranslokase;
dicke Pfeile: Induktion (grün) bzw. Repression (rot), dünne Pfeile: Aktivierung (grün) bzw. Hemmung (rot). (Einzelheiten s. Text)

4 Die Glucose-6-Phosphatase ist ein Teil des im endoplasma- in der extrazellulären Flüssigkeit absinkt, z. B. bei Nah-
tischen Retikulum lokalisierten Glucose-6-Phosphatase- rungskarenz. In diesem Fall ist die Insulinkonzentration
systems. Dieses besteht aus der eigentlichen Glucose-6- niedrig, was zu einer Hemmung der Glucokinaseexpression
Phosphatase, einer Glucose-6-Phosphattranslokase und und einer Derepression der Glucose-6-Phosphatase führt.
noch nicht endgültig charakterisierten Transportern für Durch die Glucosetransporter GLUT2 wird wenig Glucose
Glucose und Phosphat. Es ist noch nicht klar, auf welche in die Hepatocyten transportiert, was eine Inaktivierung
Weise die vom endoplasmatischen Retikulum abgegebene der Glucokinase durch Assoziation mit GKRP auslöst.
Glucose aus den Hepatocyten transportiert wird. Insulin Glucose-6-Phosphat, das durch Glycogenolyse oder Gluco-
ist ein Repressor der Glucose-6-Phosphatase, cAMP und neogenese entsteht, wird bevorzugt dephosphoryliert und
Glucocorticoide sind Induktoren. aus den Hepatocyten ausgeschleust.
15 4 Ähnlich wie in den extrahepatischen Geweben ist auch in
der Leber Glucose-6-Phosphat ein wichtiger Stimulator der
Glycogenbiosynthese. Zusammenfassung
4 Für die erleichterte Diffusion sind Transportproteine
Die besondere Problematik im Glucosestoffwechsel der Hepa- der GLUT-Familie verantwortlich. Es handelt sich um
tocyten beruht darauf, dass sie die enzymatische Ausstattung Membranproteine mit 12 Transmembrandomänen,
sowohl für die Glycolyse als auch für die Gluconeogenese die eine zentrale Pore für den Glucosetransport
enthalten. Aus energetischen Gründen muss jedoch verhin- bilden.
dert werden, dass beide Vorgänge gleichzeitig ablaufen. Die 4 In allen Geweben wird Glucose nach der Aufnahme
unten geschilderten Regulationsmechanismen dienen diesem durch Enzyme aus der Familie der Hexokinasen zu
Ziel: Glucose-6-Phosphat phosphoryliert.
4 Bei erhöhtem Glucoseangebot, z. B. nach kohlenhydrat- 4 Von besonderer Bedeutung sind:
reicher Nahrung, löst die durch den Glucosetransporter – Die Hexokinase II in insulinabhängigen Geweben.
GLUT2 vermehrt aufgenommene Glucose eine Aktivierung Das Enzym wird durch Insulin induziert und durch
der Glucokinase aus, da sie aus ihrem Komplex mit dem sein Produkt Glucose-6-Phosphat gehemmt.
GKRP gelöst wird. Als Folge steigt die Glucose-6-Phosphat- – Die Glucokinase (Hexokinase IV) in der Leber und in
Konzentration an, was zu einer Stimulierung der Glycogen- den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas. Sie
biosynthese führt. Eine weitere Folge des erhöhten Glucose- wird ebenfalls durch Insulin induziert. Bei niedrigen
angebots ist ein Anstieg des Insulinspiegels. Hält dieser län- Glucosekonzentrationen assoziiert die Glucokinase
ger an, kommt es zu einer Induktion der Glucokinase und mit einem spezifischen Bindungsprotein und wird
Repression der Glucose-6-Phosphatase. dadurch inaktiviert. Erhöhung der zellulären Glucose-
4 Eine Steigerung der Gluconeogenese und Glycogenolyse ist 6
immer dann notwendig, wenn die Glucosekonzentration
15.2 · Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher
203 15

konzentration führt zur Lösung dieser Bindung und zur


Aktivierung der Glucokinase.
4 In der Leber wird Glucose-6-Phosphat außer durch die
Glucokinase auch im Verlauf der Gluconeogenese ge-
bildet und dann mit der Glucose-6-Phosphatase im endo-
plasmatischen Retikulum gespalten und als Glucose frei-
gesetzt. Die Glucose-6-Phosphatase wird durch Insulin re-
primiert und durch cAMP und Glucocorticoide induziert.

15.2 Regulierte Leerung und Füllung


der Glycogenspeicher

Die genaue Regulation von Glycogenbiosynthese


und -abbau ist für den Energiestoffwechsel des
Organismus von ausschlaggebender Bedeutung
Für den Organismus ist der Glycogenstoffwechsel besonders
wichtig:
. Abb. 15.5 Regulation der Glycogenphosphorylase durch allosterische
4 Glycogen stellt für die meisten Zellen einen Energiespeicher Liganden und covalente Modifikation. Die R- und T-Formen der Phospho-
dar, aus dem in wenigen Schritten Glucose mobilisiert und rylase sind als Dimere dargestellt. In den R-Formen sind die aktiven Zentren
selbst bei Hypoxie bzw. Anoxie in ATP-liefernde Reaktions- leichter zugänglich als in den T-Formen. (Einzelheiten s. Text)
wege eingeschleust werden kann.
4 Aus dem Glycogen der Leber kann Glucose zur Aufrecht-
erhaltung der Blutglucosekonzentration während kürzerer lierten Enzymformen werden als Phosphorylase a bezeichnet
(bis zu ca. 24 h) Fastenperioden entnommen werden, was und die dephosphorylierten Formen entsprechend als Phospho-
vor allem für die Aufrechterhaltung der Funktion des rylase b. Für die Phosphorylase b liegt das Gleichgewicht ganz
Zentralnervensystems von ausschlaggebender Bedeutung auf Seiten der T-Form, bei der Phosphorylase a auf Seiten der
ist. R-Form (. Abb. 15.5). Deswegen ist in Muskel und Leber die
4 Bei maximaler Arbeitsbelastung deckt die Skelettmuskula- T-Form der Phosphorylase b die überwiegend inaktive, und
tur einen Großteil ihres Energiebedarfs aus dem Abbau von die R-Form der Phosphorylase a die überwiegend aktive Form
muskulärem Glycogen. des Enzyms.
Im Muskel wirkt das unter Arbeit akkumulierende AMP als
Der Glycogenstoffwechsel unterliegt einer sehr genauen Regula- allosterischer Aktivator, der die inaktive T-Form der Phosphory-
tion. Diese gewährleistet bei gesteigertem Energiebedarf und bei lase b in die enzymatisch aktivere R-Form überführt. Damit
Kohlenhydratmangel die rasche Freisetzung von Glucose- setzt der Glycogenabbau ein, der über eine Steigerung der Glyco-
6-Phosphat bzw. Glucose aus Glycogen und die schnelle Wieder- lyse zu einer vermehrten ATP-Bildung führt. Diese Regulation ist
auffüllung der Glycogenspeicher, sobald Nahrungskohlenhydra- von besonderer Bedeutung bei Hypoxie oder Anoxie (z. B. Myo-
te zur Verfügung stehen. kardinfarkt; s. 7 »Übrigens: Myokardinfarkt«). Umgekehrt zeigen
hohe Spiegel an ATP und Glucose-6-Phosphat eine ausreichende
Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Energieversorgung an und wirken als allosterische Inhibitoren,
Glycogenolyse ist die Phosphorylase, die durch die die inaktive T-Form der Phosphorylase b stabilisieren.
allosterische Effektoren und durch covalente Die Phosphorylase a der Leber wird durch Glucose als
Modifikation reguliert wird allosterischem Liganden inaktiviert (. Abb. 15.5). Dieser
Die Phosphorylase wird sowohl allosterisch als auch durch Mechanismus wirkt bei hohen Glucosekonzentrationen, z. B.
covalente Modifikation reguliert. nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten, dem Glycogenabbau
Wie in . Abb. 15.5 dargestellt, kann die Phosphorylase durch entgegen.
allosterische Effektoren aus einer weniger aktiven T-Form (T für Die hormonelle Regulation der Glycogenphosphorylase ist in
tense) in eine aktivere R-Form (R für relaxed) überführt werden, . Abb. 15.6 zusammengefasst:
bei der die beiden aktiven Zentren des dimeren Enzyms besser 4 Für die Phosphorylierung der Phosphorylase b zur aktiven
zugänglich sind. Zusätzlich kann die T-Form der beiden Unter- Phosphorylase a ist eine Proteinkinase verantwortlich, die
einheiten der Phosphorylase an den Serylresten 14 durch die als Phosphorylasekinase bezeichnet wird.
Phosphorylasekinase (s. u.) phosphoryliert werden. Hierdurch 4 Dieses Enzym kommt in einer aktiven und einer inaktiven
kommt es ohne allosterische Effektoren zum Übergang in die Form vor. Wie bei der Phosphorylase wird das inaktive,
aktive R-Form. Diese kovalente Modifikation ist die Grundlage dephosphorylierte Enzym durch ATP-abhängige Phospho-
der hormonellen Regulation der Phosphorylase. Die phosphory- rylierung eines spezifischen Serinrestes aktiviert.
204 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

. Abb. 15.6 Mechanismus der hormonell induzierten Aktivierung der Glycogenphosphorylase. L: Ligand (Adrenalin, Glucagon), R: Rezeptor, Ra: akti-
vierter Rezeptor, Gs: stimulierendes G-Protein, AC: Adenylatcyclase. (Einzelheiten s. Text)

15
4 Diese Phosphorylierung wird durch die Proteinkinase A einer Aktivierung des Glycogenabbaus und stellt sicher, dass
(PKA) katalysiert, die durch 3 ,5 -cyclo-AMP (cAMP) akti- das für die Kontraktion benötigte ATP bereitgestellt werden kann.
viert wird (7 Kap. 35.3.2). Die Leber verfügt über α1-adrenerge Rezeptoren, die nach Stimu-
4 Für die Erzeugung von cAMP aus ATP ist die Adenylatcyc- lierung mit Katecholaminen den zellulären Ca-Spiegel erhöhen
lase verantwortlich, die über die in den 7 Kap. 33.4.2; 35.3.2 (7 Kap. 37.2.4) und damit eine Glycogenolyse auslösen können.
geschilderten Mechanismen durch Adrenalin, Noradrenalin
und v. a. in der Leber durch Glucagon aktiviert wird. Die Glycogensynthese wird auf der Stufe
4 Insulin als Antagonist dieser Hormone stimuliert den der Glycogensynthase reguliert
Abbau von cAMP durch Aktivierung einer entsprechenden Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycogenbiosyn-
Phosphodiesterase (7 Kap. 36.6). these in allen tierischen Zellen ist die Glycogensynthase. Auch
4 Für die Inaktivierung der Phosphorylase und der Phos- dieses Enzym kann allosterisch und durch covalente Modifika-
phorylasekinase ist die Proteinphosphatase 1 (PP1) ver- tion reguliert werden, allerdings in reziprokem Sinn zur Phos-
antwortlich. phorylase (. Abb. 15.7).

Die Phosphorylasekinase ist ein Hexadekamer der Zusammen- Covalente Modifikation Die enzymatisch aktive Form der als
setzung (α4β4γ4δ4) mit einer Molekülmasse von 1.300 kDa. Homodimer vorliegenden Glycogensynthase ist die dephospho-
Die δ-Untereinheiten werden durch Calmodulin gebildet. Bin- rylierte. Die Glycogensynthase besitzt insgesamt 9 Serylreste,
dung von Calcium führt zu einer Aktivierung der Phosphory- die durch verschiedene Proteinkinasen phosphoryliert werden
lasekinase unabhängig von der Aktivierung durch Phosphory- können, was zur Inaktivierung des Enzyms führt:
lierung. Diese Art der Aktivierung spielt für Muskelzellen eine 4 Die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert
große Rolle. Die mit der Kontraktion einhergehende Erhöhung spezifisch drei der neun Serylreste. Die dadurch entstehen-
der Calciumkonzentration (7 Kap. 63.2.4; 64.2.3) führt auch zu de Glycogensynthase b ist weniger aktiv.
15.2 · Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher
205 15

. Abb. 15.7 Regulation der Glycogensynthase durch covalente Modifika- . Abb. 15.8 Mechanismus der Aktivierung der Glycogensynthase durch
tion und allosterische Liganden. Die Glycogensynthase liegt als Homodimer Insulin. IR: Insulinrezeptor; PDK1: phospholipidabhängige Proteinkinase
vor. Zur Vereinfachung ist lediglich die Modifikation einer Untereinheit dar- (phospholipid dependent kinase); PKB: Proteinkinase B; GSK3: Glycogensyn-
gestellt. (Einzelheiten s. Text) thasekinase 3; PP1: Proteinphosphatase 1. (Einzelheiten s. Text)

4 In . Tab. 15.1 sind andere Proteinkinasen zusammenge- Die Glycogensynthasekinase 3 wird durch Insulin
stellt, die ebenfalls die Glycogensynthase phosphorylieren inaktiviert
können. Da jede von ihnen andere Phosphorylierungs- Es ist schon sehr lange bekannt, dass die Behandlung von Zellen
stellen auf der Glycogensynthase erkennt und modifiziert, mit Insulin in Anwesenheit von Glucose zu einer Steigerung
kann damit insgesamt der Aktivitätszustand der Glycogen- der Glycogenbiosynthese führt. Einen wesentlichen Anteil
synthase ganz besonders fein reguliert werden. hieran hat die Inaktivierung der Glycogensynthasekinase 3
4 Von besonderer Bedeutung ist die Glycogensynthase- (GSK3) durch Insulin. Der Mechanismus dieses Vorgangs ist in
kinase 3. Sie phosphoryliert 4 spezifische Serylreste und . Abb. 15.8 dargestellt:
bewirkt dadurch eine dramatische Aktivitätsabnahme des 4 Über die in 7 Kap. 35.4.1 und 36.6 dargestellten Signal-
Enzyms. Da die Glycogensynthasekinase 3 auch andere transduktionsvorgänge löst Insulin eine Aktivierung der
regulatorische Proteine wie Protoonkogene und Transkrip- Proteinkinase PDK1 und anschließend der Proteinkinase B
tionsfaktoren modifiziert, nimmt man an, dass dieses (PKB) aus.
Enzym eine wichtige Rolle bei der Embryogenese und bei 4 Die PKB phosphoryliert die GSK3, was zu einer Hemmung
Differenzierungsvorgängen spielt. dieses Enzyms und damit zu einer reduzierten Phosphorylie-
rung (= Inaktivierung) der Glycogensynthase durch GSK3
Allosterische Regulation Die inaktive phosphorylierte Glyco- führt.
gensynthase kann durch Glucose-6-Phosphat reaktiviert werden. 4 Infolge der Anwesenheit von Proteinphosphatasen (s. u.)
Dieser Effekt ist dann wichtig, wenn die Glycogensynthese des wird der Phosphorylierungszustand der Glycogensynthase
Muskels unter der Einwirkung von Insulin maximal beschleunigt vermindert und das Enzym in die aktive Form überführt.
werden soll.
Spezifische Proteinphosphatasen sind für die
. Tab. 15.1 Phosphorylierung der Glycogensynthase durch ver- Dephosphorylierung von Glycogensynthase, Phos-
schiedene Proteinkinasen (Auswahl) CaM: Calcium-Calmodulin phorylase und Phosphorylasekinase verantwortlich
Generell löst die Phosphorylierung der am Glycogenstoffwechsel
Kinase Zahl der phos- Hemmung
beteiligten Enzyme Glycogensynthase und Phosphorylase eine
phorylierten
Serylreste
Hemmung der Biosynthese des Glycogens und eine Steigerung
der Glycogenolyse aus (. Abb. 15.6 und 7 Kap. 14.2.2). Die Um-
cAMP-abhängige Proteinkinase 3 + kehr dieser Effekte erfordert eine Reihe enzymatischer Mecha-
cGMP-abhängige Proteinkinase 2 + nismen:
Sie beginnen mit der Inaktivierung des Adenylatcyclasesys-
Glycogensynthasekinase 3 4 +++
tems durch die GTPase-Aktivität der G-Proteine (7 Kap. 35.3.1).
CaM-Kinase 2 + cAMP wird durch eine cAMP-spezifische Phosphodiesterase
Caseinkinase 1 9 +++ abgebaut, die durch Insulin aktiviert werden kann (7 Kap. 36.6).
Bei niedrigen cAMP-Konzentrationen wird die Bildung des in-
Proteinkinase C 2 +
aktiven Proteinkinase-A-Tetramers bevorzugt. Damit wird die
206 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

. Abb. 15.9 Aktivierung der Proteinphosphatase 1. Die Proteinphosphatase 1 ist ein dimeres Enzym. Die katalytische Untereinheit PP1-C wird durch
Bindung an regulatorische Untereinheiten aktiviert. Von diesen sind bis heute mehr als 100 nachgewiesen worden. Dargestellt sind 5 Beispiele, bei denen
die regulatorischen Untereinheiten dazu dienen, die PP1-C an die entsprechenden, phosphorylierten Substratproteine zu binden. Dies löst dann die De-
phosphorylierung mit den jeweils angegebenen Funktionsänderungen aus. PP1-C: katalytische Untereinheit der Proteinphosphatase 1

weitere Phosphorylierung von Glycogensynthase, Phosphoryla-


15 sekinase und Phosphorylase verhindert. ca. 30 % der in eukaryontischen Organismen vorkommen-
Für die Dephosphorylierung der genannten Enzyme und da- den Proteine phosphoryliert.
mit das Umschalten von Glycogenolyse auf Glycogensynthese ist Um die Regulierbarkeit durch Kinasen und damit ihre Rever-
außerdem die Aktivierung der Proteinphosphatase 1 (PP1) not- sibilität zu gewährleisten, müssen entsprechende Protein-
wendig. Die katalytische Untereinheit dieses Enzyms erlangt ihre phosphatasen (PPs) vorhanden sein. Diese sind immer oligo-
Spezifität durch Assoziation an glycogenspezifische regulatori- mere Enzyme, die aus einer katalytischen (PP-C) und wenigs-
sche Untereinheiten, die als G-Untereinheiten bezeichnet wer- tens einer regulatorischen Untereinheit (PP-R) bestehen.
den und organspezifisch verteilt vorkommen. In der Skelettmus- Überraschenderweise steht der großen Vielfalt an Protein-
kulatur wird die regulatorische Untereinheit als GM bezeichnet, kinasen nur eine kleine Zahl von katalytischen Proteinphos-
in der Leber als GL. phatasen gegenüber. Misst man die Fähigkeit, Phosphoserin-
bzw. Phosphothreoninreste in Proteinen zu spalten, so
kommt man auf lediglich 8 Enzymaktivitäten, die als PP1,
Übrigens PP2A, PP2B und PP3–PP7 bezeichnet werden. Ihre hohe
Proteinphosphatasen sind die Gegenspieler Spezifität erlangen diese erst durch Assoziation mit regula-
von Proteinkinasen torischen Untereinheiten, von denen bis heute mehr als 100
Unter den Möglichkeiten der Regulation zellulärer Vorgänge nachgewiesen werden konnten (. Abb. 15.9). Da zusätzlich
steht die Phosphorylierung von Proteinen an erster Stelle. sehr spezifische Inhibitoren vorkommen, ergibt sich auf diese
Sie wird durch Proteinkinasen katalysiert, wobei in der Mehr- Weise eine große Vielfalt und Spezifität dieser für die Regula-
zahl der Fälle die Phosphorylierung an Serin- oder Threonin- tion zellulärer Prozesse außerordentlich wichtigen Klasse von
resten erfolgt. Dem entsprechend enthält das menschliche Enzymen.
Genom über 400 Serin/Threonin-Kinasen. Insgesamt werden
6
15.2 · Regulierte Leerung und Füllung der Glycogenspeicher
207 15
Regulation der Proteinphosphatase 1 in der Skelettmuskulatur
Die Regulation der PP1 in der Skelettmuskulatur verläuft in Übrigens
folgenden Schritten (. Abb. 15.10): Myokardinfarkt
4 Die aktive Proteinphosphatase 1 der Skelettmuskulatur ist Eine Aktivierung der Glycogenolyse verzögert das Auftreten
ein Dimer aus einer glycogenbindenden GM-Untereinheit der durch einen Herzinfarkt ausgelösten Myokardnekrose.
und der katalytisch aktiven PP1-C-Untereinheit. Sie de- Jeder Myokardinfarkt entsteht durch einen vollständigen
phosphoryliert die Phosphorylasekinase, Phosphorylase oder partiellen Verschluss einer der Koronararterien bzw.
und Glycogensynthase. Dies bewirkt eine Stimulierung der ihrer Äste. Die daraus resultierende Minderdurchblutung
Glycogensynthese. des Myokards führt zu folgenden Stoffwechselstörungen:
4 Ein wichtiger allosterischer Aktivator der Proteinphospha- Das Myokard verfügt über nur geringfügige Energiespeicher.
tase 1 ist Glucose-6-Phosphat in physiologischen Kon- Die vorhandenen Vorräte an Kreatinphosphat und ATP ge-
zentrationen. Das erklärt seine stimulierende Wirkung auf nügen gerade für drei bis vier effektive Kontraktionsvor-
die Glycogenbiosynthese. gänge. Aus diesem Grund hören beim kompletten Gefäß-
4 Durch die cAMP-abhängige Proteinkinase A wird die verschluss sehr schnell die Kontraktionsvorgänge im nicht
GM-Untereinheit phosphoryliert, was zur Abdissoziation durchbluteten Gebiet auf, was zunächst den Substratbedarf
der katalytischen Untereinheit führt und damit die Aktivität der betroffenen Kardiomyocyten vermindert.
der PP1-C erheblich verringert. Da die Sauerstoffzufuhr weiter sistiert, kommen Atmungs-
4 Die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert außer- kette und oxidative Phosphorylierung zum Erliegen.
dem ein spezifisches Inhibitorprotein (I), das an die kataly- NADH/H+ kann nicht mehr reoxidiert werden, weswegen
tische Untereinheit bindet und sie vollständig inaktiviert. zunächst die mitochondriale und in Folge auch die cytoso-
4 Wahrscheinlich ist die Proteinphosphatase 2B für die lische NADH/H+-Konzentration ansteigt.
Dephosphorylierung der GM-Untereinheit und des Inhi- Wegen des Stillstands der oxidativen Phosphorylierung fällt
bitors I verantwortlich. die ATP-Konzentration ab. Die ADP-Konzentration steigt zu-
nächst entsprechend dem ATP-Abbau an, durch die Adenylat-
kinase (Myokinase, Nucleosiddiphosphatkinase) (7 Kap.
19.1.1), werden 2 ADP in jeweils 1 ATP und AMP umgewandelt.
AMP aktiviert allosterisch die Glycogenphosphorylase. Die da-
durch gesteigerte Freisetzung von Glucose-1-Phosphat bzw.
Glucose-6-Phosphat könnte den Durchsatz der anaeroben
Glycolyse erhöhen, die zusätzlich über die allosterische Akti-
vierung der PFK1 durch AMP stimuliert wird. Da die hohe
NADH/H+-Konzentration jedoch die Glycerinaldehyd-3-Phos-
phatdehydrogenase (7 Kap. 14.1.1) hemmt, wird nur etwa ein
Viertel der normalen unter aeroben Bedingungen auftreten-
den Glycolysegeschwindigkeit erreicht. Dies genügt, um den
Abfall des myokardialen ATP etwas zu verlangsamen, sodass
dieser erst nach 30–40 min auf 10 % des Normalwerts absinkt.
Akkumuliertes AMP wird durch die 5‘-Nucleotidase zu
Adenosin und später zu Inosin und Hypoxanthin abgebaut
(7 Kap. 29.4). Wegen des herabgesetzten Blutflusses
akkumulieren diese Metabolite ebenso wie das durch die
Glycolyse entstehende Lactat in der Herzmuskelzelle. Diese
Störungen führen zu Änderungen der Ionenverteilung im
Myokard und damit auch zu frühen elektrokardiographi-
schen Veränderungen.
Etwa 20 min nach dem Ende der Sauerstoffversorgung begin-
nen die ersten Kardiomyocyten zugrunde zu gehen, nach
60 min ist ein großer Teil von ihnen abgestorben. Bei einem
unvollständigen Verschluss kann sich dieses Ereignis um
einige Stunden verzögern. Die einsetzende Zellnekrose führt
zum Austritt von Enzymen wie Kreatinkinase und Aspartat-
Aminotransferase, welche dann diagnostisch im Serum nach-
gewiesen werden können.
Durch eine frühzeitig eingeleitete fibrinolytische Therapie
. Abb. 15.10 Regulation der Proteinphosphatase 1 der Skelettmusku-
latur. PP1: Proteinphosphatase 1; PP1-C: katalytische Untereinheit der PP1;
(7 Kap. 69.1.5) oder durch Koronarangioplastie wird ver-
GM: glycogenspezifische regulatorische Untereinheit; I: Inhibitor; PKA: Prote- 6
inkinase A. (Einzelheiten s. Text)
208 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

sucht, den Gefäßverschluss zu beheben und das hypoxische wichtige Proteinkinasen, die die Glycogensynthase phos-
Gewebe zu reperfundieren. Dies kann dann zu einer Aus- phorylieren und dann inaktivieren, sind die Proteinkinase A
heilung des Schadens führen, wenn die betroffenen Kardio- und die Glycogensynthasekinase 3. Die Letztere wird durch
myocyten noch nicht irreversibel geschädigt oder abgestor- Insulin inaktiviert, was die durch dieses Hormon ausgelöste
ben sind. Allerdings ist auch die Reperfusion nicht unprob- Stimulierung der Glycogenbiosynthese erklärt.
lematisch. Es kommt nämlich rasch zum Ausschwemmen Glucose-6-Phosphat ist ein wichtiger Aktivator der Glyco-
der verschiedenen Stoffwechselzwischenprodukte aus dem gensynthese, Glucose ein Inhibitor der Glycogenolyse.
infarzierten Gewebe, u. a. der Adeninnucleotide und -nucleo-
side. Wegen des zum Teil beträchtlichen Abbaus kann es Tage
dauern, bis der Adeninnucleotidpool wieder vollständig
durch de novo-Synthese aufgefüllt und die Kontraktionskraft 15.3 Steuerung von Glucoseabbau
der Herzmuskelzellen hergestellt ist. Eine der möglichen und Glucoseproduktion
Ursachen für weitere Schädigungen sind die durch die Oxy-
genierung während der Reper fusion entstehenden Sauer- 15.3.1 Transkriptionelle Regulation
stoffradikale. Eine Reihe von Untersuchungen hat jedenfalls von Glycolyse und Gluconeogenese
Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Antioxidantien die Er-
holungsphase des Myokards verkürzen können. Die Biosynthese von Schlüsselenzymen der Glycolyse
wird durch Insulin und Glucose stimuliert
In . Tab. 15.2 sind die Enzyme von Glycolyse und Gluconeo-
genese zusammengestellt, deren Biosynthesegeschwindigkeit
Zusammenfassung durch hormonelle oder nutritive (Glucose) Faktoren reguliert
Für die meisten Zellen ist ihr Glycogenvorrat der wichtigste wird. Da es sich überwiegend um Schlüsselenzyme handelt, be-
Energiespeicher, weil er kurzfristig und auch unter anaero- wirkt ihre Induktion bzw. Repression (Stimulierung bzw. Hem-
ben Bedingungen mobilisierbar ist. Glycogensynthese und mung der Biosynthese) gleichzeitig eine Erhöhung oder Vermin-
Glycogenolyse werden daher sowohl durch allosterische derung der maximal möglichen Umsatzgeschwindigkeit in
Mechanismen als auch durch covalente Modifikation der Glycolyse bzw. Gluconeogenese.
beteiligten Enzyme reguliert. Von besonderer Bedeutung für die Enzyme der Glycolyse
Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycogeno- sind Insulin und Glucose. So ist Insulin ein direkter Induktor der
lyse ist die Phosphorylase. In der Leber und allen anderen Glucokinase, wobei sein Effekt unabhängig von der gleichzei-
Geweben wird die Phosphorylase über cAMP-vermittelte, tigen Anwesenheit von Glucose ist (7 Kap. 15.1.2). Bei den weite-
covalente Modifikation durch die Phosphorylasekinase ren insulinsensitiven Genen der Glycolyseenzyme ist das anders.
aktiviert; cAMP wird v. a. unter dem Einfluss von Katechola- Für eine Induktion der Fructose-6-Phosphat-2-Kinase (PFK2,
minen und Glucagon vermehrt gebildet. In extrahepati- s. u.), der Phosphofructokinase 1 (Fructose-6-Phosphat-1-Ki-
15 schen Geweben wird die Phosphorylase darüber hinaus nase) und der Pyruvatkinase ist die gleichzeitige Anwesenheit
durch hohe AMP-Konzentrationen aktiviert, die u. a. bei an- von Insulin und Glucose notwendig. Aus dieser Tatsache ist die
aeroben Bedingungen oder bei maximaler Arbeitsleistung Vorstellung abgeleitet worden, dass das Hauptziel von Insulin bei
der Muskulatur auftreten. der Induktion von Enzymen der Glycolyse zumindest in der Le-
Die Glycogensynthase als geschwindigkeitsbestimmendes ber die Glucokinase ist (. Abb. 15.11). Liegt dieses Enzym in
Enzym der Glycogenbiosynthese wird durch reversible hohen Konzentrationen vor, kann so viel Glucose in den Stoff-
Phosphorylierung/Dephosphorylierung reguliert. Besonders wechsel der Hepatocyten eingeschleust werden, dass ein noch
6 unbekannter Metabolit der Glucose, der für die Induktion der
genannten anderen Enzyme der Glycolyse notwendig ist, akku-

. Tab. 15.2 Schlüsselenzyme der Glycolyse und Gluconeogenese, deren Transkription durch Hormone oder Glucose reguliert wird

Glycolyse Gluconeogenese

Enzym Induktor Repressor Enzym Induktor Repressor

Glucokinase Insulin cAMP Pyruvatcarboxylase cAMP, Glucocorticoide Insulin

Phosphofructokinase 1 Insulin + Glucose cAMP PEP-Carboxykinase cAMP, Glucocorticoide Insulin

Phosphofructokinase 2 Insulin + Glucose cAMP Fructose-1,6-Bisphosphatase Glucocorticoide, cAMP Insulin


Glucocorticoide

Pyruvatkinase Insulin + Glucose cAMP Glucose-6-Phosphatase Glucocorticoide, cAMP Insulin


15.3 · Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion
209 15
4 Die anderen in . Tab. 15.2 zusammengestellten Enzyme
verfügen in den Promotoren ihrer Gene über eine
enhancer-Sequenz, an die der Transkriptionsfaktor ChREBP
(carbohydrate response element binding protein) bindet. In
seiner inaktiven Form liegt der Transkriptionsfaktor im
Cytosol vor und ist an zwei spezifischen Serylresten
phosphoryliert. Das hierfür verantwortliche Enzym ist die
cAMP-abhängige PKA. Ein noch unbekannter Glucose-
metabolit, vermutlich Xylulose-5-Phosphat, aktiviert die
Proteinphosphatase PP2A, was zu einer Dephosphorylie-
rung von ChREBP und zu seiner Translokation in den Zell-
kern führt. Der aktivierte ChREBP gehört in die Familie der
Leucin-Zipper-Transkriptionsfaktoren (7 Kap. 47.2.2).

Insulin aktiviert also direkt die Expression der Glucokinase


und damit indirekt diejenige der anderen Schlüsselenzyme der
Glycolyse. Daneben zeigt es einen stark reprimierenden Effekt
auf Enzyme der Gluconeogenese. Das betrifft vor allem die
PEP-Carboxykinase, die Pyruvatcarboxylase, die Fructose-1,6-
Bisphosphatase und die Glucose-6-Phosphatase. Über den
molekularen Mechanismus der Insulinwirkung auf die Trans-
kription der genannten Gene ist noch wenig bekannt.

Glucagon oder Katecholamine wirken antagonistisch


zum Insulin auf die Gen-Expression der Glycolyse-
bzw. Gluconeogeneseenzyme
. Abb. 15.11 Einfluss von Insulin und Glucose auf die Expression der
Der molekulare Mechanismus zur Erklärung dieses Befunds ist
Glycolyseenzyme der Leber. ChREBP: carbohydrate response element besonders gut an den Genen für Pyruvatkinase (Glycolyse) und
binding protein; IR: Insulinrezeptor; PFK1: Phosphofructokinase 1; PFK2/ PEP-Carboxykinase (Gluconeogenese) zu sehen. Beide werden
FBPase2: Fructose-6-Phosphat-2-Kinase/Fructose-2,6-Bisphosphatase; PKA: durch eine glucagon- bzw. katecholaminvermittelte Erhöhung
Proteinkinase A; PP2A: Proteinphosphatase 2A; SREBP-1c: sterol response ele- von cAMP reguliert, die Pyruvatkinase wird reprimiert, die PEP-
ment binding protein; α, β, γ; Untereinheiten eines trimeren G-Proteins; dicke
grüne Pfeile: Steigerung der Genexpression; dünne grüne Pfeile: Aktivierung.
Carboxykinase dagegen induziert. In der Promotorregion des
(Einzelheiten s. Text) PEP-Carboxykinasegens findet sich ein cAMP-response-ele-
ment, das auch als CRE bezeichnet wird (. Abb. 15.12). Das zu-
gehörige Bindungsprotein CREB hat eine Leucin-Zipper-Struk-
mulieren kann. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Meta- tur. Es wird durch die cAMP-abhängige Proteinkinase phos-
boliten um Xylulose-5-Phosphat. phoryliert und damit aktiviert. Für die Inaktivierung ist eine
In . Abb. 15.11 sind die heutigen Kenntnisse über die Bezie- Dephosphorylierung durch die Proteinphosphatasen PP1 bzw.
hungen von Insulin bzw. Glucose zur Expression der oben ge- PP2A verantwortlich.
nannten Gene dargestellt. Für die Enzyme der Gluconeogenese sind Glucocorticoide
4 Der durch Insulin aktivierte Transkriptionsfaktor wird als weitere wichtige Induktoren. Die Pyruvatcarboxylase, PEP-Car-
SREBP-1c (sterol response element binding protein) bezeich- boxykinase, Fructose-1,6-Bisphosphatase und Glucose-6-Phos-
net. Im Gegensatz zu den anderen Transkriptionsfaktoren phatase enthalten ein glucocorticoid response-element, das durch
der SREBP-Familie (7 Kap. 23.3) reguliert SREBP-1c nicht den Glucocorticoidrezeptor (7 Kap. 35.1) aktiviert wird und die
den Cholesterinstoffwechsel. In der inaktiven Form ist gesteigerte Transkription der entsprechenden Gene vermittelt.
dieser Transkriptionsfaktor ein integrales Membranprotein Eine große Zahl weiterer Untersuchungen hat gezeigt, dass
des endoplasmatischen Retikulums mit einer großen zum die Schlüsselenzyme von Glycolyse und Gluconeogenese nicht
Cytosol ausgerichteten Domäne. Auf noch unbekannte nur durch Insulin, cAMP und Glucocorticoide, sondern durch
Weise führt die Behandlung von Zellen mit Insulin zu einer weitere Hormone und Vitamine reguliert werden. Es ist dem-
Abspaltung dieser Domäne, die anschließend in den Zell- nach klar, dass Gene dieser Enzyme über komplexe Promotor-
kern transloziert wird und dort als Transkriptionsfaktor, strukturen verfügen müssen wie in . Abb. 15.12 am Beispiel des
v. a. für die Glucokinase, dient. SREBP-1c stimuliert außer PEP-Carboxykinasegens demonstriert wird. Dieser Promoter
der Glucokinase die Expression der Gene wichtiger Enzyme enthält zahlreiche Elemente, an die allgemeine, aber auch ligan-
der Lipogenese wie der Acetyl-CoA-Carboxylase oder der denaktivierte Transkriptionsfaktoren binden können. Die aktu-
Fettsäuresynthase. Offenbar ist SREBP-1c wichtig für die elle Transkriptionsrate dieses Gens ergibt sich damit aus dem
Umschaltung des Stoffwechsels auf Lipogenese aus Kohlen- komplexen Zusammenspiel der einzelnen, den Promotor akti-
hydraten 7 Kap. 38.2.1. vierenden bzw. inhibierenden Faktoren.
210 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

. Abb. 15.12 Aufbau des PEP-Carboxykinasegen-Promotors. Oberhalb der TATA-Box befinden sich die Elemente, die – zum Teil überlappend – die Regulier-
barkeit durch Hormone gewährleisten. CRE: cAMP-response-element; GRE: glucocorticoid-response-element; IRE: insulin-response-element; TRE: T3-response-ele-
ment. Die Zahlen geben die Anzahl an Basenpaaren vor dem PEPCK-Gen wieder

Ungeachtet der Komplexität der Regulation einzelner für 15.3.2 Allosterische Regulation der Glycolyse
Glycolyse bzw. Gluconeogenese verantwortlicher Enzyme ergibt
sich doch das Bild einer koordinierten transkriptionellen Regu- Wie in . Abb. 15.13 zu sehen ist, werden außer den in 7 Kap. 15.1.2
lation von Glycolyse und Gluconeogenese durch Insulin, Gluco- besprochenen Enzymen für die Bildung und den Abbau von
se und cAMP (. Abb. 15.13). Insulin stimuliert die Expression Glucose-6-Phosphat viele Schlüsselenzyme von Glycolyse und
der Gene für die Schlüsselenzyme der Glycolyse und hemmt die Gluconeogenese allosterisch reguliert.
der Gene für die Gluconeogenese. cAMP ist dagegen ein Antago-
nist des Insulins, da im Allgemeinen insulinstimulierte Gene Die Phosphofructokinase 1 ist ein Sensor für den
durch cAMP reprimiert, insulinreprimierte dagegen durch energetischen Zustand der Zelle
cAMP induziert werden. Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Glycolyse in allen
Geweben ist die Phosphofructokinase 1 (PFK1). Dieses Enzym
wird durch die in . Tab. 15.3 zusammengestellten Faktoren al-
losterisch reguliert. Durch sie wird sichergestellt, dass bei hohen
Konzentrationen von den der Glycolyse nachgeschalteten Meta-
boliten (z. B. Citrat) bzw. bei hoher ATP-Konzentration der Sub-
stratdurchfluss durch die Glycolyse gebremst wird. Beim Anstau
der oberhalb der Phosphofructokinase gelegenen Glycolyse-
metaboliten oder aber bei hohen Konzentrationen von ADP und
AMP setzt dagegen eine Aktivierung des Flusses durch die Gly-
colyse ein.
Von besonderer Bedeutung ist diese Art der Regulation der
Glycolyse für den von Louis Pasteur erstmalig beschriebenen
und nach ihm benannten Pasteur-Effekt. Wie ursprünglich an
der Hefe beobachtet, zeigen viele Gewebe beim Übergang von
15 Normoxie zu Hypoxie/Anoxie eine deutliche Zunahme der Gly-
colyserate. Das ist auf die durch den Sauerstoffmangel ausgelöste
Zunahme der AMP-Konzentration und die damit einhergehende
Aktivierung der PFK1 zurückzuführen. Für das Überleben von
Geweben bei Sauerstoffmangel, z. B. bei Blutgefäßverschlüssen,
ist dieser Mechanismus von besonderer Bedeutung (s. 7 Ȇbri-
gens: Myokardinfarkt«).

Fructose-2,6-Bisphosphat ist ein allosterischer


Aktivator der PFK1, der für die hormonelle
Regulation der Glycolyse verantwortlich ist
Mit den in der Leber vorherrschenden Konzentrationen an
Adeninnucleotiden und Citrat wird praktisch nie eine Konstella-

. Abb. 15.13 Koordinierte transkriptionelle und allosterische Regula- . Tab. 15.3 Allosterische Aktivatoren und Inhibitoren der Phos-
tion von Glycolyse und Gluconeogenese. Dicke Pfeile geben die transkrip- phofructokinase 1 (PFK1)
tionelle Regulation wieder, dünne die allosterische. Induktion bzw. Aktivie-
rung sind mit der Farbe Grün, Repression bzw. Hemmung mit der Farbe Rot Inhibitor Aktivator
gekennzeichnet. G-6-Pase: Glucose-6-Phosphatase; GK: Glucokinase; GKRP:
Glucokinaseregulatorprotein (. Abb. 15.4); F-1,6-BPase: Fructose-1,6-Bis- ATP ADP, AMP
phosphatase; PFK: Phosphofructokinase 1; PC: Pyruvatcarboxylase; Citrat Fructose-6-Phosphat
PDH: Pyruvatdehydrogenase; PEPCK: Phosphoenolpyruvatcarboxykinase; Fructose-2,6-Bisphosphat
PK: Pyruvatkinase. (Einzelheiten s. Text)
15.3 · Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion
211 15

. Abb. 15.14 Bedeutung von Fructose-2,6-Bisphosphat für die Regulation


von Glycolyse und Gluconeogenese in der Leber. Fructose-2,6-Bisphosphat
ist der wirksamste allosterische Aktivator der Phosphofructokinase 1 und
gleichzeitig ein Inhibitor der Fructose-1,6-Bisphosphatase. Glc: Glucose;
Fru: Fructose; Fru-2,6-P2 : Fructose-2,6-Bisphosphat

. Abb. 15.16 Hormonelle Regulation der Bildung und des Verbrauchs


von Fructose-2,6-Bisphosphat in der Leber. Die jeweils aktiven Teile der
PFK2/FBPase2 sind grün, die inaktiven rot hervorgehoben. Im Herzmuskel
bewirkt die Phosphorylierung der PFK2/FBPase2 dagegen eine Steigerung
der PFK2-Aktivität. (Einzelheiten s. Text)

PFK2/FBPase2 an einem Serylrest phosphoryliert werden. Das


hat unterschiedliche Folgen für die jeweiligen Enzyme aus der
. Abb. 15.15 Bildung und Abbau von Fructose-2,6-Bisphosphat. Man Leber und dem Herzmuskel:
beachte, dass es sich bei der PFK2 und der FBPase2 um zwei Enzymaktivi-
täten handelt, die auf einer einzigen Polypeptidkette lokalisiert sind, die als Leber In der Leber wirkt die PFK2/FBPase2 in phosphorylier-
PFK2/FBPase2 bezeichnet wird. Durch covalente Modifikation werden die
ter Form ausschließlich als Fructose-2,6-Bisphosphatase,
beiden Enzymaktivitäten an- oder abgeschaltet (. Abb. 15.16)
baut also Fructose-2,6-Bisphosphat zu Fructose-6-Phosphat ab
(. Abb. 15.16). Nach Dephosphorylierung durch die Proteinphos-
tion erreicht, bei der die Phosphofructokinase aktiv ist. Dies phatase 1 gewinnt das Enzym die PFK-2-Aktivität, die es befähigt,
weist auf das Vorhandensein eines weiteren allosterischen Akti- aus Fructose-6-Phosphat Fructose-2,6-Bisphosphat zu bilden.
vators des Enzyms hin. Es handelt sich um das 1980 von Henry- Der durch Glucagon oder Katecholamine ausgelöste Anstieg
Geri Hers entdeckte Fructose-2,6-Bisphosphat (. Abb. 15.14). der cAMP-Konzentration bewirkt über eine Aktivierung der
Liegt es in hoher Konzentration vor, wird die PFK1 aktiviert, was Proteinkinase A eine Phosphorylierung der PFK2/FBPase2 und
zu einer Konzentrationszunahme von Fructose-1,6-Bisphosphat favorisiert damit die Fructose-2,6-Bisphosphataseaktivität. In
führt. Dieses Glycolyse-Intermediat wiederum ist ein allosteri- der Folge sinkt der Fructose-2,6-Bisphosphat-Spiegel der Hepa-
scher Aktivator der Pyruvatkinase (. Abb. 15.13). tocyten ab. Damit entfällt der wesentliche allosterische Aktivator
. Abb. 15.15 zeigt die Mechanismen für die Biosynthese und der Phosphofructokinase 1 und die Glycolyse verlangsamt sich.
den Abbau von Fructose-2,6-Bisphosphat, das mit Hilfe der Phos- Dagegen führt die Anwesenheit von Insulin durch Aktivierung
phofructokinase 2 (PFK2, Fructose-6-Phosphat-2-Kinase) aus von Phosphodiesterasen zu einer Erniedrigung des cAMP-Spie-
Fructose-6-Phosphat entsteht. Der Abbau des Fructose-2,6-Bis- gels. Dies löst eine Dephosphorylierung der PFK2/FBPase2 aus.
phosphats erfolgt durch eine hydrolytische Phosphatabspaltung, Durch Katalyse der jetzt aktiven PFK2 wird vermehrt Fructose-
wobei wieder Fructose-6-Phosphat entsteht. Katalysiert wird die- 2,6-Bisphosphat gebildet. Dieses aktiviert die PFK1, womit die
se Reaktion durch die Fructose-2,6-Bisphosphatase (FBPase2). Glycolyse stimuliert wird.
Beide Enzymaktivitäten, die PFK2 und die FBPase2, sind auf
ein und derselben Peptidkette lokalisiert, die als PFK2/FBPase2 Herzmuskel Anders als in der Leber verläuft die Regulation
bezeichnet wird. Von diesem bifunktionellen Enzym (Tandem- der PFK2/FBPase2 im Herzmuskel. Die Phosphorylierung der
enzym) gibt es gewebsspezifisch exprimierte Isoformen. Unter hier vorliegenden Isoform des Enzyms erfolgt durch die Protein-
Einwirkung der cAMP-abhängigen Proteinkinase A kann die kinase A an einem anderen Serylrest. Damit wird – anders als in
212 Kapitel 15 · Mechanismen der Glucosehomöostase

der Leber – nicht die Phosphatase-, sondern die Kinaseaktivität Hemmung der Glycogenbiosynthese und eine Aktivierung der
stimuliert. Dies führt zu einer Beschleunigung der Bildung Glycogenolyse (7 Kap. 15.2). Dies führt in der Leber zu einer ver-
von Fructose-2,6-Bisphosphat. In diesem Gewebe führt also mehrten Bereitstellung und Abgabe von Glucose. Durch Beein-
eine Erhöhung der cAMP-Konzentration zu einer Beschleuni- flussung des Spiegels an Fructose-2,6-Bisphosphat führt der-
gung der Glycolyse. Das erscheint auch sinnvoll, wenn man be- selbe Effektor, nämlich cAMP, zu einer Hemmung der Glycolyse
denkt, dass Katecholamine als Stresshormone in der Leber eine und Stimulierung der Gluconeogenese. Dies dient ebenfalls einer
Mobilisierung von Glucose und Stimulierung der Gluconeo- vermehrten Glucoseabgabe durch die Leber.
genese, im Herzmuskel jedoch eine Beschleunigung des Glucose- Von ihrer enzymatischen Ausstattung her sind lediglich
abbaus infolge des erhöhten Energiebedarfs auslösen müssen Leber, Nieren und intestinale Mukosa zur Gluconeogenese aus
(7 Kap. 37.2.3). Lactat bzw. Pyruvat oder glucogenen Aminosäuren befähigt.
Trotzdem sind die verschiedensten Gewebe mit den Enzymen
Skelettmuskulatur Die in der Skelettmuskulatur vorhandene ausgerüstet, die für Teilstrecken des Gluconeogenesewegs
Isoform der PFK2/FBPase2 wird nicht durch die Proteinkinase A zuständig sind. So finden sich beispielsweise relativ hohe Akti-
phosphoryliert. Trotzdem kommt es nach Gabe von Adrenalin vitäten des ersten Enzyms der Gluconeogenese, der Pyruvat-
zu erhöhten Fructose-2,6-Bisphosphat-Spiegeln, wahrscheinlich carboxylase, außer in Leber und Nieren auch in der Nebenniere,
als Folge einer gesteigerten Glucoseaufnahme. der laktierenden Milchdrüse und im Fettgewebe. Das Enzym
wird hier v. a. für die anaplerotische Synthese von Oxalacetat
Die Steigerung der PFK1-Aktivität löst eine benötigt.
Aktivierung von Pyruvatkinase und Pyruvat-
dehydrogenase aus Das geschilderte Wechselspiel zwischen Enzym-
Das nächste allosterisch regulierte Glycolyseenzym ist die Pyru- aktivierung bzw. -inaktivierung durch Metabolite
vatkinase. Fructose-1,6-Bisphosphat wirkt als allosterischer ermöglicht ein sinnvolles Reagieren des Leberstoff-
Aktivator, sodass ein verstärkter Glycolysefluss bei Anhäufung wechsels auf Kohlenhydratzufuhr und -mangel
dieses Substrats gewährleistet ist (. Abb. 15.13). Ein hoher Bei einem Überschuss an Kohlenhydraten kommt es in der Leber
ATP-Spiegel bewirkt dagegen eine Hemmung dieses Enzyms. zu einem gesteigerten Fluss durch die Glycolyse, weil vermehrt
Alanin ist ein allosterischer Inhibitor, allerdings nur in hohen gebildetes Fructose-6-Phosphat über Fructose-2,6-Bisphosphat
Konzentrationen. Auch die Pyruvatkinase der Leber kann durch die Phosphofructokinase 1 und Fructose-1,6-Bisphosphat die
die Proteinkinase A phosphoryliert und durch die Proteinphos- Pyruvatkinase stimulieren. Das vermehrt gebildete Pyruvat
phatase 1 dephosphoryliert werden. Die Phosphorylierung des aktiviert schließlich die Pyruvatdehydrogenase. Das dadurch
Enzyms bewirkt eine deutliche Aktivitätsverminderung unter gesteigerte Angebot an Acetyl-CoA kann für die Lipogenese,
physiologischen Bedingungen. Cholesterinsynthese bzw. zur Energiegewinnung durch Oxida-
Der Eintritt des Glycolyseendproduktes Pyruvat in den tion verwendet werden.
Citratzyklus in Form von Acetyl-CoA wird durch die Pyruvat- Bei Kohlenhydratmangel kann die Leber auf die Oxidation
dehydrogenase reguliert. Dieses Enzym wird auf komplizierte anderer Energiequellen, v. a. von Fettsäuren, zurückgreifen. Eine
15 Weise reguliert (s. 7 Abb. 18.5). Neben seiner reversiblen In- gesteigerte β-Oxidation hat einen Anstieg der Konzentrationen
aktivierung durch Phosphorylierung wird die aktive (dephos- von Acetyl-CoA zur Folge. Acetyl-CoA ist ein Hemmstoff der
phorylierte) Form des Enzyms durch Acetyl-CoA und NADH in Pyruvatdehydrogenase und ein Aktivator der Pyruvatcarboxy-
physiologischen Konzentrationen gehemmt. Auf diese Weise ist lase. Außerdem kommt es durch die während des Hunger-
gewährleistet, dass nur der wirklich benötigte Anteil von Gluco- zustands vorherrschenden Hormone Glucagon und Katechola-
sekohlenstoff in den Citratzyklus und in die mit ihm verbunde- mine zu einer vermehrten cAMP-Produktion. Dies löst ein Ab-
nen Stoffwechselwege eintreten kann. sinken der Fructose-2,6-Bisphosphat-Konzentration und damit
eine Stimulierung der Fructose-1,6-Bisphosphatase und eine
Hemmung der Phosphofructokinase 1 aus. Auf diese Weise
15.3.3 Allosterische Regulation werden Schlüsselenzyme der Glycolyse blockiert und die der
der Gluconeogenese Gluconeogenese zur Bereitstellung von Glucose für die glucose-
pflichtigen Organe aktiviert.
Die Gluconeogenese der Leber wird allosterisch
durch Fructose-2,6-Bisphosphat gehemmt
Ähnlich wie die Phosphofructokinase 1 ist auch die Fructose-1,6- Zusammenfassung
Bisphosphatase ein vielfach reguliertes Enzym. AMP ist ein po- Für die Genexpression von Enzymen der Glycolyse sind Insu-
tenter allosterischer Hemmstoff, was allerdings nur bei Hypoxie/ lin und Glucose als Induktoren von großer Bedeutung. Insulin
Anoxie von Bedeutung ist. Wichtiger ist jedoch die allosterische ist darüber hinaus ein Repressor von Schlüsselenzymen der
Hemmung der Fructose-1,6-Bisphosphatase der Leber durch Gluconeogenese. Eine umgekehrte Funktion haben Hormo-
Fructose-2,6-Bisphosphat (. Abb. 15.13 und . Abb. 15.14). Da- ne wie Katecholamine oder Glucagon, die zu einer Erhöhung
mit ergibt sich eine bemerkenswerte Analogie zur Regulation der cAMP-Konzentration führen. Sie reprimieren die Enzyme
des Glycogenstoffwechsels. Hier ist cAMP der wichtigste unter 6
hormoneller Kontrolle stehende intrazelluläre Effektor für eine
15.3 · Steuerung von Glucoseabbau und Glucoseproduktion
213 15

der Glycolyse und induzieren die Enzyme der Gluconeogene-


se. Letztere werden darüber hinaus noch durch Glucocorti-
coide induziert.
Für die Glycolyse der Leber ist der wichtigste allosterische
Regulator das Fructose-2,6-Bisphosphat, das bei niedrigen
cAMP-Konzentrationen synthetisiert wird. Es aktiviert die
Phosphofructokinase 1 und inhibiert die Fructose-1,6-
Bisphosphatase. Umgekehrt führen hohe cAMP-Konzentra-
tionen zu einem Abbau des Fructose-2,6-Bisphosphats,
was eine Hemmung der Glycolyse und eine Aktivierung der
Gluconeogenese auslöst.
Über das Fructose-2,6-Bisphosphat als allosterischem Aktiva-
tor hinaus hängt die Geschwindigkeit der Glycolyse in allen
untersuchten Geweben von der Energieladung der Zellen ab:
4 hohe ATP- oder Citratkonzentrationen sind allosterische
Inhibitoren der Phosphofructokinase 1
4 hohe AMP- und ADP-Konzentrationen aktivieren da-
gegen die Phosphofructokinase 1
4 hohe Fructose-1-Phosphat-Konzentrationen aktivieren
die Pyruvatkinase

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16 Zucker – Bausteine von Glykoproteinen und Heteroglycanen
Georg Löffler

Einleitung saccharide. Sie erfolgt durch Reaktion eines Monosaccharid-


1-Phosphats mit einem Nucleosidtriphosphat (NTP):
Glucose ist ein wichtiger Baustein für die Biosynthese der verschie-
densten Monosaccharide, da diese bis auf Fructose und Galactose nur Monosaccharid-1-Phosphat + NTP
in geringen Konzentrationen in der Nahrung vorkommen. Mono- NDP-Monosaccharid + Pyrophosphat
saccharide werden direkt und nach Modifikation zu Uronsäuren,
Aminozuckern sowie deren N-acetylierten Derivaten für die Biosynthese Ein Beispiel für eine derartige Reaktion ist die schon besproche-
von Oligosacchariden und Heteroglycanen benötigt. Diese sind ne Bildung von UDP-Glucose aus Glucose-1-Phosphat und UTP,
Bestandteile von Glykoproteinen, Proteoglycanen und der Hyaluron- die für die Biosynthese von Glycogen (7 Kap. 14.2.1) und Glu-
säure. Die bakterielle Peptidoglycansynthese wird durch Penicillin curonsäure (7 Kap. 16.1.2) benötigt wird. Die für solche Reak-
gehemmt. tionen verwendeten Enzyme werden allgemein als Glycosyl-
1-Phosphat-Nucleotidtransferasen oder Glycosylpyrophos-
Schwerpunkte phorylasen bezeichnet (der korrekte Namen ist UTP-Glycosyl-
1-Phosphat-Uridyl(yl)transferase).
4 Nucleosiddiphosphat-Monosaccharide
Die Bildung des NDP-Monosaccharids erfolgt in einer frei
4 UDP-Glucuronsäure
reversiblen Reaktion. Erst die Hydrolyse des dabei gebildeten
4 Stoffwechsel von Lactose und Galactose
Pyrophosphats zu zwei anorganischen Phosphaten mit Hilfe der
4 Biosynthese von Aminozuckern
in jedem Gewebe vorkommenden Pyrophosphatasen verschiebt
4 Biosynthese von Proteoglycanen und Hyaluronsäure
das Gleichgewicht der Reaktion in Richtung der Biosynthese des
4 Aufbau des bakteriellen Peptidoglycans
aktivierten Zuckers.
4 Wirkungsweise von Penicillin
Das bevorzugte Nucleosidtriphosphat zur Zuckeraktivierung
ist das UTP. Daneben finden das GTP im Mannosestoffwechsel
und das CTP im Acetylneuraminsäurestoffwechsel Verwendung.
Auf diese Weise aktivierte Monosaccharide können vielfäl-
16.1 Glucose als Substrat für die Biosynthese tige Reaktionen eingehen. Die wichtigsten sind:
anderer Zucker, Aminozucker 4 Oxidationen
und Zuckersäuren 4 Reduktionen
16 4 Epimerisierungen
16.1.1 Aktivierte Zuckermoleküle 4 Übertragung auf andere Zucker oder Zuckerpolymere

Glucose stellt die Ausgangssubstanz für die Biosynthese der


verschiedenen in Disacchariden und Heteroglycanen vorkom- 16.1.2 Glucuronsäure
menden Monosaccharide bzw. deren Derivate dar. Im Wesent-
lichen handelt es sich dabei um UDP-Glucuronat entsteht durch Oxidation
4 Galactose von UDP-Glucose
4 Mannose Biosynthese Uronsäuren (eigentlich Uronate) entstehen durch
4 Fucose Oxidation der Hydroxylgruppe am C-Atom 6 von Hexosen. Die
4 einige Uronsäuren Biosynthese der aus Glucose abgeleiteten Glucuronsäure (des
4 die verschiedenen Aminozucker Glucuronats) ist in . Abb. 16.1 dargestellt:
4 Überführung von Glucose-6-Phosphat in Glucose-1-Phos-
Die Strukturen dieser Verbindungen wurden bereits in 7 Kap. 3 phat und anschließende Reaktion mit UTP unter Bildung
besprochen. von UDP-Glucose (s. Glycogenbiosynthese, 7 Kap. 14.2.1).
4 Oxidation von UDP-Glucose am C-Atom 6 in zwei Schrit-
Die Aktivierung von Monosacchariden zu Nucleosid- ten zu UDP-Glucuronat durch die NAD+-abhängige UDP-
diphosphat-Monosacchariden ist Voraussetzung Glucose-Dehydrogenase.
für viele ihrer Reaktionen im anabolen Stoffwechsel
Die Biosynthese der obigen Zucker wie auch deren weitere Reak- UDP-Glucuronat stellt die aktive Form des Glucuronats dar und
tionen erfordert die vorherige Aktivierung der jeweiligen Mono- wird für deren weitere Reaktionen benötigt.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
16.1 · Glucose als Substrat für die Biosynthese anderer Zucker, Aminozucker und Zuckersäuren
215 16
weisen unterschiedliche Substratspezifitäten auf. Diese erstrecken
sich allerdings mehr auf chemische Gruppen als auf definierte
Moleküle, was das außerordentlich breite Substratspektrum er-
klärt. UGTs kommen im Intestinaltrakt und in besonders hoher
Aktivität in der Leber vor, wo sie für die zweite Phase der Biotrans-
formation von besonderer Bedeutung sind (7 Kap. 62.3.1).

Aus Glucuronsäure werden andere Uronsäuren,


Ascorbinsäure und Pentosen synthetisiert
Stoffwechsel des Glucuronats Aus UDP-Glucuronat werden
weitere Verbindungen gebildet (. Abb. 16.3):
4 Durch Epimerisierung am C-Atom 4 entsteht aus UDP-D-
Glucuronat UDP-D-Galacturonat. Dieses ist ein wichtiges
Substrat für die Biosynthese der pflanzlichen Pectine und
der Zellwände von verschiedenen Mikroorganismen.
4 Nach Einbau von UDP-Glucuronat in Heparan- bzw. Der-
matansulfat (7 Kap. 16.2.2) kann dieses durch Epimerisie-
rung am C-Atom 5 in L-Iduronat umgewandelt werden.
4 Glucuronat entsteht durch hydrolytische Spaltung von
UDP-Glucuronat bzw. unter der Einwirkung von lysoso-
. Abb. 16.1 Biosynthese von UDP-Glucuronsäure aus Glucose-6-Phos- malen Glucuronidasen aus Glycosaminoglycanen.
phat. (Einzelheiten s. Text)

Aus Glucuronat kann D-Xylitol gebildet werden, welches mit


Viele Verbindungen werden durch Glucuronidierung NAD+ zu D-Xylulose oxidiert und damit in den Pentosephos-
ausscheidungsfähig gemacht phatweg eingeschleust werden kann.
Glucuronide Viele körpereigene und körperfremde Verbindun- Außer bei Primaten und Meerschweinchen ist Glucuro-
gen (z. B. Steroidhormone, Arzneimittel, Pestizide, Umweltgifte) nat auch der Ausgangspunkt für die Ascorbinsäuresynthese
reagieren mit UDP-Glucuronat unter Bildung von Glucuroniden. (7 Kap. 59.1).
Diese enthalten Glucuronat verknüpft in β-glycosidischer Bin-
dung mit den entsprechenden Aglykonen (. Abb. 16.2). Als Sub-
strate kommen infrage: 16.1.3 Zusammenspiel von Glucose und Galactose
4 Alkohole beim Stoffwechsel der Lactose
4 Phenole
4 Thiole Galactose wird nach Aktivierung über UDP-Galactose
4 primäre Amine zu UDP-Glucose epimerisiert
4 Verbindungen mit Carboxylgruppen Stoffwechsel von Lactose Das Hauptkohlenhydrat der Milch ist
das Disaccharid Lactose (7 Kap. 3, 7 Tafel I.3). Sein Stoffwechsel
Glucuronidiert werden körpereigene Verbindungen, z. B. Ste- ist v. a. beim Säugling und Kleinkind von größter Bedeutung.
roide oder Bilirubin, aber auch Nahrungsbestandteile, Arznei- Wie andere Disaccharide wird Lactose im Intestinaltrakt durch
mittel und viele Xenobiotica. Die Zahl der möglichen Substrate die dort anwesenden Disaccharidasen (7 Kap. 61.3.1) hydro-
geht in die Tausende. lytisch in ihre Bausteine Glucose und Galactose gespalten, die
über die Pfortader aufgenommen werden. Der Galactoseabbau
Glucuronattransferasen Die für diese Reaktionen verantwort- findet im Wesentlichen in der Leber statt (. Abb. 16.4):
lichen Enzyme werden als UDP-Glucuronattransferasen (UGTs) 4 ATP-abhängige Phosphorylierung von Galactose durch
bezeichnet. Sie bilden eine Großfamilie mit beim Menschen insge- eine spezifische Galactokinase zu Galactose-1-Phosphat.
samt 16 Mitgliedern. Die einzelnen Mitglieder der Großfamilie 4 Reaktion von Galactose-1-Phosphat mit UDP-Glucose
unter Bildung von UDP-Galactose und Glucose-1-Phos-
phat. Diese durch das Enzym Galactose-1-Phosphat-
Uridyltransferase vermittelte Reaktion besteht also in
einem Austausch von Galactose und Glucose am Uridindi-
phosphat.
4 Epimerisierung von UDP-Galactose am C-Atom 4. Das
hierfür verantwortliche Enzym ist die UDP-Galactose-
4-Epimerase. Ihr Produkt ist UDP-Glucose. Die entstan-
. Abb. 16.2 Biosynthese von Glucuroniden aus UDP-Glucuronat. Die
dene UDP-Glucose kann in Glycogen eingebaut und
dargestellten Reaktionen werden durch Mitglieder der Familie der Glucuro- auf dem Weg der Glycogenolyse in den Stoffwechsel ein-
nattransferasen katalysiert geschleust werden.

Phosphoglucomutase Glucose-1-Phosphat-UTP-Transferase UDP-Glucose# UDP-Glucose-Dehydrogenase UDP-Glucuronat#


216 Kapitel 16 · Zucker – Bausteine von Glykoproteinen und Heteroglycanen

. Abb. 16.3 Synthese von UDP-D-Galacturonat, L-Iduronat und Glucuronat. Die Epimerisierung von Glucuronylresten zu Iduronylresten erfolgt erst
nach Einbau in Heparan- bzw. Dermatansulfat

16

. Abb. 16.4 Stoffwechsel der Galactose. Der rote Balken gibt den Stoffwechseldefekt bei der hereditären Galactosämie wieder (7 Kap. 17.2.1).
(Einzelheiten s. Text)

Für die Lactosesynthese in der Brustdrüse Untereinheit A ist eine außer in den Epithelzellen der Brustdrüse
wird Lactalbumin als Cofaktor benötigt in vielen anderen Zellen vorkommende Galactosyltransferase,
Biosynthese von Lactose Lactose ist das Hauptkohlenhydrat welche folgende Reaktion katalysiert:
der Milch aller Säuger. Ihre Biosynthese erfolgt durch Übertra-
gung von UDP-Galactose auf Glucose unter Bildung von Lactose UDP-Galactose + N-Acetylglucosamin
nach der Gleichung: UDP + N-Acetyllactosamin

UDP-Galactose + Glucose UDP + Lactose Diese Untereinheit gehört damit zu den für die Heteroglycan-
synthese verantwortlichen Enzymen.
Das hierfür benötigte Enzym ist die Lactosesynthase. Sie ist Zur Biosynthese von Lactose ist sie alleine nicht imstande,
ein heterodimeres Enzym aus den Untereinheiten A und B. Die weil ihre KM für Glucose als Akzeptor außerordentlich groß
UDP-Glucuronat# UDP-Galacturonat# Glucuronat# Glucuronat-β-N-Acetyl-Galactosamin-4-Sulfat# Iduronat-β-N-Acetyl-Galactosamin-4-Sulfat# Lactose-
stoffwechsel Galactose Lactose Heteroglycane Galactose-1-Phosphat UDP-Galactose UDP-Galactose-4-Epimerase UDP-Glucose Glycogensynthase Phos-
phorylase Phosphoglucomutase Gluctose-1-P-UTP-Transferase
16.1 · Glucose als Substrat für die Biosynthese anderer Zucker, Aminozucker und Zuckersäuren
217 16
ist. Erst zusammen mit der Untereinheit B, dem α-Lactalbumin,
wird die Spezifität der Untereinheit A derart modifiziert, dass
Glucose als Akzeptor bevorzugt wird.
Während der Schwangerschaft werden die Zellen der Milch-
drüse durch die Hormone Insulin (7 Kap. 36), Cortisol (7 Kap.
40.2) und Prolactin (7 Kap. 39.3) in sekretorische Zellen umge-
wandelt und dabei die Biosynthese der Untereinheit A induziert.
Die Biosynthese der Untereinheit B wird dagegen durch die wäh-
rend der Schwangerschaft stark erhöhten Progesteronspiegel ge-
hemmt. Mit dem unmittelbar vor der Geburt einsetzenden Pro-
gesteronabfall erlischt diese Hemmung, sodass mit Beginn der
Milchbildung Lactose in benötigtem Umfang synthetisiert wer-
den kann.

16.1.4 Galactose, Mannose und Fucose

Nucleosiddiphosphat-Derivate sind Zwischen-


produkte für die Synthese von Galactose, Mannose
und Fucose
Biosynthese von aktivierter Galactose Galactose ist Bestandteil
einer Reihe von Heteroglycanen (7 Kap. 3.1.4). Daraus ergibt sich
die Notwendigkeit, diesen Zucker auch dann zur Verfügung zu
haben, wenn die Nahrung galactosefrei ist. Da die UDP-Ga-
lactose-4-Epimerase (. Abb. 16.4) eine reversible Reaktion kata-
lysiert, kann die benötigte Galactose leicht aus UDP-Glucose
hergestellt werden, wobei UDP-Galactose entsteht.

Biosynthese von aktivierter Mannose und Fucose Mannose


und Fucose sind wichtige Bestandteile vieler Glykoproteine. Sie
werden mit folgenden Reaktionen aus Glucose synthetisiert
(. Abb. 16.5 und 16.6):
4 Isomerisierung von Glucose-6-Phosphat zu Fructose-6- . Abb. 16.5 Biosynthese von GDP-Mannose und GDP-Fucose aus Glu-
Phosphat mit Hilfe des Glycolyseenzyms Hexosephos- cose-6-Phosphat. (Einzelheiten s. Text)
phatisomerase.
4 Unter sterischer Umkehr der Hydroxylgruppe am C-Atom 2
Bildung von Mannose-6-Phosphat durch eine zweite 16.1.5 Glucosamin und Derivate
Isomerase.
4 Umwandlung zu Mannose-1-Phosphat. Die NH2-Gruppe der Aminozucker wird durch
4 Aktivierung von Mannose-1-Phosphat mit GTP zu GDP- Glutamin bereitgestellt
Mannose. Der Mechanismus gleicht demjenigen der Bil- Sowohl in den Oligosacchariden der Glykoproteine als auch in
dung von UDP-Glucose aus Glucose-1-Phosphat. Glycosaminoglycanen kommen häufig Monosaccharide mit
Aminogruppen vor, die meist zusätzlich acetyliert sind. Diese
GDP-Mannose ist nicht nur Substrat für die Biosynthese von befinden sich immer am C-Atom 2 des zugrunde liegenden
mannosehaltigen Glykoproteinen, sondern auch für die des Monosaccharides. Die Grundzüge der Biosynthese dieser Amino-
6-Desoxyzuckers L-Fucose, der ebenfalls in Glykoproteinen vor- zucker sind in . Abb. 16.6 zusammengestellt.
kommt (7 Kap. 3.1.4). Formal ist dieser komplizierte, mehr-
stufige Prozess eine mit einer Wasserabspaltung einhergehende N-Acetylglucosamin Da es sich um eine Substitution am C-
Reduktion der CH2OH-Gruppe des C-Atoms 6 zu einer Methyl- Atom 2 handelt, beginnt die Biosynthese mit der Isomerisierung
gruppe (. Abb. 16.5). von Glucose-6-Phosphat zu Fructose-6-Phosphat. Dieses rea-
giert anschließend mit dem Amidstickstoff des Glutamins unter
Bildung von Glucosamin-6-Phosphat (GlcN-6-P). Eine zweite
Möglichkeit der Glucosamin-6-Phosphat-Biosynthese besteht in
der direkten Phosphorylierung von Glucosamin. Durch Acety-
lierung mit Acetyl-CoA entsteht aus Glucosamin-6-Phosphat
das N-Acetylglucosamin-6-Phosphat (GlcNAc-6-P). Nach Ver-
lagerung der Phosphatgruppe zum GlcNAc-1-P reagiert dieses

Glucose-6-Phosphat# Mannose-6-Phosphat# GDP-Mannose# GDP-Fucose#


218 Kapitel 16 · Zucker – Bausteine von Glykoproteinen und Heteroglycanen

Zusammenfassung
Die im Stoffwechsel benötigten Monosaccharide werden
überwiegend aus Glucose synthetisiert, die hierzu allerdings
zu UDP-Glucose aktiviert werden muss.
UDP-Glucose ist Ausgangspunkt für die Biosynthese des
Glucuronats, der Glucuronide, des Galacturonats und des
Iduronats.
Aus Glucuronat kann Ascorbinsäure synthetisiert werden.
Primaten und Meerschweinchen sind allerdings hierzu nicht
in der Lage.
UDP-Glucose wird zu UDP-Galactose epimerisiert und dient
der Lactosesynthese.
Aus Lactose stammende Galactose wird zu UDP-Galac-
tose aktiviert und anschließend zu UDP-Glucose epime-
risiert.
Die Biosynthese der Zuckerbausteine von Heteroglycanen
geht von Glucose aus:
4 Glucose-6-Phosphat liefert UDP-Glucose und UDP-Galac-
tose.
4 Fructose-6-Phosphat liefert GDP-Mannose und
GDP-Fucose.
4 Fructose-6-Phosphat ist Ausgangspunkt für die Bio-
synthese der aktivierten Aminozucker UDP-GlcNAc,
UDP-GalNAc und CMP-N-Acetylneuraminsäure.

. Abb. 16.6 Biosynthese wichtiger Zuckerbausteine in Glykoproteinen


und Glycosaminoglycanen. Glc: Glucose, Fru: Fructose, Man: Mannose,
Fuc: Fucose, Gal: Galactose, GlcN: Glucosamin, GlcNAc: N-Acetylglucosamin,
16.2 Die Saccharide von Proteoglycanen,
GalNAc: N-Acetylgalactosamin, ManNAc: N-Acetylmannosamin, NeuAc: N-Ace- Hyaluronsäure und Peptidoglycan
tylneuraminsäure (Sialinsäure), grüne Pfeile: Epimerisierungen; rote Pfeile:
Aktivierungen; blaue Pfeile: Einbau in Heteroglycane; unmittelbare Substrate 16.2.1 Glycosyltransferasen
für die Heteroglycansynthese sind rot hervorgehoben. (Einzelheiten s. Text)

Im Gegensatz zur Biosynthese von Nucleinsäuren (7 Kap. 44 und


mit UTP zum UDP-GlcNAc, das für die Glykoproteinbiosyn- 46) oder Proteinen (7 Kap. 48) erfolgt die Biosynthese von
these verwendet wird. Oligosacchariden und Heteroglycanen nicht nach einem in einer
16 Matrize (DNA für Nucleinsäuren oder mRNA für Proteine)
N-Acetyl-Galactosamin und N-Acetyl-Neuraminsäure N-Acetyl- codierten Plan. Sie beginnt vielmehr mit der Anheftung des
Galactosamin entsteht durch Epimerisierung von UDP-GlcNAc ersten Glycosylrestes, der dazu in Nucleosiddiphosphat-akti-
zu UDP-GalNAc in einer Reaktion, die der Epimerisierung von vierter Form vorliegen muss, an einen Akzeptor. Die hierfür
UDP-Glc zu UDP-Gal entspricht (. Abb. 16.4). nötige Glycosyltransferase hat jeweils die erforderliche Spezifi-
Die Biosynthese der N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure; tät hinsichtlich des Akzeptors und des Nucleosiddiphosphat-
die Struktur der deacetylierten Form ist in 7 Kap. 3, 7 Tafel I.1 Zuckers.
gezeigt) beginnt mit der ATP-abhängigen Umwandlung von Weitere spezifische Glycosyltransferasen übernehmen da-
UDP-GlcNAc zu N-Acetyl-Mannosamin-6-Phosphat (ManNAc- nach die schrittweise Verlängerung der wachsenden Kohlen-
6-P), das anschließend mit Phosphoenolpyruvat reagiert. Dabei hydratkette, die auch, besonders bei N-glycosidisch verknüpften
addiert sich das nach Phosphatabspaltung entstehende Enolat- Glykoproteinen, verzweigt sein kann (7 Kap. 49.3.3).
Ion des Pyruvats an das C-Atom 1 des N-Acetylmannosamin- Oligosaccharide und Heteroglycane finden sich als Bestand-
6-Phosphats, wobei N-Acetylneuraminat-9-Phosphat entsteht. teile von
Dieses wird analog zu schon geschilderten Reaktionen diesmal 4 N-glycosidisch verknüpften Glykoproteinen
mit CTP zu CMP-N-Acetyl-Neuraminat aktiviert und steht damit 4 O-glycosidisch verknüpften Glykoproteinen
der Glykoproteinbiosynthese zur Verfügung. 4 Proteoglycanen
4 Hyaluronsäure

Da die Biosynthese der Glykoproteine eng mit der Protein-


biosynthese zusammenhängt, wird sie in 7 Kap. 49.3.3 be-
sprochen.
16.2 · Die Saccharide von Proteoglycanen, Hyaluronsäure und Peptidoglycan
219 16
16.2.2 Disaccharidketten von Proteoglycanen

Proteoglycane sind essentielle Bestandteile der extrazellulären


Matrix. Ihre im Einzelnen spezifischen Funktionen werden in
7 Kap. 71.1.5 besprochen.

In Proteoglycanen sind Ketten aus repetitiven


Disacchariden mit einem core-Protein verknüpft
Aufbau und Einteilung Proteoglycane bestehen aus einem sog.
core-Protein, an das lange unverzweigte Polysaccharidketten aus
repetitiven Disaccharideinheiten (7 Tab. 3.5) geheftet sind, die als
Glycosaminoglycane bezeichnet werden. Sie werden in
4 Chondroitinsulfat
4 Dermatansulfat
4 Keratansulfat
4 Heparin und
4 Heparansulfat
unterteilt.

Die repetitiven Disaccharideinheiten bestehen aus einer Uron-


säure (Ausnahme: Galactose im Keratansulfat) und einem
Aminozucker (7 Kap. 3, 7 Tafel I.5). Uronsäuren und Amino-
zucker können mit Sulfatgruppen verestert sein, weswegen es
sich um stark negativ geladene Moleküle handelt.
Die Variabilität der zugehörigen Proteine ist außerordent-
lich groß. Bis heute sind mehr als 100 Gene für die in Proteo-
glycanen vorkommenden sog. core-Proteine beschrieben wor-
den (7 Kap. 71.1.5).
. Abb. 16.7 Biosynthese von Proteoglycanen. Xyl: Xylose; Gal: Galactose;
GlcUA: Glucuronat; GalNAc: N-Acetylgalactosamin; GlcNAc: N-Acetylglucosa-
Biosynthese Das Prinzip der Biosynthese der Glycosaminogly- min. (Einzelheiten s. Text)
canketten ist in . Abb. 16.7 dargestellt:
4 An eine Serylgruppe innerhalb einer spezifischen Se-
quenz des core-Proteins wird ein aus vier Monosaccha-
riden bestehendes Oligosaccharid geknüpft. Die Struktur 16.2.3 Disaccharidketten von Hyaluronsäure
Xyl‒Gal‒Gal–GlcUA (Glucuronat) ist allen Proteoglycanen
gemeinsam. Hyaluronsäure ist ein proteinfreies Glycosamino-
4 Dieses Tetrasaccharid wird nun durch alternierende Addi- glycan besonderer Größe
tion von zwei Monosacchariden verlängert, einem Amino- Aufbau und Vorkommen Hyaluronsäure, nach neuerer Nomen-
zucker und Glucuronat, jeweils als UDP-aktivierte Verbin- klatur als Hyaluronan bezeichnet, ist ein Heteroglycan, in dem
dung (7 Kap. 16.1.1). Glucuronat und N-Acetylglucosamin alternierend vorkommen
4 Das für Heparin und Heparansulfat typische Disaccharid und eine lineare Struktur bilden (7 Tab. 3.5).
besteht aus dem Aminozucker N-Acetylglucosamin und Die Zahl der repetitiven Disaccharide kann bei über 30.000
Glucuronat, im Chondroitin- und Dermatansulfat kommt liegen, woraus sich eine Molekülmasse von mehr als 107 Da
dagegen das Disaccharid aus N-Acetylgalactosamin und ergibt.
Glucuronat vor. Hyaluronat kommt in tierischen Geweben ubiquitär vor und
bildet einen wichtigen Bestandteil der extrazellulären Matrix,
Durch jeweils unterschiedliche Epimerisierung von Glucuronat wird jedoch auch von verschiedenen Bakterien als Bestandteil
zu Iduronat (7 Kap. 16.1.2 und 3.1.4) und unterschiedliche ihrer Zellwand gebildet. Seine Funktionen sind vielfältig:
Sulfatierung kommen weitere Unterschiede zwischen den ein- 4 es moduliert die Zellwanderung und Differenzierung
zelnen Saccharidketten zustande. Substrat für die Sulfatierungs- während der Embryogenese,
reaktionen, die durch gesonderte Enzymaktivitäten katalysiert 4 reguliert die Organisation der extrazellulären Matrix und
werden, ist 3 -Phosphoadenosyl-5 -Phosphosulfat (PAPS, s. 4 nimmt an der Metastasierung, der Wundheilung und der
7 Abb. 3.17). Zusammen mit der großen Zahl unterschiedlicher Entzündung teil.
core-Proteine entsteht dadurch eine nahezu unüberschaubare
Vielzahl von Proteoglycanen. Die Halbwertszeit von Hyaluronsäure in verschiedenen Gewe-
Die Proteoglycane synthetisierenden Enzyme sind im endo- ben variiert beträchtlich. In der Epidermis beträgt sie weniger als
plasmatischen Retikulum oder Golgi-Apparat lokalisiert. einen Tag, im Knorpel dagegen bis zu 1–3 Wochen.
220 Kapitel 16 · Zucker – Bausteine von Glykoproteinen und Heteroglycanen

Biosynthese Hyaluronsäure enthält kein Protein und ihre Bio- A


synthese unterscheidet sich grundsätzlich von derjenigen der
Proteoglycane. Die repetitiven Disaccharideinheiten werden
Schritt für Schritt in Form ihrer Nucleosiddiphosphat-aktivier-
ten Monosaccharide an die wachsende Zuckerkette angeheftet.
Die hierfür verantwortliche Hyaluronatsynthase verfügt über
zwei Bindungsstellen für die beiden UDP-Monosaccharide.
Beim Menschen kommen drei unterschiedliche Hyaluronatsyn-
thasen vor, die untereinander beträchtliche Sequenzhomologien
aufweisen. Sie sind mit sieben Transmembranhelices in der Plas-
mamembran verankert, das aktive Zentrum ist zum Cytosol
B
gerichtet, die synthetisierte Hyaluronsäure wird direkt in den
Extrazellulärraum sezerniert.
Über die Funktion von Proteoglycanen s. auch 7 Kap. 3 und 71.

16.2.4 Das bakterielle Peptidoglycan


als Angriffspunkt von Penicillin

Peptidoglycan, die Hauptkomponente der bakte-


riellen Zellwand, besteht aus repetitiven Disaccharid-
ketten, die mit Peptiden quervernetzt sind
Unter den verschiedenen Bestandteilen der bakteriellen Zellwand
ist das für das Überleben der Bakterien wichtigste das Peptido-
glycan, das auch als Murein, seltener als Glycopeptid oder Mu-
copeptid, bezeichnet wird. Es ist ein einziges, sehr großes Mak-
romolekül, welches eine käfigartige Hülle um die Bakterien bildet.
Grundbaustein des Mureins ist eine lineare Kette eines repe-
titiven Disaccharids aus N-Acetylglucosamin und N-Acetyl-
muraminsäure (. Abb. 16.8A). Formal ist Muraminsäure ein
3-O-Ether des Glucosamins mit Lactat. Die N-Acetylmuramin- . Abb. 16.8 Struktur des Peptidoglycans (Mureins). A Ausschnitt aus dem
repetitiven Disaccharid aus N-Acetylglucosamin und N-Acetylmuraminsäure.
säurereste sind covalent mit je einem Tetrapeptid der Struktur
R: Peptidkette B Schematische Darstellung der Mureinstruktur. Die Vernet-
Ala–D-Gln–Lys–D-Ala verknüpft. Ein aus fünf Glycinresten zungsstellen sind durch rote Verbindungslinien hervorgehoben. G: N-Acetyl-
bestehendes Pentapeptid ist für die Quervernetzung der Glucosamin; M: N-Acetyl-Muraminsäure
Zuckerketten zwischen der ε-Aminogruppe des Lysylrests in
Position 3 des einen Tetrapeptides und dem Alanylrest in Posi-
16 tion 4 des nächstfolgenden verantwortlich (. Abb. 16.8B). 4 An die N-Acetylmuraminsäurereste wird zunächst nicht
Muraminsäureketten werden spezifisch durch Muraminidase das spätere Tetrapeptid, sondern ein um ein D-Alanin
gespalten. Dieses auch als Lysozym bezeichnete Enzym ist im Tier- verlängertes Peptid aus insgesamt 5 Aminosäuren synthe-
reich weit verbreitet. Es zerstört die Zellwand von Bakterien und tisiert. Es hat die Struktur Ala–D-Gln–Lys–D-Ala–D-Ala
führt damit zu deren Absterben. Lysozym findet sich v. a. in der (. Abb. 16.9A).
Nasenschleimhaut und der Tränenflüssigkeit und hat die Aufgabe, 4 Das Enzym Glycopeptidtranspeptidase greift die Peptid-
die mit der Luft eindringenden Mikroorganismen zu zerstören. bindung zwischen den zwei D-Alaninresten des an die
Zuckerkette geknüpften Peptids an. Unter Abspaltung des
Das Antibiotikum Penicillin hemmt die Biosynthese terminalen D-Alanins wird ein Acyl-Enzym-Zwischenpro-
des Mureins dukt gebildet (. Abb. 16.9B).
Penicillin (. Abb. 16.10) ist das erste Antibiotikum, das zur 4 Die so entstandene Esterbindung zwischen Alanin und En-
Bekämpfung von Infektionskrankheiten eingesetzt wurde. Der zym wird durch die terminale Aminogruppe des Pentagly-
bakteriostatische Effekt des Penicillins beruht auf einer Hem- cins gespalten. Dabei wird das Enzym regeneriert und die für
mung der Biosynthese der bakteriellen Zellwand. die Quervernetzung verantwortliche Peptidbindung gebildet.
Wie Jack Strominger zeigen konnte, hemmt Penicillin die
letzte Reaktion der Mureinbiosynthese, nämlich die Querver- Penicillin ist ein außerordentlich wirksamer Inhibitor der Glyco-
netzung. Diese erfolgt zwischen dem N-Terminus des Penta- peptidtranspeptidase. Der für alle Penicillinantibiotika typische,
glycins und dem C-Terminus des Tetrapeptids. Die Reaktion sehr reaktive β-Lactamring ähnelt in seiner Raumstruktur
wird durch das Enzym Glycopeptidtranspeptidase, das einen der terminalen D-Ala–D-Ala-Einheit. Aus diesem Grund ist
für die Reaktion essentiellen Serylrest besitzt, katalysiert und das Penicillin auch ein gutes Substrat der Glycopeptidtranspepti-
läuft in folgenden Teilschritten ab (. Abb. 16.9): dase. Diese spaltet mit Hilfe ihrer reaktiven OH-Gruppe den

NAc-Glucosamin# NAc-Muraminsäure#
16.2 · Die Saccharide von Proteoglycanen, Hyaluronsäure und Peptidoglycan
221 16
A B

. Abb. 16.10 Irreversible Hemmung der Glycopeptidtranspeptidase


durch Penicillin. Penicillin (links) besteht aus einem Thiazolidinring, an den
ein viergliedriger β-Lactamring geknüpft ist. Dieser trägt zusätzlich eine
variable Gruppe, z. B. eine Benzylgruppe beim Benzylpenicillin. Der β-Lac-
tamring wird durch die reaktive OH-Gruppe der Glycopeptidtranspeptidase
(T) gespalten, wodurch das Enzym irreversibel blockiert wird

gangen. Fleming versuchte, den Pilz zu bestimmen, und kam


zu dem Schluss, es sei Penicillium chrysogenum. Erst zwei
Jahre später wurde dieser Schimmelpilz in den USA als
. Abb. 16.9 Mechanismus der Quervernetzung des Mureinmoleküls.
Penicillium notatum identifiziert. Er wurde zum Ausgangs-
A Im letzten Schritt der Quervernetzung greift formal der freie N-Terminus
des Pentaglycins eine D-Ala–D-Ala-Peptidbindung an. B Für die Quer-
punkt für die Penicillinproduktion. 1945 erhielt Sir Alexander
vernetzung ist die Glycopeptidtranspeptidase verantwortlich. Das Enzym Fleming den Nobelpreis für Medizin, gemeinsam mit
reagiert im ersten Schritt mit dem an die Zuckerreste geknüpften Peptid dem Biochemiker Ernst Boris Chain und dem Pathologen
Ala–D-Gln–Lys–D-Ala–D-Ala, indem die beiden D-Alaninreste unter Bildung Sir Howard Walter Florey.
eines Acyl-Enzym-Zwischenproduktes gespalten werden. Anschließend
wird das Zwischenprodukt durch die Aminogruppe des Pentaglycinpepti-
des unter Bildung der Quervernetzung angegriffen. G: N-Acetylglucosamin;
M: N-Acetylmuraminsäure. (Einzelheiten s. Text)
Zusammenfassung
Heteroglycane sind neben ihrem Vorkommen in Glyko-
β-Lactamring und bildet einen Penicilloyl-Enzym-Komplex, proteinen wichtige Bestandteile
der die Glycopeptidtranspeptidase irreversibel inaktiviert und 4 der repetitiven Disaccharidsequenzen von Proteo-
damit die Biosynthese der bakteriellen Zellwand verhindert glycanen und
(. Abb. 16.10). 4 der Hyaluronsäure.

Der Biosyntheseweg der Heteroglycane verläuft jeweils


Übrigens unterschiedlich:
4 Proteoglycane werden an sog. core-Proteinen synthe-
Penicillin: »That is funny!«
tisiert. An spezifische Sequenzabschnitte wird zunächst
Der englische Mikrobiologe Alexander Fleming (1881–
eine Tetrasaccharideinheit angeheftet. An diese werden
1955) hatte 1922 das Lysozym entdeckt. Danach arbeitete
dann die repetitiven Disaccharideinheiten angefügt.
er weiter auf der Suche nach Substanzen, die Bakterien ab-
Diese werden durch Epimerisierung und Sulfatierung
töten können. 1928 erhielt er den Auftrag, einen Handbuch-
noch modifiziert.
artikel über Staphylokokken zu schreiben. Dazu untersuchte
4 Hyaluronsäure enthält kein core-Protein und wird durch
er im Auflichtmikroskop Staphylokokkenkolonien, die er in
die Hyaluronatsynthase direkt unter Verwendung der
Petrischalen auf Gallertnährböden gezüchtet hatte. Die
aktivierten Monosaccharide synthetisiert.
Petrischalen lagen dabei längere Zeit unbedeckt unter dem
4 Für die genannten Biosynthesen ist die Aktivierung
Mikroskop, öfters wurden durch den Luftzug Schimmelpilze
des jeweiligen Monosaccharides zu einem NDP-Mono-
auf die Nährböden verfrachtet. Das war bekannt. Er klagte
saccharid notwendig.
seinem Kollegen Melvin Pryce »Immer fällt etwas aus der
Luft herein«, ergriff eine solche Schale und wollte sie herzei- Das Peptidoglycan oder Murein ist ein lebensnotwendiger
gen. Plötzlich hielt er inne, blickte lange auf die Bakterienko- Bestandteil bakterieller Zellwände, das über Pentapeptide
lonie und sagte dann die historischen Worte »That is funny!« quervernetzt ist. Für diese Reaktion ist eine Transpeptidase
In dieser Schale war der Nährboden ebenso mit Schimmel erforderlich, die durch Penicillin irreversibel gehemmt wer-
bedeckt wie in den anderen, aber hier waren rings um den den kann.
Schimmelpilz die Staphylokokkenkolonien zugrunde ge-
6
7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
17 Pathobiochemie des Kohlenhydratstoffwechsels
Georg Löffler

Einleitung
. Tab. 17.1 Erworbene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels
Im Kohlenhydratstoffwechsel kann es zu mannigfachen Störungen
Bezeichnung Ursache Besprochen
kommen, die häufigste von ihnen ist die Erhöhung des Blutzucker-
in Kapitel
spiegels bei Diabetes mellitus. Diese geht vermehrt einher mit einer
spontanen, covalenten Bindung von Glucose an zahlreiche Proteine, die Diabetes mellitus Absoluter oder relativer Insu- 36.7
für die Pathogenese der Folgeerkrankungen von Diabetikern von großer linmangel
Bedeutung ist. Ein Absinken des Blutzuckerspiegels unter einen kriti- Hyperinsulinismus Inselzelltumoren des Pankreas; 17.1
schen Wert kann unterschiedliche Ursachen haben und gefährdet akut Fehlen von Insulinantagonisten
die Energieversorgung des zentralen Nervensystems. Klassische Krank- Kohlenhydrat- Gestörte intestinale Resorption 61.3.6
heitsbilder, die auf angeborene Störungen des Kohlenhydratstoffwech- malabsorption von Monosacchariden
sels zurückgehen, sind Galactosämie und hereditäre Fructose-Intoleranz.
Hypoglykämien »Unreife« der Gluconeogenese 11.7.1,
Fehler in der Biosynthese von Heteroglycanen führen zu schweren Stö- bei Frühgeborenen; Alkohol- 62.6.1
rungen, da diese Verbindungen für die Regulation von Wachstum, Diffe- intoxikation; Insulinüberdosie-
renzierung und anderen zellulären Funktionen von besonderer Bedeu- rung, Insulinüberproduktion
tung sind. Lactatacidose Störung des aeroben Glucose- 17.1.2
abbaus bei Schocksyndrom,
Schwerpunkte bei Krampfanfällen und nach
Gabe mancher Arzneimittel
4 Glykierung von Proteinen und advanced glycation (Phenformin)
endproducts Frühgeborenen- Mangel an Glucuronat- 32.3.2
4 Hypoglykämien ikterus transferaseaktivität
4 Galactosämien
4 hereditäre Fructose-Intoleranz
4 Glycogenosen
kommen bei einer Reihe von Erkrankungen vor. Diese Situation
4 angeborene hämolytische Anämie
ist insofern bedrohlich, da das Zentralnervensystem zur De-
4 Lactatacidose
ckung seines Energiebedarfs auf eine kontinuierliche Glucosezu-
fuhr angewiesen ist. Der Körper versucht infolgedessen, Glyco-
genolyse und Gluconeogenese zu aktivieren, wozu die Katechol-
aminsekretion stimuliert wird. Dies macht die Symptomatik
17 17.1 Erworbene Defekte des Kohlenhydrat- verständlich, die von Heißhunger, Schweißausbrüchen und
stoffwechsels Herzklopfen gekennzeichnet ist. Bei weiterem Absinken der
Blutglucosekonzentration treten mehr und mehr die Symptome
Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels sind die der Funktionsstörungen des Zentralnervensystems auf: Tremor,
Ursache der verschiedensten Erkrankungen neurologische Störungen, Bewusstseinstrübung bis hin zum
Erworbene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels können in Coma hypoglycämicum.
den vielfältigsten Formen auftreten und führen häufig zu klas- Hypoglykämien können verschiedenste Ursachen haben.
sischen Stoffwechselkrankheiten (. Tab. 17.1). Beispiele hierfür Besonders empfindlich sind nicht ausreichend mit Kohlen-
sind der Diabetes mellitus, Hyperinsulinismus oder die Kohlen- hydraten versorgte Frühgeborene, da bei ihnen die für die
hydratmalabsorption, die an anderer Stelle besprochen werden. Gluconeogenese verantwortlichen Enzyme noch nicht in aus-
reichender Aktivität vorhanden sind. Akute Alkoholintoxikation
kann ebenfalls zu Hypoglykämien führen, da Ethanol die Gluco-
17.1.1 Hypoglykämien, Lactatacidose neogenese hemmt. Wahrscheinlich wird dieser Effekt durch das
und Störungen der Glucuronidierung beim Ethanolabbau entstehende NADH/H+ verursacht, das die
von Bilirubin Verhältnisse von Lactat/Pyruvat und Malat/Oxalacetat zuguns-
ten der reduzierten Reaktionspartner verschiebt. Die Folge ist ein
Hypoglykämien Hypoglykämien, d. h. Zustände, bei denen die Konzentrationsabfall der Gluconeogenesesubstrate Pyruvat und
Blutglucosekonzentration unter 3,6 mmol/l (65 mg/dl) absinkt, Oxalacetat.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
17.1 · Erworbene Defekte des Kohlenhydratstoffwechsels
223 17
Eine durch Tumoren der β-Zellen der pankreatischen
Langerhans-Inseln ausgelöste gesteigerte und nicht regulierte
Insulinsekretion kann zu schweren Hypoglykämien führen. Bei
insulinpflichtigen Diabetikern kommt es gelegentlich infolge
eines Missverhältnisses des zugeführten Insulins und der aufge-
nommenen Nahrung zu Hypoglykämien.

Lactatacidose Ein sehr ernst zu nehmendes Krankheitsbild ist


die Lactatacidose, von der man spricht, wenn die Lactatkonzen-
tration im Blut über den Grenzwert von 1,2–1,5 mmol/l steigt.
Das Krankheitsbild findet sich als Symptom von Störungen des
aeroben Glucoseabbaus bei Patienten mit Schocksyndrom oder
generalisierten Krampfanfällen, aber auch nach bestimmten
Arzneimitteln, z. B. nach Gabe des früher als Antidiabetikum
verwendeten Phenformins. Das Krankheitsbild der Lactataci-
dose ist von der Symptomatik einer schweren metabolischen . Abb. 17.1 Mechanismus der nicht-enzymatischen Glykierung von Pro-
Acidose begleitet und muss entsprechend behandelt werden teinen. Die Carbonylgruppe von Aldosen, besonders von Glucose, reagiert
(7 Kap. 66.3). reversibel mit Aminogruppen in Proteinen. Die dabei entstehenden Schiff-
Basen erfahren eine Amadori-Umlagerung, für deren Spaltung keine En-
zyme vorliegen
Gilbert-Syndrom und Crigler-Najjar Syndrom Bei diesen Erkran-
kungen handelt es sich um angeborene Störungen der Biliru-
binglucuronidierung. Sie beruhen auf jeweils unterschiedlichen N-terminalen Valins der β-Globinketten) vor. Bei Patienten mit
Defekten der Bilirubin-UDP-Glucuronattransferasen und gehen Hyperglykämien, z. B. einem Diabetes mellitus, steigt die Kon-
mit einem Ikterus einher. Weiteres s. 7 Kap. 32.3.2. zentration des glykierten Hämoglobins an. Infolge seiner langen
Halbwertszeit erlaubt die Bestimmung des glykierten HbA1c bei
Diabetikern eine Abschätzung der qualitativen Diabeteseinstel-
17.1.2 Glykierung lung während der vergangenen Wochen.
Außer Hämoglobin wird eine Reihe weiterer Proteine gly-
Die nicht-enzymatische Glykierung von Proteinen kiert. Sie finden sich entweder in der extrazellulären Flüssigkeit
ist die Ursache vieler zellulärer Dysfunktionen oder in Geweben mit hoher intrazellulärer Konzentration von
Aldehyde bilden spontan Schiff-Basen mit Verbindungen, die Glucose und anderen Aldosen. Glykierte Anteile lassen sich im
Aminogruppen enthalten. Dies trifft naturgemäß auch für Aldo- Albumin, in den Apolipoproteinen der LDL, im Kollagen, im
sen und damit in besonderem Maße für Glucose zu. Wie aus Myelin, in Basalmembranproteinen, in Linsenproteinen und in
. Abb. 17.1 hervorgeht, kann Glucose mit Aminogruppen in Proteinen der Erythrocytenmembran nachweisen. Sehr häufig
Proteinen, aber auch Lipiden oder Nucleinsäuren nicht-enzy- gehen mit der Proteinglykierung Änderungen der Proteinstruk-
matisch unter Bildung einer Schiff-Base reagieren. Diese Reak- tur, der Halbwertszeit oder auch der Funktion einher.
tion ist reversibel, ihr Ausmaß hängt von der Dauer und der Werden sehr langlebige Proteine, z. B. Bestandteile der Bin-
Höhe der Glucosekonzentration ab. In einer folgenden, ebenfalls degewebsproteine, glykiert, so erfolgen innerhalb von Wochen
nicht-enzymatischen Amadori-Umlagerung bildet sich aus der weitere Umlagerungen der primären Amadori-Produkte zu sog.
Schiff-Base ein Ketoamin, welches vom Organismus nicht mehr Glykierungsendprodukten, die englisch als advanced glycation
gespalten werden kann. Die Menge des auf diese Weise glykier- endproducts (AGE) bezeichnet werden (. Abb. 17.2A). Die zu-
ten Proteins hängt ab: grunde liegenden Reaktionen sind aus der Lebensmittelchemie
4 von der Höhe und Dauer der Glucoseexposition als Maillard-Reaktion bekannt. Unter diesem Begriff werden
4 der biologischen Lebensdauer des Proteins nicht-enzymatische Bräunungsreaktionen von Lebensmitteln
4 der Zahl der freien Aminogruppen bezeichnet, die auf Reaktionen zwischen Aminen und Carbonyl-
4 dem pK-Wert der Aminogruppen gruppen beruhen. Die Bildung der AGE wird mit einer Reihe
4 der Zugänglichkeit der Aminogruppen für Glucose und physiologischer aber auch pathophysiologischer Vorgänge in
4 dem Vorhandensein benachbarter protonierter Amino- Verbindung gebracht. So nimmt man an, dass sie an den phy-
gruppen wie Histidin oder Arginin. siologischen Alterungsvorgängen beteiligt sind und möglicher-
weise bei der Entstehung von Angiopathien eine Rolle spielen.
Das Hämoglobin der Erythrocyten wird wegen des Fehlens einer Jedenfalls nimmt mit zunehmendem Alter die Menge an AGE im
eigenen Proteinbiosynthese nicht durch Neusynthese ausge- Bindegewebe linear zu, wie in . Abb. 17.2B anhand des Pento-
tauscht. Deswegen ist seine irreversible Glykierung (s. o.) ein sidinspiegels im Kollagen der Dura mater, aber auch in der Haut
gutes Maß für die durchschnittliche Blutglucosekonzentration und in den Nieren des Menschen nachgewiesen wurde. AGE fin-
während der erythrocytären Lebensdauer von ungefähr 100 Ta- den sich in endothelialen Proteinen, Linsenkristallinen (Proteine
gen. Tatsächlich liegen schon beim Gesunden etwa 4–6 % des der Augenlinse), Hautkollagenen und treten bei Patienten mit
Hämoglobins in glykierter Form, d. h. als HbA1c (Glykierung des Diabetes mellitus gehäuft auf. Auf Makrophagen und Endothel-
224 Kapitel 17 · Pathobiochemie des Kohlenhydratstoffwechsels

A B

. Abb. 17.2 Bildung von advanced glycosylation endproducts (AGE). A Durch Maillard-Reaktionen erfahren die als Ketoamine gebundenen Zuckerreste
auf Proteinen komplizierte Umlagerungen, die u.a. zu dem dargestellten Endprodukt Pentosidin (rot hervorgehoben) führt, welches Quervernetzungen
von Peptidketten auslöst. B Zunahme der Pentosidinmenge im Kollagen menschlicher Dura mater in Abhängigkeit vom Lebensalter. (Mit freundlicher
Genehmigung von VM Monnier, Cleveland)

zellen sind in letzter Zeit spezifische Rezeptoren für AGE gefunden von Glykoproteinen beschrieben worden. Etwas häufiger sind
worden, die als RAGE (receptors for AGE) bezeichnet werden und lysosomale Defekte, die den Abbau von Proteoglycanen, Glyko-
zur Superfamilie der Immunglobuline (7 Kap. 70.9) gehören. Sie proteinen und Glykolipiden betreffen (7 Kap. 25.3.2).
sind möglicherweise für Reaktionen verantwortlich, die zu Arte-
riosklerose und anderen Gefäßveränderungen führen. Galactosämien Es handelt sich um Erkrankungen, die sich durch
erhöhte Serumgalactosespiegel bereits unmittelbar nach der Ge-
burt auszeichnen. Sie kommen mit einer Häufigkeit von etwa
17.2 Hereditäre Defekte des Kohlenhydrat- 1:50.000 vor.
stoffwechsels Bei der leichten Form der Erkrankung ist die Galactokinase
(7 Kap. 16.1.3) defekt. Die sich anhäufende Galactose wird mit
17.2.1 Störungen im Stoffwechsel einer Aldosereduktase (7 Kap. 14.1.1) zu Galactitol reduziert,
von Monosacchariden und Glycogen welches die Entstehung von frühkindlichen Linsenkatarakten
auslöst.
Angeborene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels betreffen Die schwere Form der Erkrankung wird auch als »klassische
Enzymdefekte, die bei homozygoten Trägern zu schweren, meist Galactosämie« bezeichnet. Ihr liegt ein Mangel der Galactose-
lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen 1-Phosphaturidyltransferase (7 Kap. 16.1.3) zugrunde. Da aber
führen. die Aktivität der Galactokinase normal ist, kommt es zu einer
Prinzipiell können derartige Defekte natürlich jedes Enzym beträchtlichen Zunahme der Galactose-1-Phosphat-Konzentrati-
der beschriebenen Wege des Kohlenhydratstoffwechsels be- on. Dadurch werden die Phosphoglucomutase, Glucose-6-Phos-
treffen. In . Tab. 17.2 ist eine Auswahl solcher angeborener Stö- phatase und Glucose-6-Phosphatdehydrogenase gehemmt, was
rungen des Kohlenhydratstoffwechsels zusammengestellt. Wie eine schwere Störung des Glucosestoffwechsels zur Folge hat. Die
man sieht, handelt es sich um seltene Erkrankungen. Über diese hohe Galactose-1-Phosphat-Konzentration bindet darüber hin-
genannten Defekte hinaus sind in Einzelfällen Defekte von aus einen großen Teil des zellulären Phosphats. Deswegen wird
17 Enzymen der Gluconeogenese, des Glucuronsäurestoffwechsels, die mitochondriale ATP-Regenerierung aus ADP und Pi und da-
des Pentosephosphatweges und der Enzyme für die Biosynthese mit der gesamte Energiestoffwechsel schwer beeinträchtigt.

. Tab. 17.2 Angeborene Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels (Auswahl)

Bezeichnung Defektes Enzym Hauptsymptom Häufigkeit

Galactosämie Galactokinase Galactosämie, Katarakte 1:55.000

Galactose-1-Phosphat- Hypoglykämien, Leberfunktionsstörung, Leberzirrhose, 1:50.000


Uridyltransferase geistige Retardierung

Fructose-Intoleranz Aldolase B Hypoglykämien, Leberzirrhose 1:130.000

Glycogenose Typ I Glucose-6-Phosphatase Hypoglykämie, Lebervergrößerung 1:100.000

Glycogenose Typ III Amylo-1,6-Glucosidase Hypoglykämie, Lebervergrößerung, Muskelschwäche 1:45.000

Glycogenose Typ VI Leberphosphorylase Hypoglykämie, Lebervergrößerung 1:45.000

Angeborene hämolytische Anämie Pyruvatkinase Beschleunigter Abbau von Erythrocyten 1:30.000


17.2 · Hereditäre Defekte des Kohlenhydratstoffwechsels
225 17
Die Betroffenen erkranken unmittelbar nach der Geburt an
Erbrechen, Durchfällen, Gewichtsabnahme und Ikterus als Aus- . Tab. 17.3 Kongenitale Defekte des Stoffwechsels der Glycos-
druck von Leberfunktionsstörungen. Außerdem entwickeln sich aminoglycane (Auswahl)

Zeichen einer geistigen Retardierung, deren Ursache noch nicht Name Betroffener Stoffwechselweg
bekannt ist. Bei Belastung mit Galactose kommt es zu schweren,
protrahierten Hypoglykämien, die auf eine Hemmung der Gluco- Defekte der Glycosamino- Sulfattransport
neogenese zurückzuführen sind. Die Synthese von UDP-Galac- glycansulfatierung Sulfataktivierung
(Chondrodystrophien) Sulfatierung der Glycosaminoglycan-
tose verläuft bei den Patienten ungestört, da die UDP-Gal-4-Epi-
ketten
merase (7 Kap. 16.1.3) ja in normaler Aktivität vorhanden ist. Die
Betroffenen sind also auch bei galactosefreier Kost, die die einzig Mucopolysaccharidosen Defekte des Abbaus von Glycosamino-
glycanen
erfolgreiche Therapie des Leidens darstellt, zur Synthese der
Galactose enthaltenden Glykoproteine und Ganglioside befähigt.

Hereditäre Fructose-Intoleranz Wesentlich seltener ist die here- 17.2.2 Heteroglycandefekte


ditäre Fructose-Intoleranz mit einer Inzidenz von 1:130.000. Bei
ihr kommt in Leber und Nieren Aldolase A statt Aldolase B Proteoglycane und Hyaluronsäure (7 Kap. 16.2) gehören zu
(7 Kap. 14.1.1) vor. Diese Isoform der Aldolase spaltet Fructose- den am vielfältigsten modifizierten Makromolekülen vielzelliger
1-Phosphat wesentlich langsamer als Fructose-1,6-Bisphosphat. Organismen. Sie haben für das Leben essentielle Funktionen. Im
Nach alimentärer Fructosezufuhr häuft sich infolgedessen in der Prinzip kann jedes der vielen Enzyme, die an der Biosynthese der
Leber neben Fructose auch Fructose-1-Phosphat an. Dieses entsprechenden Moleküle beteiligt sind, von einer Mutation be-
hemmt sowohl die Fructose-1,6-Bisphosphatase als auch die Aldo- troffen sein und dann schwere Krankheitsbilder auslösen. Dies
lase A. Dadurch werden der Abbau von Glucose wie auch die Glu- kann auch tierexperimentell durch die gezielte Ausschaltung
coneogenese blockiert. Außerdem sinkt, wie bei der klassischen einzelner für die Biosynthese verantwortlicher Gene bestätigt
Galactosämie, der zelluläre Phosphatgehalt stark ab. Die Patienten werden. Sehr häufig ergeben sich dabei Missbildungen, die be-
leiden an protrahierten hypoglykämischen Zuständen, vor allem reits in der Embryonalzeit tödlich sind.
nach obsthaltigen Mahlzeiten. Die einzige Therapie besteht in der . Tab. 17.3 fasst einige beim Menschen vorkommende Er-
Vermeidung saccharose- und fructosehaltiger Nahrungsmittel. krankungen zusammen, die auf Enzymdefekten der Hetero-
glycansynthese beruhen. Im Allgemeinen handelt es sich um
Glycogenosen Bis heute sind insgesamt 12 Defekte im Glycogen- zwar seltene, aber äußerst schwer verlaufende Krankheitsbilder,
stoffwechsel (7 Kap. 14.2) beschrieben worden. Sie betreffen im- die mit gravierenden Entwicklungsstörungen der Betroffenen
mer einzelne Enzyme von Glycogenbiosynthese, Glycogenabbau einhergehen und meist tödlich verlaufen.
oder Regulation des Glycogenstoffwechsels. Generell handelt es
sich auch hier um seltene Erkrankungen. In . Tab. 17.2 sind drei
Beispiele genannt. Bei der Glycogenose Typ I liegt ein Defekt der Zusammenfassung
Glucose-6-Phosphatase vor, der dazu führt, dass die Leber nicht Störungen des Glucosestoffwechsels führen je nach ihrer
mehr zur Glucosefreisetzung aus Glucose-6-Phosphat imstande Lokalisation zu unterschiedlichsten Erkrankungen:
ist. Da dies zu einem Anstau von Glucose-1-Phosphat führt, er- 4 Zu den erworbenen Störungen gehört der Diabetes
gibt sich eine Hemmung der Glycogenphosphorylase und damit mellitus, verschiedene Formen von Hypoglykämien, die
eine Störung des Abbaus von Glycogen. Die Patienten leiden an Malabsorption von Monosacchariden und die Lactatacidose.
einer Lebervergrößerung infolge massiver Glycogenablagerungen 4 Die während des ganzen Lebens stattfindende nicht-
und Hypoglykämien. Die Glycogenosen Typ III und Typ VI be- enzymatische Glykierung verändert Proteine strukturell
treffen Enzyme des Glycogenabbaus. Auch sie sind durch Hypo- und funktionell und wird mit den Alterungsvorgängen
glykämien und Lebervergrößerung gekennzeichnet. in Beziehung gebracht. Bei Patienten mit Diabetes
mellitus findet diese Glykierung in verstärktem Umfang
Defekt der Pyruvatkinase Die häufigste Ursache der sog. ange- statt. Sie spielt möglicherweise als pathogenetischer
borenen hämolytischen Anämie (7 Kap. 68.3) ist ein Defekt der Faktor u. a. bei der Entstehung der diabetischen Angio-
Pyruvatkinase (7 Kap. 14.1.1) der Erythrocyten. Meist ist bei den pathien eine wichtige Rolle.
Patienten die Aktivität des Enzyms auf etwa 20% der Norm re- 4 Hereditäre Erkrankungen des Kohlenhydratstoffwech-
duziert. Die Vorstufen der Erythrocyten entwickeln sich normal, sels können jedes Enzym des Kohlenhydratstoffwechsels
da ihr Energiebedarf mit der geringen Aktivität der Pyruvat- betreffen. Beispiele sind die Galactosämie, Glycogeno-
kinase gedeckt werden kann und sie über intakte Mitochondrien sen und die hereditäre Fructose-Intoleranz. Enzym-
verfügen. Nach Verlust der Mitochondrien bei den reifen Ery- defekte des Stoffwechsels von Heteroglycanen sind
throcyten reicht die Pyruvatkinaseaktivität jedoch nicht mehr seltene aber schwerwiegende Erkrankungen, die meist
aus, um durch die jetzt notwendige anaerobe Glycolyse ge- tödlich verlaufen.
nügend ATP für die Aufrechterhaltung der Erythrocytenfunk-
tion zu synthetisieren. Aus diesem Grund kommt es zum vorzei-
tigen Altern der Erythrocyten und zu ihrer Lyse. 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
18 Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O
Ulrich Brandt

Einleitung

Der Abbau von Glucose durch die Reaktionen der Glycolyse endet
beim Pyruvat und liefert nur einen bescheidenen Energiebetrag. Erst
nach Einschleusung von Pyruvat in den Citratzyklus ist seine vollstän-
dige Oxidation zu CO2 möglich, wobei das dabei gebildete NADH/H+
und FADH2 durch die im folgenden Kapitel besprochenen Reaktionen
der oxidativen Phosphorylierung unter erheblichem ATP-Gewinn re-
oxidiert werden. Da auch andere Stoffwechselwege wie die Fettsäureoxi-
dation oder der Abbau vieler Aminosäuren in den Citratzyklus einmün-
den, stellt dieser die gemeinsame Endstrecke des katabolen Stoff-
wechsels dar.

Schwerpunkte

4 Stoffwechselbedeutung sowie die intrazelluläre Lokalisation


des Citratzyklus
4 Umwandlung von Pyruvat zu Acetyl-CoA durch oxidative
Decarboxylierung durch den Multienzymkomplex
der Pyruvatdehydrogenase
4 Einzelreaktionen und Bilanz des Citratzyklus
4 Regulation des Citratzyklus
4 Biosynthesen, die von Zwischenprodukten des Citratzyklus
ausgehen
4 Pathobiochemische Bedeutung des Citratzyklus . Abb. 18.1 Beziehungen des Citratzyklus zum Kohlenhydrat-, Fett- und
Proteinstoffwechsel sowie zur oxidativen Phosphorylierung

Glucoseabbau z. B. unter anaeroben Bedingungen über die Gly-


colyse bis zum Lactat (7 Kap. 14.1.1), entspricht dies einer Ände-
18.1 Stoffwechselbedeutung des Citratzyklus rung der freien Energie von –197 kJ pro mol Glucose. Die voll-
ständige Oxidation des Glucosemoleküls in CO2 und H2O, die
Die Stoffwechselwege für den Abbau von Kohlenhydraten, Fet- allerdings nur in Anwesenheit von Sauerstoff möglich ist, ergibt
ten und Aminosäuren enden auf der Stufe des Acetyl-CoA oder dagegen eine mehr als 14-mal höhere Änderung der freien Ener-
18 der α-Ketosäuren mit drei bis fünf C-Atomen (Propionyl-CoA, gie. Dies liefert der Zelle also einen ungleich größeren Energie-
Pyruvat, Oxalacetat, α-Ketoglutarat) (7 Kap. 14.1.1, 21.2.1, 26.4). betrag für die zu leistende Arbeit.
Große Teile des Kohlenstoffskeletts bleiben somit zunächst er- Ähnliches gilt für den Abbau von Lipiden und Aminosäuren
halten, energieliefernde Redoxreaktionen sind nur in beschränk- (7 Kap. 21.2 und 26.4, 27.2) mit ihren Endprodukten Acetyl-CoA,
tem Umfang möglich, und die Energieausbeute ist relativ gering. Propionyl-CoA, Pyruvat (α-Ketopropionat), Succinyl-CoA,
Eine wesentliche Steigerung des Energiegewinns setzt den voll- Oxalacetat (α-Ketosuccinat) oder α-Ketoglutarat.
ständigen Abbau der Substrate voraus. . Tab. 18.1 zeigt die ver- Nachdem Albert Szent-Györgyi, Franz Knoop und Carl Mar-
fügbare freie Energie am Beispiel des Glucoseabbaus. Erfolgt der tius gezeigt hatten, dass Citrat in α-Ketoglutarat und Succinat in
Oxalacetat überführt werden können, gelang es dem deutsch-
. Tab. 18.1 Änderung der freien Energie bei anaerobem (glycoly- englischen Biochemiker Sir Hans Adolf Krebs als erstem, Licht
tischem) und aerobem Abbau von Glucose in das Dunkel der gemeinsamen oxidativen Endstrecke des Sub-
stratabbaus zu bringen. In einer Serie von eleganten Untersu-
Abbauweg ∆G0
chungen zwischen dem Ende der 30er und der 40er Jahre des
Glucose 2 Lactat –197 kJ/mol 20. Jahrhunderts konnte er zeigen, dass die Endoxidation der
Substrate in einem Zyklus abläuft, bei dem Citrat als charakteris-
Glucose + 6 O2 6 CO2 + 6 H2O –2.881 kJ/mol
tisches Zwischenprodukt auftritt.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
18.1 · Stoffwechselbedeutung des Citratzyklus
227 18

. Abb. 18.2 Reaktionsfolge des Citratzyklus. Die beiden vom Acetyl-CoA abstammenden C-Atome sind rot hervorgehoben. Die asymmetrische Wir-
kungsweise der Aconitase führt dazu, dass der in Form von CO2 abgespaltene Kohlenstoff nicht dem Acetyl-CoA-Kohlenstoff entstammt. Dieser findet sich
nach einmaligem Durchlauf des Zyklus in zwei der 4 C-Atome des Oxalacetats wieder, da Succinat eine symmetrische Verbindung ist

Der danach Citratzyklus (Krebs-Zyklus, Tricarbonsäurezyk- tion nachgewiesen werden konnte. In allen bisher untersuchten
lus) genannte Prozess übernimmt die Aufgabe einer zentralen aerob arbeitenden Zellen wurde die enzymatische Ausstattung
Drehscheibe zwischen Substratabbau und oxidativer Phosphory- für den Citratzyklus gefunden.
lierung und führt bei einem Durchgang formal zur Zerlegung Der Citratzyklus läuft im Matrixraum der Mitochondrien ab.
eines Moleküls Acetat in 2 Moleküle CO2 und 8 Wasserstoffato- Er befindet sich somit in engster Nachbarschaft zu der in
me (. Abb. 18.1). 7 Kap. 19.1 geschilderten oxidativen Phosphorylierung, deren
Die besondere Bedeutung des Citratzyklus für den oxidati- Enzyme sich in der inneren Mitochondrienmembran befinden.
ven Stoffwechsel wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Dies ist von zentraler Bedeutung für die Regulation des Citrat-
kein anderes Bindeglied zwischen Substratabbau und Endoxida- zyklus (7 Kap. 18.3).
Citratzyklus# Pyruvat# NADH + H^+^^# Oxalacetat# Acetyl-CoA# Malat# Citrat# Fumarat# cis-Aconitat# Succinat# Isocitrat# Succinyl-CoA# Oxalsuc-
cinat# α-Ketoglutarat# Citratzyklus Pyruvatdehydrogenase Malatdehydrogenase Fumarase Succinatdehydrogenase Succinat-CoA-Ligase
α-Ketoglutaratdehydrogenase Citratsynthase Aconitase Isocitratdehydrogenase
228 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O

Zusammenfassung
Beim Abbau von Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen
entsteht Acetyl-CoA.
Dieses wird im Citratzyklus oxidiert und decarboxyliert,
wobei 2 Moleküle CO2 freigesetzt und 8 Wasserstoffatome
für die Endoxidation bereitgestellt werden. Sämtliche Enzy-
me des Citratzyklus befinden sich in der mitochondrialen
Matrix.

18.2 Einzelreaktionen des Citratzyklus

In . Abb. 18.2 ist die Reaktionsfolge des Citratzyklus dargestellt.


Gezeigt ist auch die für den Anschluss an die Glycolyse erforderli-
che dehydrierende Decarboxylierung von Pyruvat zu Acetyl-CoA.
Der Citratzyklus selbst lässt sich formal in zwei Phasen ein-
teilen:
4 Bildung von Citrat aus Oxalacetat und Acetyl-CoA und an-
schließende Wiedergewinnung einer C4-Dicarbonsäure
(Succinat) durch zweimalige Oxidation und zweimalige
Decarboxylierung.
4 Regenerierung von Succinat zu Oxalacetat, das damit wie-
der zur Reaktion mit Acetyl-CoA zur Verfügung steht.
Diese Reaktionssequenz hat formal Ähnlichkeit mit den
ersten drei Reaktionen der Fettsäureoxidation.

Acetyl-CoA entsteht aus Pyruvat durch


dehydrierende Decarboxylierung von Pyruvat
Um Kohlenhydrate in den Citratzyklus einschleusen zu können,
muss Pyruvat als Endprodukt der Glycolyse in Acetyl-CoA um-
gewandelt werden. Dies geschieht in einer mehrstufigen Reak-
tion, die als dehydrierende Decarboxylierung von Pyruvat be-
zeichnet wird. Sie wird von einem kompliziert aufgebauten
Multienzymkomplex, dem Pyruvatdehydrogenase-Komplex
(PDH-Komplex) katalysiert.
Die dehydrierende Decarboxylierung von α-Ketosäuren wie
Pyruvat wird auch als oxidative Decarboxylierung bezeichnet.
Der erste Ausdruck beschreibt die molekularen Vorgänge jedoch . Abb. 18.3 Mechanismus der dehydrierenden Decarboxylierung von
besser, da Sauerstoff an der Reaktion nicht beteiligt ist, sondern Pyruvat durch den Pyruvatdehydrogenase-Komplex. Die Atome des Pyru-
18 dem Substrat Wasserstoff entzogen wird (Dehydrierung). vats sind rot und blau hervorgehoben. Aus Platzgründen ist lediglich der
Thiazolring des Thiaminpyrophosphats dargestellt
Die Einzelreaktionen der durch den PDH-Komplex kataly-
sierten Reaktionen sind in . Abb. 18.3 dargestellt:
4 Pyruvat wird decarboxyliert. Hierzu katalysiert die Pyruvat- wird zur Bildung des energiereichen Thioesters im S-Ace-
decarboxylase-Untereinheit die Addition des dem Stickstoff tylhydrolipoat genutzt.
benachbarten, sehr reaktionsfähigen C-Atoms des Thiazol- 4 Der als energiereicher Thioester an das Enzym gebundene
rings im Thiaminpyrophosphat an die Carbonylgruppe des Acetylrest wird auf Coenzym A übertragen, wobei Acetyl-
Pyruvats. Die für die Decarboxylierung zum Hydroxyethyl- CoA und reduziertes Lipoat entsteht. Oxidation und Trans-
thiaminpyrophosphat erforderliche Elektronenverschie- acetylierung werden von der Lipoattransacetylase-Unter-
bung wird erleichtert, indem das Intermediat vom Ring einheit des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes katalysiert.
mesomer stabilisiert wird. 4 Das reduzierte Lipoat wird durch die FAD-haltige Dihydro-
4 Hydroxyethylthiaminpyrophosphat kann als »aktiver« lipoatdehydrogenase reoxidiert. Sie kann ihre Reduk-
Acetaldehyd betrachtet werden. Dieser wird zum Acetylrest tionsäquivalente im Gegensatz zu anderen FAD-Enzymen
oxidiert und dabei auf die enzymgebundene α-Liponsäure auf NAD+ übertragen, da das Redoxpotential des Flavins
übertragen, welche außerdem das bei der Oxidation frei- aufgrund der spezifischen Proteinumgebung negativer ist
werdende Elektronenpaar aufnimmt. Die Redoxenergie als das des Nicotinamidcosubstrates.

Citratzyklus# Pyruvat# Thiaminpyrophosphat# Hydroxyethylthiaminpyrophosphat# Acetyl-CoA# Pyruvatdecarboxylase Dihydrolipoat-


dehydrogenase S-Acetyl-hydrolipoylenzym Lipoattransacetylase Thiaminpyrophosphat Carbanion
18.2 · Einzelreaktionen des Citratzyklus
229 18

. Abb. 18.4 Die Beteiligung der PDH-Untereinheiten am Reaktionszyklus. In der Reaktion 1 erfolgt die Bindung des Substrats an Thiaminpyrophosphat
(TPP) und die Decarboxylierung. Die Oxidation zum Acetylrest durch Liponsäure geschieht in Reaktion 2. Den Reaktionen 3 und 4 entspricht die Übertra-
gung des Acetylrestes auf CoA, in den Reaktionen 5, 6 und 7 wird das reduzierte Lipoat reoxidiert, wobei letztlich NADH/H+ gebildet wird. E1–E3: Unterein-
heiten des PDH-Multienzymkomplexes; FAD: Flavinadenindinucleotid; TPP: Thiaminpyrophosphat. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Patel u. Roche
1990)

In der Thioesterkonfiguration des Acetyl-CoA liegt eine sog. Die α-Untereinheit von E1 kann durch eine spezifische
»energiereiche Verbindung« vor. Die Reaktion der Pyruvatde- Kinase phosphoryliert und inaktiviert sowie durch eine spezi-
hydrogenase ist trotzdem mit einem G’0 von –34 kJ/mol so fische Phosphatase dephosphoryliert und aktiviert werden. Die
stark exergon, dass sie unter physiologischen Bedingungen prak- Phosphorylierung findet sequenziell an drei Serylresten der
tisch irreversibel ist. α-Untereinheit statt, wobei die Phosphorylierung des ersten Se-
In . Abb. 18.4 ist schematisch der Aufbau der für Säugerge- rylrestes bereits mit einer Abnahme der Aktivität um 60–70 %
webe typischen Form des PDH-Komplexes dargestellt. Insgesamt einhergeht. Sowohl die Kinase wie auch die Phosphatase sind
sind am Aufbau des Enzymkomplexes die 4 Komponenten E1, E2, Bestandteil des PDH-Komplexes und können durch spezifische
E3 und E3BP beteiligt. Effektoren aktiviert oder gehemmt werden (7 Kap. 18.3).
4 Die E1-Komponente ist ein Tetramer der Zusammenset- Der Pyruvatdehydrogenase-Komplex gehört damit zu den
zung α2β2 und katalysiert die geschwindigkeitsbestimmen- sog. interkonvertierbaren Enzymen (7 Kap. 8.5). Der Vorteil
de Teilreaktion der PDH. Die E1α-Untereinheiten tragen dieses weit verbreiteten Prinzips besteht darin, dass durch die
das Thiaminpyrophosphat. Wahrscheinlich wird die De- Phosphorylierung bzw. Dephosphorylierung der Enzymkom-
carboxylierung des Pyruvats durch die Untereinheit E1β ka- plex sehr rasch »ab- bzw. angeschaltet« werden kann.
talysiert.
4 Die Untereinheit E2 trägt zwei Lipoatreste, das dihydrolipo- Durch die Reaktion von Acetyl-CoA mit Oxalacetat
amide binding protein E3BP einen Lipoatrest. Während des entsteht Citrat, aus dem durch zweimalige
Katalysezyklus wird der Hydroxyethylrest (s. o.) zunächst Decarboxylierung Succinat gebildet wird
auf das erste Lipoat der E2-Untereinheit übertragen, wobei Nachdem in der Eingangsreaktion aus Oxalacetat (α-Keto-
dort ein Acetylrest entsteht, der durch eine Thiotransfera- succinat) und einem Acetylrest Citrat entstanden ist, wird dieses
se-Aktivität auf den zweiten Lipoatrest gelangt. Von diesem in der ersten Teilsequenz des Citratzyklus oxidativ um ein Koh-
wird er mit Coenzym A unter Bildung von Acetyl-CoA ab- lenstoffatom zu α-Ketoglutarat verkürzt. Dabei finden folgende
gespalten. Der Lipoatrest von E3BP ist das unmittelbare Reaktionen statt (. Abb. 18.2):
Oxidationsmittel für den Lipoatrest der Untereinheit E2. 4 Die Citratsynthase katalysiert die Bildung von Citrat aus
4 Die Untereinheit E3 reoxidiert nun den Lipoatrest im E3BP. Oxalacetat und Acetyl-CoA. Bei dieser Reaktion handelt es
Dabei wird das FAD der Untereinheit E3 reduziert. Dieses sich formal um eine Aldoladdition, da sich die durch die
wird mit Hilfe von NAD+ reoxidiert, womit der Ausgangs- Thioesterbindung aktivierte, »CH-acide« CH3-Gruppe
zustand wieder hergestellt ist. des Acetyl-CoA nucleophil an die polarisierte Carbonyl-
gruppe des Oxalacetats addiert. Da dabei unter Spaltung der
Der tierische PDH-Komplex hat eine sehr hohe molekulare Mas- Thioesterbindung Coenzym A freigesetzt wird, liegt das
se. Er besteht aus etwa 22 E1-Tetrameren, etwa 60 E2-Komponen- Gleichgewicht der Reaktion ganz auf der Seite der Citrat-
ten und je 6 E3BP- und E3-Komponenten. bildung.
230 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O

Übrigens
Die Aconitase ist ein bifunktionelles Protein
Schon 1973 wurde neben der mitochondrialen eine cytosoli-
sche Aconitase entdeckt. Die beiden Proteine sind außeror-
dentlich ähnlich, die Aminosäuresequenz zeigt etwa 31 %
Identität. Die Funktion der cytosolischen Aconitase besteht
allerdings weniger in der Bildung von Isocitrat aus Citrat.
Vielmehr ist die Apoform dieses Enzyms, die durch Abspal-
tung des Eisen-Schwefel-Zentrums bei Eisenmangel ent-
steht, ein wichtiger Regulator der Expression eisenabhängi-
ger Gene. Sie wird infolgedessen auch als IRP (iron responsive
element binding protein ) bezeichnet (7 Kap. 33.1.5; 60.4.2).
Je nach Gen kann IRE-Bp in der Nähe des 5’-Endes der mRNA
binden und die Translation blockieren oder durch Bindung
im Bereich des 3’-Endes die mRNA stabilisieren und so die
Genexpression steigern.
Die cytosolische Aconitase ist das am besten untersuchte
Beispiel für sog. bifunktionelle Proteine. Andere Proteine mit
zweierlei Funktionen sind die Thymidylatsynthase (7 Kap.
29.2, 30.3) oder multifunktionelle Enzyme, z. B. die Fettsäure-
synthase (7 Kap. 21.2.3) oder die PFK-2 (7 Kap. 15.3.2).

4 Die Aconitase wandelt Citrat in Isocitrat um, wobei inter-


mediär enzymgebundenes cis-Aconitat entsteht. Citrat ist
eine prochirale Verbindung, da sich die beiden CH2-COOH-
Gruppen des Moleküls wie Bild und Spiegelbild verhalten.
Die Aconitase erkennt dies und bindet ihr Substrat so, dass
die Hydroxylgruppe nur auf den vom Oxalacetat stammen-
den CH2-COOH-Rest übertragen werden kann.
4 Die Isocitratdehydrogenase dehydriert Isocitrat zu enzym-
gebundenem Oxalsuccinat, welches sofort zu α-Ketoglutarat
decarboxyliert.
. Abb. 18.5 Reaktionsmechanismus der Succinyl-CoA-Synthase. (Einzel-
Die meisten tierischen und pflanzlichen Gewebe sowie heiten s. Text)
Mikroorganismen enthalten zwei verschiedene Isocitratde-
hydrogenasen, die die Reaktion
version durch reversible Phosphorylierung reguliert. Die
Isocitrat + NAD+ (NADP+) Änderung der freien Energie der α-Ketoglutaratdehydro-
α-Ketoglutarat + CO2 + NADH (NADPH) + H+ genase-Reaktion liegt wie bei der dehydrierenden Decarbo-
xylierung von Pyruvat bei –34 kJ/mol.
18 katalysieren. Während die NAD+-abhängige Isocitratde- 4 Die Succinat-CoA-Ligase (Succinyl-CoA-Synthetase) bildet
hydrogenase ausschließlich in den Mitochondrien vor- durch Abspaltung von CoA aus Succinyl-CoA mit Phosphat
kommt, wird das NADP+-abhängige Enzym auch im Cyto- zunächst das reaktive Succinylphosphat. Der Phosphatrest
sol gefunden. Das NAD+-abhängige Enzym wird für den wird unter Erhaltung einer energiereichen Bindung auf ei-
Citratzyklus benutzt, während die NADP+-abhängige Iso- nen spezifischen Histidylrest des Enzyms übertragen und
citratdehydrogenase eine Nebenstrecke des Zyklus darstellt dient anschließend zur Bildung eines GTP aus GDP (. Abb.
(7 Kap. 18.4). 18.5).
4 Das Enzym α-Ketoglutaratdehydrogenase setzt 4 Durch Phosphatgruppentransfer nach der Gleichung
α-Ketoglutarat durch dehydrierende Decarboxylierung in
Succinyl-CoA um. Der Reaktionsmechanismus entspricht GTP + ADP GDP + ATP
dem der Pyruvatdehydrogenase: Das Enzym benötigt Thia-
minpyrophosphat, α-Liponsäure, Coenzym A, NAD+ und kann ATP aus GTP erzeugt werden. Diese Reaktion wird
FAD als Cofaktoren, und die für die einzelnen Reaktions- von der Nucleosiddiphosphatkinase katalysiert1.
schritte verantwortlichen Enzyme sind in einem Multien-
zymkomplex zusammengefasst. Dieser wird jedoch im 1 Außer der GTP-abhängigen gibt es auch eine ATP-abhängige Isoform des
Gegensatz zur Pyruvatdehydrogenase nicht per Interkon- Enzyms.

Succinyl-CoA# Phosphat# Succinylphosphat# Histidin# Succinat# Phosphohistidin# GTP#


18.3 · Regulierte Schritte im Citratzyklus
231 18
Durch die Succinyl-CoA-Synthase wird also die in der vorange-
gangenen Redoxreaktion gewonnene, freie Energie in Form von . Tab. 18.2 Energiebilanz der einzelnen Schritte des Citratzyklus
GTP konserviert, das leicht in ATP überführt werden kann. Im
Schritt H-Akzeptor ATP-Aus-
Gegensatz zur oxidativen Phosphorylierung wird diese Form der beutea
ATP-Gewinnung auch als Substratkettenphosphorylierung
bezeichnet (7 Kap. 4.2). Isocitrat α-Ketoglutarat NAD+ NADH + H+ 2,7
+ H+
α-Ketoglutarat Succinyl-CoA NAD NADH + 2,7
Succinat wird zu Oxalacetat oxidiert
Succinyl-CoA Succinat (Substratkettenphos- 1
Die Rückgewinnung von Oxalacetat aus Succinat erfolgt in einer
phorylierung)
Serie von Schritten, die große Ähnlichkeit mit denen der Fettsäu-
reoxidation (7 Kap. 21.2.1) haben: Succinat Fumarat FAD FADH2 1,6

4 Die Succinatdehydrogenase oxidiert Succinat zu Fumarat. Malat Oxalacetat NAD+ NADH + H+ 2,7
Dieses Enzym ist Teil des Komplexes II der Atmungskette, Summe 10,7
der die Reduktionsäquivalente über FAD auf Ubichinon
a
Über die ATP-Ausbeute bei der oxidativen Phosphorylierung
überträgt (7 Kap. 19.1.2).
s. 7 Kap. 19.1.4
4 Die Fumarase lagert Wasser in einer reversiblen Reaktion
an Fumarat an, sodass Malat entsteht.
4 Schließlich oxidiert die Malatdehydrogenase unter Gewin-
nung eines weiteren Reduktionsäquivalentes Malat zu Oxal-
acetat. Succinyl-CoA unter Gewinnung eines GTP Succinat
entsteht.
Die Energieausbeute des Citratzyklus beträgt 4 Succinat wird durch zweimalige Oxidation in Oxalacetat,
etwa 11 ATP pro oxidiertem Acetylrest das Trägermolekül des Citratzyklus, umgewandelt.
Die Summengleichung des Citratzyklus lautet:

O
=

H3C–C–S–CoA + 3 NAD+ + FAD + GDP + Pi +3 H2O 18.3 Regulierte Schritte im Citratzyklus


2 CO2 + 3 NADH/H+ + FADH2 + GTP + CoA–SH
Die PDH wird durch Acetyl-CoA und NADH
Damit dient der Zyklus formal der vollständigen Dehydrierung gehemmt und durch Pyruvat aktiviert
von Acetat zu CO2 und Wasserstoff. Der Acetatabbau erfolgt Das mitochondriale Acetyl-CoA für den Citratzyklus wird vor
durch Bindung an das Trägermolekül Oxalacetat (s. auch Harn- allem durch Fettsäureoxidation oder dehydrierende Decarboxy-
stoffbiosynthese, 7 Kap. 27.1.2). . Tab. 18.2 gibt die energetische lierung von Pyruvat bereitgestellt. Während die Geschwindigkeit
Ausbeute der Acetatdehydrierung im Citratzyklus bei Kopplung des ersteren Vorgangs im Wesentlichen durch das mitochondri-
an die oxidative Phosphorylierung wieder. ale Fettsäureangebot bestimmt wird, wird die Geschwindigkeit
Erst die enge Verbindung des Zyklus mit der oxidativen der Pyruvatoxidation zu Acetyl-CoA komplex reguliert. Dabei
Phosphorylierung ermöglicht die hohe Energieausbeute im Ci- ist vor allem die interkonvertierbare und zugleich allosterisch
tratzyklus. Ohne diese Kopplung könnte nur durch die Substrat- regulierbare Pyruvatdehydrogenase von besonderer Bedeutung
kettenphosphorylierung Energie konserviert werden. (7 Kap. 8).
Die aktive dephosphorylierte Form des Enzyms wird durch
Acetyl-CoA und NADH gehemmt (. Abb. 18.6). Andere Effekto-
Zusammenfassung ren beeinflussen das Gleichgewicht zwischen aktiver dephospho-
Der Citratzyklus dient dem oxidativen Abbau von Acetyl- rylierter und inaktiver phosphorylierter Form des Enzyms. Eine
CoA. Neben der β-Oxidation der Fettsäuren liefert v. a. die de- Aktivierung wird durch Hemmung der Kinase bei erhöhter Kon-
hydrierende Decarboxylierung von Pyruvat Acetyl-CoA. Der zentration von Pyruvat, ADP und Pyrophosphat erreicht. Umge-
hierfür verantwortliche Multienzymkomplex der Pyruvatde- kehrt führt eine gesteigerte Fettsäureoxidation (Hunger, Nah-
hydrogenase ist intramitrochondrial lokalisiert und benötigt rungskarenz, Diabetes) über die Erhöhung des Acetyl-CoA-Spie-
die Vitamine Thiamin, Pantothensäure, Riboflavin und Nico- gels und indirekt über die vermehrte Umwandlung von ADP in
tinamid sowie das Lipoat in Form ihrer jeweiligen Coenzyme. ATP zu einer weitgehenden Abschaltung des Enzyms (. Tab.
Die Reaktionssequenz des Citratzyklus umfasst folgende 18.3). So werden die Glucosevorräte geschont, da Pyruvat nicht
Schritte: mehr in Acetyl-CoA umgewandelt werden kann. Dagegen signa-
4 Acetyl-CoA wird unter Abspaltung von CoA-SH auf lisiert ein Anstieg der Ca2+-Ionenkonzentration in der Regel
Oxalacetat übertragen, wobei Citrat entsteht. einen erhöhten Energiebedarf und führt über die Aktivierung
4 Citrat wird nach Umlagerung zu Isocitrat zweimal der Phosphatase zur Aktivierung der PDH.
oxidiert und decarboxyliert, wobei schließlich aus
6
232 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O

4 Aktivierung durch ADP. ADP signalisiert Energiemangel.


Entsprechend aktiviert ADP die Isocitratdehydrogenase
und die Pyruvatdehydrogenase.
4 Aktivierung durch Calcium. Calcium ist ein Aktivator
vieler zellulärer Funktionen (7 Kap. 33.4.2) und erhöht so
den Energiebedarf. Deshalb ist es sinnvoll, dass Calcium die
Pyruvatdehydrogenasephosphatase (7 Kap. 18.2), die Isocit-
ratdehydrogenase und die α-Ketoglutaratdehydrogenase zur
vermehrten Energiebereitstellung aktiviert.
4 Regulation durch Zwischenprodukte. Die α-Ketoglutarat-
dehydrogenase wird durch Succinyl-CoA, die Succinat-
dehydrogenase durch Oxalacetat gehemmt. Succinat führt
dagegen zu einer Aktivierung der Succinatdehydrogenase.

Eine Reihe von Stoffwechselgiften hemmt Enzyme des Citrat-


. Abb. 18.6 Regulation der Pyruvatdehydrogenase durch Interkonver- zyklus. So blockieren Fluoracetat bzw. Fluorcitrat die Aconitase,
tierung. (Einzelheiten s. Text) Malonat die Succinatdehydrogenase und Fluoroxalacetat bzw.
Fluormalat die Malatdehydrogenase.

. Tab. 18.3 Aktivatoren und Inhibitoren einzelner Enzyme des


Zusammenfassung
Citratzyklus in tierischen Zellen
Die Geschwindigkeit der Acetyl-CoA-Oxidation im Citrat-
Enzymatischer Schritt Aktivierung Hemmung zyklus ist eng mit dem zellulären Energiehaushalt verknüpft:
4 NADH und ATP hemmen den Citratzyklus.
Citratsynthase – ATP, NADH, Citrat
4 ADP und Calcium sind Aktivatoren des Citratzyklus.
NAD-Isocitratdehydro- ADP, Mg2+, Ca2+ ATP, NADH 4 Die Pyruvatdehydrogenase als wichtigstes Acetyl-CoA
genase
lieferndes Enzym wird zusätzlich durch reversible Phos-
Succinatdehydrogenase Succinat Oxalacetat phorylierung/Dephosphorylierung reguliert.
Pyruvatdehydrogenase Pyruvat, ADP, Mg2+ Acetyl-CoA, ATP,
NADH

18.4 Anabole Reaktionen im Citratzyklus

Der zelluläre Energiebedarf ist der wichtigste Der Citratzyklus ist nicht nur die Endstrecke des oxidativen Ab-
Regulator des Citratzyklus baus der Substrate. Vielmehr ist er neben dieser »katabolen«
Die Geschwindigkeit der Acetyl-CoA-Oxidation im Citratzyklus Funktion auch Ausgangspunkt einer Vielzahl biosynthetischer
passt sich sehr genau dem zellulären Energiebedarf an. Im Ein- »anaboler« Reaktionswege. In . Abb. 18.7 sind die Beziehungen
zelnen spielen dabei folgende Faktoren eine wichtige Rolle: des Citratzyklus zu anderen Stoffwechselwegen dargestellt. Da
4 Kinetische Kontrolle der Citratsynthase. Die Konzentra- die meisten Biosynthesen im Cytosol und nicht in der mitochon-
tionen von Acetyl-CoA und Oxalacetat liegen in der Regel drialen Matrix ablaufen, müssen Zwischenprodukte aus den Mi-
deutlich unterhalb der Substratsättigung, sodass die Citrat- tochondrien heraustransportiert werden. Wenn nicht alle Inter-
18 synthase weit unter ihrer VMAX arbeitet. Daraus folgt un- mediate mit ausreichender Geschwindigkeit transportiert wer-
mittelbar, dass die Geschwindigkeit, mit der das Substrat den, können die Teilabschnitte des Citratzyklus vom Citrat zum
Acetyl-CoA angeliefert wird, den metabolischen Fluss α-Ketoglutarat und vom Fumarat zum Oxalacetat auch von cy-
durch den Citratzyklus direkt bestimmt. tosolischen Isoenzymen katalysiert werden.
4 Hemmung durch NADH. Ein Anstieg der NADH-Konzen- Besondere Bedeutung als anabole Reaktionssequenz hat der
tration zeigt an, dass die Atmungskette (7 Kap. 19.1.2) das Citratzyklus für:
gebildete NADH zu langsam reoxidiert. Dies signalisiert in 4 die Fettsäurebiosynthese
der Regel einen generellen Überschuss an energiereichen 4 die Häm-Biosynthese
Verbindungen. Deshalb drosselt NADH die Geschwindig- 4 die Gluconeogenese
keit des Citratzyklus, indem es die Citratsynthase, die Iso- 4 die Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren
citratdehydrogenase, die α-Ketoglutaratdehydrogenase und
die Pyruvatdehydrogenase hemmt. Fettsäurebiosynthese Von besonderer Bedeutung für die im
4 Hemmung durch ATP. Ähnlich wie NADH signalisiert ATP Cytosol stattfindende Fettsäurebiosynthese (7 Kap. 21.2.3) ist das
ein hohes Angebot energiereicher Verbindungen. Konse- Acetyl-CoA, das nicht über die innere Mitochondrienmembran
quenterweise werden Citratsynthase, Isocitratdehydrogena- heraustransportiert werden kann. Um Acetyl-CoA im Cytosol
se und Pyruvatdehydrogenase durch ATP gehemmt. bereitzustellen, muss es daher zunächst auf Oxalacetat übertra-
18.4 · Anabole Reaktion im Citratzyklus
233 18

. Abb. 18.7 Beziehungen des Citratzyklus zu anderen Stoffwechselwegen. Rot biosynthetische (»anabole«) Reaktionen; grün abbauende (»katabole«)
Reaktionen

gen werden. Das mitochondriale Citrat gelangt dann mit Hilfe Succinyl-CoA + Glycin → δ-Aminolävulinat + CoA-SH
eines spezifischen Transporters (7 Kap. 19.1.1) in das Cytosol, wo
es die ATP-Citratlyase nach der Reaktion entsteht δ-Aminolävulinat, von dem die weitere Häm-Synthese
ausgeht.
Citrat + CoA-SH + ATP
Oxalacetat + Acetyl-CoA + ADP + Pi Gluconeogenese Für die Gluconeogenese aus glucogenen Ami-
nosäuren (7 Kap. 26.4.2) bzw. aus Lactat/Pyruvat ist, wie in
spaltet. Da dieses Enzym cytosolisches Acetyl-CoA liefert, 7 Kap. 26.3 und 18.2 beschrieben, ihre Umwandlung in Oxalacetat
kommt ihm eine Schlüsselrolle bei der Fettsäurebiosynthese zu. erforderlich. Die erste für die Gluconeogenese spezifische Reak-
Tatsächlich findet es sich in hoher Aktivität in Geweben mit tion wird durch die Phosphoenolpyruvatcarboxykinase katalysiert:
großer Kapazität zur Fettsäurebiosynthese, z. B. in der Leber oder
dem Fettgewebe. Gewebe mit geringer Fettsäurebiosynthese, Oxalacetat + GTP Phosphoenolpyruvat + GDP + CO2
z. B. die Muskulatur, haben dagegen kaum ATP-Citratlyase.
Die extramitochondriale NADP+-Isocitratdehydrogenase Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren Die Biosynthese der
dient der Erzeugung cytosolischen α-Ketoglutarats mit seinen nicht-essentiellen Aminosäuren startet von Pyruvat bzw. den bei-
vielfältigen Beziehungen zum Stoffwechsel der Aminosäuren den α-Ketosäuren Oxalacetat und α-Ketoglutarat (7 Kap. 27.2).
(7 Kap. 26.4.2). Gleichzeitig wird NADPH/H+ als Reduktions-
äquivalent für cytosolische Biosynthesen, v. a. der Fettsäurebio- Anaplerotische Reaktionen Die Konzentrationen der verschiede-
synthese bereitgestellt. nen Zwischenprodukte des Citratzyklus sind mit 10–5–10–4 mol/l
relativ gering. Da sie alle mit Ausnahme von Acetyl-CoA eine ka-
Häm-Biosynthese Succinyl-CoA ist der Startpunkt für die Häm- talytische Funktion haben, d. h. im Zyklus regeneriert werden, ist
Biosynthese (7 Kap. 32.1.3). Durch Kondensation mit Glycin eine optimale Durchsatzgeschwindigkeit trotzdem gewährleistet.
nach der Reaktion Dies trifft allerdings nur zu, wenn der ständige Abfluss von Zwi-

Citratzyklus Phosphoenolpyruvat Pyruvat Alanin Serin Gycin Acetyl-CoA α-Ketosäuren Aminosäuren α-Ketogluterat
Succinyl-CoA Propionyl-CoA Aspartat Harnstoffstickstoff Tyrosin δ-Aminolävulinat Porphyrine Isoleucin
234 Kapitel 18 · Der Citratzyklus – Abbau von Acetyl-CoA zu CO2 und H2O

schenprodukten für Biosynthesen wieder ausgeglichen wird. Die gestört. Symptome sind chronische Müdigkeit und Reizbarkeit,
hierfür verantwortlichen Reaktionen werden nach Hans Leo Gedächtnisverlust, Schädigungen des peripheren Nervensys-
Kornberg als anaplerotische Reaktionen (griech. auffüllende tems, Verlust der Sensibilität und Muskelschwäche. Im Herz-
Reaktionen) bezeichnet. Neben den Transaminierungsreaktionen Kreislauf-System finden sich Tachykardie, Herzinsuffizienz und
v. a. von Alanin zu Pyruvat, Aspartat zu Oxalacetat und Glutamat Ödeme.
zu α-Ketoglutarat (7 Kap. 26.3.1) ist die wichtigste anaplerotische Während die Beri-Beri-Erkrankung in Südostasien immer
Reaktion die Carboxylierung von Pyruvat zu Oxalacetat nach noch vorkommt, ist sie in den industrialisierten Staaten bei nor-
maler Ernährung sehr selten. Bei der chronischen Alkoholer-
Pyruvat + CO2 + ATP + H2O Oxalacetat + ADP + Pi
krankung ist dies allerdings anders. Hier lässt sich bei 25 % der
Das entsprechende biotinhaltige Enzym, die Pyruvatcarboxyla- Erkrankten ein Thiaminmangel feststellen, der in schweren Fäl-
se, ist in der Leber besonders aktiv. Es wird bereits durch sehr len zu einem Krankheitsbild führt, das als Wernicke-Korsakoff-
geringe Konzentrationen Acetyl-CoA aktiviert, sodass ausrei- Syndrom bezeichnet wird. Neben Lähmungen der Augen-,
chend Oxalacetat für die Citratbildung zur Verfügung steht. Rumpf- und Beinmuskulatur ist es durch psychische Störungen
Anaplerotisch wirken kann ferner das cytosolische Malatenzym, mit Halluzinationen und Erregungszuständen gekennzeichnet.
das die Malatbildung aus Pyruvat nach Die primär biliäre Leberzirrhose ist eine relativ seltene Form
der Leberzirrhose. Die Erkrankung ist durch eine schwere Cho-
Pyruvat + CO2 + NADPH + H+ Malat + NADP+
lestase (7 Kap. 62.6.1) gekennzeichnet. Die fehlende Ausschei-
katalysiert. Malat kann dann in die Mitochondrien transportiert dung von Gallensäuren in den Intestinaltrakt löst dort wegen der
werden. Die eigentliche Bedeutung des Enzyms liegt jedoch gestörten Micellenbildung (7 Kap. 61.1.2) eine Hemmung der
wahrscheinlich eher in der Rückreaktion, die der Bildung von Resorption von Lipiden und fettlöslichen Vitaminen aus. In den
cytosolischem NADPH/H+ dient. Hepatocyten häufen sich dagegen die nicht ausgeschiedenen
Gallenbestandteile an, was wohl ursächlich für die Entstehung
der Zirrhose ist. Außerdem findet sich häufig ein Ikterus. Man
Zusammenfassung findet bei den betroffenen Patienten regelmäßig Autoantikörper,
Mehrere Zwischenprodukte des Citratzyklus liefern Bau- die gegen die Lipoattransacetylase-Untereinheit des Pyruvatde-
steine für hydrogenase-Komplexes gerichtet sind. Es gibt allerdings zurzeit
4 Fettsäurebiosynthese noch keine Vorstellungen darüber, wie diese Autoimmunreak-
4 Häm-Biosynthese tion mit der Entwicklung der biliären Zirrhose in Zusammen-
4 Gluconeogenese hang zu bringen ist.
4 Biosynthese nicht-essentieller Aminosäuren

Diese Biosynthesen führen zum Verlust wichtiger Zwischen- 18.5.2 Seltene genetische Defekte
produkte des Citratzyklus. Durch die sog. anaplerotischen einzelner Enzyme des Citratzyklus
Reaktionen wird dieser Abfluss kompensiert. Neben der Bil-
dung von Oxalacetat und α-Ketoglutarat aus Aminosäuren Als seltene Erkrankungen sind genetische Defekte der Pyruvat-
ist die wichtigste anaplerotische Reaktion die Bildung von dehydrogenase und einzelner Enzyme des Citratzyklus, v. a. der
Oxalacetat durch Carboxylierung von Pyruvat. α-Ketoglutaratdehydrogenase, Succinatdehydrogenase und Fu-
marase beschrieben worden. Die Krankheiten gehen meist mit
dem Symptombild einer schweren Encephalopathie einher und
beginnen vor dem ersten Lebensjahr. Eine Behandlungsmöglich-
18.5 Pathobiochemie keit ist nicht bekannt.
18
18.5.1 Aktivitätsminderung
der Pyruvatdehydrogenase Zusammenfassung
Zu den erworbenen Erkrankungen des Citratzyklus gehört
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Ursache einer in Süd- v. a. der Thiaminmangel (Beri-Beri-Erkrankung), der zu einer
ostasien bekannten und als Beri-Beri bezeichneten Krankheit Aktivitätsminderung der Pyruvatdehydrogenase führt.
gefunden. Es handelt sich hierbei um einen Thiaminmangel, der In industrialisierten Ländern kommt er praktisch nur bei
besonders in Südostasien durch die Verwendung von thiaminar- Alkoholkranken vor.
mem, poliertem Reis als Grundnahrungsmittel ausgelöst wird Eine Autoimmunreaktion gegen die Lipoattransacetylase-
(7 Kap. 59.2). Die Beri-Beri-Erkrankung betrifft v. a. das Nerven- Untereinheit des Pyruvatdehydrogenase-Komplexes ist an
system, daneben aber auch Herz und Kreislaufsystem. Da ein der Entwicklung der primär biliären Leberzirrhose beteiligt.
intakter aerober Glucosestoffwechsel eine Voraussetzung für das Seltene genetische Defekte einzelner Enzyme des Citrat-
Funktionieren des Nervensystems ist, beschädigt ein Thiamin- zyklus gehen mit einer schweren Encephalopathie einher.
mangel dieses Gewebe besonders stark. Durch die verminderte
Aktivität der thiaminabhängigen Pyruvatdehydrogenase wird
der Energiestoffwechsel des Zentralnervensystems empfindlich 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
235 19

19 Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung


Ulrich Brandt

Einleitung wies nach, dass Tiere Luftsauerstoff aufnehmen und Kohlen-


dioxid und Wasser abgeben. Otto Warburg leitete aus der Hem-
Alle bekannten Lebensformen müssen aus ihrer Umgebung ständig mung der Zellatmung durch Cyanid die Aktivierung des Sauer-
Energie aufnehmen, um ihre hoch geordneten, komplexen Strukturen stoffs durch ein eisenhaltiges »Atmungsferment« ab und erkann-
aufrecht zu erhalten und die unterschiedlichen biologischen Aktivitäten te damit als Erster, dass es sich bei der »Verbrennung« der Nah-
zu entfalten. Außer bei photosynthetischen Organismen sind es letztlich rung um einen enzymatischen Prozess handelt. David Keilin
immer exergone Redoxreaktionen, welche die beiden zellulären »Ener- entdeckte die Cytochrome als Träger dieses katalytisch aktiven
giewährungen«, die reduzierten wasserstoffübertragenden Coenzyme Eisens, denen Helmut Beinert später die Eisen-Schwefel-Prote-
und das ATP, bereitstellen. Durch Oxidation der Nahrungsstoffe werden ine an die Seite stellte. Heinrich Wieland zeigte, dass den Nähr-
Elektronen freigesetzt, die direkt als Reduktionsäquivalente für Biosyn- substraten durch spezifische Dehydrogenasen zunächst Wasser-
thesen oder als Energiequelle genutzt werden können. Zur oxidativen stoff entzogen wird. Es war wiederum Warburg, der nachwies,
Bildung von ATP werden die Elektronen auf ein niedermolekulares Oxi- dass das von Karl Lohmann entdeckte ATP durch die Oxidation
dationsmittel übertragen. Dieser terminale Elektronenakzeptor ist bei von Glycolyseprodukten gebildet werden kann. Damit war das
aeroben Zellen molekularer Sauerstoff. Der Elektronenfluss zum Sauer- grundlegende Prinzip der oxidativen Phosphorylierung (»OX-
stoff erfolgt dabei in der Atmungskette kaskadenartig über hintereinan- PHOS«) formuliert, welche besonders durch grundlegende Ar-
dergeschaltete Redox-Carrier-Proteine der mitochondrialen Innenmem- beiten von Albert L. Lehninger und David Green bald den Mito-
bran. Dabei wird ein elektrochemischer Protonengradient über der Mem- chondrien zugeordnet wurde. Lange Zeit blieb jedoch unklar, wie
bran aufgebaut. Dieser liefert die Energie für die Synthese von ATP aus zwei so unterschiedliche Prozesse wie die Oxidation des Subs-
ADP und anorganischem Phosphat. tratwasserstoffs und die Kondensation von ADP und anorgani-
Neben der besonders hohen Energieausbeute seiner Reduktion bildet schem Phosphat energetisch aneinander gekoppelt sind. Erst vor
die universelle Verfügbarkeit und quasi unerschöpfliche Regenerierbar- etwa 40 Jahren setzte sich die chemiosmotische Hypothese von
keit des Sauerstoffs, die auf der wasserspaltenden Photosynthese der Peter Mitchell durch, welche die Kopplung der ATP-Synthese an
Pflanzen beruht, die Grundlage des großen evolutionären Erfolges aero- den Elektronentransport durch einen elektrochemischen Proto-
ber Zellen. nengradienten über die innere Mitochondrienmembran be-
In Eukaryonten haben sich die Mitochondrien auf die Oxidation von schreibt.
Nahrungsstoffen und die sauerstoffabhängige Energiekonservierung
spezialisiert. Sie stammen wahrscheinlich von aeroben, heterotrophen
Prokaryonten ab. 19.1.1 Enzymkomplexe der Atmungskette
Schwerpunkte Die Endstrecken des katabolen Stoffwechsels von
Nahrungsstoffen liefern an Coenzyme gebundenen
4 Carrier-Systeme für den Stoffaustausch zwischen Intermem-
Wasserstoff
branraum und mitochondrialer Matrix
Wie schon besprochen, werden die Nährstoffe im katabolen
4 Zusammensetzung und Anordnung der Komponenten des
Stoffwechsel letztlich zu Kohlendioxid oxidiert. Diese reagieren
Elektronen- und Protonentransports der Atmungskette
jedoch nicht direkt mit molekularem Sauerstoff. Vielmehr wird
4 Mechanismus der ATP-Synthese durch die F1/Fo-ATP-Synthase
ihnen schrittweise Wasserstoff entzogen, bis die Kohlenstoffato-
4 Regulation der oxidativen Phosphorylierung
me schließlich über die Zwischenstufe einer Carboxylgruppe als
4 Defekte der mitochondrialen DNA
CO2 frei werden. Der Sauerstoff der Carboxylgruppe stammt
dabei entweder aus der ursprünglichen Verbindung, z. B. dem
Kohlenhydrat, oder aus der Wasseranlagerung an eine vorher
durch Dehydrierung gebildete Doppelbindung. Nach diesem
19.1 Die mitochondriale Energietransformation grundlegenden Schema verlaufen insbesondere die Reaktionen
der Pyruvatdehydrogenase, des Citratzyklus und der β-Oxidation
Der mitochondriale Energiestoffwechsel ist Hauptlieferant der (7 Kap. 18 und 21.2.1).
universellen »Energiewährung« ATP. Die grundlegende Er- Da Wasserstoff sehr klein und flüchtig ist, wird er als sog.
kenntnis, dass die Energieversorgung der Zellen auf einer Art Reduktionsäquivalent in Form von NADH und FADH2 zwischen-
»kalter Verbrennung« der Nahrung beruht, geht bis in das gespeichert. Dies ist sehr effizient, denn das für den Energie-
18. Jahrhundert auf Antoine Laurent de Lavoisier zurück. Dieser gehalt entscheidende Redoxpotential dieser beiden Coenzyme ist

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
236 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

ausbilden kann, unbedingte Voraussetzung für die oxidative


Phosphorylierung.

Die mitochondrialen Membranen bilden


funktionelle Kompartimente
Aufbau und Organisation der Mitochondrien (7 Kap. 12.1.7) sind
in hervorragender Weise an ihre Aufgaben angepasst: Wahr-
scheinlich als Relikt ihres evolutionären Ursprungs als eigenstän-
dige Organismen sind die Mitochondrien von zwei Membranen
umgeben, die mehrere Kompartimente definieren:
4 Im Inneren der Mitochondrien, der mitochondrialen
Matrix, findet v. a. die Endoxidation der Nahrungsmeta-
bolite statt.
4 Für den Elektronentransport und die ATP-Synthese sind En-
zyme zuständig, die in die vielfach zur Cristae gefaltete inne-
re Mitochondrienmembran integriert sind (. Abb. 19.1).
4 Die äußere Mitochondrienmembran markiert die Grenze
zum Cytoplasma.
. Abb. 19.1 Übersicht über die oxidative Phosphorylierung. Elektronen
aus NADH werden von Komplex I auf Ubichinon (Q) übertragen. Komplex III 4 Der Intermembranraum zwischen den beiden Membranen
transportiert sie zum Cytochrom c (C), von wo sie über Komplex IV zum beherbergt zwei Proteine, die wichtig für die oxidative
Sauerstoff gelangen und diesen unter Wasserbildung reduzieren. Der Elek- Phosphorylierung sind: Cytochrom c, ein wasserlöslicher
tronentransport über die Komplexe I, III und IV ist an die Translokation von Elektronenüberträger, und die Adenylatkinase (»Myokina-
Protonen aus dem Matrixraum in den Intermembranraum gekoppelt. Die
se«), die über die Reaktion
F1/FO-ATP-Synthase nutzt den Protonengradienten zur Synthese von ATP
aus ADP und Pi. Komplex II ist nicht dargestellt, da er keine Protonen
pumpt. IMM: Innere Mitochondrienmembran AMP + ATP 2 ADP

im anabolen Stoffwechsel entstandenes AMP der oxidativen


kaum positiver als das des Wasserstoffs. Die Umsetzung des Phosphorylierung zuführt.
gebundenen Wasserstoffs mit molekularem Sauerstoff in der
Atmungskette entspricht damit formal annähernd der Knallgas- Spezifische Transportsysteme sind für den
reaktion: Stoffaustausch zwischen dem Intermembranraum
und der mitochondrialen Matrix verantwortlich
H2 + ½ O2 → H2O ΔG0’ = –235 kJ/mol Zur Endoxidation müssen Substrate wie Pyruvat und Fettsäuren
aus dem Cytoplasma über zwei Membranen in die mitochondri-
Während NADH ein reversibel an das jeweilige Enzym binden- ale Matrix transportiert werden. Da die ATP-Synthese an der
des Cosubstrat ist, liegt FADH2 immer als fest gebundene pros- Innenseite der inneren Mitochondrienmembran stattfindet, gilt
thetische Gruppe vor. Dies hat grundsätzliche Folgen für Trans- dies auch für ADP und Pi. Das gebildete ATP muss dann zurück
port und Verwertung der Reduktionsäquivalente bei der oxida- in das Cytoplasma transportiert werden.
tiven Phosphorylierung.

Die in den Reduktionsäquivalenten gespeicherte Übrigens


Energie wird zur Erzeugung einer Phosphorsäure- Protonen, Puffer, Potentiale
anhydridbindung im ATP benutzt Eine Besonderheit der oxidativen Phosphorylierung (»OX-
19 ATP entsteht in einer stark endergonen Reaktion durch Konden-
sation von ADP und anorganischem Phosphat. Die gebildete
PHOS«) besteht darin, dass die Energie aus der Oxidation der
Reduktionsäquivalente als Protonengradient zwischenge-
»energiereiche« Phosphorsäureanhydridbindung besitzt ein sehr speichert wird, der dann für Transportvorgänge und v. a. die
hohes Gruppenübertragungspotential. Die Energie der Reduk- ATP-Synthese genutzt wird. Wie z. B. beim Aufbau neurona-
tionsäquivalente muss also im Verlauf der oxidativen Phospho- ler Aktionspotentiale ist dabei zunächst das über die Mem-
rylierung in eine chemisch völlig andere Energieform umgewan- bran aufgebaute elektrische Potential entscheidend. Aller-
delt werden. Die Mitochondrien lösen dieses Problem, indem sie dings gibt es einen wesentlichen Unterschied, der sich aus
die Redoxenergie in Form eines elektrochemischen Protonen- dem besonderen Verhalten von Protonen in wässriger Lö-
gradienten über ihre innere Membran zwischenspeichern sung ergibt: Im Gegensatz zu Na+ oder K+ ist die freie Kon-
(. Abb. 19.1). Dieser Gradient wird durch die Atmungsketten- zentration von Protonen extrem gering; bei einem pH-Wert
komplexe gebildet, welche die Elektronen der Reduktionsäqui- von 7,0 ist die H+-Konzentration definitionsgemäß
valente schrittweise bis auf den Sauerstoff übertragen, und dann 0,1 µmol/l. Wenn Protonen über die innere Mitochon-
zur ATP-Synthese genutzt. Deshalb ist eine sehr dichte Mem- 6
bran, über die sich ein ausreichend stabiler Protonengradient
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
237 19

drienmembran gepumpt werden, ändert sich deshalb ihr Δp hat die Dimension einer Spannungsdifferenz, die bei
Konzentrationsverhältnis auf beiden Seiten signifikant, so- aktiver oxidativer Phosphorylierung in Mitochondrien
dass auch ihr osmotischer Gradient berücksichtigt werden 180–200 mV beträgt.
muss. Man spricht deshalb von einem chemiosmotischen Wegen der sehr niedrigen Konzentration freier Protonen
Potential ΔµH aus einer elektrischen Komponente Δ (dem sollte man erwarten, dass der Konzentrationsgradient den
Ladungsgradienten) und einer osmotischen Komponen- größten Teil der protonenmotorischen Kraft ausmacht. Tat-
te ΔpH (dem Konzentrationsgradienten): sächlich ist der Beitrag des osmotischen Terms in Mitochon-
drien nur 10–20 %. Dies liegt an einer weiteren Besonderheit
ΔμH = F·ΔΨ – 2,3 ∙ RT ∙ΔpH von Protonen: Sowohl die mitochondriale Matrix als auch
der Intermembranraum (Raum zwischen innerer und äuße-
F ist die Faraday-Konstante, der Faktor –2,3 ergibt sich aus rer Mitochondrienmembran) enthalten eine hohe Konzen-
pH = –log [H+]. ΔµH hat die Dimension einer Energiediffe- tration biologischer Puffer, v. a. in Form von Phosphat, orga-
renz (kJ/mol) und kann analog zur »elektronenmotorischen nischen Säuren und Proteinen. Durch diese Puffer werden
Kraft« eines galvanischen Elements in eine »protonenmoto- die gepumpten Protonen innen ständig »nachgeliefert« und
rische Kraft« Δp umgerechnet werden: außen »weggebunden«. Damit ändert sich der pH-Wert
kaum und der Konzentrationsgradient wird größtenteils in
Δp = ΔμH/F einen reinen Ladungsgradienten umgewandelt. Diese freie
Umwandelbarkeit von ΔpH in ΔΨ und umgekehrt wurde ex-
6 perimentell nachgewiesen und ist ein wesentliches Prinzip
der oxidativen Phosphorylierung.

. Tab. 19.1 Auswahl mitochondrialer Transportproteine (Nach Krämer u. Palmieri 1992)

Transportprotein Wichtiges Substrat Transport- Stoffwechselbedeutung Hauptsächliches


mechanismus Vorkommen

Elektrogene Carrier

Adeninnucleotid-Carrier ADP3–/ATP4– Antiport Energietransfer Ubiquitär

Aspartat/Glutamat-Carrier Asp/Glu Antiport Malat/Aspartat-Zyklus


Gluconeogenese, Harnstoffsynthese

Thermogenin H+ Uniport Thermogenese Braunes Fettgewebe

Elektroneutrale, protonenkompensierte Carrier

Phosphat-Carrier Phosphat/H+ Symport Phosphattransfer Ubiquitär


+,
Pyruvat-Carrier Pyruvat/H Symport Citratzyklus, Gluconeogenese Ubiquitär
Ketonkörper/H+

Glutamat-Carrier Glutamat/H+ Symport Harnstoffsynthese Leber

Carrier für verzweigtkettige Verzweigtkettige Symport Abbau verzweigtkettiger Skelettmuskel,


Aminosäuren Aminosäuren/H+ Aminosäuren Herzmuskel

Elektroneutrale Austausch-Carrier

Ketoglutarat/Malat-Carrier Ketoglutarat/Malat, Antiport Malat/Aspartat-Zyklus, Ubiquitär


Succinat Gluconeogenese

Dicarboxylat/Phosphat-Carrier Malat, Succinat/Phosphat Antiport Gluconeogenese, Harnstoffsynthese Leber

Citrat/Malat-Carrier Citrat/Isocitrat, Malat, Succi- Antiport Lipogenese, Gluconeogenese Leber


nat, Phosphoenolpyruvat

Glycerin-3-Phosphat/Dihydro- Glycerin-3-Phosphat/ Antiport Glycerin-3-Phosphat-Zyklus Ubiquitär


xyacetonphosphat-Carrier Dihydroxyaceton-
phosphat

Ornithin-Carrier Ornithin, Citrullin Antiport Harnstoffsynthese Leber

Neutrale Carrier

Carnitin-Carrier Carnitin/Acylcarnitin Antiport Fettsäureoxidation Ubiquitär

Glutamin-Carrier Glutamin Uniport Glutaminabbau Leber, Niere


238 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

. Abb. 19.2 Mechanismus des Adeninnucleotid-Carriers. Die Abbildung


stellt einen Katalysezyklus des Carriers dar, bei dem ein ADP in den Matrix-
raum und anschließend ein ATP in den Intermembranraum transportiert
wird. Der Adeninnucleotid-Carrier enthält eine Bindungsstelle für Adenin-
nucleotide, die normalerweise entweder mit ATP oder mit ADP beladen . Abb. 19.3 Malat/Aspartat-Shuttle zum Transport von Reduktionsäqui-
werden kann. Wegen des Ladungsgradienten (positiv außen) über der in- valenten über die innere Mitochondrienmembran. Der Transport vom
neren Mitochondrienmembran erfolgt der Transport von ATP4– von innen Cytosol in die Mitochondrien ist rot hervorgehoben. Da es sich um reversi-
nach außen etwa 30-mal schneller als der von ADP3–, welches im Gegenzug ble Reaktionen handelt, kann der Transport auch in umgekehrter Reihenfol-
schneller in die andere Richtung transportiert wird. IMR: Intermembran- ge erfolgen. IMM: Innere Mitochondrienmembran; AST: Aspartat-Amino-
raum; MA: Matrixraum transferase; MDH: Malatdehydrogenase; M-K-Carrier: Malat/Ketoglutarat-
Carrier; A-G-Carrier: Aspartat/Glutamat-Carrier. (Einzelheiten s. Text)

Die äußere Mitochondrienmembran ist mit Porin besetzt, ei- eines Protons gekoppelt sein kann. Entsprechend werden die mi-
nem Protein, das sie für kleine Moleküle (<4.000–5.000 Da) frei tochondrialen Transportproteine in vier Klassen eingeteilt
durchlässig macht. Dagegen erfordert es die chemiosmotische (. Tab. 19.1):
Kopplung, dass die innere Mitochondrienmembran selbst für 4 Bei einem elektrogenen Carrier wird mit den Substraten
Protonen weitgehend undurchlässig sein muss. Tatsächlich kön- eine Ladung über die Membran transportiert. Dies geht im
nen diese Membran grundsätzlich nur kleine, ungeladene Mole- Sinne eines sekundär aktiven Transports zu Lasten des
küle wie CO2, O2 und Wasser ungehindert passieren. Es folgt, mitochondrialen Protonengradienten und muss daher bei
dass es spezielle Systeme geben muss, die einen selektiven Trans- der Bilanz der oxidativen Phosphorylierung berücksichtigt
port von Metaboliten über die innere Mitochondrienmembran werden (s. u.). Mit mehr als 10 % des Proteins der inneren
ermöglichen, ohne gleichzeitig ein »Leck« für Protonen zu erzeu- Mitochondrienmembran ist der Adeninnucleotid-Carrier
gen. Im Einzelnen unterscheidet man: der wichtigste Vertreter dieser Gruppe (. Abb. 19.2).
4 mitochondriale Carrier für Anionen Er katalysiert die Austauschreaktion der Adeninnucleotide
4 Transportsysteme für Redoxäquivalente und über die innere Mitochondrienmembran. Durch ATP-
4 Kationentransporter verbrauchende Prozesse im Cytoplasma entstandenes ADP
wird im Austausch gegen ATP in die mitochondriale
19 Mitochondriale Carrier für Anionen Um den notwendigen Stoff-
austausch zwischen mitochondrialer Matrix und den übrigen
Matrix transportiert wobei netto eine negative Ladung
mehr nach außen gelangt. Atractylosid, das Gift der
zellulären Kompartimenten zu gewährleisten, enthält die innere Distel Atractylis gummifera hemmt den Adeninnucleotid-
Mitochondrienmembran eine große Zahl von Transportprotei- Carrier, indem es ihn in einer bestimmten Konformation
nen, die alle zur selben Proteinfamilie gehören und als mito- festhält.
chondriale Carrier bezeichnet werden. Der in . Abb. 19.2 für den 4 Beispiel für einen elektroneutralen, protonenkompen-
Adeninnucleotid-Carrier gezeigte generelle Mechanismus gilt sierten Carrier ist der Phosphat-Carrier. Im Symport mit ei-
wahrscheinlich für alle Vertreter dieser Familie. Im Genom der nem Proton bringt er ein Phosphatanion (H2PO4– in den
Hefe Saccharomyces cerevisiae wurden 35 Gene für Proteine die- Matrixraum, wo es zur ATP-Synthese benötigt wird. Ein
ser Familie gefunden, von denen jedoch möglicherweise nicht weiterer wichtiger Vertreter ist der Pyruvat-Carrier, der in
alle funktionell exprimiert werden. 14 mitochondriale Carrier, der aeroben Glycolyse für den Substrattansport in die
deren Funktion bekannt ist, sind in . Tab. 19.1 zusammengestellt. Mitochondrien verantwortlich ist. Auch Carrier für Gluta-
Mitochondriale Carrier katalysieren meist im Symport oder An- mat und verzweigtkettige Aminosäuren gehören in diese
tiport den Transport von Anionen, der auch an die Übertragung Gruppe.

Oxalacetat α-Ketoglutarat Aspartat Glutamat


19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
239 19
4 Eine Reihe elektroneutraler Austausch-Carrier sind für und α-Ketoglutarat transaminiert werden. Nach Austausch mit
den Austausch von Di- und Tricarboxylaten zwischen Cyto- dem Cytoplasma über den Aspartat/Glutamat-Carrier vervoll-
plasma und mitochondrialer Matrix zuständig. Oft ist dies ständigt die Umkehrung des Transaminierungsschrittes den
für die Verknüpfung von Stoffwechselwegen über die Kom- Zyklus.
partimente hinweg bedeutsam. So dient beispielsweise der
Citrat/Malat-Carrier dem Transport von Acetylresten für Kationentransporter Die innere Mitochondrienmembran ent-
die Fettsäuresynthese aus der Matrix in das Cytoplasma. hält auch Systeme für den Transport von mono- und divalenten
4 Ein neutraler Carrier ist der Carnitin-Carrier, der Fettsäu- Kationen. Von besonderer Bedeutung ist die durch das Mem-
ren, gekoppelt an das zwitterionische Carnitin, für die branpotential getriebene Aufnahme von bis zu 3 mmol Calcium
β-Oxidation in die mitochondriale Matrix liefert pro mg Mitochondrienprotein. Funktionelle Untersuchungen
(7 Kap. 21.2.1). Vor allem in Mitochondrien der Leber und zeigen, dass der hierfür verantwortliche Transporter ein hoch-
der Nieren transportiert der ebenfalls neutrale Glutamin- selektives Kanalprotein mit sehr hoher Affinität für Ca2+ ist. Es
Carrier Glutamin für die Harnstoffsynthese in den Matrix- ist offenbar immer nur sehr kurzzeitig und begrenzt auf kleine
raum (7 Kap. 27.1.2). Bereiche der inneren Mitochondrienmembran geöffnet. Dies
führt zu einem kurzzeitigen lokalen Zusammenbruch der oxida-
Insgesamt sorgen die mitochondrialen Carrier für einen bedarfs- tiven Phosphorylierung. Hohe Calciumkonzentrationen im Cy-
gerechten Strom von Metaboliten, der ein reibungsloses Zusam- tosol aktivieren den Calciumkanal. Die resultierende Erhöhung
menspiel cytoplasmatischer und mitochondrialer Stoffwechsel- des mitochondrialen Calciums führt über die Aktivierung ver-
wege sicherstellt. In einigen Fällen, z. B. dem des Carnitin-Car- schiedener Dehydrogenasen zu einer Stimulierung des Energie-
riers oder des Citrat/Malat-Carriers, werden Moleküle gekoppelt stoffwechsels.
an eine Trägersubstanz transportiert, die dann nach ihrer »Ent-
ladung« in das ursprüngliche Kompartiment zurückkehrt. Sol-
che Transportzyklen können sich gleich mehrerer Carrier bzw. 19.1.2 Elektronen- und Protonentransport
Enzyme bedienen und werden dann auch als Substrat-Shuttle in der Atmungskette
bezeichnet.
Die Multiproteinkomplexe der Atmungskette
Transport von Reduktionsäquivalenten Das Zusammenspiel sind durch mobile Substrate verbunden
von zwei Carriern und vier Enzymen ermöglicht in vielen Wie in . Abb. 19.4 gezeigt, erfolgt der Elektronentransport über
Stoffwechselsituationen den Transport von Reduktionsäqui- mehrere große Proteinkomplexe, die oft mit römischen Ziffern
valenten zwischen Cytoplasma und Matrixraum. Für den Trans- bezeichnet werden (. Tab. 19.2). Die schrittweise Übertragung
port von cytoplasmatischem NADH/H+, z. B. aus der Glycolyse, der Elektronen der Reduktionsäquivalente auf den Sauerstoff er-
in die Matrix dient der Malat/Aspartat-Shuttle (. Abb. 19.3): laubt es den Komplexen I, III und IV, die freiwerdende Energie
Zunächst wird cytoplasmatisches Oxalacetat mit NADH/H+ zu nutzen, um Protonen über die innere Mitochondrienmem-
zu Malat reduziert. Nach Transport durch den α-Ketoglutarat/ bran zu pumpen. Obwohl die Aufklärung molekularer Struktu-
Malat-Carrier wird das Malat unter Bildung von NADH/H+ in ren mehrerer Atmungskettenkomplexe in den letzten Jahren
der Matrix zu Oxalacetat reoxidiert. Da kein Carrier für große Fortschritte im Verständnis der Mechanismen des redox-
Oxalacetat existiert, muss vor dem Rücktransport des Koh- getriebenen Protonentransports gebracht hat, ist das Wissen auf
lenstoffgerüsts zunächst Oxalacetat mit Glutamat zu Aspartat diesem Gebiet noch sehr lückenhaft.

. Tab. 19.2 Die Enzymkomplexe der mitochondrialen Atmungskette

Komplex Bezeichnung Molekulare Unter- Prosthetische Gruppen Ladungstransport


Masse (kDa) einheitena

I NADH:Ubichinon-Oxidoreduktase 940 45 (7) FMN 2 Ladungen/e–


8-Eisen-Schwefel-Zentren

II Succinat:Ubichinon-Oxidoreduktase 125 4 (0) FAD –


3 Eisen-Schwefel-Zentren
Häm b560

III Ubihydrochinon:Cytochrom-c- 240 11 (1) Häm bI./Häm bH 1 Ladung/e–


Oxidoreduktase Häm c1
1 Eisen-Schwefel-Zentrum

IV Cytochrom-c-Oxidase 205 13 (3) CuA-Zentrum, Häm a 2 Ladungen/e–


Häm a3/CuB (»binucleares
Zentrum«)
a Zahl der davon mitochondrial codierten Untereinheiten in Klammern.
240 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

. Abb. 19.4 Die fünf Komplexe der oxidativen Phosphorylierung. Der Elektronentransport über die vier Komplexe der Atmungskette erfolgt über die
mobilen Substrate Ubichinon (Q/QH2) und Cytochrom c. Pro oxidierten NADH/H+ werden 10 H+, pro oxidierten Succinat 6 H+ über die Membran gepumpt.
Die ATP-Synthase in Säugetiermitochondrien benötigt rechnerisch 2,7 H+ zur Synthese von einem ATP. Zusätzlich wird jeweils ein H+ für den Transport von
ADP, Pi und ATP verbraucht. (nicht gezeigt, Einzelheiten s. Text)

Die Elektronenübertragung zwischen den Komplexen über- die verschiedenen Eingangsrouten der Reduktionsäquivalente
nehmen zwei mobile Substrate, das Cytochrom c und das Ubichi- (s. u.) zu einer gemeinsamen Endstrecke. Da Ubichinon im stö-
non: chiometrischen Überschuss vorliegt, kann es als Redoxpuffer
4 Das Cytochrom c ist ein kleines basisches Protein, das ein zwischen den verschiedenen Dehydrogenasen dienen. Man
covalent gebundenes Häm-c-Zentrum (. Abb. 19.5) trägt. spricht auch von der Poolfunktion des Ubichinons.
Wie bei allen Cytochromen kann das zentrale Eisenatom
der Häm-Gruppe durch Redoxwechsel zwischen Fe3+ und Die Reduktion von Ubichinon erfolgt
Fe2+ein Elektron aufnehmen und wieder abgeben. Cyto- mit spezifischen Dehydrogenasen
chrom c ist lose mit der Außenseite der inneren Mitochon- Ubichinon kann von verschiedenen spezifischen Dehydrogena-
drienmembran assoziiert und überträgt Elektronen von sen reduziert werden:
Komplex III auf Komplex IV. 4 der NADH:Ubichinon-Oxidoreduktase
4 Das Ubichinon ist ein extrem hydrophobes Isoprenoid, des- 4 der Succinat:Ubichinon-Oxidoreduktase
sen Kopfgruppe durch Wechsel zwischen der oxidierten 4 der ETF (electron transferring flavoprotein): Ubichinon-Oxi-
Chinon- und der reduzierten Hydrochinonform zwei Elek- doreduktase
tronen aufnehmen und wieder abgeben kann (. Abb. 19.6). 4 der Glycerophosphat:Ubichinon-Oxidoreduktase
Die einfach reduzierte Form wird als Semichinon bezeich-
net. Anders als beim Cytochrom c werden bei vollständiger NADH:Ubichinon-Oxidoreduktase (Komplex I) Dieser mit Ab-
Reduktion des Ubichinons gleichzeitig zwei Protonen zur stand größte Enzymkomplex der Atmungskette oxidiert das v. a.
Ladungskompensation aufgenommen. Diese Kopplung ei- im Citratzyklus, in der β-Oxidation und durch die Pyruvatdehy-
ner Redoxreaktion an eine Protonenaufnahme bzw. -abgabe drogenase gebildete NADH/H+ und reduziert Ubichinon in der
stellt ein allgemeines Prinzip dar, das z. B. der Komplex III inneren Mitochondrienmembran. Die freiwerdende Redoxener-
19 für die Protonentranslokation nutzt (s. u.). gie wird zum Transport von vier Protonen aus der Matrix (M) in
den Intermembranraum (IMR) genutzt:
Anders als vielfach beschrieben wird tatsächlich, außer beim
Eintritt der Elektronen in die Kette, an keiner Stelle der mito- NADH + H+ + Ubichinon + 4 H+ (M)
chondrialen Atmungskette Wasserstoff übertragen. Vielmehr NAD+ + Ubihydrochinon + 4H+ (IMR)
folgen Protonen immer einer durch Aufnahme bzw. Abgabe von
Elektronen bedingten Ladungsänderung, was formal, aber nicht In Säugetiermitochondrien besteht der L-förmige Komplex aus
mechanistisch, einer Wasserstoffübertragung entspricht. Dieser 45 verschiedenen Proteinen, die eine Masse von fast 1.000 kDa
zentrale Punkt wird am Beispiel der Redoxintermediate des Ubi- ergeben. 14 dieser Untereinheiten sind auch im funktionell ver-
chinons (. Abb. 19.6) deutlich: Erst mit der vollständigen Reduk- gleichbaren bakteriellen Enzym vorhanden. Es folgt, dass diese
tion zum Hydrochinon werden zwei Protonen aufgenommen. »zentralen« Untereinheiten Träger der katalytischen Funktion
Das Ubichinon diffundiert frei in der inneren Mitochondrien- des Komplex I sind. Die Aufgabe der übrigen 31 Untereinheiten
membran, übernimmt Elektronen von allen Dehydrogenasen ist weitgehend unbekannt. Einen ähnlichen Aufbau aus zentra-
und überträgt diese auf den Komplex III. Dort treffen sich also len, katalytischen und peripheren, »akzessorischen« Unterein-
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
241 19

. Abb. 19.6 Struktur und Redoxstufen des Ubichinon-10. Ubichinon


kann in zwei Stufen zum Ubihydrochinon reduziert werden. Die Reduktion
vom Semichinon zum Hydrochinon ist an die Aufnahme von zwei Protonen
gekoppelt. Beim Menschen besteht die Seitenkette ganz überwiegend aus
10 Isopreneinheiten. Bei anderen Eukaryonten sind es zwischen 6 und 10

ten, können Eisen-Schwefel-Zentren immer nur ein einziges


Elektron aufnehmen und wieder abgeben. Schließlich werden
die Elektronen auf Ubichinon übertragen und zwei Protonen aus
dem Matrixraum aufgenommen. Die vom Komplex I katalysier-
te Redoxreaktion ist an den Transport von vier Protonen pro
oxidierten NADH über die innere Mitochondrienmembran ge-
koppelt. Der Mechanismus dieses Protonentransports ist unbe-
kannt.
Der bekannteste einer großen Zahl chinonanaloger Hemm-
. Abb. 19.5 Struktur der Häm-Zentren. Häm c ist über zwei Thioetherbrü-
cken mit Cysteinylresten des Apoproteins covalent verknüpft. Häm b besitzt
stoffe des Komplex I ist das aus Leguminosen isolierbare Rote-
den unveränderten Protoporphyrin-IX-Ring. Beim Häm a ist der Porphyrin- non. Aber auch höhere Konzentrationen von Barbituraten, wie
ring durch einen Formyl- und einen langen Farnesylrest modifiziert z. B. Amytal, hemmen den Komplex I.

Succinat:Ubichinon-Oxidoreduktase (Komplex II) Der zweite At-


heiten findet sich auch bei den Komplexen III und IV. Sieben mungskettenkomplex ist wesentlich kleiner und besteht in Säu-
besonders hydrophobe zentrale Untereinheiten des Komplex I getieren aus nur vier Untereinheiten. Die beiden hydrophilen
werden durch das mitochondriale Genom codiert. Die sieben Untereinheiten entsprechen der Succinatdehydrogenase des Ci-
übrigen zentralen Untereinheiten tragen keine Transmembran- tratzyklus (7 Kap. 18.2). Das dort gebildete FADH2 überträgt also
domänen und befinden sich im peripheren Arm, der in den Ma- seine Elektronen im selben Enzymkomplex gleich weiter auf
trixraum hineinragt (. Abb. 19.4). Sie tragen das Coenzym FMN Ubichinon. Dabei werden keine Protonen gepumpt:
und acht sog. Eisen-Schwefel-Zentren. FMN übernimmt durch
Hydridtransfer beide Elektronen vom NADH und überträgt die- Succinat + Ubichinon → Fumarat + Ubihydrochinon
se einzeln auf eine lineare Kette aus sieben der zwei- und vierker-
nigen Eisen-Schwefel-Zentren (. Abb. 19.8). Obwohl sie mehre- Wiederum dient das Flavin dazu, die paarweise übernommenen
re, mit anorganischem Schwefel verbrückte Eisenatome enthal- Elektronen einzeln auf das erste einer Kette von drei Eisen-

Häm <k>c>kk># Häm <k>b>kk># Häm <k>a>kk># Apoprotein# Ubichinon# Ubisemichinon# Ubihydrochinon#
242 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

. Abb. 19.7 Vergleich der 3D-Rekonstruktion eines mitochondrialen Superkomplexes mit den Strukturmodellen der Einzelkomplexe. Rechts ist das 3D-
Modell gezeigt, das durch elektronenmikroskopische Einzelpartikelanalyse von Respirasomen mit der Komplexstöchiometrie I1III2IV1 gewonnen wurde und
in welches das Modell des Superkomplexes eingepasst wurde. Links ist die Anordnung der Strukturmodelle der Einzelkomplexe aus allen vier Blickrich-
tungen gezeigt. Blau: Röntgenkristallographische Elektronendichtekarte des Komplex I; rot: Röntgenstrukturmodell des Komplex III; grün: Röntgenstruktur-
modell des Komplex IV; Der schwarze Balken hat eine Länge von 10 nm. MA: Matrixseite; M: Membran; IM: Intermembranraumseite. (Aus Althoff et al. 2011,
mit freundlicher Genehmigung von Macmillan Publishers, Ltd)

Schwefel-Zentren zu übertragen. Zudem enthält der Komplex II


ein Häm-b560-Zentrum. Dieses Häm-Zentrum befindet sich im
Transmembranbereich, ist aber wahrscheinlich nicht am Elekt-
ronentransport beteiligt.

ETF:Ubichinon-Oxidoreduktase Außer über die genannten gro-


ßen Komplexe können noch über andere Wege Reduktionsäqui-
valente in die Atmungskette eingeschleust werden: Da FADH 2 als
prosthetische Gruppe nicht frei diffundieren kann, reduziert die
Acyl-CoA-Dehydrogenase der β-Oxidation (7 Kap. 21.2.1) zu-
nächst das ETF (electron transferring flavoprotein). Dieses FAD-
haltige, kleine Überträgerprotein wird von der ETF:Ubichinon-
Oxidoreduktase oxidiert, die dann, wieder unter Beteiligung
eines Eisen-Schwefel-Zentrums, Ubichinon reduziert.

Übrigens
Mitochondriale Superkomplexe (. Abb. 19.7)
Tatsächlich liegen die Komplexe I, III und IV in der inneren
19 Mitochondrienmembran nicht wie üblicherweise dargestellt
voneinander getrennt vor, sondern bilden stöchiometrische
Superkomplexe in der inneren Mitochondrienmembran. Die
funktionelle Bedeutung dieser »Respirasomen« ist noch
weitgehend ungeklärt. Bemerkenswert ist aber, dass der
menschliche Komplex I nur im Superkomplex stabil ist.
Auch der Komplex V (ATP-Synthase; s. 7 Kap. 19.1.3) liegt als
Dimer vor. Es konnte gezeigt werden, dass die Komplex-V-
Dimere sogar lange Ketten bilden, die wahrscheinlich an der
. Abb. 19.8 Raumstruktur von zwei- und vierkernigen Eisen-Schwefel- starken Krümmung der Cristaemembranen wesentlich be-
Zentren
teiligt sind. Der Winkel zwischen den beiden Komplexen im
Dimer gibt dabei vermutlich den Krümmungsradius vor.
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
243 19

. Abb. 19.9 Verknüpfung des Glycerin-3-Phosphat-Zyklus mit der At-


mungskette. Die cytoplasmatische Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase
(GPDHc) reduziert Dihydroxyacetonphosphat mit NADH/H+ zu Glycerin-
3-Phosphat. Durch die mitochondriale Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase
(GPDHm) erfolgt eine flavinabhängige Reoxidation des Glycerin-3-Phos-
phats. FADH2 wird mit Hilfe von Ubichinon reoxidiert. ÄMM: Äußere Mito-
chondrienmembran; IMM: Innere Mitochondrienmembran

. Abb. 19.10 Reaktionsschema des Protonentransports durch den Ubi-


Glycerin-3-Phosphat:Ubichinon-Oxidoreduktase (Glycerin-3- chinonzyklus im Komplex III. 1 Verzweigte Oxidation von Ubihydrochinon
Phosphatdehydrogenase) Im Glycerin-3-Phosphat-Zyklus auf der cytosolischen Seite (Intermembranraum) und Übertragung des er-
(. Abb. 19.9) besteht eine weitere Möglichkeit, cytoplasmatische sten Elektrons auf das Eisen-Schwefel-Protein (FeS) und des zweiten Elek-
Reduktionsäquivalente in die Atmungskette zu übertragen. Zu- trons auf Häm bL. 2 Elektronenübertragung auf Häm c1. 3 Elektronen-
übertragung von Häm bL auf Häm bH. Reduktion von Ubichinon zu Ubisemi-
nächst wird Dihydroxyacetonphosphat durch die cytoplasmati-
chinon 4a , bzw. Ubisemichinon zu Ubihydrochinon 4b auf der Matrixseite.
sche Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase (GPDHC) NADH/H+- IMM: Innere Mitochondrienmembran. (Einzelheiten s. Text)
abhängig zu Glycerin-3-Phosphat reduziert. Dieses wird an der
inneren Mitochondrienmembran durch die Glycerin-3-Phos-
phatdehydrogenase (GPDHM) FAD-abhängig reoxidiert, wo- sog. Ubichinonzyklus (auch »Q-Zyklus«) verläuft, lässt sich das
bei Ubichinon zu Ubihydrochinon (QH2) reduziert wird. bereits angesprochene Grundprinzip der Ladungskompensation
verdeutlichen (. Abb. 19.10): Der Komplex III hat zwei aktive
Der Cytochrom-bc1-Komplex (Komplex III) reduziert Cytochrom c Zentren, ein Ubihydrochinonoxidationszentrum auf der cyto-
In Säugetiermitochondrien wird Ubihydrochinon ausschließlich plasmatischen Seite der inneren Mitochondrienmembran und
durch die Ubihydrochinon:Cytochrom-c-Oxidoreduktase ein Ubichinonreduktionszentrum auf der Matrixseite. Da die
(Komplex III) reoxidiert, die wegen ihrer charakteristischen Häm- beiden Zentren »elektrisch« über die beiden Häm-b-Gruppen
Zentren häufig als Cytochrom-bc1-Komplex bezeichnet wird: verbunden sind, können Elektronen, die auf der einen Seite
durch Oxidation freigesetzt werden, auf der anderen Seite zur
Ubihydrochinon (QH2) + 2 Cyt c3+ + 2 H+ (M) Reduktion verwendet werden, wobei gleichzeitig ein Ladungs-
Ubichinon (Q) + 2 Cyt c2+ + 4 H+ (IMR) transport über die Membran stattfindet. Da der Redoxwechsel
des Ubichinons mit einer Protonenabgabe bzw. -aufnahme ge-
Obwohl vier H+ im Intermembranraum freigesetzt werden, ge- koppelt ist (s. o., . Abb. 19.6), ergibt sich so ein Nettotransport
langen effektiv nur zwei H+ pro oxidierten Ubihydrochinon über von H+ über die Membran, ohne dass die Protonen im eigentli-
die Membran. Die Ladungsbilanz wird dadurch ausgeglichen, chen Sinne »gepumpt« werden. Um diesen Ladungstransport
dass die beiden zusätzlichen H+ im Intermembranraum durch anzutreiben, müssen die Elektronen, die auf das Cytochrom b
die Aufnahme von zwei Elektronen durch das auf derselben Sei- übertragen werden sollen, zunächst auf ein höheres Energieni-
te befindliche Cytochrom c kompensiert werden. veau gelangen. Dies geschieht in einer Art »Redoxwippe« da-
In Säugetiermitochondrien besteht der Komplex III aus durch, dass jeweils das erste Elektron des Ubihydrochinons in
11 Untereinheiten, von denen drei den katalytischen Kern bilden: einer exergonen Reaktion auf das »Rieske«-Eisen-Schwefel-Zen-
Das sehr hydrophobe Cytochrom b wird vom mitochondrialen trum übertragen wird, wobei ein stark reduzierendes Ubisemi-
Genom codiert und besitzt zwei Häm-b-Zentren (Häm bL und chinon entsteht, das dann Cytochrom b reduzieren kann. Aus
Häm bH), die einen Elektronentransportweg über die Membran dieser Verzweigung im Elektronentransport und der Rücküber-
ausbilden. Das Cytochrom c1 trägt sein Häm-c-Zentrum, ebenso tragung jedes zweiten Elektrons auf ein Ubichinon im Reduk-
wie das »Rieske«-Eisen-Schwefel-Protein sein zweikerniges Ei- tionszentrum ergibt sich, dass in einem vollständigen Zyklus
sen-Schwefel-Zentrum, in einer peripheren Domäne auf der cy- zwei Moleküle Ubihydrochinon auf der cytoplasmatischen Seite
toplasmatischen Seite der inneren Mitochondrienmembran. oxidiert und ein Molekül Ubichinon auf der Matrixseite redu-
ziert werden müssen, um netto die Oxidation von einem Ubihy-
Mechanismus des Protonentransports im Komplex III Am Me- drochinon zu ergeben. Eine bemerkenswerte Erkenntnis aus der
chanismus des Protonentransports im Komplex III, der über den molekularen Struktur des Cytochrom-bc1-Komplexes ist, dass

Cytochrom-<k>bc<kk>_1__-Komplex (Komplex III)


244 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

die für die Energiekonservierung entscheidende Verzweigung A


des Elektronentransports durch einen regelrechten »molekula-
ren Schalter« sichergestellt wird: Um das vom Ubihydrochinon
aufgenommene Elektron auf Cytochrom c1 übertragen zu kön-
nen, muss sich die hydrophile Domäne des »Rieske«-Proteins
jedes Mal um 60° drehen, sodass nie gleichzeitig »elektrischer
Kontakt« mit Elektronendonor und -akzeptor besteht.
Zur Aufklärung des Q-Zyklus haben in hohem Maß spezifi-
sche, chinonanaloge Hemmstoffe des Komplex III beigetragen.
So blockieren Myxothiazol und Stigmatellin das Ubihydrochi-
nonoxidationszentrum und Antimycin das Ubichinonreduk-
tionszentrum.
B
Die Cytochrom-c-Oxidase reduziert
Sauerstoff zu Wasser
Der letzte Komplex der Atmungskette, die Cytochrom-c-Oxida-
se (Komplex IV) überträgt die Elektronen von Cytochrom c auf
Sauerstoff. Gleichzeitig werden je Sauerstoffatom (»½O2«) zwei
Protonen über die Membran gepumpt:

2 Cyt c2+ + ½ O2 + 4 H+ (M) 2 Cyt c3+ + H2O + 2 H+ (IMR)

In diesem Fall werden zwei zusätzliche H+, die für die Wasserbil-
dung benötigt werden, von der Matrixseite her aufgenommen. Da
dieser Protonenaufnahme die Abgabe von zwei Elektronen durch . Abb. 19.11 Raumstruktur der Kupferzentren der Cytochrom-c-Oxidase.
Cytochrom c auf der anderen Seite der Membran gegenübersteht, A CuA enthält zwei Kupferatome und wird durch Seitenketten der Unterein-
ergibt sich ein vektorieller Transport von zwei weiteren Ladungen heit 2 ligiert. B CuB bildet zusammen mit Häm a3 das »binucleare Zentrum«,
welches zwischen Kupfer- und Eisenatom den Sauerstoff bindet und reduziert
über die innere Mitochondrienmembran. Die Protonenbilanz
wird formal durch die beiden »chemischen« Protonen des Kom-
plex III ausgeglichen. Insgesamt pumpt die Cytochrom-c-Oxida- Die Cytochrom-c-Oxidase wird durch eine Reihe sauerstoff-
se also vier Ladungen für jedes reduzierte Sauerstoffatom. ähnlicher Moleküle kompetitiv gehemmt, die ebenfalls mit Eisen
In Säugetiermitochondrien besteht die Cytochrom-c-Oxida- komplexieren können. Beispiele sind Cyanid, Kohlenmonoxid
se aus 13 Untereinheiten, von denen drei den katalytischen Kern und Azid. Stickstoffmonoxid (NO), das inzwischen als wichtiges
bilden und im mitochondrialen Genom codiert werden. Zwei Gewebshormon bekannt ist, hemmt ebenfalls und wird langsam
dieser Untereinheiten tragen die Redoxzentren: Die Bindungs- zu Lachgas (N2O) reduziert. Inwieweit dies Bedeutung für die Wir-
stelle für Cytochrom c und ein zweikerniges, mit CuA bezeichne- kung und den Abbau des NO hat, ist noch nicht abschließend ge-
tes Kupferzentrum (. Abb. 19.11A) befinden sich in der Unter- klärt.
einheit 2. Vom CuA-Zentrum, das wie die Eisen-Schwefel-Zent-
ren nur ein Elektron auf- und wieder abgeben kann, fließen die Pro NADH/H+ werden 10 und pro Succinat
Elektronen über das Häm-a-Zentrum (. Abb. 19.5) der Unter- 6 Protonen aus der Matrix gepumpt
einheit 1 auf das sog. binucleare Zentrum (. Abb. 19.11B). Das Angetrieben durch schrittweise Übertragung der Elektronen auf
binucleare Zentrum aus Häm a3 und einem als CuB bezeichneten den Sauerstoff, pumpen die Komplexe I, III und IV der Atmungs-
Kupferatom ist die Reduktionsstelle für den Sauerstoff und be- kette insgesamt 10 H+ pro oxidiertem NADH/H+ über die innere
19 findet sich ebenfalls in der Untereinheit 1. Bemerkenswerterwei-
se kann der Sauerstoff erst binden, wenn das binucleare Zentrum
Mitochondrienmembran (. Abb. 19.4). Bei der Einschleusung
von Elektronen über den Komplex II und die übrigen Dehydro-
mit zwei Elektronen »vorgeladen« ist. So kann das Sauerstoffmo- genasen wird der Komplex I umgangen, und es tragen dann nur
lekül unmittelbar zur Peroxidstufe reduziert und in seine beiden die Komplexe III und IV mit 6 H+/2e– zur Bildung des Protonen-
Einzelatome gespalten werden. Auf diese Weise wird effektiv die gradienten bei.
Bildung schädlicher Superoxidradikale verhindert (7 Kap. 20.2).
Der Mechanismus der Protonentranslokation im Komplex IV ist
noch nicht vollständig aufgeklärt. Jedoch ist klar, dass das in der 19.1.3 F1/FO-ATP-Synthase
Membran weiter auf der cytoplasmatischen Seite gelegene binu-
cleare Zentrum für die Pumpfunktion verantwortlich ist und Die F1/FO-ATP-Synthase (Komplex V) katalysiert
über zwei Protonenkanäle mit der Matrixseite in Verbindung die ATP-Bildung
steht. Auch hier scheint das Prinzip der Ladungskompensation Die Nutzung des Protonengradienten zur ATP-Synthese erfolgt
eine entscheidende Rolle zu spielen. Darüber hinaus konnte die durch die manchmal auch als Komplex V bezeichnete F1/FO-ATP-
Beteiligung eines Tyrosylradikals gezeigt werden. Synthase:
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
245 19
ADP + Pi + 2,7 H+ (IMR) ATP + H2O + 2,7 H+ (M)

Pro gebildetem ATP müssen rechnerisch 22/3 oder 2,7 Protonen


zurückfließen. Diese Zahl hat unmittelbare Konsequenzen für
die Energiebilanz der oxidativen Phosphorylierung (s. u.) und
damit z. B. auch der aeroben Glycolyse. Die Ursache für die Ab-
weichung von einer ganzzahligen Stöchiometrie ergibt sich aus
Struktur, und Mechanismus der ATP-Synthase.

Die F1/FO-ATP-Synthase besteht aus


16 Untereinheiten
Die pilzförmige F1/FO-ATP-Synthase aus Säugetiermitochondri-
en setzt sich aus 16 verschiedenen Untereinheiten zusammen,
wobei zwei mitochondrial codiert werden (. Abb. 19.12). Diese
Untereinheiten, von denen einige in mehreren Kopien vorkom-
men, bilden den membranständigen FO-Teil, durch den die Pro-
tonen fließen, und den in die Matrix hineinragenden F1-Teil,
welcher die Nucleotidbindungsstellen enthält. Der FO-Teil be-
steht aus der Untereinheit a und in Säugetiermitochondrien aus
8 Kopien der Untereinheit c. Neben weiteren nicht gezeigten
kleinen Untereinheiten enthält er noch ein Protein, welches den
Hemmstoff der ATP-Synthese Oligomycin bindet, dem dieser
Teil die Bezeichnung FO verdankt. Der F1-Teil ist ein Hexamer
aus drei α- und drei β-Untereinheiten (α3β3). Eine β-Untereinheit
trägt die d-Untereinheit, die wiederum zwei b-Untereinhei- . Abb. 19.12 Aufbau der F1/FO-ATP-Synthase. Eine α- und eine
ten verankert, welche Teil des sog. peripheren Stiels sind. Der β-Untereinheit ist nicht gezeigt, um die Sicht auf den zentralen Stiel freizu-
periphere Stiel verbindet F1- und FO-Teil. Ein weiterer, zentraler geben. Außerdem fehlen in dieser Darstellung sieben weitere Unterein-
Stiel, der bis in die Spitze des F1-Teils ragt, wird durch die heiten, die für die Funktion der ATP-Synthase nicht unmittelbar von Bedeu-
tung sind. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Junge et al. 1977)
γ-Untereinheit gebildet, deren Kontakt mit den ringförmig an-
geordneten c-Untereinheiten des FO-Teils durch die δ- und
ε-Untereinheit verstärkt wird. Während der isolierte F1-Teil nur einheit a besitzt außerdem zwei Protonenkanäle, die Protonen an
zur ATP-Hydrolyse in der Lage ist, ist nur der vollständige F1/ die saure Gruppe heran und wieder weg führen können. Indu-
FO-Komplex zur ATP-Synthese bzw. der Umkehrung dieser Re- ziert nun ein Proton, das sich durch diese Kanäle von einer Seite
aktion, dem ATP-getriebenen Protonenpumpen, fähig. der Membran zur anderen bewegt, das Weiterrücken des Rings
um eine c-Untereinheit, so entsteht eine Drehbewegung, die über
Die ATP-Synthese beruht auf einer Rotation den zentralen Stiel in den F1-Teil übertragen wird. Wie bei jedem
von Teilen der ATP-Synthase Motor muss verhindert werden, dass sich der F1-Teil (»Stator«)
Die ringförmige Anordnung der α- und β-Untereinheiten im F1- als Ganzes mitdreht. Diese Aufgabe übernimmt der periphere
Teil und der c-Untereinheiten im FO-Teil suggeriert die Beteili- Stiel, der auch die a-Untereinheit festhält. Die Funktionsweise
gung einer Drehbewegung am Mechanismus der ATP-Synthase. des FO-Teils entspricht prinzipiell der eines Flagellenmotors, der
Tatsächlich wurden schon vor der Strukturaufklärung des F1- ebenfalls durch einen Protonengradienten angetrieben wird.
Teils durch John Walker und seine Kollegen, u. a. von Paul Boyer
ein Rotationsmechanismus für die ATP-Synthese vorgeschlagen. Der F1-Teil nutzt die Rotation zur ATP-Synthese
Inzwischen wurde die Drehung von Teilen der ATP-Synthase mit Wie die Rotation des zentralen Stils zur Ausbildung einer »ener-
verschiedenen Methoden auch experimentell gezeigt: Der Proto- giereichen« Phosphorsäureanhydridbindung genutzt wird, geht
nengradient treibt eine Drehung des c-Rings an, die »mecha- aus der Struktur des F1-Teils hervor: Jeweils gemeinsam aus einer
nisch« über eine Konformationsänderung die ATP-Bildung im α- und einer β-Untereinheit gebildet, besitzt jeder F1-Teil drei
F1-Teil bewirkt. katalytische Zentren, die in drei verschiedenen Konformationen
vorliegen (. Abb. 19.13). In der L-Form (loose) bindet das Zent-
Der Protonengradient treibt eine rum ADP und Phosphat, während in der O-Form (open) die Af-
Drehbewegung im FO-Teil finität sowohl für ADP+Pi als auch für ATP gering ist. Die dritte
Der sich drehende Teil der ATP-Synthase (»Rotor«) besteht aus Konformation ist entscheidend für die Ausbildung der Phos-
ringförmig angeordneten c-Untereinheiten im FO-Teil und dem phorsäureanhydridbindung des ATP. Diese T-Form (tight), die
zentralen Stiel aus den Untereinheiten γ, δ und ε. Jede c-Unter- während der ATP-Synthese aus der mit ADP+Pi beladenen L-
einheit trägt einen essentiellen Asparaginsäurerest im hydro- Form entsteht, bindet ATP mit sehr hoher Affinität, was seine
phoben Bereich. Man nimmt an, dass immer eine dieser sauren Bildung aus ADP+Pi begünstigt. Außerdem wird in dieser Kon-
Gruppen durch die a-Untereinheit »maskiert« wird. Die Unter- formation Wasser aus der Bindungstasche ausgeschlossen, was
246 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

Der Gegentausch von ATP und ADP durch den Adeninnucleo-


tid-Carrier ist mit einem Ladungstransport gekoppelt. Der Phos-
phattransport erfolgt elektroneutral im Symport mit einem H+
(7 Kap. 19.1.1, . Tab. 19.1). Insgesamt entspricht dies dem Rück-
strom eines H+, was zu den durch die ATP-Synthase verbrauch-
ten Protonen dazugerechnet werden muss. Pro gebildetem und
exportiertem ATP gelangen also 3,7 H+ in die Matrix zurück. Für
NADH/H+, bei dessen Oxidation 10 H+ gepumpt werden, ergibt
. Abb. 19.13 Mechanismus der ATP-Bildung durch die F1/FO-ATP-Syn- sich ein P/O-Quotient von 2,7. Für Succinat und andere Substra-
thase. Der zentrale Stiel ist gekoppelt an den Ring aus c-Untereinheiten te, die die Elektronen direkt an Ubichinon abgeben, sodass nur
und rotiert, angetrieben durch den Rückstrom der Protonen, relativ zu den 6 Protonen gepumpt werden, ergibt sich ein P/O-Quotient von
drei αβ-Paaren. Durch die Asymmetrie der γ-Untereinheit durchlaufen die
1,6. Wegen eines gewissen unproduktiven Protonenrückstroms
αβ-Paare verschiedene Konformationszustände. In der T-Form wird ATP ge-
bildet, das unter Energieaufwand beim Übergang in die O-Form freigesetzt durch die Membran (leak) und anderer Transportprozesse, die
wird. (Einzelheiten s. Text) den Protonengradienten nutzen, sind dies Maximalwerte, die in
vivo sicher nicht erreicht werden.
die Reaktion ebenfalls in Richtung der Kondensation verschiebt.
Tatsächlich konnte für die T-Form eine Gleichgewichtskonstante Der Wirkungsgrad der oxidativen Phosphorylierung
abgeleitet werden, nach der sich ATP praktisch spontan bildet. liegt bei rund 65 %
Der Preis hierfür ist jedoch eine sehr feste Bindung des ATP an Aus der Differenz der Redoxpotentiale für NADH/NAD+ von
die T-Form, sodass Energie benötigt wird, um das Produkt der –320 mV und H2O/O2 von +820 mV lässt sich über die Bezie-
Reaktion freizusetzen. Diese Energie liefert die asymmetrisch hung
rotierende γ-Untereinheit, indem sie einen Übergang der T-
Form in die O-Form erzwingt, die eine sehr niedrige Affinität für ΔG0’ = –n ∙ F ∙ ΔE0’
ATP hat. Da sich jeweils ein katalytisches Zentrum in der O-,
L- und T-Form befindet, werden bei einer vollständigen Rotation eine maximale Energieausbeute von –220 kJ/mol pro oxidierten
der γ-Untereinheit 3 ATP synthetisiert. NADH berechnen. Setzt man aufgrund der physiologischen
Konzentrationsverhältnisse ein ΔG von etwa +50 kJ/mol für die
Die Zahl der c-Untereinheiten bestimmt ATP-Synthese an, so ergibt sich, dass mit einem NADH maximal
die Protonenstöchiometrie 4 ATP gebildet werden könnten. Da aber nur maximal 2,7 ATP
Da die Drehung des Rings aus c-Untereinheiten die ATP-Synthe- entstehen, liegt der Wirkungsgrad der oxidativen Phosphorylie-
se antreibt, ergibt sich die Zahl der Protonen, die für die Synthe- rung bei rund 65 %. Mit Hilfe der Redoxpotentiale für Ubichinon
se eines ATP benötigt werden, aus der Protonenzahl, die für eine (+80 mV) und Cytochrom c (+250 mV) lässt sich auch die den
Umdrehung des c-Rings in die Matrix zurückfließen. Wenn der einzelnen protonenpumpenden Komplexen zur Verfügung ste-
Ring mit jedem Proton jeweils eine c-Untereinheit weiterrückt, hende Energie berechnen. Komplex I stehen 77 kJ/mol zur Ver-
muss diese Zahl direkt der Zahl der c-Untereinheiten entspre- fügung, Komplex III 33 kJ/mol und Komplex IV 110 kJ/mol. In
chen. Die Zahl der c-Untereinheiten kann bei verschiedenen diesen Zahlen spiegelt sich gut der Beitrag dieser Komplexe zum
Organismen unterschiedlich sein. Damit kann die Ȇberset- Protonengradienten wider (. Abb. 19.4).
zung« der ATP-Synthase angepasst werden. Die ATP-Synthase
der Säugetiermitochondrien besitzt 8 c-Untereinheiten, was dem
Verbrauch von 2,7 Protonen pro ATP entspricht. Es wird ange- 19.1.5 Atmungskontrolle und Regulation
nommen, dass der Bruch der Rotationssymmetrie zwischen FO- der oxidativen Phosphorylierung
und F1-Teil nicht zufällig ist, sondern hilft, die Rotationsbewe-
gung in Gang zu halten, indem in der ATP-Synthase immer eine Substratoxidation und ATP-Bildung
sind strikt gekoppelt
19 Restspannung verbleibt.
Lange bevor Einzelheiten über die Komponenten der oxidativen
Phosphorylierung bekannt waren, wurde beobachtet, dass iso-
19.1.4 P/O-Quotient und Wirkungsgrad lierte, intakte Mitochondrien nur dann schnell Substrat oxidie-
der oxidativen Phosphorylierung ren, wenn ihnen ADP und Pi zur Verfügung stehen. Diese strikte
Kopplung von Substratoxidation und ATP-Bildung wird als At-
Der P/O-Quotient gibt an, wie viel ATP mungskontrolle bezeichnet. . Abb. 19.14 stellt dieses Phänomen
pro verbrauchtem Sauerstoff gebildet wird an Lebermitochondrien dar. In Anwesenheit von Sauerstoff und
Aus der Protonentranslokationsstöchiometrie für die einzelnen Succinat als Substrat erhöht sich die Geschwindigkeit des Sauer-
Schritte der oxidativen Phosphorylierung ergibt sich, wie viele stoffverbrauchs erst nach Zugabe von ADP um das 5- bis 6fache
ATP (»P«) pro verbrauchtem Sauerstoffatom (»O«) gebildet wer- und geht wieder zurück, wenn das zugesetzte ADP komplett zu
den können. Bei der Berechnung dieses sog. P/O-Quotienten ATP phosphoryliert worden ist. Ist ausreichend Substrat vorhan-
muss berücksichtigt werden, dass ADP und Pi in die Mitochon- den, kann die Atmungsrate durch erneute Zugabe von ADP
drien hinein und ATP wieder heraus transportiert werden muss. nochmals erhöht werden. Britton Chance hat bereits 1956 fünf
19.1 · Die mitochondriale Energietransformation
247 19

. Tab. 19.3 Fließgleichgewichtszustände der Atmungskette

Im Überschuss Atmungsrate begrenzt


vorhanden durch

Zustand 1 O2 ADP und Substrat

Zustand 2 O2, ADP Substrat

Zustand 3 O2, ADP, Substrat Δμ H


»aktiv«

Zustand 4 O2, Substrat ADP


»kontrolliert«

Zustand 5 ADP, Substrat O2

Entkoppelt a Maximalgeschwindigkeit
O2, Substrat
des Elektronentransports
a In diesem Zustand hat ADP keinen Einfluss auf die Atmungsrate.

. Abb. 19.14 Experiment zur Atmungskontrolle an isolierten Lebermito-


chondrien. Isolierte Rattenlebermitochondrien wurden mit Succinat als
Substrat versetzt. Mit Hilfe einer Sauerstoffelektrode wurde der Sauerstoff-
verbrauch gemessen. An den markierten Stellen wurden jeweils 0,1 µmol/ 19.1). Es katalysiert einen passiven, elektrogenen Uniport von H+
ml ADP zugesetzt. Der aktive Zustand wird durch die Erhöhung der At- und wirkt so als Entkoppler, was zu einer Erwärmung des Gewe-
mungsrate angezeigt. Ist das zugesetzte ADP verbraucht, gehen die Mito- bes führt. Das Entkopplungsprotein wird durch Purinnucleotide,
chondrien wieder in den kontrollierten Zustand über (s. auch . Tab. 19.3) v. a. GDP und wahrscheinlich auch Ubichinon reguliert, sodass
zwischen Thermogenese und ATP-Bildung umgeschaltet werden
Fließgleichgewichtszustände definiert, bei denen die Atmungs- kann. Inzwischen wurden im Menschen mehrere Isoformen des
geschwindigkeit durch jeweils verschiedene Faktoren kontrol- Entkopplungsproteins nachgewiesen und gezeigt, dass es in fast
liert wird (. Tab. 19.3). Besonders wichtig sind die Zustände allen Gewebetypen exprimiert wird. Außerhalb des braunen
3 und 4: Fettgewebes ist über seine Regulation und Bedeutung bisher we-
4 Im Zustand 3 oder aktiven Zustand sind ausreichend nig bekannt. Im braunen Fettgewebe, das bei allen bisher un-
Sauerstoff, Substrat, ADP und Phosphat vorhanden, sodass tersuchten Säugetieren in unterschiedlichem Ausmaß subscapu-
die oxidative Phosphorylierung mit maximaler Geschwin- lar und entlang der großen Gefäße vorkommt, dient es der Ther-
digkeit abläuft. mogenese. Beim Menschen wird es durch den mit der Geburt
4 Im Zustand 4 oder kontrollierten Zustand bezeichnet einhergehenden Kälteschock aktiviert und ermöglicht dem Neu-
limitiert das Fehlen von ADP den Sauerstoffverbrauch. geborenen die Aufrechterhaltung der Körpertemperatur. In
Unter diesen Bedingungen ist die protonenmotorische . Abb. 19.16 ist der Mechanismus der Thermogeneseauslösung
Kraft maximal und bremst den Elektronentransport in der dargestellt. Hypothalamische Signale führen zu einer Stimulie-
Atmungskette. rung des sympathischen Nervensystems, was zu einer gesteiger-
ten Freisetzung von Katecholaminen an den Nervenendigungen
Entkoppler heben die Atmungskontrolle auf führt. Über besonders im braunen Fettgewebe nachweisbare β3-
Die Abhängigkeit der Atmungskontrolle von der Dichtheit der Rezeptoren kommt es zum Anstieg der cAMP-Konzentration
inneren Mitochondrienmembran zeigt sich daran, dass die At- im braunen Fettgewebe und zur gesteigerten Lipolyse. Die dabei
mungsrate auch in Abwesenheit von ADP maximal ist, wenn freigesetzten Fettsäuren werden in der mitochondrialen Matrix
man durch Zugabe eines Entkopplers wie z. . Dinitrophenol abgebaut und die gebildeten Reduktionsäquivalente über die At-
(. Abb. 19.15) den passiven Rückstrom von Protonen ermög- mungskette oxidiert. Gleichzeitig induziert die hohe cAMP-Kon-
licht und so das elektrochemische Potential aufhebt (. Tab. zentration die Transkription einiger für die Thermogenese wich-
19.3). Lipophile, schwache organische Säuren haben meist ent- tiger Proteine. Eines von ihnen ist die Lipoproteinlipase, die die
koppelnde Eigenschaften, da sie sowohl in der protonierten als Aufnahme von Fettsäuren aus extrazellulären Triacylglycerinen
auch in der deprotonierten Form frei über die Membran diffun- durch die braunen Adipocyten ermöglicht (7 Kap. 21.1.3). Das
dieren können. andere ist das Thermogenin, das in die innere Mitochondrien-
membran integriert wird und dort die Steigerung der Wärmebil-
Das Entkopplungsprotein dient der Thermogenese dung bewirkt. Da das braune Fettgewebe ungewöhnlich gut
Im entkoppelten Zustand wird die Energie des Protonengradien- durchblutet ist, kann die produzierte Wärme leicht abgeführt
ten nicht im ATP gespeichert, sondern als Wärme frei. Säugetier- werden und dient der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur.
zellen nutzen dies zur Thermogenese aus. Martin Klingenberg Das braune Fettgewebe ist auch Wärmeproduzent für Winter-
konnte zeigen, dass v. a. Mitochondrien des braunen Fettgewebes schläfer, bei denen es eine rasche und effektive Erhöhung der
ein auch Thermogenin genanntes Entkopplungsprotein enthal- Körpertemperatur bei den im Winterschlaf auftretenden inter-
ten, das zur Familie der mitochondrialen Carrier gehört (. Tab. mittierenden Aufwachphasen erlaubt.
248 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

. Abb. 19.15 Wirkungsmechanismus von 2,4-Dinitrophenol als Ent-


koppler der oxidativen Phosphorylierung. IMR: Intermembranraum; IMM:
Innere Mitochondrienmembran (Einzelheiten s. Text)

Die Transhydrogenase nutzt den Protonengradien-


ten um Reduktionsäquivalente von NADH/H+
auf NADP+ zu übertragen
Auch in der mitochondrialen Matrix wird NADPH/H+ z. B. zur
Regeneration von Glutathion benötigt. Da dieses nicht über die
innere Mitochondrienmembran transportiert werden kann,
muss es in der Matrix gebildet werden. Diese Aufgabe über-
nimmt vor allem die Transhydrogenase, die ein Hydridion von
. Abb. 19.16 Induktion der Thermogenese durch einen Kältereiz. Die
NADH/H+ auf NADP+ übertragen kann (. Abb. 19.17). Aller- durch Noradrenalin erhöhten cAMP-Spiegel führen zu einer Erhöhung der
dings ist die Reaktion dieses integralen Membranproteins der Lipolyse und einer gesteigerten Expression der Gene für Lipoproteinlipase
inneren Mitochondrienmembran zwingend an den Rückstrom (LPL) und Thermogenin
eines Protons in den Matrixraum gekoppelt.

NADH + NADP+ + H+ (IMR) → NAD+ + NADPH + H+ (M)

So wird in energetisierten Mitochondrien eine optimale Verfüg-


barkeit von NADPH sichergestellt.

Die zelluläre ATP-Synthese wird an den jeweiligen


Energieverbrauch angepasst
In der intakten Zelle wird die Geschwindigkeit der Substratoxi-
dation nicht nur durch die Verfügbarkeit von ADP kontrolliert.
Eine große Zahl energieverbrauchender Stoffwechselprozesse
liefert zwar ADP, jedoch unterliegt auch die Bereitstellung von
19 oxidierbarem Substrat einer komplexen Regulation und kann
damit geschwindigkeitsbestimmend werden. In einigen Gewe-
ben kann dies auch für die Versorgung mit Sauerstoff gelten.
. Abb. 19.18 fasst die wichtigsten Regulationsmöglichkeiten zu-
sammen. Es erscheint zunächst einleuchtend, dass eine gesteiger-
te Arbeitsleistung über vermehrte ADP-Bildung zu erhöhter
Substratoxidation in den Mitochondrien führt. Allerdings steigt
. Abb. 19.17 Aufbau und Funktion der Transhydrogenase. Die mit der
in den seltensten Fällen tatsächlich der cytoplasmatische ADP-
Untereinheit dII in der inneren Mitochondrienmembran verankerte Trans-
Spiegel infolge gesteigerter Arbeit. Dies liegt v. a. daran, dass hydrogenase überträgt unter Ausnutzung des Protonengradienten ein Hy-
einige Gewebe über ein Phosphokreatin-Kreatin-System dridanion von NADH/H+ auf NADP+. (Adaptiert nach Rodrigues u. Jackson
(7 Kap. 63.3.1) zur kurzfristigen Auffüllung der ATP-Speicher 2002)
verfügen. In einigen Fällen wurde beobachtet, dass ein gesteiger-
tes Angebot von Reduktionsäquivalenten zu einer Erhöhung der
Atmungsrate führt, ohne dass sich das ATP zu ADP-Verhältnis

Thermogenese Thermogenin Lipoproteinlipase Lipolyse Fettsäuren


19.2 · Pathobiochemie der Mitochondrien
249 19

wurde. In Eukaryonten findet die OXPHOS in den Mitochond-


rien statt.
4 Die Redoxenergie wird von der Atmungskette durch
schrittweise Übertragung der Elektronen auf Sauerstoff
in einen Protonengradienten über die innere Mitochon-
drienmembran umgewandelt, der dann zur ATP-Syn-
these genutzt wird.
4 Metabolite, ADP, Pi und ATP werden mit Hilfe mitochon-
drialer Carrier über die innere Mitochondrienmembran
transportiert. Reduktionsäquivalente werden über
shuttle-Mechanismen transportiert.
4 Am Elektronentransport sind vier Multiproteinkomplexe
beteiligt, die über Ubichinon und Cytochrom c als mobile
Substrate verbunden sind. An der Elektronenübertra-
gung in den Komplexen sind Flavine, Eisen-Schwefel-
Zentren, Cytochrome und Kupferzentren beteiligt. Bei
der Oxidation von NADH werden 10 H+, bei der Oxidation
von Succinat und anderer FAD-abhängiger Substrate
. Abb. 19.18 Zelluläre Regulation der oxidativen Phosphorylierung.
Eine Beschleunigung von Elektronentransport und ATP-Synthese in den Mi- 6 H+ über die Membran gepumpt. Die ATP-Synthase
tochondrien kann prinzipiell durch zwei im Cytosol stattfindende Prozesse (Komplex V) nutzt den Protonengradienten zur ATP-Syn-
ausgelöst werden. Zum einen kann ein erhöhter Energiebedarf zu einer be- these. Im FO-Teil wird durch den Rückstrom der Protonen
schleunigten ATP-Hydrolyse führen, sodass sich der ATP/ADP-Quotient ver- eine Drehbewegung erzeugt, die im F1-Teil durch eine
kleinert. Dies kann kurzzeitig über die Kreatinphosphatreserve ausgegli-
Konformationsänderung die ATP-Freisetzung bewirkt.
chen werden. Aus dem Abbau von Adeninnucleotiden gebildetes Adenosin
kann abgegeben werden und vasodilatorisch wirken. Der so erhöhte Blut- Der P/O-Quotient für NADH/H+ beträgt maximal 2,7 und
fluss verbessert die Nährstoffversorgung der Gewebe. Auch durch externe für Succinat maximal 1,6 gebildete ATP-Moleküle pro re-
Stimuli kann es zu einer Erhöhung der cytosolischen und damit sekundär duziertem Sauerstoffatom. Der maximale Wirkungsgrad
der mitochondrialen Calciumkonzentration kommen. Dies führt zu einem der oxidativen Phosphorylierung liegt bei rund 65 %.
gesteigerten Substratabbau, indem die Dehydrogenasen des Citratzyklus in
4 Entkoppler machen die innere Mitochondrienmembran
der Matrix aktiviert werden. Die vermehrt anfallenden Reduktionsäquiva-
lente müssen über die Atmungskette reoxidiert werden durchlässig für Protonen und verhindern so die ATP-Syn-
these. Der Protonen-Carrier Thermogenin entkoppelt die
Mitochondrien im braunen Fettgewebe und dient so der
ändert. Hierfür könnten die in allen Geweben vorhandenen Iso- Wärmefreisetzung (Thermogenese).
formen des Thermogenins von Bedeutung sein, deren Aktivie-
rung zu einer von der ATP-Synthese unabhängigen Erhöhung
des Sauerstoffverbrauchs führen könnte. Eine weitere Möglich-
keit besteht darin, dass eine Erhöhung des cytoplasmatischen 19.2 Pathobiochemie der Mitochondrien
Calciums zu dessen verstärkter Aufnahme in die Mitochondrien
führt, wo es den Citratzyklus aktiviert. Eine direkte Regulation Angesichts der fundamentalen Bedeutung für die Energieversor-
über die Sauerstoffversorgung kann ausgeschlossen werden, da gung der Zelle erscheint es zunächst schwer vorstellbar, dass De-
die Michaelis-Konstante der den Sauerstoff verbrauchenden fekte im System der oxidativen Phosphorylierung (»OXPHOS«)
Cytochrom-c-Oxidase mit weniger als 100 nmol/l extrem klein mit dem Leben vereinbar sind. Tatsächlich sind Substanzen wie
ist. Allerdings wird spekuliert, dass unter mikroaeroben Bedin- Cyanid und Kohlenmonoxid hochgiftig, da sie Zellatmung bzw.
gungen eine Kompetition mit NO physiologische Bedeutung den Sauerstofftransport im Blut blockieren. Auch die schwerwie-
haben könnte. Schließlich wurde gezeigt, dass die Aktivität des genden Folgen des Sauerstoffmangels im Herzen beim Infarkt
Komplex IV in gewissem Maße über allosterische Nucleotidbin- oder im Gehirn bei Schlaganfall bzw. Herzstillstand unterstrei-
dungsstellen, Phosphorylierung und Isoformen der akzessori- chen die extreme Abhängigkeit des menschlichen Organismus
schen Untereinheiten reguliert werden kann. vom aeroben Energiestoffwechsel. Trotzdem ist inzwischen eine
große Zahl von Erkrankungen bekannt, die mit Defekten im mi-
tochondrialen Energiestoffwechsel zusammenhängen. Dabei
Zusammenfassung
reicht das Spektrum von schwersten, angeborenen neuromusku-
Die oxidative Phosphorylierung (OXPHOS) ist Hauptlieferant lären Erkrankungen, die schon kurz nach der Geburt zum Tod
für ATP in aeroben Organismen. Als Energiequelle dient ge- führen, bis hin zu degenerativen Prozessen, die mit dem norma-
bundener Wasserstoff, der den Nährstoffen im katabolen len Alterungsprozess einhergehen. Es ist unmöglich, im Rahmen
Stoffwechsel entzogen und auf NAD+ oder FAD übertragen dieses Kapitels die ganze Vielfalt dieser Erkrankungen abzude-
6 cken (. Tab. 19.4). Allerdings sollen einige grundlegende Prinzi-
pien der OXPHOS-Erkrankungen besprochen werden.
250 Kapitel 19 · Mitochondrien – Organellen der ATP-Gewinnung

zwischen einem bestimmten genetischen Defekt und den spezi-


. Tab. 19.4 Klinische Symptome bei ausgewählten mitochon- fischen Symptomen und dem Verlauf einer Erkrankung herzu-
drialen angeborenen Enzephalomyopathien. (Nach Di Mauro et al. stellen. Allgemein lässt sich jedoch feststellen, dass kleinere De-
1985)
fekte in der Regel eingrenzbare zentralnervöse Erkrankungen
Symptome MERRF MELAS CPEO/KSS wie eine Schädigung des Sehnervs oder epileptische Anfälle zur
Defekt der Defekt der (mtDNA Folge haben, und dass mit zunehmender Schwere generalisierte
mt-tRNALys mt-tRNALeu Deletion) Ausfälle des ZNS (Enzephalopathie) und ausgeprägte Myopa-
thien hinzukommen.
Ophthalmoplegie – – +

Degeneration der Retina – – +

Herzblock – – + 19.2.2 Angeborene Defekte


Myoklonien + – –
der mitochondrialen DNA
Ataxie + – ±
Defekte der mitochondrialen DNA werden maternal vererbt. Be-
Muskelschwäche + + ± troffen sind entweder Strukturgene der Atmungskettenkomplexe
Cerebrale Anfälle + + – oder tRNA- und rRNA-Gene, die für die mitochondriale Prote-
inbiosynthese benötigt werden. In einigen Fällen können auch
Episodisches Erbrechen – + –
ganze Bereiche des mitochondrialen Genoms deletiert sein
Corticale Blindheit – + – (. Tab. 19.4). Da ein völliger Ausfall der OXPHOS mit dem Le-
Hemiparesen – + – ben unvereinbar wäre, findet man bei Patienten mit angeborenen
Defekten der mtDNA immer auch intakte mitochondriale Se-
Lactatacidose + + +
quenzen, wobei der Grad der Heteroplasmie und damit die Aus-
ragged red fibers + + + prägung der Störung in hohem Maße gewebsspezifisch sein
MERRF: Myoklonale Epilepsie mit ragged red fibers; MELAS: Mitochond- kann. Je nachdem, wie groß der Anteil defekter Genome ist, sind
riale Enzephalomyopathie mit Lactatacidose und schlaganfallähnli- schon bei der Geburt klinische Symptome feststellbar oder es
chen Episoden; CPEO: Chronisch Progressive Externe Ophthalmople- kommt später, z. T. erst im zweiten Lebensjahrzehnt, zur Erkran-
gie; KSS: Kearns-Sayre-Syndrom.
kung. Selbstverständlich kommen auch angeborene Defekte in
den im Kern befindlichen Genen der übrigen Komponenten des
OXPHOS-Systems als Ursache für Erkrankungen in Betracht.
19.2.1 Pathogenese von Defekten Auch hierfür sind zahlreiche Beispiele gefunden worden. Die
der oxidativen Phosphorylierung Symptome sind ähnlich und meist stark ausgeprägt. Erster Hin-
weis auf eine schwere Störung der OXPHOS beim Neugeborenen
Die Besonderheiten und die vielfältigen Erscheinungsformen ist eine Lactatacidose, die unmittelbar durch die gestörte Endoxi-
von Störungen im OXPHOS-System haben ihre Ursache v. a. da- dation entsteht. Allerdings kommen für dieses klinische Bild
rin, dass eine Reihe der katalytisch besonders wichtigen Unter- auch andere Ursachen in Betracht.
einheiten der beteiligten Komplexe (7 Kap. 19.1.2) vom mito-
chondrialen Genom codiert werden. Jede Zelle enthält viele
Mitochondrien (Hepatozyten z. B. 1.000–2.000), jedes mit etwa Übrigens
zehn Kopien des mitochondrialen Genoms. Demzufolge kann Permeability transition pore
ein einzelnes Mitochondrium eine variable Zahl defekter Gene Mitochondrien sind auch am Signalweg der Apoptose
enthalten und in einer Zelle können »gesunde« und mehr oder (7 Kap. 51) beteiligt. Wann dieser ausgelöst wird, ist noch
weniger »kranke« Mitochondrien gemeinsam vorkommen. Fol- nicht vollständig geklärt. Allerdings ist bekannt, dass sowohl
ge dieser ausgeprägten Heteroplasmie ist, dass der Grad und die oxidativer Stress als auch die teilweise Hemmung von At-
19 Art der Erkrankung nicht nur vom genetischen Defekt, sondern
v. a. auch vom Anteil defekter, mitochondrialer Gene und Mito-
mungskettenkomplexen die mitochondriale Apoptose her-
vorrufen können. Hierbei kommt es zur Öffnung einer in ih-
chondrien in den Zellen abhängen. Die mitochondriale DNA rer Zusammensetzung noch unbekannten permeability
(mtDNA) ist außerdem erheblich anfälliger für Mutationen als transition pore (PTP) über beide mitochondriale Membra-
die chromosomale DNA im Kern, weil ihr die Histone und ein nen, durch welche Cytochrom c und andere mitochondriale
effektiver Reparaturapparat fehlen. Deshalb kommt es im Laufe Proteine freigesetzt werden. Diese können dann im Cyto-
des Lebens zu einer Akkumulation defekter mitochondrialer Ge- plasma durch Aktivierung von Caspasen die Apoptose
nome, was den progressiven Verlauf der meisten OXPHOS- einleiten. Ob sich die PTPs auch unter normalen Bedingun-
Erkrankungen erklärt. Offenbar wird die zunehmende Ansamm- gen zeitweise und auf Teilbereiche der Mitochondrien be-
lung von Defekten der mtDNA auch dadurch begünstigt und grenzt öffnet, ist unklar. Es scheint aber sicher zu sein, dass
beschleunigt, dass durch bereits defekte Atmungskettenkomple- die mitochondrial induzierte Apoptose eine zentrale Rolle
xe die Bildung reaktiver Sauerstoffspezies ansteigt, was eine bei der Pathogenese neurodegenerativer Erkrankungen
höhere Mutationsrate der mitochondrialen DNA zur Folge hat. spielt.
Im Einzelfall ist es schwierig, einen kausalen Zusammenhang
19.2 · Pathobiochemie der Mitochondrien
251 19
19.2.3 Mitochondriale Defekte beim Altern

Es lässt sich nachweisen, dass auch beim gesunden Menschen die


Zahl der defekten mtDNA-Kopien im Laufe des Lebens kontinu-
ierlich zunimmt. Es kommt besonders zu einer Anhäufung von
großen Deletionen, durch die das mitochondriale Genom um
mehrere Kilobasen verkürzt wird. Parallel dazu lassen sich mit
steigendem Alter ein progressiver Abfall im ATP zu ADP-Ver-
hältnis und eine Zunahme der Produktion reaktiver Sauer-
stoffspezies (ROS) feststellen. Weiterführende Untersuchungen
scheinen zu bestätigen, dass der »Teufelskreis« aus Akkumula-
tion mitochondrialer Defekte und Bildung von ROS für das kom-
plexe Phänomen des Alterns von erheblicher Bedeutung ist. Es
stellt sich die Frage, wie verhindert wird, dass die im Laufe des
Lebens akkumulierten Defekte an die Nachkommen weitergege-
ben werden. Zum einen scheinen die Eizellen keine oder weniger
Schäden in ihrer mtDNA zu akkumulieren, weil sie schon in der
Embryonalzeit angelegt werden und bis zu ihrer Reifung in ei-
nem Ruhezustand vorliegen. Zum anderen scheint es einen als
bottle neck-Phänomen bezeichneten Prozess zu geben, bei dem
nach der meiotischen Teilung die Zahl der Mitochondrien pro
Keimzelle auf wenige Exemplare reduziert wird. In diesem Zu-
stand einer stark reduzierten Heteroplasmie können normaler-
weise nur die Keimzellen überleben und sich zu Oogonien ent-
wickeln, welche eine intakte mtDNA besitzen. Defekte, die zu
ererbten Störungen der OXPHOS führen, überstehen diesen
Selektionsmechanismus offenbar. Auch an der Entstehung einer
Reihe klinisch manifester, v. a. neurodegenerativer Erkrankun-
gen des Alters scheinen OXPHOS-Defekte beteiligt zu sein. So
wurden Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Morbus
Alzheimer gefunden. Hemmstoffe des Komplex I können spezi-
fisch zu einer Zerstörung der Substantia nigra im Gehirn führen
und damit Morbus Parkinson auslösen.

Zusammenfassung
Störungen im OXPHOS-System haben ihre Ursache v. a. in
Defekten der mitochondrialen DNA. Angeborene Störungen
dieses Typs werden maternal vererbt. Typische Symptome
sind Lactacidose, Fehlfunktionen des ZNS und Muskelschwä-
che. Die progressive Akkumulation von mitochondrialen
Defekten ist wahrscheinlich am Alterungsprozess und an
degenerativen Erkrankungen im Alter beteiligt.

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20 Oxidoreduktasen und oxidativer Stress
Ulrich Brandt

Einleitung 4 Hydroperoxidasen dienen der Entgiftung von H2O2. Durch


Oxidation ihres Substrats übertragen sie zwei Elektronen
Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Reaktionen der auf H2O2, sodass zwei Moleküle H2O entstehen. Ein Spe-
Atmungskette gehören zu der umfangreichen Gruppe der Redoxreak- zialfall der Peroxidasen ist die Katalase, die H2O2 auch als
tionen. Enzyme, die Redoxreaktionen katalysieren, werden als Oxido- Elektronendonor verwendet, sodass zwei Moleküle H2O2 zu
reduktasen bezeichnet und haben eine große Zahl unterschiedlicher zwei Molekülen H2O und einem Molekül O2 disproportio-
Funktionen. Häufig, aber nicht immer, ist Sauerstoff der Elektronen- nieren. Katalase ist wie die anderen Peroxidasen ein Häm-
akzeptor. Protein.
Umsetzungen des Sauerstoffs mit organischen Verbindungen können 4 Dioxygenasen bauen beide Atome eines Sauerstoffmole-
zur Bildung hochreaktiver radikalischer Zwischenstufen führen. Diese küls in das Substrat ein. Dioxygenasen sind besonders beim
lösen dann eine unkontrollierte Oxidation zellulärer Strukturen mit Aminosäurestoffwechsel und bei der Prostaglandinsynthese
weitreichenden Folgen aus. Aerobe Zellen haben deshalb ein ganzes wichtig. Sie sind meist Häm-Proteine oder enthalten Eisen
Arsenal von Schutzmechanismen gegen diesen »oxidativen Stress« ent- bzw. Kupfer.
wickelt. 4 Monooxygenasen werden auch als mischfunktionelle Hyd-
roxylasen bezeichnet und bauen ein Atom des molekularen
Schwerpunkte Sauerstoffs als Hydroxylgruppe in das Substrat ein. Gleich-
zeitig wird das andere Sauerstoffatom in der Regel durch
4 Einteilung und Aufgaben von Oxidoreduktasen
NADPH zu H2O reduziert. Wegen ihrer großen Bedeutung
4 Mechanismus und Funktion von Monooxygenasen
bei der Synthese der Steroidhormone und der Biotransfor-
4 Entstehung und Eliminierung von reaktiven Sauerstoffspezies
mation werden die Monooxygenasen im folgenden Ab-
schnitt genauer besprochen.

20.1 Katalyse von Redoxreaktionen


durch Oxidoreduktasen 20.1.2 Die Enzymfamilie der Monooxygenasen

20.1.1 Einteilung von Oxidoreduktasen Cytochrom P450 bildet das katalytische


Zentrum der Monooxygenasen
Oxidoreduktasen sind Enzyme, die Redoxreaktionen katalysie- . Abb. 20.1 fasst den molekularen Mechanismus der durch die
ren. Häm-haltige Oxidoreduktasen werden wegen ihrer rotbrau- Monooxygenasen katalysierten Hydroxylierungsreaktion zu-
nen Farbe auch als Cytochrome bezeichnet. sammen. Die zentrale Gruppe, das Cytochrom P450, das beson-
Nach ihrem Mechanismus können Oxidoreduktasen in 5 ders im glatten endoplasmatischen Retikulum von Leber und
Gruppen eingeteilt werden (. Tab. 20.1): Niere gefunden wird, bindet den Sauerstoff und das zu hydroxy-
4 Dehydrogenasen katalysieren die Oxidation einer Vielzahl lierende Substrat. Nach Reduktion des Häm-Zentrums des Cy-
von Substraten. Als Elektronendonor oder -akzeptor dient tochrom P450 von Fe3+ zu Fe2+ wird Sauerstoff am Häm-Eisen
oft NAD(P)H bzw. NAD(P)+. Als prosthetische Gruppen gebunden und gleich zum Superoxidradikal reduziert. Das über-
kommen Flavinnucleotide, Eisen-Schwefel-Zentren und tragene Elektron stammt fast immer vom NADPH/H+, das von
Häm-Zentren vor. einem Flavoprotein oxidiert wird. Durch das zweite Elektron
20 4 Oxidasen übertragen die Elektronen des Substrats auf wird das gebundene Superoxid zur Peroxyform reduziert. An-
Sauerstoff. Dabei sind in den allermeisten Fällen wiederum schließend spaltet sich die O-O-Bindung und es wird H2O frei-
Flavinnucleotide, aber auch proteingebundenes Eisen, Kup- gesetzt. Das am Häm-Zentrum verbleibende Sauerstoffatom liegt
fer und Molybdän beteiligt. In der Regel werden nur zwei nun als sog. Oxoferrylgruppe vor. Um die Bindung des Sauer-
Elektronen auf O2 übertragen, sodass cytotoxisches Wasser- stoffatoms in diesem Zustand korrekt darzustellen, muss die
stoffperoxid (H2O2) und nicht Wasser entsteht. Wichtige Oxidationstufe des Häm-Eisens formal auf 5+ erhöht werden.
Ausnahme ist die Cytochrom-c-Oxidase, die kein Flavo- Schließlich wird das Sauerstoffatom, vermutlich über einen radi-
protein ist und O2 mit vier Elektronen vollständig zu Was- kalischen Mechanismus, in die C-H-Bindung des zu hydroxylie-
ser reduziert. renden Substrats »eingeschoben«. Das Cytochrom P450 bleibt in
der Fe3+-Form zurück.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
20.1 · Katalyse von Redoxreaktionen durch Oxidoreduktasen
253 20

. Tab. 20.1 Klassifizierung der Oxidoreduktasen. (S: Substrat)

Gruppe Katalysierte Reaktion Funktionelle Wichtige Vertreter


Gruppen

Dehydrogenasen
a) NAD+-abhängig SH2 + NAD(P)+ S + NAD(P)H + H+ Malatdehydrogenase, Lactatdehydrogenase, u.v.m.
bzw. NADP+-abhängig

b) FMN- bzw. FAD- SH2 + FAD(FMN) S + FADH2(FMNH2) FMN, FAD NADH-Dehydrogenase, Succinatdehydrogenase,
abhängig FADH2(FMNH2) + A FAD(FMN) + AH2 Acyl-CoA-Dehydrogenase, u.v.m.

c) Cytochrome SH2 + 2 Häm (Fe3+) S + 2 H+ + 2 Häm (Fe2+) Häm b, c Atmungskettenkomplex III

Oxidasen SH2 + O2 S + H2O2 FAD, FMN, Fe, Mo Aminoxidasen, Xanthinoxidase


4 Häm (Fe2+) + O2 + 4 H+ 4 Häm (Fe3+) + 2 H2O Häm a, Cu Cytochrom-c-Oxidase

Hydroperoxidasen
a) Peroxidase SH2 + H2O2 S + 2 H 2O Häm Peroxidasen

b) Katalase H2O 2 + H 2O 2 O 2 + 2 H 2O Häm Katalasen

Dioxygenasen S + O2 SO2 Häm, Fe Tryptophandioxygenase, Homogentisatdioxy-


genase

Monooxygenasen SH + O2 + NADPH + H+ SOH + H2O + NADP+ Häm, Fe Cytochrom-P450-Hydroxylasen, Prolinhydroxylase,


Phenylalaninhydroxylase, Tyrosinase

. Abb. 20.1 Reaktionsmechanismus der Hydroxylierung durch die Cytochrom-P450-Monooxygenasen. Nach Anlagerung des Substrats R-H an Cyto-
chrom P450 erfolgt die Reduktion des Häm-Zentrums (nicht dargestellt). Anschließend wird O2 gebunden und zum Superoxidradikal reduziert. Nach Über-
tragung eines weiteren Elektrons entsteht ein Peroxyintermediat, das in H2O und ein Oxoferrylintermediat zerfällt. Schließlich wird der verbleibende Sauer-
stoff radikalisch auf das Substrat übertragen. Cytochrom P450 wird über ein Flavoprotein durch NADPH/H+ reduziert. (Einzelheiten s. Text)

Monooxygenasen bilden eine der größten kulum auch in den Mitochondrien vor. Diese Enzyme ähneln
Enzymfamilien und haben vielfältige Aufgaben prokaryontischen Monooxygenasen und besitzen zusätzlich ein
Die Monooxygenasen bilden eine der größten bekannten En- Eisen-Schwefel-Protein. Bis heute sind weit mehr als 200 Enzy-
zymfamilien und sind an den unterschiedlichsten Stellen des me dieses Typs beschrieben worden. Sie lassen sich funktionell
prokaryontischen und eukaryontischen Stoffwechsels von Be- in Unterfamilien einteilen (. Tab. 20.2). Eng verwandt mit den
deutung. Sie kommen außer im glatten endoplasmatischen Reti- Monooxygenasen sind die NO-Synthasen (7 Kap. 35.6).
254 Kapitel 20 · Oxidoreduktasen und oxidativer Stress

. Tab. 20.2 Familien von Cytochrom-P450-Enzymen (Auswahl) ER = endoplasmatisches Reticulum

Familie Lokalisation Elektronen- Funktion Induktor Siehe


Nr. donor Kapitel

I ER NADPH/H+ Hydroxylierung von Methylcholanthren, polycyclischen aromati- Substrate


schen Kohlenwasserstoffen, Dioxin u. a.

IIA–IIH ER NADPH/H+ Hydroxylierung vieler Pflanzentoxine, Pestizide, Pharmaka u. a. z. B. Phenobarbital 62.3.1

III ER NADPH/H+ Hydroxylierung vieler Steroidhormone, Xenobiotika u. a. z. B. Rifampicin 62.3.1

IV ER NADPH/H+ ω-Oxidation von Fettsäuren, Eicosanoidsynthese ? 21.2.4

XI Mitochondrien Adrenodoxin Steroidhormonbiosynthese: 11β-Hydroxylierung, Bildung von ACTH 40.1


Pregnenolon aus Cholesterin

XVII ER NADPH/H+ 17α-Hydroxylierung von Steroidhormonen ACTH 40.2.2


+
XIX ER NADPH/H Aromatisierung von Androgenen zu Östrogenen FSH 40.5.2

XXI ER NADPH/H+ 21-Hydroxylierung von C21-Steroiden (Progesteron,17α- ? 40.2.2


Hydroxyprogesteron, 11β, 17α-Dihydroxyprogesteron)

XXVI Mitochondrien Ferredoxin 26-Hydroxylierung von Cholesterin, Biosynthese von Gallensäuren ? 61.1.4

Unspezifische Monooxygenasen hydroxylieren Fremdstoffe Die


vielen Mitglieder der Familien I und II (. Tab. 20.2) katalysieren Die Monooxygenasen hydroxylieren im Rahmen der Bio-
die Hydroxylierung der verschiedensten Fremdstoffe, der sog. transformation Xenobiotica und sind an zahlreichen Schrit-
Xenobiotica. Es handelt sich dabei v. a. um hydrophobe Pflan- ten der Synthese der Steroidhormone und anderer Substan-
zentoxine, Pestizide, verschiedene Kohlenwasserstoffe, aber auch zen beteiligt.
Pharmaka und andere toxische Verbindungen, die vom Orga-
nismus aufgenommen und durch sog. Biotransformation
(7 Kap. 62.3) entgiftet und dann nach Konjugation mit hydrophi-
len Resten ausgeschieden werden. Charakteristisch für Mono- 20.2 Oxidativer Stress
oxygenasen dieses Typs ist eine sehr geringe Substratspezifität,
die erst eine Entgiftung fast beliebiger Xenobiotica ermöglicht. Die Verwendung des durch Photosynthese entstandenen Sauer-
Häufig wird die Expression bestimmter Isoformen durch ein stoffs zur vollständigen Oxidation von Nahrungsstoffen hat die
Substrat, z. B. ein Arzneimittel, induziert; dies hat dann große Effizienz der biologischen Energieversorgung wesentlich verbes-
Bedeutung für dessen Stoffwechsel und Halbwertszeit. Meist sert und ist ohne Zweifel eine der wichtigsten Voraussetzungen
sind damit eine abnehmende Wirksamkeit und ggf. unerwünsch- für die Entstehung höherer Lebensformen. Allerdings birgt der
te Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten verbunden. Umgang mit Sauerstoff auch beträchtliche Gefahren. Sauerstoff
selbst und v. a. seine besonders reaktionsfähigen Radikale kön-
Spezifische Monooxygenasen hydroxylieren Hormone und ande- nen nahezu alle Biomoleküle angreifen und funktionell schwer
re Metabolite Zahlreiche andere Monooxygenasen hydroxylie- beeinträchtigen. Deshalb verfügen alle aerob lebenden Zellen
ren hochspezifisch ein bestimmtes Substrat. Sie sind wichtige über ein vielfältiges Arsenal enzymatischer und nicht-enzymati-
Enzyme bei der Biosynthese der Steroidhormone, der Hydroxy- scher Schutzmechanismen.
lierung von Fettsäurederivaten, der Gallensäuresynthese, dem
Bilirubinstoffwechsel und dem Aminosäurestoffwechsel. Die wichtigste Quelle reaktiver Sauer-
stoffspezies ist die Ein-Elektronen-Reduktion
von molekularem Sauerstoff
20 Zusammenfassung Überwiegend entstehen reaktive Sauerstoffspezies durch die Ein-
Unter dem Begriff Oxidoreduktasen fasst man Enzyme Elektronen-Reduktion von molekularem Sauerstoff zum Super-

zusammen, die Redoxreaktionen katalysieren. Sie werden in oxidradikal O2. Sie kann physikalisch durch UV-Licht, Röntgen-
5 Gruppen eingeteilt: und Gammastrahlen induziert werden oder durch Autoxidation
4 Dehydrogenasen reduzierter Intermediate erfolgen. Grundsätzlich autoxidabel
4 Oxidasen sind Semichinone, Flavine, Glutathion und andere Thiole sowie
4 Hydroperoxidasen Hämoglobin und andere Komplexe von Übergangsmetallen.
4 Dioxygenasen Obwohl autoxidable Zwischenprodukte gewöhnlich gegen die
4 Monooxygenasen direkte Reaktion mit Sauerstoff abgeschirmt sind oder nur in
6 sehr geringer Konzentration vorliegen, entstehen in Nebenreak-
tionen vieler enzymatischer Umsetzungen signifikante Mengen
20.2 · Oxidativer Stress
255 20
an Superoxidradikalen. Bedeutend sind in diesem Zusammen-
hang Nebenreaktionen des Cytochrom P450 und der Komplexe I
und III der mitochondrialen Atmungskette, bei denen freies Su-
peroxid entstehen kann. Granulocyten nutzen die Bildung reak-
tiver Sauerstoffspezies zur Abwehr von Bakterien. In einem als
oxidative burst bezeichneten Prozess erzeugen diese Zellen mit
einer membranständigen NADPH-Oxidase extrazelluläres Su-
peroxid, das bakterizid wirkt (7 Kap. 69.2.1).
Die Superoxiddismutase wandelt zwei Superoxidmoleküle
durch Disproportionierung in Sauerstoff und Wasserstoffper-
oxid um. In Säugetieren gibt es drei verschiedene Typen von Su-
peroxiddismutasen, die sich sowohl durch ihre Lokalisation als
auch in ihrem aktiven Zentrum unterscheiden. Die dimere
CuZn-Superoxiddismutase (SOD1) wird fast ausschließlich im
Cytoplasma gefunden, die mitochondriale Mn-Superoxiddismu-
tase (SOD2) und die extrazelluläre CuZn-Superoxiddismuta-
se (SOD3) sind tetramer.
H2O2, das auch direkt durch die Aktivität verschiedener Oxi-
dasen (s. o.) entstehen kann, ist weniger aggressiv. Es kann je- . Abb. 20.2 Entstehung von Lipidperoxiden. Fettsäureradikale entstehen
z. B. unter der Einwirkung reaktiver Sauerstoffspezies auf mehrfach unge-
doch in Gegenwart von Fe2+ und anderen Übergangsmetallionen
sättigte Fettsäuren. Die anschließende Anlagerung von O2 führt zur Bildung
durch ein drittes Elektron in ein Hydroxylanion und das äußerst von Peroxylradikalen. Diese werden durch Abstraktion eines H-Radikals aus
reaktive )ZESPYZMSBEJLBM 0)t
gespalten werden (sog. Fenton- einer weiteren ungesättigten Fettsäure in die entsprechenden Peroxide
Reaktion). Hydroxylradikale können auch direkt durch Radioly- umgewandelt, sodass ein zyklischer Prozess entsteht, der große Mengen
se von Wasser entstehen. von Fettsäureperoxiden liefern kann

Reaktive Sauerstoffspezies schädigen peroxidation bezeichneten Reaktionen modifiziert. Aus-


Biomoleküle aller Art gangspunkt ist z. B. die Abstraktion eines Wasserstoffatoms
Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) führen zu Schäden an vielen von einer zwischen zwei Doppelbindungen gelegenen CH2-
Biomolekülen: Gruppe durch ein Hydroxylradikal und die Bildung eines
4 In der DNA werden infolge einer Modifikation der Desoxy- Alkylradikals:
ribose Strangbrüche induziert. Außerdem kommt es zur
t
Zerstörung bzw. Veränderung der verschiedenen Basen und –CH2 + OHt – CH– + H2O
damit zu Fehlpaarungen und Mutationen. Besonders häufig
ist die Bildung von Thymindimeren (7 Kap. 45.1) und die 4 Auch das protonierte Superoxid, das Perhydroxylradikal,
Entstehung von 8-Hydroxydesoxyguanosin. ist in der Lage, auf diese Weise Wasserstoff zu abstrahieren.
4 In Proteinen sind besonders Methionin-, Histidin- und Treffen zwei Alkylradikale aufeinander, können diese eine
Tryptophanreste, aber auch die Thiolgruppen der Cysteine C-C-Bindung ausbilden. Weit wahrscheinlicher ist aber die
empfindlich. ROS können direkt Reste im aktiven Zentrum Reaktion mit molekularem Sauerstoff zum Peroxylradi-
modifizieren oder Veränderungen von Raumstruktur und LBM300t. Peroxylradikale sind so reaktiv, dass sie unter
Funktion der betroffenen Proteine auslösen. So führt bei- Bildung eines Lipidhydroperoxids ihrerseits ein Wasser-
spielsweise die Oxidation von Methionin 358 im aktiven stoffatom von einem weiteren Lipidmolekül abstrahieren
Zentrum des α1-Antitrypsins zu einer drastischen Abnah- können (. Abb. 20.2). So werden in einer Kettenreaktion
me der Hemmwirkung auf Elastase. Dies wird mit der Ent- eine ganze Reihe von Lipidmolekülen durch ein einziges
stehung von Lungenemphysemen, speziell bei Rauchern, in Hydroxyl- oder Perhydroxylradikal modifiziert. In Folgere-
Verbindung gebracht. Ein gentechnologisch hergestelltes aktionen können verschiedene weitere Sauerstoffderivate
artifizielles α1-Antitrypsin, bei dem das Methionin 358 der Lipide entstehen, von denen z. B. das Alkoxylradikal
durch ein Valin ersetzt wurde, ist unempfindlicher gegen- (R-Ot) ebenfalls zur Wasserstoffabstraktion in der Lage ist.
über ROS. Im Mausmodell konnte so die Entstehung eines Durch derartige Modifikationen können die Eigenschaften
Lungenemphysems verhindert werden. der Lipide so tiefgreifend verändert werden, dass sich
4 Über die Schädigung von Kohlenhydraten durch oxidati- schwerwiegende funktionelle Konsequenzen für die Zelle
ven Stress ist bisher wenig bekannt. Immerhin weiß man, ergeben. Dies wird am Beispiel der oxidierten LDL beson-
dass Hyaluronsäure und Proteoglycane oxidativ depolyme- ders deutlich, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung der
risieren können. In der Synovialflüssigkeit vorkommende Arteriosklerose spielen. Ähnliche, jedoch spezifisch durch
Superoxiddismutase kann dies verhindern. Enzyme katalysierte Lipidoxidationen finden bei der Bil-
4 Die Auswirkung von ROS auf Membranlipide ist besonders dung von Eicosanoiden statt (7 Kap. 22.3.2). Dabei entste-
gut untersucht. Speziell die mehrfach ungesättigten Fett- hen natürlich keine schädlichen Intermediate, sondern
säuren werden in einer Reihe charakteristischer, als Lipid- wichtige Signalmoleküle.

Alkylradikal# Peroxylradikal#
256 Kapitel 20 · Oxidoreduktasen und oxidativer Stress

A Sind trotz dieser Schutzmechanismen oxidative Schäden auf-


getreten, versucht die Zelle, diese zu reparieren. Während diese
Reparatur bei DNA tatsächlich auf eine Instandsetzung hinaus-
läuft, werden beschädigte Proteine und Lipide gezielt abgebaut
und durch neue ersetzt.

Zusammenfassung
Reaktive Sauerstoffspezies entstehen meist durch Ein-Elek-
tronen-Reduktion von molekularem Sauerstoff. Häufig tritt
dies als Nebenreaktion von Oxidoreduktasen oder durch
B
energiereiche Strahlung auf.
Reaktive Sauerstoffspezies können zahlreiche zelluläre
Strukturen schädigen und Mutationen verursachen. Anti-
oxidantien und Enzyme wie Superoxiddismutase, Katalase
und Glutathionperoxidase wirken diesem »oxidativen
Stress« entgegen.

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. Abb. 20.3 Entstehung und Abbau reaktiver Sauerstoffspezies. A Das
Superoxidradikal entsteht durch Ein-Elektronen-Reduktion von Sauerstoff
im Gefolge biologischer Oxidationen. Durch zwei Dismutationsreaktionen
entstehen letztlich H2O und O2. B Durch GSH-Peroxidase und GSSG-Reduk-
tase wird H2O2 abgebaut. Die Glucose-6-Phosphatdehydrogenase ist das
wichtigste Enzym zur Bereitstellung von NADPH/H+. Glc-6-P: Glucose-
6-Phosphat; GSH: Glutathion; GSSG: oxidiertes Glutathion

Die Entgiftung reaktiver Sauerstoffspezies


erfolgt über enzymatische und nicht-enzymatische
Mechanismen
Zur Ausschaltung der zerstörerischen Wirkung reaktiver Sauer-
stoffspezies haben aerobe Organismen verschiedene Strategien
entwickelt. Zum einen werden zur Prävention Nebenreaktionen
sauerstoffabhängiger Metalloenzyme möglichst zurückgedrängt.
Eindrucksvollstes Beispiel ist der Komplex IV der Atmungskette,
bei dem die Superoxidstufe übersprungen und die O-O-Bindung
des Sauerstoffs sofort gespalten wird. Eine weitere Ebene der Prä-
vention ist das Abfangen reaktiver Verbindungen, bevor diese ein
Elektron auf Sauerstoff übertragen können. Ein Beispiel hierfür
sind die Glutathion-S-Transferasen, die reaktive Verbindungen
wie Semichinone durch Bildung von Thioethern neutralisieren,
die dann über entsprechende Transportsysteme in den extrazel-
lulären Raum gebracht werden. Sind reaktive Sauerstoffspezies
erst einmal entstanden, sorgen effektive enzymatische und nicht-
enzymatische Mechanismen für ihre Entgiftung.
20 4 Die enzymatische Entfernung der Sauerstoffradikale über-
nehmen Enzyme wie die Superoxiddismutase, Katalase und
Glutathionperoxidase (. Abb. 20.3).
4 Nicht-enzymatisch abgefangen werden Sauerstoffradikale
durch verschiedene Antioxidantien, von denen v. a. das
wasserlösliche Ascorbat (Vitamin C) und das lipidlösliche
α-Tocopherol (Vitamin E) von Bedeutung sind (7 Kap. 58.4,
59.1). α-Tocopherol »entschärft« Lipid-Peroxyl-Radikale
und unterbricht so die Lipidperoxidationskette. Das dabei
entstehende Tocopherolradikal kann durch Ascorbat neu-
tralisiert und Tocopherol regeneriert werden (7 Abb. 58.7).

reaktive Sauerstoffspezies Abbau GSH-Peroxidase GSSH-Reduktase Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase


257 21

21 Lipogenese und Lipolyse –


Bildung und Verwertung der Fettspeicher
Georg Löffler

Einleitung 21.1 Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen

Triacylglycerine stellen den größten und effizientesten Energiespeicher 21.1.1 Nahrungs- und Speicher- Triacylglycerine
des menschlichen Organismus dar. Sie kommen in nahezu allen Zellen
vor, werden jedoch in großen Mengen in einem spezifischen Gewebe, Triacylglycerine sind ein wesentlicher Bestandteil
dem Fettgewebe, gespeichert. der Nahrungslipide
Spezifische Lipasen sorgen für den Abbau (Mobilisation) von Nahrungs- Unter den in Europa und Nordamerika vorherrschenden Ernäh-
und Speicher-Triacylglycerinen (Lipolyse). Fettsäuren werden unter rungsbedingungen bestehen mehr als 40 % der mit der Nahrung
hohem ATP-Gewinn in Mitochondrien und teilweise in Peroxisomen zu zugeführten Energie aus Lipiden. Zu diesen gehören:
Acetyl-CoA und CO2 abgebaut. Bei Hunger und Diabetes mellitus findet 4 Triacylglycerine
der Fettsäureabbau verstärkt statt. Aus dem dabei anfallenden Acetyl- 4 Phospholipide
CoA synthetisiert die Leber die Ketonkörper und stellt sie peripheren 4 Sphingolipide
Organen zur Energiegewinnung zur Verfügung. 4 Cholesterin und Cholesterinester
Für die Biosynthese von Triacylglycerinen (Lipogenese) müssen ihre
Bausteine, Fettsäuren und Glycerin, zunächst in aktivierte Formen Triacylglycerine machen mengenmäßig den größten Anteil der
überführt werden. Leber und Fettgewebe können aus Acetyl-CoA, das Nahrungslipide aus. Vor ihrer Resorption werden sie durch die
beim Abbau von Nahrungskohlenhydraten entsteht, gesättigte Fettsäu- Pankreaslipase in ein Gemisch von Fettsäuren, Monoacylglyce-
ren synthetisieren. Doppelbindungen können nur im begrenzten Um- rinen und Glycerin gespalten (7 Kap. 61.1.3) und nach Mizellen-
fang in Fettsäuren eingeführt werden, weswegen ein Teil der im mensch- bildung mit Gallensäuren durch die Enterocyten resorbiert
lichen Körper vorkommenden ungesättigten Fettsäuren über die (7 Kap. 61.3.3).
Nahrung zugeführt werden muss. Biosynthese und Abbau von Fett- In den Epithelzellen des Intestinaltrakts erfolgt aus den resor-
säuren und Triacylglycerinen stehen in ganz engem Zusammenhang mit bierten Produkten der Pankreaslipase eine Resynthese von Tria-
dem Energiestoffwechsel des Organismus und werden an die jeweiligen cylglycerinen. Diese werden mit den entsprechenden Apolipo-
energetischen Bedürfnisse der Zellen angepasst. proteinen verpackt und als Chylomikronen (7 Kap. 24.1) in die
Lymphgänge abgegeben. Von dort werden sie auf die verschiede-
Schwerpunkte nen Gewebe verteilt.
4 Adipocyten-Triacylglycerinlipase, hormonsensitive Lipase
Triacylglycerine sind der mengenmäßig
und Lipoproteinlipase
bedeutendste Energiespeicher des Organismus
4 Glycerin- und Monoacylglycerinweg der Triacylglycerinbio-
Die meisten Zellen des Organismus sind imstande, Triacylglyce-
synthese
rine zu speichern, allerdings überwiegend in relativ geringen
4 Intrazelluläre Lipidtröpfchen
Mengen. Sie dienen hier, neben dem Glycogen, als rasch verfüg-
4 β-Oxidation und der Abbau von geradzahligen und unge-
bare Energiespeicher.
radzahligen, gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
Einen besonders umfangreichen Energiespeicher stellen die
4 Ketogenese und Verwertung von Ketonkörpern
Triacylglycerine des Fettgewebes dar. Fettzellen sind auf die Tri-
4 Acetyl-CoA-Carboxylase, Fettsäuresynthase mit Pantethein-
acylglycerinsynthese und -speicherung spezialisierte Zellen; bei
arm, Desaturasen und Elongasen
ihnen machen Triacylglycerine etwa 95 % der Zellmasse aus. Tri-
4 Regulation des Abbaus und der Synthese von Fettsäuren
acylglycerine können v. a. bei Nahrungskarenz rasch mobilisiert
und Triacylglycerinen
werden, womit die gespeicherte Energie der überwiegenden Zahl
der Gewebe des Organismus zur Verfügung steht (7 Kap. 38.1.3).
Bei Normalgewichtigen macht das Fettgewebe zwischen 10
und 15 % des Körpergewichtes aus. Die hier gespeicherte Energie
übertrifft diejenige des Glycogens bei weitem.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
258 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.1 Mechanismus der Lipolyse von Triacylglycerinen. Zur vollständigen Spaltung von Triacylglycerinen in Fettsäuren und Glycerin sind die
Aktivitäten der Adipocyten-Triacylglycerinlipase, der hormonsensitiven Lipase und der Monoacylglycerinlipase notwendig. Die verschiedenen Lipasen sind
durch Kreisflächen symbolisiert. Überlappungen zeigen die unterschiedlichen Spezifitäten gegenüber Tri- bzw. Diacylglycerinen an

21.1.2 Intrazelluläre Hydrolyse webe vor, mit wesentlich geringerer Aktivität im Skelett-
von Triacylglycerinen und Herzmuskel, der Leber und einigen anderen Geweben.
4 Überexpression des Enzyms führt zu einer deutlichen Stei-
Durch Lipolyse entstehen aus Triacylglycerinen gerung der basalen und durch Katecholamine stimulierten
Fettsäuren und Glycerin Lipolyse.
Die gespeicherten Triacylglycerine werden durch die in . Abb. 4 Bei Nahrungskarenz nimmt die Aktivität der ATGL stark zu.
21.1 dargestellten drei Reaktionsschritte intrazellulär zu Fettsäu-
ren und Glycerin hydrolysiert und diese Spaltprodukte zur De- Ein Knockout von ATGL vermindert die basale und stimulierte
ckung des Energiebedarfs oxidiert oder im Fall des Fettgewebes Lipolyse um etwa 75 %. Die Tiere zeigen massive Einlagerungen
in die Zirkulation abgegeben. Dieser Vorgang wird als Lipolyse von Triacylglycerinen nicht nur im Fettgewebe, sondern in na-
bezeichnet und die daran beteiligten Enzyme als Lipasen. Diese hezu allen Organen mit entsprechenden Funktionsausfällen. Die
Esterasen spalten die in Acylglycerinen vorkommenden Ester- nicht vollständige Reduktion zeigt aber auch, dass außer der
bindungen zwischen den Hydroxylgruppen des Glycerins und ATGL andere Lipasen, v. a. die HSL (s. u.) zur Spaltung von Tri-
der Carboxylgruppe von Fettsäuren. acylglycerinen imstande sind.

In den Fettzellen sind an der Lipolyse Hormonsensitive Lipase Die hormonsensitive Lipase (HSL) ist
drei unterschiedliche Lipasen beteiligt das bis jetzt am besten charakterisierte lipolytische Enzym. Sie
Die Spaltung der drei in Triacylglycerinen vorhandenen Ester- zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus:
bindungen wird durch drei unterschiedliche Lipasen katalysiert: 4 Die HSL zeigt eine breite Substratspezifität. Sie katalysiert
4 die Adipocyten-Triacylglycerinlipase (adipose triglyceride li- die Hydrolyse von Diacylglycerinen, aber auch von Tri- und
pase, ATGL) Monoacylglycerinen, Cholesterin- und Retinsäureestern.
21 4 die hormonsensitive Lipase (hormone sensitive lipase, HSL) Die HSL spaltet Diacylglycerine etwa 10-mal schneller als
4 die Monoacylglycerinlipase Triacylglycerine.
4 Sie kommt im Fettgewebe, Skelett- und Herzmuskel,
Adipocyten-Triacylglycerinlipase Dieses Enzym zeichnet sich Gehirn, in pankreatischen β-Zellen, der Nebenniere, den
durch folgende Eigenschaften aus: Ovarien, den Testes und Makrophagen vor.
4 Die ATGL spaltet Triacylglycerine mit hoher Aktivität zu 4 Die HSL gehört in die Gruppe der interkonvertierbaren
Diacylglycerinen, zeigt jedoch nur eine sehr geringe Aktivi- Enzyme. Sie wird durch cAMP-abhängige Phosphorylie-
tät gegenüber Diacyl- und Monoacylglycerinen. Das Enzym rung aktiviert und durch Dephosphorylierung inaktiviert
kommt in hoher Aktivität im weißen und braunen Fettge- (7 Kap. 8.5 und 7 Kap. 21.3.1).
21.1 · Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen
259 21

. Abb. 21.2 Einschleusung von Glycerin in den Glucosestoffwechsel

4 Ein Knockout von HSL führt nur zu einer etwa 40%igen


Reduktion der basalen und stimulierten Lipolyse. Im Fettgewebe der HSL–/–-Mäuse war die Diacylglycerinkon-
zentration gegenüber dem Wildtyp um ein Mehrfaches er-
Ein gleichzeitiger Knockout von ATGL und HSL führt zu einer höht.
etwa 95 %igen Verminderung der Lipolyserate. Daraus kann ge- Die männlichen Tiere waren wegen einer Oligospermie
schlossen werden, dass die Lipolyse ausschließlich durch ATGL steril.
und HSL bewerkstelligt wird. Einzelheiten zur hormonellen Re- Aus diesen Ergebnissen musste zwingend geschlossen wer-
gulation der Lipolyse (7 Kap. 21.3.1). den, dass außer der HSL noch weitere Lipasen vorkommen
müssen. Diese wurden schließlich auch entdeckt, womit
Die Monoacylglycerinlipase Eine Aktivität der Monoacylglyce- eine grundsätzliche Änderung der Vorstellungen über die
rinlipase wurde bereits vor 30 Jahren im Fettgewebe identifiziert. Lipolyse einherging.
Sie katalysiert den letzten Schritt der Lipolyse, nämlich die Spal-
tung von Monoacylglycerinen zu Glycerin und Fettsäuren. Über
eine Beteiligung dieses Enzyms an der Regulation der Lipolyse Bei der Lipolyse freigesetztes Glycerin wird
ist nichts bekannt. in der Leber weiter verwertet
Die durch Lipolyse freigesetzten Fettsäuren sind für die meisten
Gewebe ein gutes Substrat zur Deckung ihres Energiebedarfes.
Übrigens Eine Ausnahme machen die Zellen des Zentralnervensystems,
Nicht alles was in Lehrbüchern steht ist richtig oder: die ausschließlich auf Glycolyse eingestellten Zellen des Nieren-
Die gezielte Gen-Ausschaltung kann zu überraschen- marks und die Erythrocyten.
den Erkenntnissen führen Bei der lipolytischen Spaltung von Triacylglycerinen entsteht
Die hormonsensitive Lipase HSL des Fettgewebes wurde außer Fettsäuren als weiteres Produkt Glycerin. Dieses wird
zwischen 1970 und 1980 genauer charakterisiert und ihre überwiegend von der Leber, in geringerem Umfang auch von den
Regulation durch Phosphorylierung/Dephosphorylierung Mukosazellen des Intestinaltraktes, der Niere und den laktieren-
beschrieben. Der damals verwendete Test beruhte auf der den Milchdrüsen verwertet (. Abb. 21.2):
Spaltung von radioaktiv markierten Triacylglycerinen und 4 Durch die nur in diesen Geweben vorkommende Glycerin-
ergab eine hohe Aktivität des Enzyms gegenüber Triacyl- kinase wird Glycerin ATP-abhängig zu Glycerin-3-Phos-
glycerin, sodass man in der Folge davon ausging, dass das phat phosphoryliert.
Enzym eine durch cAMP-abhängige Phosphorylierung akti- 4 Glycerin-3-Phosphat wird in der Leber durch die Glycerin-
vierbare Triacylglycerinlipase ist. Diese Erkenntnisse wurden 3-Phosphatdehydrogenase zu Dihydroxyacetonphosphat
so in alle Lehrbücher der Biochemie aufgenommen und sind oxidiert und dieses dann in die Glycolyse oder Gluconeoge-
Gegenstand unzähliger Prüfungsfragen gewesen. nese eingeschleust. In den Mukosazellen des Intestinaltrak-
Mit der Entwicklung gentechnischer Methoden wurde tes wird Glycerin-3-Phosphat überwiegend zur Resynthese
natürlich auch das Gen für die HSL isoliert und charakteri- von Triacylglycerinen aus resorbierten Nahrungsfetten ver-
siert. Seine Überexpression in Mäusen führte erwartungs- wendet (7 Kap. 61.3.3).
gemäß zu Tieren mit verminderter Fettmasse und gesteiger-
ter Lipolyse. Gänzlich unerwartet waren jedoch Ergebnisse,
die mit Hilfe von HSL-Gen-Knockout-Tieren (HSL–/–) zustande 21.1.3 Extrazelluläre Hydrolyse
kamen: von Triacylglycerinen
Zwar waren die Adipocyten im weißen Fettgewebe der Tiere
vergrößert, die Fettmasse war jedoch gegenüber dem Wild- Für die Spaltung der im Plasma in Form von
typ nicht verändert. Chylomikronen und VLDL transportierten Triacylgly-
Die Fettsäurefreisetzung nach Behandlung von Fettgewebe cerinen ist die Lipoproteinlipase verantwortlich
mit Katecholaminen war in den HSL–/–-Mäusen nur geringfü- Beim Gesunden lassen sich im Serum Triacylglycerine in einer
gig vermindert. Konzentration zwischen 50–150 mg/100 ml nachweisen. Diese
6 stammen überwiegend aus der Triacylglycerinresorption der
Nahrungslipide (7 Kap. 61.3.3) bzw. aus der Triacylglycerinsyn-

Glycerin# Glycerin-3-Phosphat# Dihydroxyacetonphosphat# Glycerinaldehyd-3-Phosphat# Triosephos-


phat-Isomerase#
260 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.3 Lipoproteinlipase und die Aufnahme von Fettsäuren durch die Plasmamembran. Durch die Lipoproteinlipase (LPL) werden die in Chylo-
mikronen und VLDL transportierten Triacylglycerine (TG) gespalten. Die Aufnahme der freigesetzten Fettsäuren erfolgt durch FATP-Transporter
(FATP: fatty acid transport protein), die CD36-Fettsäuretranslokase und durch freie Diffusion. (Einzelheiten s. Text)

these der Leber. Im Serum werden sie in Form von triacylglyce- Zellen, besonders der Endothelzellen der Blutkapillaren. In-
rinreichen Lipoproteinen, v. a. Chylomikronen und VLDL jiziertes Heparin löst die Lipoproteinlipase aus der Bindung
(7 Kap. 24), transportiert und müssen von vielen Geweben, v. a. an Heparansulfatproteoglycane, sodass das Enzym im Blut-
dem Fettgewebe, dem Skelettmuskel und dem Herzmuskel, als plasma nachgewiesen werden kann.
Substrate zur Deckung des Energiebedarfs verwertet oder als 4 Das Apolipoprotein C II ist ein essentieller Cofaktor der
Energiespeicher angelegt werden. Lipoproteinlipase.

Triacylglycerine können nur in einem zweistufigen Vorgang von . Abb. 21.3 stellt die Funktionsweise und die Lokalisation der
Zellen aufgenommen werden: Lipoproteinlipase dar. In der Leber kommt anstatt der Lipopro-
4 extrazelluläre Spaltung der Triacylglycerine zu Fettsäuren teinlipase ein weiteres Enzym ähnlicher Funktion vor, die sog.
und Glycerin, hepatische Lipase.
4 Aufnahme der auf diese Weise freigesetzten Fettsäuren und
ggf. (s. o.) des Glycerins. Fettsäuren gelangen durch Diffusion und mit Hilfe
spezifischer Transportproteine durch die Membran
Für die Spaltung der Triacylglycerine in Lipoproteinen ist die Fettsäuren werden in der extrazellulären Flüssigkeit als Komplex
Lipoproteinlipase notwendig. Dieses Enzym zeichnet sich durch mit Albumin transportiert. Analysiert man die Kinetik der Fett-
folgende Eigenschaften aus: säureaufnahme in Zellen, so lässt sich neben der Diffusion durch
21 4 Die Lipoproteinlipase ist eine Lipase breiter Spezifität, die die Lipiddoppelschicht eine weitere, Carrier-vermittelte Kom-
die Triacylglycerine in Lipoproteinen zu Fettsäuren und ponente nachweisen. In . Abb. 21.3 sind die heutigen Vorstellun-
Glycerin spalten kann. gen über die beteiligten Mechanismen skizziert. Eine Diffusion
4 Die Lipoproteinlipase wird überwiegend von Fettgewebe von Fettsäuren durch die Plasmamembran der Zelle ist beson-
und Muskulatur einschließlich des Herzmuskels syntheti- ders bei hohen Fettsäurekonzentrationen wichtig. Für die Car-
siert und von diesen Geweben sezerniert. rier-vermittelte Fettsäureaufnahme stehen verschiedene
4 Die Lipoproteinlipase erlangt ihre Aktivität nach Dimeri- Transportproteine zur Verfügung:
sierung und Bindung an Heparansulfatproteoglycane 4 Das Fettsäuretransportprotein (fatty acid transport protein,
(7 Kap. 3.1.4) auf der Außenseite der Plasmamembran vieler FATP) wurde ursprünglich aus Adipocyten isoliert und
21.1 · Aufbau und Abbau von Triacylglycerinen
261 21
gehört zu einer Familie von bis jetzt sechs Mitgliedern 4 Durch die Lysophosphatidat-Acyltransferase (LPAAT)
(FATP 1–6), die außer bei Säugern auch bei Invertebraten wird unter Bildung von Phosphatidat ein weiterer Acylrest
wie Caenorhabditis elegans, Drosophila oder Hefe nachge- angefügt.
wiesen werden konnten. FATPs sind in Säugetiergeweben 4 Aus dem Phosphatidat wird durch eine Phosphatidatphos-
weit verbreitet, ihre gentechnische Ausschaltung (Knock- phohydrolase (PAP) ein 1,2-Diacylglycerin gebildet.
out) führt zu einer Verminderung der Fettsäureaufnahme, 4 Die Anheftung eines dritten Acyl-CoA durch die Diacylgly-
ihre Überexpression zu einer entsprechenden Steigerung. cerin-Acyltransferase (DGAT) schließt die Triacylglycerin-
Interessanterweise sind alle bisher untersuchten FATP’s mit biosynthese ab.
Acyl-CoA-Synthetaseaktivität assoziiert. Man nimmt des- Von allen Acyltransferasen und der Phosphatidatphosphohydro-
halb an, dass diese Proteine nicht nur den Fettsäuretrans- lase kommt eine Reihe von Isoenzymen vor, die sich in ihrer
port durch die Plasmamembran vermitteln, sondern bevor- Spezifität für Fettsäuren unterschiedlichen Sättigungsgrades und
zugt deren Aktivierung zum entsprechenden Acyl-CoA- Kettenlänge sowie in ihrer subzellulären Lokalisation unterschei-
Derivat katalysieren. den. Häufig ist die Bindung an Membranen des endoplasmati-
4 Die Fettsäuretranslokase (fatty acid translocase, FAT) wur- schen Retikulums, daneben gibt es aber auch mitochondriale
de ursprünglich als ein Oberflächenprotein von Thrombo- Acyltransferasen.
cyten isoliert und CD 36 benannt. Es handelt sich um ein
integrales Membranprotein, das vor allem im Herz- und Monoacylglycerinweg Diese Reaktionssequenz ist für die intes-
Skelettmuskel, im Fettgewebe und den Enterocyten des In- tinale Lipidresorption besondes wichtig, kommt aber auch in
testinaltraktes vorkommt. Eine gentechnische Ausschaltung anderen Geweben vor. Seine Bedeutung liegt u. a. darin, dass
des FAT-Gens führte zu einer drastischen Abnahme der durch ihn das Verhältnis der Signalmoleküle Monoacylglycerin
Fettsäureaufnahme in Skelett- und Herzmuskel, Fettgewebe und Diacylglycerin eingestellt werden kann (7 Kap. 22.3.1). Der
und Intestinaltrakt, nicht jedoch in der Leber. Monoacylglycerinweg umfasst folgende Reaktionen:
4 Durch die Monoacylglycerin-Acyltransferase (MGAT)
wird Monoacylglycerin zu Diacylglycerin acyliert.
21.1.4 Bildung von Triacylglycerinen 4 Diacylglycerin wird schließlich durch die DGAT (s. o.) in
Triacylglycerin umgewandelt.
Triacylglycerine werden aus Glycerin oder Mono-
acylglycerin und Fettsäuren synthetisiert Die ersten Schritte der Triacylglycerinbiosynthese sind mit de-
Die Biosynthese von Triacylglycerinen erfolgt entweder durch nen der Phospholipidbiosynthese (7 Kap. 22.1.1) identisch. Der
den Glycerin- oder durch den Monoacylglycerinweg. Verzweigungspunkt der beiden Stoffwechselwege ist das Diacyl-
glycerin (. Abb. 21.4). Infolgedessen ist die Diacylglycerin-Acyl-
Glycerinweg Der Glycerinweg dient der de novo-Biosynthese transferase das für die Triacylglycerinbiosynthese spezifische
von Triacylglycerinen. Hierzu müssen zunächst die Fettsäuren Enzym.
wie auch das Glycerin in ATP-abhängigen Reaktionen aktiviert
werden: Die synthetisierten Triacylglycerine werden
4 Die für die Triacylglycerinbiosynthese verwendeten Fett- intrazellulär in spezifischen Lipidtröpfchen
säuren werden mit Hilfe der ATP-abhängigen Acyl-CoA- gespeichert
Synthetase (7 Kap. 21.2.1) in Acyl-CoA umgewandelt. Mit Ausnahme der Erythrocyten sind alle Zellen zur Speiche-
4 Glycerin-3-Phosphat kann durch Reduktion von Dihydro- rung von Triacylglycerinen fähig, wobei diese Eigenschaft
xyacetonphosphat (DHAP) mit der Glycerin-3-Phosphatde- bei den Zellen des Fettgewebes am ausgeprägtesten ist, bei
hydrogenase gewonnen werden. Seine Verfügbarkeit steht denen 95 % der Zellmasse aus Triacylglycerinen besteht. Die
damit in direkter Verbindung zum Glucoseabbau in der fehlende Wasserlöslichkeit von Triacylglycerinen führt jedoch
Glycolyse (7 Kap. 14.1.1). In den meisten Geweben wird zu Problemen mit der Speicherung, die folgendermaßen gelöst
Glycerin-3-Phosphat auf diese Weise gewonnen. werden:
4 Die Leber, die Niere, die Darmmukosa und die laktierende 4 Die für die Triacylglycerinbiosynthese spezifische Diacyl-
Milchdrüse verfügen als Alternativweg zur Glycerin- glycerin-Acyltransferase ist ein integrales Membranprotein
3-Phosphatsynthese aus Dihydroxyacetonphosphat über die des endoplasmatischen Retikulums.
Möglichkeit, Glycerin durch direkte ATP-abhängige Phos- 4 Die von der Diacylglycerin-Acyltransferase synthetisierten
phorylierung in Glycerin-3-Phosphat umzuwandeln. Sie Triacylglycerine sammeln sich zwischen den beiden Blät-
sind hierzu mit einer entsprechend hohen Aktivität des En- tern der Membran des endoplasmatischen Retikulums an.
zyms Glycerinkinase ausgestattet. 4 Unter Mitnahme einer Einzelschicht von Phospholipiden
schnürt sich ein Lipidtröpfchen ab.
Die einzelnen Syntheseschritte (. Abb. 21.4) sind: 4 Während dieses Vorgangs oder unmittelbar danach erfolgt
4 Das Enzym Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase (GPAT) eine Beschichtung des Lipidtröpfchens mit spezifischen
katalysiert die Verknüpfung von Acyl-CoA mit Glycerin- Proteinen. Zu diesen gehören Mitglieder der Perilipinfami-
3-Phosphat zu Lysophosphatidat (Monoacylglycerinphos- lie oder das für die Lipolyse wichtige Protein CGI-58
phat). (7 Kap. 21.3.1).
262 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

21

. Abb. 21.4 Biosynthese von Triacylglycerinen durch den Glycerin- bzw. Monoacylglycerinweg. (Einzelheiten s. Text)

Triacylglycerinbiosynthese# Glucose# Glycerin# Glycerin-3-Phosphat# Acyl-CoA# Lysophosphatidat# Phosphatidat# Diacylglycerin# Triacylglycerine# Monoacylglycerine#
Triacylglycerinbiosynthese Glycerinweg Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase Lysophosphatidat-Acyltransferase Phosphatidat-Phosphohydrolase Monoacylglycerinweg Mono-
acylglycerin-Acyltransferase Diacylglycerin-Acyltransferase
21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
263 21
Lipidtröpfchen stellen ein dynamisches Kompartiment dar. Sie
können mit Caveolae, Endosomen, Mitochondrien oder Peroxi-
somen interagieren. Besonders wichtig ist ihre Fähigkeit zur re-
versiblen Fusionierung zu größeren Lipidtropfen, wie sie z. B. im
Fettgewebe vorkommen.

Zusammenfassung
Mengenmäßig macht die Fraktion der Triacylglycerine, die
auch den größten Energiespeicher des Organismus darstellt,
den größten Anteil der Lipide aus.
Durch intrazelluläre Lipolyse werden Triacylglycerine zu
Fettsäuren und Glycerin gespalten. Die hierfür verantwortli-
chen Enzyme sind die Adipocyten-Triacylglycerinlipase, die
hormonsensitive Lipase und die Monoacylglycerinlipase.
Die Spaltung der im Blutplasma vorhandenen Triacylglyceri-
ne erfolgt extrazellulär durch die Lipoproteinlipase. Die da-
bei freigesetzten Fettsäuren werden durch entsprechende
Transportsysteme aufgenommen.
Die Triacylglycerinbiosynthese beginnt mit der Biosynthese
von Lysophosphatidat aus Glycerin-3-Phosphat und Acyl-
CoA, gefolgt von der nochmaligen Acylierung und Phos-
phatabspaltung, so dass Diacylglycerin entsteht. Dieses wird
zu Triacylglycerin acyliert. In Enterocyten beginnt die Triacyl-
glycerinsynthese überwiegend mit der Acylierung von resor-
biertem Monoacylglycerin.

21.2 Abbau und Aufbau von gesättigten


und ungesättigten Fettsäuren

21.2.1 Die β-Oxidation von Fettsäuren

Fettsäuren werden durch β-Oxidation abgebaut


Schon Anfang des letzten Jahrhunderts konnte Franz Knoop den
experimentellen Nachweis erbringen, dass geradzahlige Fettsäu- . Abb. 21.5 Aktivierung von Fettsäuren zu Acyl-CoA durch die Acyl-
ren zu Essigsäure abgebaut werden. Dieser auch als β-Oxidation CoA-Synthetase
bezeichnete Mechanismus des Fettsäureabbaus ist u. a. durch die
Untersuchungen von Feodor Lynen aufgeklärt worden. Die für die Hydrolyseenergie der Acyladenylatbindung ungefähr derje-
die β-Oxidation benötigten Enzyme sind in der mitochondrialen nigen einer energiereichen Phosphatbindung entspricht, liegt das
Matrix lokalisiert. Sie befinden sich so in der Nähe der in der ΔG0‹ der Reaktion bei etwa 0. Nur aufgrund der Tatsache, dass
mitochondrialen Innenmembran gelegenen Enzyme der At- Pyrophosphat durch die in allen Zellen vorkommende Pyro-
mungskette. phosphatase in zwei anorganische Phosphate gespalten wird,
verlagert sich das Gleichgewicht der Reaktion auf die Seite der
Fettsäuren können nur als Thioester mit Coenzym A Acyladenylatbildung. Im zweiten Teil der Reaktion wird das Acy-
verstoffwechselt werden ladenylat mit Coenzym A gespalten, sodass Acyl-CoA und AMP
Da Fettsäuren chemisch relativ reaktionsträge Moleküle sind, entstehen. Auf diese Weise wird die energiereiche Anhydridbin-
müssen sie vor ihrem Abbau zunächst in einer ATP-abhängigen dung des Acyladenylates in eine energiereiche Thioesterbindung
Reaktion zu einem aktiven Zwischenprodukt, dem Acyl-CoA, umgewandelt.
aktiviert werden. Acyl-CoA-Synthetasen finden sich intra- und extramito-
Für diese Umwandlung zu »aktivierten« Fettsäuren ist eine chondrial und unterscheiden sich in ihrer Substratspezifität hin-
Acyl-CoA-Synthetase (Syn. Thiokinase) notwendig. Wie . Abb. sichtlich der Kettenlänge der zu aktivierenden Fettsäuren. Die
21.5 zeigt, katalysiert diese eine zweistufige Reaktion, in deren »langkettenspezifische« Acyl-CoA-Synthetase (long chain acyl-
ersten Teil die Carboxylgruppe der Fettsäure mit ATP unter Bil- CoA-synthetase) aktiviert besonders Fettsäuren mit einer Ketten-
dung eines Acyladenylates (Acyl-AMP) und Freisetzung von länge von 10–18 C-Atomen und ist in der äußeren Mitochon-
Pyrophosphat aus den β- und γ-Phosphaten des ATP reagiert. Da drienmembran lokalisiert. Da der Hauptteil der durch Lipolyse

Fettsäuren# β-Oxidation# ATP# Pyrophosphat# Acyladenylat# AMP# Acyl-CoA#


264 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.7 Carnitin als Carrier für den Transport langkettiger Fettsäu-
ren durch die mitochondriale Innenmembran. CPT: Carnitin-Palmityltrans-
ferase; CACT: Carnitin-Acylcarnitin-Translokase. Der Substrattransport durch
die äußere Mitochondrienmembran erfolgt durch Porine. (Einzelheiten
s. Text)

. Abb. 21.6 Reversible Bildung von Acylcarnitin aus Acyl-CoA


und Carnitin
Die β-Oxidation der Fettsäuren besteht
aus vier Einzelreaktionen
freigesetzten Fettsäuren in diese Kategorie gehört, ist dieses Die β-Oxidation der Fettsäuren beginnt mit Acyl-CoA und läuft
Enzym für den Stoffwechsel von besonderer Bedeutung. in folgenden Schritten ab (. Abb. 21.8):
4 Durch eine Acyl-CoA-Dehydrogenase wird Acyl-CoA
Fettsäuren werden als Carnitinester durch an den C-Atomen 2 und 3 (α und β) dehydriert, wobei
die innere Mitochondrienmembran transportiert ein ∆2-trans-Enoyl-CoA entsteht. Der Wasserstoffakzep-
Die Enzyme der β-Oxidation der Fettsäuren sind ausschließlich tor dieser ersten Oxidationsreaktion ist FAD. Das ent-
im mitochondrialen Matrixraum lokalisiert. Der weitaus größte stehende FADH2 gibt seine Reduktionsäquivalente an ein
Teil des für die β-Oxidation verwendeten Acyl-CoA entsteht je- anderes Flavoprotein weiter, das auch als ETF (electron
doch im Cytosol als Folge der Aufnahme von Fettsäuren aus dem transfering flavoprotein) bezeichnet wird. Dieses reagiert
extrazellulären Raum oder durch intrazelluläre Lipolyse. Da direkt mit dem Ubichinon der Atmungskette
Acyl-CoA-Moleküle mit Kettenlängen über 12 C-Atomen die (7 Kap. 19.1.2). Es gibt Isoformen der Acyl-CoA-Dehydro-
mitochondriale Innenmembran nicht passieren können, muss genase, die für verschiedene Kettenlängen der Acylreste
ein Transportsystem eingeschaltet werden: spezifisch sind.
Mit der Carnitin-Palmityltransferase 1 (CPT1, Carnitin- 4 Unter Katalyse durch eine Enoyl-CoA-Hydratase wird an
Acyltransferase 1) wird der Thioester durch Kopplung an L-Car- das ∆2-Enoyl-CoA Wasser angelagert, wobei L-3-Hydroxy-
nitin (4-Trimethylamino-3-Hydroxybutyrat) zum Acylcarnitin acyl-CoA entsteht.
umgeestert und CoA freigesetzt (. Abb. 21.6). Die CPT1 ist ein 4 Eine L-3-Hydroxyacyl-CoA-Dehydrogenase katalysiert die
integrales Protein der äußeren Mitochondrienmembran, dessen zweite Oxidationsreaktion der β-Oxidation der Fettsäuren.
aktives Zentrum zum Cytosol hin orientiert ist. Das Oxidationsmittel ist diesmal NAD+, Reaktionsprodukte
Acylcarnitin passiert die äußere Mitochondrienmembran sind 3-Ketoacyl-CoA und NADH/H+.
durch Porine und wird dann mit Hilfe der Carnitin-Acylcarnitin- 4 Im letzten Schritt der β-Oxidation wird unter Katalyse der
Translokase durch die innere Mitochondrienmembran trans- 3-Ketothiolase (β-Ketothiolase, 3-Oxo-Acyl-CoA-Thiolase)
portiert (. Abb. 21.7). ein Molekül Acetyl-CoA vom 3-Ketoacyl-CoA abgespalten.
Auf der Innenseite der mitochondrialen Innenmembran fin- Die Reaktionsprodukte sind Acetyl-CoA und ein um zwei
det der umgekehrte Vorgang statt. Der Fettsäurerest des Acylcar- C-Atome verkürztes Acyl-CoA. Dieses kann erneut in die
21 nitins wird durch die an der Innenseite der inneren Mitochond- β-Oxidation eintreten, sodass auf diese Weise die vollstän-
rienmembran gelegene Carnitin-Palmityltransferase 2 (CPT2, dige Zerlegung geradzahliger Fettsäuren zu Acetyl-CoA
Carnitin-Acyltransferase 2) auf Coenzym A übertragen, wobei möglich ist.
Acyl-CoA entsteht und freies Carnitin regeneriert wird.
Carnitin kommt in den meisten Organen vor. Muskelzellen, Alle Enzyme der β-Oxidation kommen
deren Kapazität zur β-Oxidation beträchtlich ist, verfügen auch in Kettenlängen-spezifischen Isoformen vor
über einen besonders hohen Carnitingehalt. Ein wichtiges Problem der β-Oxidation ist die Tatsache, dass die
für den Abbau vorgesehenen Fettsäuren sich während der Oxi-
dationszyklen sowohl in ihrer Kettenlänge als auch ihrer Wasser-

Acyl-CoA# Carnitin# CoA-SH# Acylcarnitin#


21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
265 21

. Abb. 21.8 Abbau geradzahliger Fettsäuren durch β-Oxidation. Der Name β-Oxidation rührt daher, dass die Oxidationen am C-Atom β (C-Atom 3) der
Fettsäuren erfolgen. (Einzelheiten s. Text)

löslichkeit dramatisch verändern. Deshalb gibt es für jede der Beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren
vier an der β-Oxidation beteiligten Enzymaktivitäten Isoenzyme, entsteht Propionyl-CoA
die sich nur durch ihre Lokalisation und Kettenlängenspezifität In der Milch von Wiederkäuern kommen in geringen Men-
unterscheiden: gen (ca. 3 % der Gesamtfettsäuren) Fettsäuren mit einer un-
Acyl-CoA-Moleküle mit Kettenlängen zwischen C12 und geraden Zahl von C-Atomen vor, die nach dem Verzehr von
C24 und mehr werden zunächst durch die VLC-Acyl-CoA-Dehy- Milch resorbiert und metabolisiert werden müssen. Ihr Abbau
drogenase (VLCAD, very long chain acyl-CoA-dehydrogenase) erfolgt durch β-Oxidation nach demselben Mechanismus wie
oxidiert. Dieses homodimere Enzym ist in der inneren Mito- bei geradzahligen Fettsäuren. Dabei bleibt allerdings beim
chondrienmembran lokalisiert. Im Matrixraum sind dagegen letzten Durchgang der β-Oxidation anstelle eines Acetyl-CoA
drei weitere Acyl-CoA-Dehydrogenasen nachweisbar, die jeweils ein aus drei C-Atomen bestehendes Acyl-CoA, das Propionyl-
für kürzerkettige Acyl-CoAs spezifisch sind. CoA, übrig.
Langkettige Enoyl-CoAs als Produkte der VLCAD werden Für die Einschleusung dieses Produktes in den Citratzyk-
durch ein sog. trifunktionelles Enzym umgesetzt, das ebenfalls lus sind insgesamt drei weitere Enzyme notwendig, die die in
mit der inneren Mitochondrienmembran assoziiert ist. Es ent- . Abb. 21.9 dargestellte Reaktionsfolge katalysieren:
hält eine Enoyl-CoA-Hydratase, Hydroxyacyl-CoA-Dehydroge- 4 Zunächst wird Propionyl-CoA durch die biotinabhängige
nase und 3-Ketothiolase, jeweils spezifisch für Kettenlängen Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 59.7) zum D-Methyl-
oberhalb von 12 C-Atomen. malonyl-CoA carboxyliert.
Nach Abbau einer langkettigen Fettsäure durch die memb- 4 Durch eine Epimerase (Racemase) erfolgt die Umlagerung
rangebundenen Enzyme VLCAD und trifunktionelles Enzym bis zum L-Methylmalonyl-CoA. Aus diesem entsteht durch
zu einer Kettenlänge von etwa 12 C-Atomen erfolgt die weitere eine Vitamin-B12-katalysierte Umgruppierung der Substi-
Oxidation durch lösliche Enzyme mit verschiedenen Kettenlän- tuenten am C-Atom 2 (7 Kap. 59.9) das Succinyl-CoA, wel-
genspezifitäten im Matrixraum. ches als Zwischenprodukt des Citratzyklus leicht oxidiert
werden kann.

Propionyl-CoA Carboxylierung Fettsäuren# β-Oxidation# Acyl-CoA# Acetyl-CoA# Δ^2^^-trans-Enoyl-CoA# L-3-Hydroxyacyl-CoA# 3-Ketoacyl-CoA# Fettsäuren
β-Oxidation Acyl-CoA-Dehydrogenase Enoyl-CoA-Hydratase L-3-Hydroxyacyl-CoA-Dehydrogenase 3-Ketothiolase
266 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.10 Für die Oxidation ungesättigter Fettsäuren benötigte


Hilfsmechanismen. Die benötigten Enzyme sind rot hervorgehoben.
(Einzelheiten s. Text)

∆3-cis-Enoyl-CoA wird durch eine ∆3-cis-∆2-trans-Enoyl-


CoA-Isomerase zu ∆2-trans-Enoyl-CoA umgelagert. Da jetzt
eine trans-Konfiguration an den C-Atomen 2 und 3 erzielt ist,
verläuft der nächste Zyklus der β-Oxidation ohne Schwierig-
keiten.
Das dabei gebildete ∆4-cis-Enoyl-CoA wird zunächst von der
. Abb. 21.9 Carboxylierung von Propionyl-CoA zu Methylmalonyl-CoA Acyl-CoA-Dehydrogenase zum ∆2-trans-∆4-cis-Dienoyl-CoA
und anschließende Umlagerung zu Succinyl-CoA. (Einzelheiten s. Text)
oxidiert (. Abb. 21.10, rechter Teil). Dieses wird in einer NADPH-
abhängigen Reaktion zum Δ3-cis-Enoyl-CoA reduziert. Durch
Außer beim Abbau von ungeradzahligen Fettsäuren entsteht die oben erwähnte Isomerase entsteht dann aus Δ3-cis-Enoyl-
Propionyl-CoA auch beim Abbau der Aminosäuren Methionin, CoA wieder das ∆2-trans-Enoyl-CoA.
Threonin, Isoleucin und Valin (. Abb. 27.22).
Bei der β-Oxidation der Fettsäuren entstehen
Für den Abbau ungesättigter Fettsäuren werden große Mengen von NADH+H+ und FADH2
Hilfsenzyme benötigt Die β-Oxidation liefert erhebliche Mengen an reduzierten was-
Da in den natürlichen Fettsäuren die Doppelbindung in der cis- serstoffübertragenden Coenzymen. Für den Abbau von Stearin-
(7 Kap. 3, 7 Tafel II.1), bei den Zwischenprodukten der β-Oxi- säure (18 C-Atome) ergibt sich:
21 dation der Fettsäuren jedoch in der trans-Konfiguration auf-
treten (. Abb. 21.8), ergeben sich für den Abbau ungesättigter Stearyl-CoA + 8 FAD + 8 NAD+ + 8 H2O + 8 CoA-SH
Fettsäuren gewisse Schwierigkeiten. Sie können durch die En- 9 Acetyl-CoA + 8 FADH2 + 8 NADH + 8H+
zyme der β-Oxidation abgebaut werden, bis ein ∆3-cis- oder ein
∆4-cis-Enoyl-CoA in Abhängigkeit von der jeweiligen ursprüng- Insgesamt fallen also 8 ∙ 2 [H] als FADH2 und 8 ∙ 2 [H] als
lichen Position der Doppelbindung in der abzubauenden Fett- NADH+H+ an. Beide wasserstoffübertragenden Coenzyme wer-
säure entsteht. Beim Abbau der Linolensäure wird z. B. nach den in der Atmungskette reoxidiert. Da hierbei pro NADH/H+
3 Zyklen der β-Oxidation das Δ3-cis-Enoyl-CoA gebildet (. Abb. 2,3 ATP und pro FADH2 1,4 ATP gebildet werden (7 Kap. 19.1.4),
21.10, linker Teil). ist die Energieausbeute der Fettsäureoxidation beträchtlich.
Propionyl-CoA# Propionyl-CoA-Carboxylase Biotin Methylmalonyl-CoA-Epimerase Racemase L-Methylmalonyl-CoA-Mutase Cobalamin Propionyl-CoA Carboxylierung
D-Methylmalonyl-CoA L-Methylmalonyl-CoA Succinyl-CoA Fettsäuren# ungesättigte# Oxidation# α-Linonenyl-CoA# ∆^4^^-<k>cis<kk>-Enoyl-CoA# ∆^2^^-<k>trans<kk>-
∆^4^^-<k>cis<kk>-Enoyl-CoA# ∆^3^^-<k>cis<kk>-Enoyl-CoA# ∆^2^^-<k>trans<kk>-Enoyl-CoA# Fettsäuren ungesättigte Oxidation Acyl-CoA-Dehydrogenase 2,4-Dienoyl-
CoA-Reduktase Isomerase
21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
267 21

. Tab. 21.1 Energieausbeute bei der β-Oxidation von 1 mol Stearyl-CoA (18 C-Atome) durch β-Oxidation und Citratzyklus (alle Angaben in mol).
Zum Vergleich sind die entsprechenden Angaben für die Oxidation von 3 Glucosen (ebenfalls 18 C-Atome) angegeben

Schritt Gebildete Reduktionäquivalente ATP-Gewinn bei der Reoxidation vona ATP-Gewinn durch Substrat-
kettenphosphorylierungb
NADH/H+ FADH2 NADH/H+ FADH2

Stearyl-CoA 9 Acetyl-CoA 8 8 21,6 12,8 –

9 Acetyl-CoA 18 CO2 + 18 H2O 27 9 72,9 14,4 9


c
ATP-Gewinn (Summe) 130,7

3 Glucose 6 Acetyl-CoA 12 – 32,4 – 6

6 Acetyl-CoA 12 CO2 + 12 H2O 18 6 48,6 9,6 6

ATP-Gewinn (Summe) 102,6


a Über die ATP-Ausbeute bei der Reoxidation von NADH/H+ und FADH2 in der oxidativen Phosphorylierung (7 Kap. 19.1.4).
b In Citratzyklus bzw. Glycolyse.
c Bezogen auf Stearinsäure müssen von diesem Wert noch 2 energiereiche Phosphate abgezogen werden, die bei der Aktivierung von Stearinsäure
zu Stearyl-CoA verbraucht werden.

. Tab. 21.1 gibt eine Übersicht über die maximal mögliche Ener- Der weitere Verlauf der peroxisomalen β-Oxidation ent-
gieausbeute bei der β-Oxidation der Fettsäuren im Vergleich zur spricht der der Mitochondrien. Allerdings gibt es in Peroxisomen
Oxidation von Glucose wieder. Die β-Oxidation kann nur unter keinerlei Mechanismen zur NADH/H+-Reoxidation, sodass die-
aeroben Bedingungen erfolgen, da es in den Mitochondrien kei- ses über die Abgabe von Reduktionsäquivalenten in den cytoso-
nerlei Hilfsreaktionen gibt, die FADH2 bzw. NADH/H+ in Abwe- lischen Raum reoxidiert werden muss.
senheit von Sauerstoff reoxidieren könnten. Die Enzyme des Citratzyklus fehlen in Peroxisomen. Deshalb
ist der Abbau des gebildeten Acetyl-CoA zu CO2 nicht möglich.
In Peroxisomen findet in beträchtlichem Umfang Er benötigt den Transfer von Acetylresten in den mitochondria-
Fettsäureoxidation statt len Matrixraum.
Außer in Mitochondrien können Fettsäuren auch in den Peroxi-
somen oxidiert werden. Im Prinzip laufen dabei die gleichen Re-
aktionen wie bei der mitochondrialen β-Oxidation ab, allerdings 21.2.2 Ketogenese und Ketonkörper-
ergeben sich einige Einschränkungen und für einzelne Enzyme verwertung
beträchtliche Unterschiede. Substrate der peroxisomalen Fett-
säureoxidation sind hauptsächlich: Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Blut und Urin von
4 Fettsäuren mit Kettenlängen über 22 C-Atomen, Diabetikern (7 Kap. 36.7) Aceton, β-Hydroxybuttersäure und
4 verzweigtkettige Fettsäuren, Acetessigsäure nachgewiesen. Wegen ihrer strukturellen Ver-
4 Fettsäuren mit einer Isoprenseitenkette wie die aus dem wandtschaft zum Aceton wurden die beiden letzten Verbindun-
Abbau von Chlorophyll entstehende Pristansäure gen auch als Ketonkörper bezeichnet. Heute weiß man, dass
(2,6,10,14-Tetramethylpentadecansäure), Ketonkörper auch unter physiologischen Bedingungen in der
4 die Seitenkette des Cholesterins bei der Synthese von Leber synthetisiert werden. Dieser Vorgang nimmt mit dem Aus-
Gallensäuren. maß der β-Oxidation der Fettsäuren zu. Die besonders bei Insu-
linmangel und im Hungerzustand gebildeten Ketonkörper wer-
Im Gegensatz zur mitochondrialen β-Oxidation verläuft die den von der Leber an das Blutplasma abgegeben und in extrahe-
peroxisomale nur über zwei bis maximal fünf Zyklen. Sie dient patischen Geweben, besonders in der Muskulatur, in beträchtli-
damit eher der Verkürzung langkettiger Fettsäuren als der voll- chem Umfang oxidiert.
ständigen Oxidation zu Acetyl-CoA. Die Einschleusung von
Acyl-CoA in die Peroxisomen ist nicht carnitinabhängig. Die Ketonkörper werden ausschließlich
peroxisomale Acyl-CoA-Dehydrogenase katalysiert folgende in der Leber synthetisiert
Reaktion: Die Leber hat als einziges Organ die Fähigkeit zur Ketonkörper-
biosynthese, kann Ketonkörper allerdings nicht verwerten. Da-
Acyl-CoA + O2 trans-∆2-Enoyl-CoA + H2O2 her findet ein ständiger Fluss von Ketonkörpern von der Leber
zu den extrahepatischen Geweben statt.
Das Enzym benötigt FAD als Cofaktor. Das entstehende H2O2 . Abb. 21.11 gibt den Ablauf der mitochondrial lokalisierten
wird durch eine entsprechende peroxisomale Katalase (7 Kap. Ketonkörperbiosynthese wieder. Sie erfolgt in einer dreistufigen
20.1.1) eliminiert. Reaktion:
268 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.12 Succinyl-CoA-abhängige Aktivierung von Ketonkörpern zu


Acetacetyl-CoA

Vor ihrer Verwertung müssen Ketonkörper


mit Coenzym A aktiviert werden
. Abb. 21.12 stellt die zur Verwertung von Ketonkörpern in ex-
trahepatischen Geweben benötigten Reaktionen zusammen.
D-β-Hydroxybutyrat wird zunächst zu Acetacetat oxidiert. An-
schließend erfolgt eine Transacylierung, bei der der Succinylrest
eines Succinyl-CoA gegen Acetacetat ausgetauscht wird. Das
. Abb. 21.11 Biosynthese der Ketonkörper Acetacetat,
hierfür verantwortliche Enzym ist die Succinyl-CoA-Acetacetyl-
β-Hydroxybutyrat und Aceton aus Acetacetyl-CoA und Acetyl-CoA
CoA-Transferase (3-Ketoacyl-CoA-Transferase). Das dabei ge-
bildete Acetacetyl-CoA kann in die β-Oxidation eingeschleust
werden. Zur Verwertung von Ketonkörpern durch das ZNS s.
4 Durch Umkehr der Reaktion der 3-Ketothiolase, des letz- 7 Kap. 74.4.1.
ten Enzyms der β-Oxidation der Fettsäuren, entsteht aus Durch Decarboxylierung von Acetacetat entstandenes Ace-
zwei Molekülen Acetyl-CoA Acetacetyl-CoA. ton kann nicht in nennenswertem Umfang verwertet werden.
4 Unter Katalyse durch die β-Hydroxy-β-Methylglutaryl-
CoA-Synthase wird ein weiteres Molekül Acetyl-CoA an
den Carbonylkohlenstoff des Acetacetyl-CoA geheftet. 21.2.3 Bildung gesättigter Fettsäuren
Hierbei entsteht β-Hydroxy-β-Methylglutaryl-CoA aus Acetyl-CoA
(HMG-CoA) (über die Bedeutung des cytosolischen
HMG-CoA für die Cholesterinbiosynthese, 7 Kap. 23.3). Die Biosynthese gesättigter Fettsäuren findet
4 In einer dritten Reaktion spaltet die HMG-CoA-Lyase unter im Cytosol statt und benötigt Malonyl-CoA
Freisetzung von Acetacetat ein Acetyl-CoA ab. Der größte Teil der im tierischen Organismus vorkommenden
Die Herkunft der C-Atome des Acetacetates wird aus Fettsäuren besitzt eine gerade Zahl von C-Atomen, da die Bio-
21 . Abb. 21.11 ersichtlich. synthese von Fettsäuren durch Kondensation von Bruchstücken
aus zwei C-Atomen (= Acetyleinheiten) erfolgt.
Acetacetat wird durch eine NADH-abhängige D-β-Hydro- In den meisten Zellen können zum Teil in beträchtlichem
xybutyratdehydrogenase, die außer in der Leber auch in vielen Umfang langkettige Fettsäuren mit einer geraden Anzahl von
anderen Geweben vorkommt, zu D-β-Hydroxybutyrat redu- C-Atomen aus Acetylresten synthetisiert werden. Dieser Vor-
ziert. Durch spontane nicht-enzymatische Decarboxylierung gang ist keine Umkehr der β-Oxidation der Fettsäuren. Er:
kann aus Acetacetat auch Aceton entstehen, das über die Atem- 4 findet bei allen Eukaryonten im Cytosol statt,
luft und im Urin ausgeschieden wird. D-β-Hydroxybutyrat 4 wird durch ein multifunktionelles Enzym, die Fettsäure-
macht den Hauptanteil der Ketonkörper in Blut und Urin aus. synthase, katalysiert,
Ketonkörpersynthese 3-Keto-Thiolase HMG-CoA-Synthase HMG-CoA-Lyase β-Hydroxybutyrat-Dehydrogenase Ketonkörpersynthese# Acetyl-CoA# Acetacetyl-CoA#
β-Hydroxy-β-methylglutaryl-CoA (HMG-CoA)# Acetacetat# Aceton# D-β-Hydroxybutyrat# Ketonkörper# Aktivierung# β-Hydroxybutyrat# Acetacetat# Acetacetyl-
CoA# Succinyl-CoA# Succinat# Ketonkörper Aktivierung β-Hydroxybutyrat-Dehydrogenase
21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
269 21
Die Teilreaktionen der Fettsäuresynthase Die verschiedenen für
die Fettsäurebiosynthese aus Acetyl-CoA und Malonyl-CoA not-
wendigen Reaktionsschritte werden durch das dimere, multi-
funktionelle Enzym der Fettsäuresynthase (s. u.) katalysiert. Im
Fettsäuresynthasekomplex kommen in jedem Monomer zwei für
. Abb. 21.13 Biotinabhängige Carboxylierung von Acetyl-CoA zu Malo-
nyl-CoA
seine Funktion essentielle SH-Gruppen vor, eine sog. zentrale
und eine periphere. Die zentrale Sulfhydrylgruppe gehört zu ei-
nem Molekül, das sich auch als Bestandteil des Coenzym A fin-
4 benötigt NADPH/H+ als Reduktionsmittel und det. Es handelt sich um das 4’-Phosphopantethein (. Abb.
4 benötigt Malonyl-CoA anstelle von Acetyl-CoA. 21.14). Dieses ist covalent mit einem Serylrest der Acyl-Carrier-
Domäne der Fettsäuresynthase verknüpft. Die periphere Sulfhy-
Den Arbeitsgruppen von Feodor Lynen und Roy Vagelos ist die drylgruppe gehört zu einem Cysteinylrest im aktiven Zentrum
Aufklärung der einzelnen bei der Fettsäurebiosynthese beteilig- der kondensierenden Domäne.
ten Reaktionen gelungen. Sie konnten zeigen, dass die Fettsäure- Die Fettsäurebiosynthese mit Hilfe der Fettsäuresynthase
biosynthese zwar vom Acetyl-CoA ausgeht und durch Verlänge- läuft in folgenden Schritten ab (. Abb. 21.15):
rung der Fettsäurekette um jeweils zwei C-Atome fortgesetzt 4 Der Acetylrest des Startermoleküls Acetyl-CoA wird an die
wird. Es war jedoch nicht möglich, mit gereinigter Fettsäuresyn- zentrale Sulfhydrylgruppe gebunden.
thase eine Fettsäurebiosynthese aus Acetyl-CoA in Gang zu set- 4 Der Acetylrest wird auf die periphere Sulfhydrylgruppe
zen. Eine Erklärung für diesen Befund bietet die Tatsache, dass übertragen.
der Fettsäuresynthase eine der 3-Ketothiolase (7 Kap. 21.2.1) 4 Die jetzt wieder freie zentrale Sulfhydrylgruppe übernimmt
entsprechende Aktivität fehlt. Sie benutzt für die Kondensation einen Malonylrest vom Malonyl-CoA. Für diese Reaktionen
der Acetylreste an die wachsende Fettsäurekette nicht Acetyl- ist die Malonyl/Acetyltransferase-Domäne (MAT) der Fett-
CoA, sondern Malonyl-CoA, das einem carboxylierten Acetyl- säuresynthase (. Abb. 21.16) verantwortlich.
CoA entspricht (. Abb. 21.13). 4 Die Ketoacylsynthase-Domäne (KS, kondensierende
Die bei der für die Kettenverlängerung notwendigen Decar- Domäne) der Fettsäuresynthase katalysiert die Konden-
boxylierungen freiwerdende Energie verschiebt dann das Gleich- sation des Acetyl- mit dem Malonylrest, wobei unter
gewicht der Reaktion auf die Seite der Kondensation. Decarboxylierung ein Acetacetylrest entsteht, der an die
Das für die Kondensationsreaktion benötigte Malonyl-CoA zentrale SH-Gruppe gebunden ist. Bei den folgenden drei
wird durch eine Carboxylierungsreaktion aus Acetyl-CoA und Reaktionen verbleibt dieser Acylrest als Thioester an der
CO2 unter Katalyse der biotinabhängigen Acetyl-CoA-Carboxy- zentralen SH-Gruppe.
lase bereitgestellt (. Abb. 21.13). 4 Die folgende sog. »erste« Reduktion besteht in einer
Der Mechanismus der Acetyl-CoA-Carboxylase entspricht NADPH-abhängigen Reaktion zum D-3-Hydroxybutyryl-
damit dem anderer biotinabhängiger Carboxylierungen rest. Die zugehörige Domäne wird als β-Ketoacylenzym-
(7 Kap. 59.7). Reduktase-Domäne (Ketoreduktase, KR) bezeichnet.
4 Durch eine Dehydratasedomäne (DH) wird ein ∆2-Enoyl-
Die Fettsäuresynthase katalysiert sämtliche rest erzeugt.
Teilreaktionen der Fettsäurebiosynthese 4 Die sog. »zweite« Reduktion, die wiederum NADPH-ab-
Bei der Fettsäurebiosynthese werden an ein als Startermolekül hängig verläuft, wandelt den ungesättigten in einen gesät-
dienendes Acetyl-CoA sukzessive Bruchstücke aus zwei C-Ato- tigten Acylrest um (Enoylreduktase, ER).
men (= Acetatreste) gehängt, die vom Malonyl-CoA abstammen. 4 Dieser wird im folgenden Zyklus von der zentralen auf die
Das bedeutet, dass zur Synthese von Palmitat 7 mol, zur Synthe- periphere SH-Gruppe übertragen, die nun freie zentrale
se von Stearat 8 mol, Malonyl-CoA pro mol synthetisierter Fett- Sulfhydrylgruppe übernimmt den nächsten Malonylrest
säure verbraucht werden. und der Zyklus beginnt erneut.

. Abb. 21.14 4’-Phosphopantethein als prosthetische Gruppe der Acyl-Carrier-Domäne der Fettsäuresynthase

Acylcarrier-Domäne# Polypeptidkette# Serinrest# 2,4-Dihydroxy-3-dimethyl-Buttersäure# β-Alanin# Cysteamin# 4’-Phosphopantethein#


270 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.15 Einzelreaktionen der Biosynthese langkettiger, geradzahliger Fettsäuren aus Acetyl-CoA. SHp: periphere SH-Gruppe;
SHz: zentrale SH-Gruppe. (Einzelheiten s. Text)

Die oben beschriebenen Zyklen wiederholen sich, bis der Acyl- Die tierische Fettsäuresynthase besteht aus
rest auf eine Länge von 16–18 C-Atomen (beim Menschen 16 C- einem dimeren Komplex zweier multifunktioneller
Atome) angewachsen ist, anschließend wird er durch die Thio- Proteine
esterasedomäne (TE) abgespalten. Bei vielen Bakterien, Pflanzen und einigen Einzellern werden die
Teilaktivitäten der Fettsäuresynthase als individuelle Enzympro-
Abspaltung und Aktivierung der synthetisierten Fettsäure In der teine synthetisiert und assoziieren mit dem Acyl-Carrier-Protein
Hefe und in einigen Mikroorganismen wird die Palmitin- bzw. zu einem Multienzymkomplex, der durch geeignete experimen-
Stearinsäure von der zentralen Sulfhydrylgruppe direkt auf freies telle Behandlung in seine Einzelkomponenten zerlegt werden
Coenzym A übertragen und somit als Acyl-CoA aus dem Syn- kann. Dagegen liegt die Fettsäuresynthase tierischer Organismen
thasekomplex entlassen. Bei der Fettsäurebiosynthese in tieri- als dimeres multifunktionelles Protein vor, das sämtliche zu ei-
schen Organen wird die Fettsäure durch Hydrolyse aus dem En- nem vollständigen Reaktionszyklus benötigten Enzymaktivitä-
21 zymkomplex freigesetzt. Danach muss sie zu ihrer weiteren Ver- ten als Domänen auf einer Peptidkette enthält (. Abb. 21.16A).
wendung im Stoffwechsel in einer ATP-abhängigen Reaktion N-terminal befindet sich die Domäne der Ketoacylsynthase, ge-
durch eine Acyl-CoA-Synthetase (7 Kap. 21.2.1) zum Acyl-CoA folgt von der Malonyl-Acetyltransferase, der Dehydratase, der
aktiviert werden. Enoylreduktase, der Ketoreduktase, des Acyl-Carrier-Proteins
. Abb. 21.15 macht auch verständlich, dass sich der Kohlen- und schließlich der für die Abspaltung der fertigen Fettsäure be-
stoff des Acetyl-CoA, das als Starter für die Fettsäurebiosynthese nötigten Thioesterase.
diente, beispielsweise im Palmitat als die C-Atome 15 und 16 Die beiden das funktionelle Enzym bildenden identischen
wiederfindet. Untereinheiten sind so assoziiert, dass zwei katalytische Zentren
entstehen (. Abb. 21.16B). Der Phosphopantheteinrest der Acyl-

Fettsäuren langkettige geradzahlige Biosynthese Acyltransfer Malonyltransfer


21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
271 21

. Abb. 21.16 Aufbau der tierischen Fettsäuresynthase. Die tierische Fettsäuresynthase hat eine Größe von etwa 200 Å × 150 Å und liegt als dimeres Pro-
tein vor. A Jede Untereinheit trägt die für die vollständige Synthese von Fettsäuren aus Acetyl-CoA und Malonyl-CoA benötigten Enzymaktivitäten als funk-
tionelle Domänen. Der Pantetheinrest der zentralen SH-Gruppe ist durch die gezackte Linie angedeutet, die periphere SH-Gruppe befindet sich in der
KS-Domäne. B Schematische Darstellung der röntgenkristallographisch ermittelten Raumstruktur der tierischen Fettsäuresynthase. Die rechte Untereinheit
(Kasten) ist mit der linken verflochten. Beide bilden zwei unabhängige Reaktionszentren. Der Pantetheinrest des ACP dient als Schwingarm, der die wach-
sende Fettsäurekette zu den einzelnen, enzymatisch aktiven Domänen trägt (Einzelheiten s. Text). KS: Ketoacylsynthase; MAT: Malonyl-Acetyltransferase;
DH: Dehydratase; ER: Enoylreduktase; KR: Ketoreduktase; ACP: Acyl-Carrier-Domäne; TE: Thioesterase; ΨKR und ΨME: funktionslose Pseudoketoreduktase
und Pseudomethyltransferase ; LD: Linker-Domäne. (Adaptiert nach Maier et al. 2008, © AAAS)

Carrier-Domäne jeder Untereinheit dient als Schwingarm, der Läuft die Fettsäurebiosynthese mit maximaler Geschwindig-
die wachsende Fettsäurekette zu jeder der für die Kettenverlän- keit ab, genügt der aus dem Pentosephosphatweg zur Verfügung
gerung benötigten Teilaktivitäten trägt. Interessanterweise ist gestellte Wasserstoff nicht mehr. In diesem Fall kann NADPH/
eine einzelne isolierte Untereinheit nicht aktiv, wahrscheinlich H+ über die extramitochondriale Isocitratdehydrogenase er-
weil im monomeren Zustand die korrekte Konformation nicht zeugt werden (7 Kap. 18.4). Wichtiger ist aber die dehydrierende
aufrechterhalten werden kann. Decarboxylierung von Malat zu Pyruvat, die durch das ebenfalls
im Cytosol lokalisierte Malatenzym (7 Kap. 18.4) katalysiert
Die für die Fettsäurebiosynthese benötigten Substra- wird. Da das für diese Reaktion benötigte extramitochondriale
te entstammen der Glycolyse oder dem Citratzyklus Malat aus Oxalacetat stammt, ergibt das Zusammenspiel von
. Abb. 21.17 stellt die Beziehungen zwischen Fettsäurebiosynthe- Malatdehydrogenase (Gleichung 1) und Malatenzym (Glei-
se und Kohlenhydratstoffwechsel dar. Dieser kann sowohl den chung 2) in der Bilanz eine Wasserstoffübertragung von NADH/
für die Fettsäurebiosynthese benötigten Wasserstoff als auch den H+ auf NADP+ (Gleichung 3):
Kohlenstoff liefern.
Oxalacetat + NADH + H+ Malat + NAD+ (1)
Herkunft des Wasserstoffs Für die beiden während der Fettsäure-
biosynthese ablaufenden Reduktionsschritte wird Wasserstoff in Malat + NADP+
Form von NADPH/H+ benötigt. Dieser stammt zu einem großen Pyruvat + CO2 + NADPH + H+ (2)
Teil aus dem oxidativen Abbau der Glucose über den Pentose-
phosphatweg (7 Kap. 14.1.2). Bezeichnenderweise sind diejeni- zusammen:
gen Gewebe, die über eine beträchtliche Aktivität dieses Stoff-
wechselwegs verfügen, auch im Besitz einer besonders aktiven Oxalacetat + NADH + H+ + NADP+
Lipogenese. Zu ihnen gehören die Leber, das Fettgewebe und die Pyruvat + CO2 + NAD+ + NADPH + H+ (3)
laktierende Milchdrüse. Da sowohl der Pentosephosphatweg als
auch die Fettsäurebiosynthese im Cytoplasma ablaufen, können Herkunft des Kohlenstoffs Acetyl-CoA ist die Kohlenstoffquelle
beide Prozesse den cytoplasmatischen NADPH/H+-Pool ohne für die Biosynthese der Fettsäuren, da es das Startermolekül wie
Behinderung durch Permeabilitätsschranken benutzen. auch die Ausgangssubstanz für die Biosynthese von Malonyl-CoA
272 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.17 Wechselbeziehungen zwischen Glucoseabbau und Fettsäurebiosynthese. Die für die Fettsäurebiosynthese aus Glucose wichtigen
Zwischenprodukte sind rot gerastert. Geschwindigkeitsbestimmende Enzyme dieses Prozesses unterliegen einer hormonalen bzw. metabolischen
Regulation, die durch die grünen und roten Pfeile dargestellt ist. PP-Weg: Pentosephosphatweg. 1 Pyruvat-Carrier; 2 Ketoglutarat/Malat (= Dicarboxylat)-
Carrier; 3 Tricarboxylat-Carrier. (Einzelheiten s. Text)

darstellt. Ein Teil des Acetyl-CoA entsteht durch dehydrierende tiert werden 3 . Durch die dort lokalisierte ATP:Citratlyase wird
Decarboxylierung von aus der Glycolyse stammendem Pyruvat Citrat in Oxalacetat und Acetyl-CoA umgewandelt:
durch die Pyruvatdehydrogenase (7 Kap. 18.2). Da diese ein mi-
tochondriales Enzym ist, muss Pyruvat durch einen entsprechen- Citrat + ATP + CoA-SH
21 den Transporter von Mitochondrien aufgenommen werden 1 . Oxalacetat + Acetyl-CoA + ADP + Pi
Das in der mitochondrialen Matrix durch die Pyruvatdehydroge-
nase erzeugte Acetyl-CoA muss für die cytosolische Fettsäurebio- Das dabei entstehende Oxalacetat wird durch die NADH-abhän-
synthese wieder aus dem mitochondrialen Matrixraum ausge- gige Malatdehydrogenase zu Malat reduziert, welches ohne
schleust werden. Da jedoch Acetyl-CoA die mitochondriale In- Schwierigkeit durch den Dicarboxylat-Carrier in den mitochon-
nenmembran nicht permeieren kann, wird es durch Reaktion mit drialen Raum zurücktransportiert werden kann 2 . Eine weitere
Oxalacetat zu Citrat umgewandelt, wofür die Citratsynthase zur Möglichkeit für das aus cytosolischem Oxalacetat gebildete Ma-
Verfügung steht. Citrat kann nun durch den Tricarboxylat-Carri- lat besteht in der oben erwähnten Umwandlung zu Pyruvat und
er aus dem mitochondrialen in den cytosolischen Raum transpor- CO2 durch Einschalten des Malatenzyms.

Fettsäurebiosynthese Glucoseabbau Pyruvatkinase Malatenzym Acetyl-CoA-Carboxylase Malatdehydrogenase ATP:Citrat-Lyase


Pyruvatcarboxylase Pyruvatdehydrogenase Citratsynthase
21.2 · Abbau und Aufbau von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren
273 21

. Abb. 21.18 Mechanismus der durch Desaturasen katalysierten Biosynthese ungesättigter Fettsäuren aus gesättigten Fettsäuren. Die dargestellte
Reaktionsfolge findet unter Katalyse eines membrangebundenen Enzymkomplexes aus NADPH-Cytochrom-b5-Reduktase, Cytochrom b5 und Desaturase
statt. (Einzelheiten s. Text)

Auf diese Weise kann Glucosekohlenstoff über den Umweg abgezogen. Dabei entsteht eine Doppelbindung und zwei Mole-
der mitochondrialen Citratbildung in Form von Acetyl-CoA küle Wasser werden freigesetzt. Zwei der Elektronen entstam-
der cytosolischen Fettsäurebiosynthese zur Verfügung gestellt men somit dem NADPH/H+, zwei weitere der Einfachbindung
werden. des Acyl-CoA.

In tierischen Zellen kommen nur


21.2.4 Einführung von Doppelbindungen Δ9-, Δ6- und Δ5-Desaturasen vor
in Fettsäuren Die Desaturasen tierischer Zellen zeichnen sich dadurch aus,
dass sie nur Doppelbindungen erzeugen können, die nicht weiter
Sowohl der Schmelzpunkt von Triacylglycerinen als auch die als 9 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt sind. Man un-
Membranfluidität (7 Kap. 11.2) hängen vom Anteil ein- oder terscheidet im Einzelnen:
mehrfach ungesättigter Fettsäuren in den entsprechenden Lipi-
den ab. Ungesättigte Fettsäuren sind darüber hinaus Vorläufer Δ9-Desaturasen Sie bilden eine Gruppe von Enzymen, die
essentieller Signalmoleküle wie beispielsweise der Eicosanoide als Substrate Palmityl- und v. a. Stearyl-CoA verwerten, wes-
(7 Kap. 22.3.2). Deshalb ist die Einführung von Doppelbindun- wegen sie auch als Stearyl-CoA-Desaturasen bezeichnet wer-
gen in die durch die Fettsäuresynthase gebildeten gesättigten den. Wie ihr Name sagt, führen sie eine Doppelbindung am
Fettsäuren eine für alle Lebensformen außerordentlich wichtige C-Atom 9 dieser Fettsäuren ein, sodass als Reaktionsprodukte
Funktion. Die für den Stoffwechsel des Säugerorganismus wich- Palmitoleyl-CoA bzw. Oleyl-CoA entstehen. Beide Fettsäuren
tigen ungesättigten Fettsäuren sind in 7 Tab. 3.6 (7 Kap. 3) zu- werden in Triacylglycerine und die verschiedenen Membranli-
sammengestellt. Wegen der spezifischen Eigenschaften der tieri- pide eingebaut. Man kennt inzwischen vier Isoformen der
schen Fettsäuredesaturasen (s. u.) können lediglich Palmitole- Δ9-Desaturasen, die sich durch unterschiedliche Organverteilun-
in- und Ölsäure in tierischen Zellen synthetisiert werden. Linol- gen auszeichnen.
und Linolensäure müssen dagegen mit der Nahrung zugeführt
werden, sind also essentielle Fettsäuren. Von diesen geht auch Δ6- und Δ5-Desaturasen Diese Gruppe von Enzymen führt Dop-
die Biosynthese der weiteren in 7 Tab. 3.6 angeführten mehrfach pelbindungen an den C-Atomen 5 bzw. 6 von ungesättigten
ungesättigten Fettsäuren aus. Fettsäuren ein. Bevorzugte Substrate sind Linolenyl-CoA
(Δ9,12,15-Octadecatrienoyl-CoA) bzw. Linoleyl-CoA (Δ9,12-Octa-
Für die Biosynthese ungesättigter Fettsäuren decadienoyl-CoA) (. Abb. 21.19). In diese Fettsäuren, die von
aus gesättigten Fettsäuren werden Desaturasen tierischen Organismen nicht synthetisiert werden können und
und Elongasen benötigt deshalb als essentielle Fettsäuren bezeichnet werden, fügen die
Desaturasen sind an das endoplasmatische Retikulum gebunde- Δ6- und Δ5-Desaturasen zusätzliche Doppelbindungen ein, so-
ne Enzymkomplexe aus einer NADPH-Cytochrom-b5-Reduk- dass weitere mehrfach ungesättigte Fettsäuren (polyunsaturated
tase, Cytochrom b5 und der eigentlichen Desaturaseaktivität fatty acids, PUFA) entstehen. Auch diese werden u. a. in Phos-
(. Abb. 21.18). Ihr Reaktionsmechanismus entspricht demjeni- pholipide eingebaut.
gen mischfunktioneller Oxygenasen. Zunächst werden Elektro-
nen von NADPH/H+ auf FAD übertragen, das als Coenzym der Für die Biosynthese längerkettiger Fettsäuren
NADPH-Cytochrom-b5-Reduktase dient. Das Häm-Eisen des werden Elongationssysteme benötigt
Cytochrom b5 wird dadurch zur zweiwertigen Form reduziert. Die von tierischen Zellen synthetisierten Fettsäuren haben
Von ihm werden Elektronen auf ein binucleäres Eisenzentrum 16‒18 C-Atome, die essentiellen Fettsäuren Linol- und Linolen-
der Desaturase übertragen. Ein Elektronenpaar reagiert danach säure 18 C-Atome. In vielen Membranen kommen jedoch mehr-
mit dem Sauerstoff, ein weiteres wird vom gesättigten Acyl-CoA fach ungesättigte Fettsäuren mit 20, 22 und mehr C-Atomen vor
274 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

. Abb. 21.19 Biosynthese von mehrfach ungesättigten Fettsäuren aus der ω-3-Fettsäure Linolsäure bzw. der ω-6-Fettsäure Linolensäure. Dargestellt
sind die Biosyntheseschritte nach Aktivierung der Fettsäuren zum entsprechenden Acyl-CoA. Über die Einteilung der Fettsäuren in ω-3- und ω-6-
Fettsäuren und deren ernährungsphysiologische Bedeutung s. 7 Kap. 57.1.3. (Einzelheiten s. Text)

(7 Kap. 3, 7 Tab. 3.6). Neben den Desaturasen ist für deren Bio- entsprechenden Acyl-CoA mit folgenden Reaktionen syntheti-
synthese ein im endoplasmatischen Retikulum lokalisiertes Elon- siert (s. . Abb. 21.19):
gationssystem notwendig. Neben dem zu verlängernden Acyl- 4 In einem ersten Schritt wird dabei durch die Δ6-Desaturase
CoA benötigt es Malonyl-CoA und NADPH/H+. Die vom Elon- eine neue Doppelbindung eingeführt, so dass Δ6,9,12,15-
gationssystem katalysierten Reaktionen entsprechen den Teil- Octadecatetraenoyl-CoA bzw. Δ6,9,12-Octadecatrienoyl-
reaktionen der Fettsäurebiosynthese, jedoch wird für jede CoA gebildet wird.
Teilreaktion ein eigenes Enzym benötigt. 4 Durch Kettenverlängerung um zwei C-Atome entstehen aus
der 4fach ungesättigten C18-Fettsäure das Δ8,11,14,17-
Die für den Stoffwechsel besonders wichtigen Eicosatetraenoyl-CoA und aus der 3fach ungesättigten C18-
mehrfach ungesättigten Fettsäuren mit Fettsäure das Δ8,11,14-Eicosatrienoyl-CoA (Dihomo-γ-
20 C-Atomen entstehen durch Kombination Linolensäure), jeweils mit 20 C-Atomen.
21 von Desaturasen und Elongationssystemen 4 In diese Verbindungen wird durch die Δ5-Desaturase je eine
Durch Kombination von Desaturasen und Verlängerungsenzy- weitere Doppelbindung eingeführt. Dabei entstehen das
men entstehen die besonders wichtigen, in 7 Tab. 3.6 genannten Δ5,8,11,14,17 Eicosapentaenoyl-CoA (EPA-CoA) bzw. das
mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Δ5,8,11,14-Eicosatetraenoyl-CoA, das Arachidonyl-CoA.
Die für die Biosynthese der sog. Eicosanoide (7 Kap. 22.3.2) 4 Die auf diese Weise synthetisierten Acyl-CoAs werden in
benötigten Substrate sind die beiden ω-6-Fettsäuren Arachidon- Membranphospholipide eingebaut und so »gespeichert«.
säure und Dihomo-γ-Linolensäure sowie die ω-3-Fettsäure Ei-
cosapentaensäure (EPA). Sie werden aus den essentiellen Fett- Mit Hilfe ähnlicher Reaktionen gelingt auch die Biosynthese an-
säuren Linol- bzw. Linolensäure nach deren Aktivierung zum derer, mehrfach ungesättigter Fettsäuren. Allerdings kann im

ω-3-Fettsäuren α-Linolenyl-CoA Δ8,11,14,17-Eicosatetraenoyl-CoA Δ5,8,11,14,17-Eicosapentaenoyl-CoA ω-6-Fettsäuren Linoleyl-CoA Δ6,9,12-Octadecatrienoyl-


CoA γ-Linolenyl-CoA Δ8,11,14-Eicosatrienoyl-CoA Dihomo-γ-Linolenyl-CoA Δ5,8,11,14-Arachidonyl-CoA Eicosatetraenoyl-CoA Δ6-Desaturase Elongase
21.3 · Regulation von Lipogenese und Lipolyse
275 21
tierischen Organismus jede neue Doppelbindung nur zwischen
bereits vorhandenen Doppelbindungen und der Carboxylgruppe Kettenverlängerung mehrfach ungesättigte Fettsäuren
der Fettsäure eingeführt werden (s. o.). synthetisiert.
4 Von besonderer Bedeutung sind dabei mehrfach unge-
sättigte Fettsäuren mit 20 C-Atomen, v. a. die Arachidon-
Zusammenfassung säure.
4 Fettsäuren können nur als Thioester mit Coenzym A ver-
stoffwechselt werden. Für diese Reaktion sind Acyl-CoA-
Synthetasen verantwortlich.
4 Da der Fettsäureabbau intramitochondrial lokalisiert ist, 21.3 Regulation von Lipogenese und Lipolyse
ist ein Fettsäuretransport durch die mitochondriale In-
nenmembran notwendig. Dieser erfolgt ab einer Ketten- 21.3.1 Regulation der Bildung und Mobilisation
länge von 14 C-Atomen als Acylcarnitin nach vorheriger von Triacylglycerinen
Übertragung des Acylrestes von Acyl-CoA auf Carnitin.
Im mitochondrialen Matrixraum findet dann unter Triacylglycerine sind der größte Energiespeicher des Organis-
Bildung von Acyl-CoA die Rückreaktion statt. mus. Deswegen wird der Triacylglycerinstoffwechsel sehr genau
4 Intramitochondrial werden die Fettsäuren in einem sich reguliert (. Abb. 21.20 und 21.21).
wiederholenden zyklischen Prozess schrittweise zu Ace-
tyl-CoA abgebaut. Jeder Zyklus dieser β-Oxidation bein- Katecholamine sind die wichtigsten Stimulatoren
haltet zwei Oxidationsreaktionen, eine Hydratisierung der Lipolyse
sowie die thiolytische Abspaltung von Acetyl-CoA. Die Behandlung von Fettgewebe mit Katecholaminen löst eine
4 Für den Abbau ungesättigter Fettsäuren sind zusätzliche Steigerung der Freisetzung von Fettsäuren und Glycerin um bis
Hilfsreaktionen notwendig, die die Doppelbindungen das Einhundertfache aus. Dieser durch β-Rezeptoren
entfernen. (7 Kap. 37.2.4) vermittelte Effekt beruht auf einem sehr komple-
4 Beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren entsteht Pro- xen Zusammenspiel der an der Lipolyse beteiligten Lipasen
pionyl-CoA, das durch biotin- und cobalaminabhängige (7 Kap. 21.1.2) und der Hüllproteine des Lipidtropfens
Reaktionen in Succinyl-CoA umgewandelt wird. (7 Kap. 21.1.4):
4 Das bei der β-Oxidation gebildete Acetyl-CoA kann für 4 Im unstimulierten Zustand ist der Lipidtropfen von einer
Biosynthesen verwendet werden, dient aber vorrangig Proteinhülle aus Perilipin umgeben, an welches das zweite
der Energieerzeugung. Beim vollständigen Abbau zu Hüllprotein CGI-58 gebunden ist. Die in diesem Zustand
CO2 und H2O ist die Energieausbeute wesentlich höher wenig aktive Adipocytentriacylglycerinlipase (ATGL) ist
als beim Abbau von Glucose ebenfalls mit dem Lipidtröpfchen assoziiert, dagegen befin-
4 In den Peroxisomen findet ebenfalls eine β-Oxidation det sich die hormonsensitive Lipase (HSL) im Cytosol. Be-
statt, die v. a. der Verkürzung von Fettsäuren mit Ketten- handlung mit Katecholaminen setzt über β-Rezeptoren eine
längen über 22 C-Atomen dient. Aktivierung der Adenylatcyclase mit Zunahme der cAMP-
4 Bei stark gesteigerter β-Oxidation wie bei Nahrungs- Konzentration in Gang. Die dadurch aktivierte Protein-
karenz und Diabetes mellitus entstehen nur in der Leber kinase A phosphoryliert Perilipin und die hormonsensitive
aus Acetyl-CoA die Ketonkörper als wasserlösliche Deri- Lipase.
vate von Fettsäuren, die Substrate für eine Reihe extra-
hepatischer Gewebe sind.
4 Die Fettsäurebiosynthese geht vom Acetyl-CoA aus. Sie
ist im Cytosol lokalisiert und findet an einem multi-
funktionellen Enzym, der Fettsäuresynthase, statt.
4 Mechanistisch handelt es sich dabei um die Umkehr der
Reaktionen der β-Oxidation, allerdings bleiben die
Substrate und Zwischenprodukte an zwei essentiellen
SH-Gruppen der Fettsäuresynthase gebunden und als
Reduktionsmittel wird NADPH/H+ verwendet. Das
Substrat der Fettsäurebiosynthese ist das durch Carbo-
xylierung von Acetyl-CoA entstehende Malonyl-CoA.
4 In tierischen Zellen können Doppelbindungen in gesät-
tigte Fettsäuren eingefügt werden, allerdings nicht weiter
als 9 C-Atome von der Carboxylgruppe entfernt. Aus den
essentiellen Fettsäuren Linolsäure und Linolensäure
. Abb. 21.20 cAMP-abhängige Phosphorylierung von Perilipin und hor-
werden durch Einführung neuer Doppelbindungen und monsensitiver Lipase bei der Lipolyse. HSL: hormonsensitive Lipase;
6 CGI-58, Perilipin: Hüllproteine von Lipidtröpfchen; ATGL: Adipocyten-Tria-
cylglycerinlipase; PKA: Proteinkinase A. (Einzelheiten s. Text)
276 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

Kost steigt die Aktivität der für die Triacylglycerinbiosynthese


verantwortlichen Enzyme dagegen dramatisch an. Da diese erst
seit kurzer Zeit charakterisiert sind, ist über ihre Regulation im
Gegensatz zum lipolytischen System noch relativ wenig bekannt
(. Abb. 21.21):
4 Die Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase (GPAT) wird
durch Insulin induziert, wobei die Beteiligung des Tran-
skriptionsfaktors SREBP-1c (7 Kap. 15.3.1) gesichert ist. Au-
ßerdem wird das Enzym durch Interkonvertierung regu-
liert, es kann durch Proteinkinase A phosphoryliert und
damit inaktiviert werden. Auch die AMP-abhängige Pro-
teinkinase (AMPK, 7 Kap. 38.1.1) ist zur Inaktivierung der
GPAT imstande.
4 Die Phosphatidatphosphohydrolase (PH) wird durch
Acyl-CoA aktiviert.
4 Da Diacylglycerin an einer Verzweigungsstelle der Lipid-
biosynthese steht, muss angenommen werden, dass auch
die Diacylglycerin-Acyltransferase (DGAT) reguliert wird.
Behandlung von Zellen mit Insulin und Glucose führt zu
einer Zunahme der DGAT-Aktivität, über die zugrunde lie-
genden Mechanismen ist jedoch noch nichts bekannt.

21.3.2 Regulation der β-Oxidation


und Fettsäurebiosynthese

Die Geschwindigkeit der β-Oxidation der Fettsäuren


wird hauptsächlich durch die Aktivität der Carnitin-
Palmityltransferase 1 reguliert
Intrazelluläre Fettsäuren liegen, unabhängig davon ob sie durch
die Plasmamembran aufgenommen bzw. durch Lipolyse oder
Biosynthese erzeugt wurden, zunächst im Cytoplasma vor. Sie
werden dort durch die Acyl-CoA-Synthetase in Acyl-CoA um-
. Abb. 21.21 Regulation der Lipogenese. AMPK: AMP-abhängige Protein-
gewandelt und verschiedenen Stoffwechselwegen zugeführt. Für
kinase; DGAT: Diacylglycerin-Acyltransferase; DHAP: Dihydroxyacetonphos-
phat; GPAT: Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase; LPAT: Lysophosphatidat- ihre Oxidation in der mitochondrialen Matrix ist eine Umeste-
Acyltransferase; PH: Phosphatidatphosphohydrolase; PKA: Proteinkinase A; rung auf Carnitin unter Bildung von Acylcarnitin mit der Carni-
SREBP: sterol response element binding protein. Dicke grüne Pfeile bedeuten tin-Palmityltransferase 1 (7 Kap. 21.2.1) notwendig. Dies ist der
Induktion, dünne grüne Pfeile Aktivierung. (Einzelheiten s. Text) geschwindigkeitsbestimmende Schritt der β-Oxidation der Fett-
säuren. Das Enzym wird durch folgende Mechanismen reguliert
(. Abb. 21.22):
4 CGI-58 wird nicht mehr vom phosphorylierten Perilipin 4 Malonyl-CoA ist ein Inhibitor der Carnitin-Palmityltrans-
gebunden und wirkt jetzt als Aktivator der ATGL. Die Spal- ferase 1. Hohe Spiegel von Malonyl-CoA treten immer bei
tung von Triacylglycerinen zu Diacylglycerinen beginnt. gesteigerter Fettsäurebiosynthese auf (7 Kap. 21.2.3). Unter
4 Die HSL wird durch die Phosphorylierung aktiviert und diesen Umständen wäre es sinnlos, die synthetisierten Fett-
bindet über das phosphorylierte Perilipin an den Lipidtrop- säuren der Oxidation zuzuführen.
fen. Die Spaltung von Diacylglycerinen wird in Gang gesetzt. 4 Langkettige Fettsäuren steigern die Expression der Carni-
tin-Palmityltransferase 1. Hierfür ist der ligandenaktivierte
Sinkt der cAMP-Spiegel, z. B. bei erhöhten Insulinkonzentratio- Transkriptionsfaktor PPARα (peroxisome proliferator acti-
21 nen, werden Perilipin und HSL durch die Proteinphosphata- vated receptor) verantwortlich, der möglicherweise durch
se PP1 dephosphoryliert und damit die Lipolyse abgeschaltet. die Bindung von Metaboliten langkettiger Fettsäuren akti-
viert wird. PPARα wird außerdem durch eine als Fibrate
Die Enzyme der Lipogenese werden durch den bezeichnete Gruppe von Arzneimitteln aktiviert, die zur
Ernährungszustand und Hormone reguliert Bekämpfung von Hyperlipidämien eingesetzt werden, weil
Viele experimentelle Daten haben eindeutig gezeigt, dass die Ak- sie u. a. zu einer Peroxisomenproliferation führen (Name
tivität der Triacylglycerinbiosynthese in vielen Geweben vom von PPAR!).
Ernährungszustand abhängig ist. Bei Nahrungskarenz werden 4 Schilddrüsenhormone induzieren die Expression der Car-
keine Triacylglycerine synthetisiert. Bei kohlenhydratreicher nitin-Palmityltransferase 1. Dies dient dazu, den unter dem
21.3 · Regulation von Lipogenese und Lipolyse
277 21

. Abb. 21.22 Regulation der β-Oxidation der Fettsäuren sowie der Fettsäurebiosynthese. AMPK: AMP-abhängige Proteinkinase; PPAR: Peroxisomen
Proliferator Aktivator Rezeptor; PUFA (engl. polyunsaturated fatty acids): mehrfach ungesättigte langkettige Fettsäuren; PDH: Pyruvatdehydrogenase; PKA:
Proteinkinase A. Dicke Pfeile bedeuten Induktion (grün) bzw. Repression (rot), dünne Pfeile Aktivierung (grün) bzw. Hemmung (rot). (Einzelheiten s. Text)

Einfluss von Schilddrüsenhormonen erhöhten Energiebe- die in einer phosphorylierten inaktiven und einer dephosphory-
darf durch Steigerung der β-Oxidation der Fettsäuren zu lierten aktiven Form vorkommt (7 Abb. 18.5). In Geweben, die
decken. eine aktive Lipogenese betreiben, besteht eine direkte Proportio-
nalität zwischen dem aktiven Anteil der Pyruvatdehydrogenase
Die in die mitochondriale Matrix translozierten Fettsäuren wer- und der Geschwindigkeit der Fettsäurebiosynthese. Dies zeigt
den überwiegend von den dort lokalisierten Enzymen der sich besonders deutlich am Fettgewebe, wo eine lebhafte Lipoge-
β-Oxidation zu Acetyl-CoA abgebaut und in den Citratzyklus nese aus Kohlenhydraten stattfinden kann. Hier spielt Insulin
eingeschleust. Es gibt experimentelle Hinweise dafür, dass auch (7 Kap. 36.5) eine entscheidende Rolle:
einige der Enzyme der β-Oxidation durch PPARα induziert wer- 4 Insulin beschleunigt den Glucosetransport in die Fettzelle
den. und erhöht dadurch das Pyruvatangebot als Substrat für die
mitochondriale Pyruvatdehydrogenase.
Die Fettsäurebiosynthese wird auf der Stufe der 4 Unter dem Einfluss von Insulin wird die Pyruvatdehydroge-
Pyruvatdehydrogenase, der Acetyl-CoA-Carboxy- nase aus der inaktiven in die aktive Form überführt. Ohne
lase und der Fettsäuresynthase reguliert Insulin, also im Hunger oder bei Diabetes mellitus, liegen
Pyruvatdehydrogenase Bei fettarmer Ernährung müssen Fett- weniger als 10 % der Pyruvatdehydrogenase des Fettgewe-
säuren aus Glucose synthetisiert werden. Dabei wird das durch bes in der aktiven Form vor.
Glycolyse erzeugte Pyruvat intramitochondrial durch die Pyru-
vatdehydrogenase in Acetyl-CoA umgewandelt. Anschließend Neben der hormonellen findet auch eine metabolische Regula-
kann der Acetylkohlenstoff in Form von Citrat aus den Mito- tion der Pyruvatdehydrogenase statt. Die im Hunger und bei
chondrien ausgeschleust werden und dient dann der Fettsäure- Insulinmangel auftretende Lipolyse (7 Kap. 38.1.4) führt zu einer
biosynthese (7 Kap. 21.2.3). Der geschwindigkeitsbestimmende Beschleunigung der β-Oxidation mit Erhöhung der intramito-
Schritt in dieser Reaktionsfolge ist die Pyruvatdehydrogenase, chondrialen Quotienten Acetyl-CoA/CoA-SH und NADH/
278 Kapitel 21 · Lipogenese und Lipolyse – Bildung und Verwertung der Fettspeicher

NAD+. Änderungen dieser Quotienten führen zu einer Hem-


mung der Aktivität des Pyruvatdehydrogenasekomplexes Zusammenfassung
(7 Kap. 18.2). Substratzufuhr bzw. Substratmangel bestimmen das Ver-
hältnis von Lipogenese bzw. Lipolyse. Nahrungskarenz führt
Acetyl-CoA-Carboxylase Die Acetyl-CoA-Carboxylase ist das zu einer Inaktivierung der lipogenetischen und zu einem
geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Fettsäurebiosynthese Überwiegen der lipolytischen Enzyme.
aus Acetyl-CoA. Es unterliegt einer komplexen Regulation durch Die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert das
allosterische Effektoren, covalente Modifikation und Beeinflus- Hüllprotein Perilipin, was zu einer Freisetzung des Proteins
sung seiner Genexpression (. Abb. 21.22): CG-58 führt, das jetzt als Aktivator der Adipocyten-Triacyl-
4 Die Acetyl-CoA-Carboxylase kommt in einer inaktiven glycerinlipase wirkt.
monomeren Form und einer aktiven polymeren Form vor. Die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert und
Das aktive polymere Enzym setzt sich aus 10–20 Protome- aktiviert die hormonsensitive Lipase und stimuliert die
ren zusammen und erscheint im Elektronenmikroskop als Lipolyse.
filamentöse Struktur. Der Übergang in die aktive, polymere Für die Lipogenese ist das Insulin als Aktivator der Glycerin-
Form wird in vitro durch Tricarboxylatanionen, besonders 3-Phosphat-Acyltransferase wichtig. Dieses Enzym wird
Citrat, stimuliert. außerdem durch Phosphorylierung inaktiviert, wofür die
4 Acyl-CoA ist ein Inhibitor der Acetyl-CoA-Carboxylase. Proteinkinase A und die AMP-aktivierte Proteinkinase ver-
Das Auftreten dieses Metaboliten bedeutet, dass der Acyl- antwortlich sind.
CoA-Pool aufgefüllt ist und eine weitere Fettsäuresynthese Die Phosphatidatphosphohydrolase wird durch Acyl-CoA
nicht notwendig ist. aktiviert.
4 Die Acetyl-CoA-Carboxylase kann durch die AMP-abhän- Die Translokation von Acylresten durch das Carnitin-Acyl-
gige Proteinkinase (7 Kap. 38.1.1) phosphoryliert und carnitin-System der Mitochondrienmembranen ist für die
inaktiviert werden. Damit wird verhindert, dass bei einem β-Oxidation der Fettsäuren limitierend. Die geschwindig-
zellulären Energiemangel mit Erhöhung der AMP-Spiegel keitsbestimmende Carnitin-Palmityltransferase 1 wird
Fettsäuren synthetisiert werden. durch Malonyl-CoA gehemmt und durch Schilddrüsen-
4 Besonders am Herz- und Skelettmuskel ist eine Phosphory- hormone und Liganden des Transkriptionsfaktors PPARα
lierung der Acetyl-CoA-Carboxylase mit der cAMP-abhän- induziert.
gigen Proteinkinase A beschrieben worden. Dies erklärt die Die Acetyl-CoA-Carboxylase ist das geschwindigkeitsbestim-
Hemmung der Fettsäuresynthese durch Katecholamine. mende Enzym der Fettsäuresynthese. Sie wird durch Acyl-
4 Schließlich wird die Acetyl-CoA-Carboxylase durch Gluco- CoA gehemmt und durch Citrat aktiviert. Reversible Phos-
se und Insulin induziert und durch Acyl-CoA reprimiert. phorylierung durch die AMP-abhängige Proteinkinase und
Diese Regulation gewährleistet, dass bei überschüssiger Proteinkinase A führt zur Inaktivierung. Insulin und Glucose
Zufuhr von Nahrungsstoffen, insbesondere von Kohlen- sind starke Induktoren, Acyl-CoA ist ein Repressor des
hydraten, eine Speicherung dieser Nahrungsstoffe in Form Enzyms.
von Fettsäuren und Triacylglycerinen erfolgen kann. Insulin und Glucose induzieren die Fettsäuresynthase, cAMP
und mehrfach ungesättigte Fettsäuren reprimieren sie.
Fettsäuresynthase Anders als bei der Pyruvatdehydrogenase
und der Acetyl-CoA-Carboxylase ist für die Fettsäuresynthase
keine Regulation durch allosterische Effektoren oder Interkon- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
vertierung bekannt. Das Enzym wird aber durch eine Reihe
unterschiedlicher Faktoren induziert oder reprimiert ( . Abb.
21.22):
4 Insulin ist zusammen mit Glucose ein starker Induktor der
Fettsäuresynthase, wobei wiederum der Transkriptions-
faktor SREBP-1c beteiligt ist. Dies erklärt die starke Zu-
nahme der Fettsäurebiosynthese bei kohlenhydratreicher
und fettarmer Ernährung.
4 Hormone, die zu einer Steigerung der cAMP-Konzentration
21 führen, z. B. Katecholamine oder Glucagon, reprimieren
die Fettsäuresynthase.
4 Langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren sind
starke Repressoren der Fettsäuresynthase.

Diese Regulationsmechanismen erlauben eine wirkungsvolle


Anpassung der Fettsäurebiosynthese und damit der Lipogenese
an das Nahrungsmittelangebot und gewährleisten eine Hem-
mung der Fettsäuresynthese bei Nahrungskarenz.
279 22

22 Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden


Georg Löffler

Einleitung sind, muss zunächst durch Veresterung von zwei Hydroxylgrup-


pen des Glycerin-3-Phosphats mit zwei Molekülen Acyl-CoA ein
Amphiphile Lipide wie Phosphoglyceride und Sphingolipide sind Bau- Phosphatidat hergestellt werden (7 Kap. 21.1.4).
steine aller zellulären Membranen. Sie verfügen neben den für Lipide An dieses müssen nun die für Phosphoglyceride typischen
typischen hydrophoben Alkanketten auch über hydrophile, polare und hydrophilen Gruppen geknüpft werden. Im Einzelnen handelt es
geladene Gruppen und können somit die für Membranen typischen sich dabei um
Doppelschichten ausbilden. Auch Cholesterin, das in 7 Kap. 3 und 23 4 Cholin,
beschrieben wird, ist ein essentieller Bestandteil aller tierischen 4 Ethanolamin,
Membranen mit Ausnahme der mitochondrialen Innenmembran. 4 Serin oder
Lipide sind aber auch Ausgangspunkt für die Biosynthese einer großen 4 den zyklischen Alkohol Inositol.
Zahl biologisch aktiver Moleküle. So werden aus Phosphoglyceriden und
Sphingolipiden wichtige Signalmoleküle gebildet und Derivate unge- Die hierzu benutzten Biosynthesewege unterscheiden sich be-
sättigter Fettsäuren bilden die Gruppe der als Eicosanoide bezeichneten trächtlich (. Abb. 22.1):
Gewebshormone.
Biosynthese von Phosphatidylcholin bzw. -ethanolamin Hierbei
Schwerpunkte muss zunächst durch Abspaltung des Phosphats aus dem Phos-
phatidat ein 1,2-Diacylglycerin gebildet werden. Anschließend
4 Biosynthese der Phosphoglyceride
werden Cholin bzw. Ethanolamin in einer ATP-abhängigen Re-
4 Phospholipasen und Lysophospholipide
aktion phosphoryliert, sodass Phosphorylcholin bzw. Phospho-
4 Synthese und Abbau von Sphingomyelin, Cerebrosiden,
rylethanolamin entstehen. Ähnlich der Aktivierung bei der Bio-
Sulfatiden und Gangliosiden
synthese von Zuckern (7 Kap. 16.1.1) wird im nächsten Schritt
4 Von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden abgeleitete
ein Nucleotidderivat von Cholin bzw. Ethanolamin hergestellt.
Signalmoleküle
Phosphorylcholin bzw. Phosphorylethanolamin reagieren hier-
4 Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene
bei unter Pyrophosphatabspaltung mit Cytidintriphosphat
(CTP), sodass Cytidindiphosphatcholin bzw. Cytidindiphos-
phatethanolamin (CDP-Cholin, CDP-Ethanolamin) entstehen.
22.1 Synthese und Abbau Das dabei beteiligte Enzym ist die CTP-Phosphorylcholin- (bzw.
von Phosphoglyceriden Phosphorylethanolamin-)Cytidyltransferase. Im letzten Schritt
der Biosynthese reagieren diese »aktivierten« Verbindungen mit
Phosphoglyceride (7 Kap. 3.2.3) gehören ebenso wie Sphingolipi- dem 1,2-Diacylglycerin, sodass unter CMP-Abspaltung Phos-
de (7 Kap. 3.2.4) in die Kategorie der amphiphilen Lipide, da ihre phatidylcholin bzw. Phosphatidylethanolamin entstehen.
Kopfgruppen hydrophil, die Alkanketten ihrer Fettsäurereste je- Phosphatidylserin wird durch eine Austauschreaktion aus Phos-
doch hydrophob sind. Dies erklärt ihre besondere Bedeutung für phatidylethanolamin gebildet.
die Synthese von zellulären Membranen, deren strukturelle Basis
eine Lipiddoppelschicht ist (7 Kap. 3.2.6 und 11.1). Unter dem ge- Biosynthese von Phosphatidylinositol Hierbei reagiert zunächst
legentlich verwendeten Begriff der Phospholipide fasst man die Phosphatidat mit Cytidintriphosphat, wobei wiederum unter
phosphathaltigen amphiphilen Lipide zusammen. Es handelt sich Abspaltung von Pyrophosphat CDP-Diacylglycerin gebildet
dabei um die Phosphoglyceride und die Sphingomyeline. wird. Dieses reagiert unter Abspaltung von CMP mit Inositol,
sodass Phosphatidylinositol (7 Kap. 3, Tafel II.3) entsteht.
Damit spielt das CTP bei der Biosynthese der Phosphoglyce-
22.1.1 Unterschiedliche Synthesewege ride eine ähnlich entscheidende Rolle wie das UTP bei der Bio-
von Phosphoglyceriden synthese von Polysacchariden (7 Kap. 16.1.1). Entsprechende
Nucleotidderivate müssen als aktivierte Zwischenprodukte vor-
Für die Biosynthese von Phosphoglyceriden werden liegen, damit die Biosynthese erfolgen kann.
CDP-aktivierte Zwischenprodukte benötigt Ein Phosphoglycerid, das in besonders großer Menge in der
In den ersten Reaktionen gleichen sich die Biosynthesewege von mitochondrialen Innenmembran, daneben aber auch in der
Phosphoglyceriden und Triacylglycerinen. Mit Hilfe von Enzy- Wand von Bakterien vorkommt, ist das Diphosphatidylglycerin
men, die im glatten endoplasmatischen Retikulum lokalisiert oder Cardiolipin (7 Kap. 3.2.3). Es entsteht durch Reaktion von

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
280 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

22 . Abb. 22.1 Biosynthese der Phosphoglyceride. Das benötigte Glycerin-3-Phosphat entsteht durch Reduktion von Dihydroxyacetonphosphat oder in
den Geweben, die über eine Glycerinkinase verfügen, durch Phosphorylierung von Glycerin (7 Kap. 21.1.4). (Einzelheiten s. Text)

Glycerin# Glycerinkinase Glycerin-3-Phosphat# Glycerin-3-Phosphat-Dehydrogenase Dihydroxyacetonphosphat# Glycerin-3-Phosphat-Acyltransferase Lysophosphatidat-


Acyltransferase Cholin-Kinase 1,2-Diacylphosphoglycerid# Phosphatidsäure# Phosphatidat-Cytidyltransferase Phosphorylcholin-Cytidyltransferase 1,2-Diacylglycerin#
CDP-Diacylglycerin# CDP-Diacylglycerin-Inositoltransferase CDP-Cholin CDP-Ethanolamin# CDP-Cholin-Diacylglycerintransferase CDP-Ethanolamin-Diacylglycerin-
transferase Phosphatidylinositol# Cholin# Phosphatidylcholin# Ethanolamin# Phosphatidylethanolamin#
22.1 · Synthese und Abbau von Phosphoglyceriden
281 22
In manchen Organen, z. B. im Nervengewebe oder in der
Leber, haben Phosphoglyceride einen besonders hohen Umsatz.
Dieser wird dann nicht nur durch de novo-Synthese aus den ein-
zelnen Bauteilen oder durch Überführung einzelner Phospho-
glyceride ineinander gedeckt, sondern zum Teil auch durch Re-
synthese aus nur teilweise abgebauten Phosphoglyceriden betrie-
ben. Diesem Zweck dient der in . Abb. 22.4 am Beispiel des
Phosphatidylcholins dargestellte Acylierungszyklus. Unter Ein-
wirkung einer Phospholipase A2 (7 Kap. 22.1.2) entsteht das ent-
sprechende Lysophosphoglycerid, in diesem Fall das Lysophos-
phatidylcholin. Dieses kann durch direkte Acylierung mit Acyl-
CoA wieder zu Phosphatidylcholin umgewandelt werden. Auf
diese Weise ist ein rascher Austausch von Acylresten in Phospho-
glyceriden möglich. Ein weiteres, den Acylaustausch katalysie-
rendes Enzym ist die im Blut vorkommende Lecithin-Choleste-
rin-Acyltransferase (LCAT 7 Kap. 24.2).

Etherlipide sind Phosphoglyceride


mit langkettigen Alkylresten
Etherlipide sind Phosphoglyceride, bei denen eine der Acylket-
ten durch einen langkettigen Alkohol ersetzt und über eine
Etherbindung anstelle einer Esterbindung mit dem Glycerinrest
verbunden ist. Ihre Biosynthese ist in . Abb. 22.5 dargestellt:
4 Dihydroxyacetonphosphat wird zunächst in Position 1 mit
Acyl-CoA acyliert.
4 Danach wird die Esterbindung mit einem langkettigen Al-
kohol (meist C16 oder C18) unter Einführung einer Ether-
. Abb. 22.2 Biosynthese von Cardiolipin bindung gespalten, sodass 1-Alkyl-Dihydroxyacetonphos-
phat entsteht.
CDP-Diacylglycerin mit Glycerin-3-Phosphat unter Bildung von 4 Nach Reduktion der Ketogruppe zum 1-Alkyl-Glycerin-
Phosphatidylglycerinphosphat und Abspaltung von CMP. Das 3-Phosphat folgen die Acylierung, meist mit mehrfach un-
Phosphatidylglycerinphosphat entspricht einer Phosphatidsäure, gesättigten Fettsäuren, und die Anheftung einer Ethanola-
bei der der Phosphatrest als Diester mit einem Molekül Glycerin- min- bzw. (seltener) Cholingruppe.
3-Phosphat verbunden ist. Durch hydrolytische Abspaltung des
Phosphats entsteht Phosphatidylglycerin, welches mit einem Die so gebildeten 1-Alkylphosphoglyceride können durch Ein-
weiteren Molekül CDP-Diacylglycerin unter Bildung des Di- führung einer der Etherbindung benachbarten Doppelbindung
phosphatidylglycerins reagiert (. Abb. 22.2). in Alkenylphosphoglyceride oder Plasmalogene umgewandelt
werden.
Die verschiedenen Phosphoglyceride Die ersten drei Schritte dieser Biosynthese erfolgen in Peroxi-
können ineinander überführt werden somen, die weiteren im endoplasmatischen Retikulum.
Phosphoglyceride stellen integrale Bauteile aller biologischen 20–30 % der Phospholipide im Zentralnervensystem, dem
Membranen dar. Dabei ist das Verhältnis der verschiedenen Herzmuskel oder der Skelettmuskulatur sind Etherlipide, v. a.
Phosphoglyceride untereinander von großer Bedeutung für den Plasmalogene. Über ihre physiologische Funktion ist wenig be-
Funktionszustand der jeweiligen Membranen. Um jederzeit aus- kannt. So sollen Plasmalogene zur Stabilisierung zellulärer Mem-
reichende Mengen von Phosphoglyceriden zur Verfügung zu branen beitragen und vor oxidativem Stress schützen. Da plas-
haben, besteht außer der oben geschilderten de novo-Synthese malogenspezifische Phospholipasen A2 (7 Kap. 22.1.2) nachge-
aus den einzelnen Bauteilen die Möglichkeit der Umwandlung wiesen werden konnten, dienen Plasmalogene als Lieferanten
einzelner Phosphoglyceride ineinander (. Abb. 22.3). Hier mehrfach ungesättigter Fettsäuren, besonders des Eicosanoid-
nimmt das Phosphatidylethanolamin eine zentrale Position ein. präkursors Arachidonat.
Es kann durch dreifache Methylierung am Stickstoff in Phospha- Der in 7 Abb. 69.2 dargestellte blutplättchenaktivierende
tidylcholin umgewandelt werden. Der Reaktionspartner ist das Faktor platelet activating factor (PAF) ist ein derartiges Etherli-
S-Adenosylmethionin (7 Kap. 27), das dabei in Adenosylhomo- pid. Es löst bereits in einer Konzentration von 10–11 mol/l (!) die
cystein umgewandelt wird. Durch Austausch von Ethanolamin Aggregation von Thrombocyten aus. Neben dieser Wirkung ist
gegen Serin kann aus Phosphatidylethanolamin Phospha- er als Mediator an Entzündungsreaktionen und an der Regula-
tidylserin entstehen. In einer weiteren Reaktion kann schließlich tion des Blutdrucks beteiligt.
Phosphatidylserin decarboxyliert werden (7 Kap. 27.2.4), wobei Als sehr seltene Erkrankungen kommen Defekte des peroxi-
Phosphatidylethanolamin entsteht. somalen Teils der Plasmalogenbiosynthese vor. Sie sind durch

Cardiolipin (Diphosphatidylglycerin)#
282 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

. Abb. 22.3 Umwandlungen der N-haltigen Phosphoglyceride. SAM: S-Adenosylmethionin, SAH: S-Adenosylhomocystein

22.1.2 Hydrolytische Spaltung von Phospho-


glyceriden durch Phospholipasen

Für den Abbau von Phosphoglyceriden sind Phospholipasen ver-


antwortlich. Diese sind imstande, je eine der vier in Phosphogly-
ceriden vorkommenden Esterbindungen zu spalten (. Abb. 22.6):
4 Die Phospholipasen A1 bzw. A2 spalten die Fettsäurereste an
den Positionen 1 bzw. 2 des Glycerinanteils der Phos-
phoglyceride ab. Dabei entstehen die entsprechenden Lyso-
phosphoglyceride, die hauptsächlich durch Lysophospho-
lipasen weiter abgebaut werden können (. Abb. 22.7).
4 Durch die Phospholipase B werden beide Acylreste von
Phosphoglyceriden abgespalten. Gelegentlich wird auch ein
Gemisch der Phospholipasen A1 und A2 als Phospholi-
pase B bezeichnet.
4 Phospholipasen des Typs C spalten die Phosphorsäure-
diesterbindung zum Glycerinrest, wobei die entsprechen-
den phosphorylierten Alkohole gebildet werden.
4 Phospholipasen des Typs D spalten die Phosphorsäuredies-
terbindung zur hydrophilen Kopfgruppe. Reaktionsprodukte
. Abb. 22.4 Acylierungszyklus des Phosphatidylcholins. Durch eine
sind Phosphatidate und die jeweiligen freien Kopfgruppen.
Phospholipase A2 wird Phosphatidylcholin in Lysophosphatidylcholin um-
gewandelt, welches wiederum mit Acyl-CoA acyliert werden kann. R1, R2, Grundsätzlich kann man dabei zwischen sezernierten, extrazellu-
Rʹ2: Acylreste lär wirkenden und intrazellulären Phospholipasen unterscheiden.

Extrazelluläre Phospholipasen Extrazelluläre Phospholipasen


stark erniedrigte Plasmalogenkonzentrationen in den Geweben kommen vor:
22 gekennzeichnet und lösen das Krankheitsbild der rhizomeli- 4 im Intestinaltrakt, wo sie für die Hydrolyse der mit der
schen Form der Chondrodystrophia punctata aus. Das Krank- Nahrung aufgenommenen Phospholipide verantwortlich
heitsbild geht mit Wachstumsstörungen der Gliedmaßen, geisti- sind,
ger Retardierung und schweren Myelinisierungsstörungen des 4 in den Giften von Schlangen, Bienen, Spinnen und
Nervensystems einher. Skorpionen,
4 als Sekrete von vielen pathogenen Mikroorganismen.

Phosphatidylserin# Phosphatidylethanolamin# Phosphatidylcholin# Acyl-CoA# Lysophosphatidylcholin# Phospholipase A_2 Acyltransferase


22.1 · Synthese und Abbau von Phosphoglyceriden
283 22

. Abb. 22.5 Biosynthese von 1-Alkyl-Phosphatidylethanolamin und des zugehörigen Plasmalogens. (Einzelheiten s. Text)

. Abb. 22.6 Spaltstellen der Phospholipasen A1, A2, C und D im Phos-


phatidylcholin

Als Gifte von verschiedenen Organismen (Hymenopteren, Spin-


nen u. a.) gebildete extrazelluläre Phospholipasen des Typs A
erzeugen Lysophosphoglyceride, besonders Lysophosphatidyl-
cholin, welche die Membranen der roten Blutkörperchen hämo-
lysieren. Ein Teil der biologischen Wirkung der genannten Gifte
lässt sich mit der in großem Umfang stattfindenden Lysophos-
phoglyceridbildung in den biologischen Membranen erklären.

Intrazelluläre Phospholipasen Intrazelluläre Phospholipasen


sind für den Ab- bzw. Umbau von den als Membranbestandteile
. Abb. 22.7 Abbau von Lysophosphatidylcholin. Lysophosphatidylcholin
dienenden Phosphoglyceriden verantwortlich. Von besonderer wird durch eine Lysophospholipase zu Glycerinphosphorylcholin gespalten
Bedeutung ist ihre Funktion bei der Gewinnung vielfältiger Sig- und dieses durch eine Esterase in Glycerin-3-Phosphat und Cholin zerlegt
nalmoleküle (Lipidmediatoren, 7 Kap. 22.3.1). Intrazelluläre
Phospholipasen bilden große Enzymfamilien:
4 Phospholipasen A1 (PLA1) sind für den Abbau von Phos- 5 Cytosolische, Ca2+-abhängige PLA2 (cPLA2). Die ver-
phoglyceriden der Membranen verantwortlich. Über weite- schiedenen Mitglieder dieser Gruppe spalten bevorzugt
re Funktionen ist wenig bekannt. Phosphoglyceride mit Arachidonat in der Position 2 und
4 Phospholipasen A2 (PLA2) haben vielfältige Funktionen. liefern damit das Substrat für die Biosynthese von Eico-
Man unterscheidet: sanoiden (7 Kap. 21.2.4). Eine Erhöhung der cytosoli-

Dihydroxyacetonphosphat# 1-Alkenyl-Phosphatidylethanolamin# Plasmalogen# Acyl-CoA# CDP-Ethanolamin# 1-Alkyl-Phos-


phatidylethanolamin# Lysophosphatidylcholin# Lysophospholipase Glycerinphosphorylcholin# Glycerinphosphorylcholinesterase
Glycerin-3-Phosphat#
284 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

schen Calciumkonzentration löst eine Translokation der


PLA2 an zelluläre Membranen und damit die Aktivie- Die amphiphilen Lipide in Membranen befinden sich in
rung der Enzyme aus. Die Bindung an Membranphos- einem dynamischen Zustand. Sie unterliegen einem perma-
pholipide wird außerdem durch Phosphorylierung des nenten Umbau, der auch ihren Abbau durch Phospholipasen
Enzyms verstärkt. Als hierfür verantwortliche Proteinki- beinhaltet. Für jede der 4 Esterbindungen von Phospho-
nasen konnten die MAP-Kinase und die CaM-Kinase II glyceriden kommen jeweils spezifische Phospholipasen vor.
identifiziert werden (7 Kap. 35.4.1). Phospholipasen bilden große Enzymfamilien, deren Aktivität
5 Cytosolische, calciumunabhängige PLA2 (iPLA2). Die durch viele, auch hormonelle Faktoren reguliert wird. Sie
verschiedenen Mitglieder dieser Gruppe von Phospholi- sind damit auch für die Erzeugung von Lipidmediatoren
pasen sind nicht spezifisch für Arachidonat an der Posi- verantwortlich.
tion 2 und benötigen kein Calcium für ihre Aktivität.
Ihre Funktion ist wahrscheinlich der Ab- bzw. Umbau
von Membranlipiden.
5 Lysosomale Phospholipase A2. Die lysosomale PLA2 ist 22.2 Synthese und Abbau von Sphingolipiden
ein ubiquitär vorkommendes Enzym, wobei sich die
höchsten Aktivitäten in alveolären Makrophagen befin- 22.2.1 Bildung von Sphingolipiden
den. Die genetische Ausschaltung der lysosomalen PLA2
führt bei Mäusen zu einer schweren Lipidspeicherkrank- Sphingolipide enthalten als Alkohol Sphingosin
heit. 1874 entdeckte der deutsche Arzt Johann Ludwig Thudichum im
5 PAF-Acetylhydrolase. Diese aus zwei Isoenzymen beste- Nervengewebe eine neue Lipidart, die er wegen ihrer für ihn rät-
hende Gruppe von Phospholipasen spaltet spezifisch den selhaften Funktion nach der griechischen Sagenfigur Sphinx als
Acetylrest des platelet activating factors (PAF Sphingolipide bezeichnete. Heute weiß man, dass Sphingolipide
7 Kap. 69.1.2) ab und inaktiviert diesen. 10–20 % der Membranlipide ausmachen und essentielle Funk-
4 Phospholipasen C (PLC). Von dieser Gruppe von Phospho- tionen haben, da die genetische Ausschaltung der Sphingolipid-
lipasen sind bis jetzt 6 Isoformen entdeckt worden (PLCβ, synthese zum Zelltod führt.
γ, δ, ε, ζ und η). Die besondere Bedeutung dieser Enzyme In den Sphingolipiden ist das Glycerin der Phosphoglyceride
ist ihre Substratspezifität. Sie hydrolysieren Phosphatidyli- durch den Aminodialkohol Sphingosin ersetzt (über die Zusam-
nositolbisphosphat und setzen dabei die Lipidmediatoren mensetzung der verschiedenen Sphingolipide 7 Kap. 3, 7 Tafel
Diacylglycerin und Inositoltrisphosphat frei (7 Kap. 33.4.2 II.4). Die Sphingolipidbiosynthese erfolgt im endoplasmatischen
und 35.3.3). Die verschiedenen PLC-Isoenzyme werden Retikulum und im Golgi-Apparat, wobei allerdings Sphingosin
durch unterschiedliche G-Proteine reguliert. nicht als Zwischenprodukt auftritt. Zunächst wird nämlich an der
4 Phospholipasen D. Diese Phospholipasen kommen bei cytosolischen Seite des endoplasmatischen Retikulums als ge-
Säugetieren in zwei Isoformen (PLD1 und PLD2) vor, die meinsames Zwischenprodukt Ceramid synthetisiert (. Abb. 22.8):
durch verschiedenste Faktoren (G-Proteine, Calcium, Inosi- 4 Palmityl-CoA reagiert in einer pyridoxalphosphatabhän-
toltrisphosphat u. a.) reguliert werden. Sie spielen bei der gigen Reaktion unter CO2-Abspaltung mit Serin, wobei
Synthese der als Signalmoleküle dienenden Lysophosphati- 3-Ketosphinganin entsteht.
date eine Rolle (7 Kap. 22.3.1). 4 Dieses wird an der Ketogruppe reduziert und reagiert dann
mit Acyl-CoA, wobei das Dihydroceramid entsteht. Je nach
Sphingolipid variiert die Länge der Acylreste von 14–24 C-
Zusammenfassung Atomen mit maximal einer Doppelbindung.
Phosphoglyceride sind für den Aufbau aller zellulären 4 In einer FAD-abhängigen Reaktion wird Dihydroceramid
Membranen unerlässlich. Für ihre Biosynthese zu Ceramid oxidiert.
4 reagieren Diacylglycerine mit CDP-aktiviertem Cholin
bzw. Ethanolamin unter Bildung von Phosphatidylcholin Ceramid ist der Ausgangspunkt für die Biosynthese aller Sphin-
bzw. -ethanolamin und golipide, die im Golgi-Apparat stattfindet:
4 reagiert Inositol mit CDP-aktiviertem Diacylglycerin zu 4 Sphingomyelin wird nach dem Transfer von Ceramid vom
Phosphatidylinositol, endoplasmatischen Retikulum auf die luminale Seite der
4 wird Phosphatidylserin durch Austausch der alkoholi- Golgi-Membran synthetisiert. Dazu reagiert es mit Phos-
schen Gruppe aus Phosphatidylethanolamin gebildet. phatidylcholin, wobei Sphingomyelin und Diacylglycerin
entstehen (. Abb. 22.9). Das verantwortliche Enzym ist die
Sphingomyelinsynthase.
22 Plasmalogene, z. B. PAF (platelet activating factor), sind
Phosphoglyceride, die einen langkettigen Alkohol in Ether- 4 Ebenfalls an der luminalen Seite des Golgi-Apparats werden
bindung gebunden haben. Glycosphingolipide wie Glucosylceramide, Galactosyl-
Lysophospholipide entstehen aus Phosphoglyceriden durch ceramide und Sulfatide synthetisiert (. Abb. 22.9). Ceramid
enzymatische Entfernung eines Acylrestes. reagiert zunächst mit UDP-Galactose (7 Kap. 16.1.3) unter
6 Abspaltung von UDP. Dabei entsteht das mit Galactose
substituierte Sphingolipid, das Galactosylceramid
22.2 · Synthese und Abbau von Sphingolipiden
285 22
Seite des Golgi-Apparats ein aus UDP-Glucose stammender
Glucosylrest an das Ceramid geheftet. Das entstandene
Glucosylceramid wird anschließend auf die luminale Seite
des Golgi-Apparats transloziert, wo die weitere Anheftung
von Monosaccharidresten zur Biosynthese von Gangliosi-
den erfolgt (7 Kap. 3, 7 Tafel II.4). Wie bei den Heteropoly-
sacchariden dienen UDP-aktivierte Zucker, im Fall der
N-Acetylneuraminsäure die CMP-N-Acetylneuraminsäure,
als aktivierte Bausteine.

22.2.2 Hydrolyse der Sphingolipide

Der Abbau der Sphingolipide erfolgt


hauptsächlich in den Lysosomen
Ähnlich wie die Phosphoglyceride haben auch Sphingolipide ei-
nen raschen Umsatz, der die Dynamik der Zellmembranstruktu-
ren widerspiegelt. Für ihren Abbau sind eine Reihe lysosomaler
Hydrolasen verantwortlich. Das Problem, wie diese wasserlösli-
chen Enzyme mit den Sphingolipiden in den Membranen und
Membranvesikeln interagieren, wird von der Zelle offensichtlich
so gelöst, dass hierfür zusätzliche Sphingolipidaktivatorprotei-
ne (SAPs) benötigt werden. Es handelt sich um Glykoproteine,
die die abzubauenden Sphingolipide binden und damit erst
den Angriff der oben genannten lysosomalen Hydrolasen er-
möglichen.

Glycosphingolipide Bei Cerebrosiden und Gangliosiden erfolgt


der Abbau von der Kohlenhydratseitenkette aus, wobei z. B.
durch
4 β-Galactosidasen die Galactosylreste,
4 Neuraminidasen die Neuraminsäurereste,
4 Hexosaminidasen die acetylierten Galactosaminreste und
4 β-Glucosidasen die Glucosylreste abgespalten werden.
4 Es entsteht dabei neben den abgespaltenen Zuckerresten
das Ceramid.

Sulfatide Bei ihnen sind spezifische Sulfatidasen für die Sulfat-


abspaltung verantwortlich.

Sphingomyeline Der Abbau dieser Sphingolipide wird durch


spezifische Sphingomyelinasen katalysiert, die unter Abspal-
tung des Phosphorylcholinrests Ceramid bilden (. Abb. 22.10).
Man unterscheidet:
4 saure Sphingomyelinasen für den lysosomalen Sphingo-
. Abb. 22.8 Biosynthese von Ceramid aus Palmityl-CoA und Serin. myelinabbau,
(Einzelheiten s. Text) 4 alkalische Sphingomyelinasen, die zu den Verdauungs-
enzymen des Intestinaltrakts gehören,
4 neutrale, membrangebundene Sphingomyelinasen, die in
(. Abb. 22.9). Für die Sulfatidbiosynthese ist schließlich verschiedenen Isoformen vorkommen.
noch die Einführung eines Sulfatrests, im Allgemeinen an
das C-Atom 3 der Galactose, notwendig. Für diese Sulfa- Das beim Abbau der Sphingolipide gebildete Ceramid kann
tierung wird das aktive Sulfat 3’-Phosphoadenosin-5’- durch
Phosphosulfat (7 Abb. 3.18) verwendet. 4 die Ceramidkinase zu Ceramid-1-Phosphat phosphoryliert
4 Die Biosynthese der Ganglioside, die in besonders hohen und
Konzentrationen im Nervensystem vorkommen, findet im 4 die Ceramidase deacyliert werden, wobei Sphingosin
Golgi-Apparat statt. Zunächst wird an der cytosolischen entsteht (. Abb. 22.10).

Palmityl-CoA# 3-Keto-Sphinganinsynthase 3-Ketosphinganin# 3-Keto-Sphinganinreductase Sphinganin# Acyl-CoA-Transferase Dihyd-


roceramid# Dihydroceramiddehydrogenase Ceramid#
286 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

PAP S

. Abb. 22.9 Biosynthese von Sphingomyelin, Galactosylceramid (Cerebrosid) und Sulfatiden. Glucosylceramide entstehen in einer analogen Reaktion
unter Verwendung von UDP-Glucose anstelle von UDP-Galactose (Einzelheiten s. Text). Gal: Galactose, PAPS: 3ʹ-Phosphoadenosin-5ʹ-Phosphosulfat, PAMP:
3ʹ-Phosphoadenosin-5ʹ-Monophosphat; UDP: Uridindiphosphat

Nach Phosphorylierung zu Sphingosin-1-Phosphat wird dieses


durch die Sphingosin-1-Phosphatlyase zu Palmitinsäurealde- für die in Sphingolipiden vorkommenden Ester- bzw. Glyco-
hyd und Phosphorylethanolamin gespalten. sidbindungen sind.
Das dabei entstehende Ceramid wird weiter zu Sphingosin
und dieses nach Phosphorylierung zu Sphingosin-1-Phos-
Zusammenfassung phat zu Palmitinsäurealdehyd und Phosphorylethanolamin
Ceramid, das aus Palmityl-CoA, Serin und einem Acyl-CoA gespalten.
synthetisiert wird, ist der Ausgangspunkt für die Biosynthese
folgender Sphingolipide:
4 Sphingomyelin
4 Cerebroside 22.3 Funktionelle Metabolite
4 Sulfatide von Membranlipiden
4 Ganglioside
22.3.1 Derivate von Phosphoglyceriden
Hierzu reagiert Ceramid jeweils mit den entsprechenden ak- und Sphingolipiden als Signalmoleküle
22 tivierten Bestandteilen. Sämtliche Biosynthesen erfolgen in
den Membranen des endoplasmatischen Retikulums und Phospholipide, Sphingolipide und Cholesterin sind nicht nur
des Golgi-Apparates. die für den Membranaufbau benötigten Lipidbausteine, son-
Der Abbau von Sphingolipiden erfolgt überwiegend lysoso- dern erfüllen wichtige Funktionen im Bereich der Signal-
mal durch entsprechende Hydrolasen, die jeweils spezifisch transduktion, d. h. der Umsetzung extrazellulärer Signale in
6 intrazelluläre Änderungen des Stoffwechsels und anderer zellu-
lärer Aktivitäten.

Diacylglycerin Phosphatidylcholin Sphingomyelin# Ceramid# Galactosylceramid# Cerebroside# Sulfatide#


22.3 · Funktionelle Metabolite von Membranlipiden
287 22
Phosphoglyceride Spaltprodukte von Phosphoglyceriden
durch die Phospholipasen A2, C bzw. D liefern:
4 Arachidonsäure. Sie stellt den Ausgangspunkt für die Bio-
synthese der Eicosanoide der Serie 2 dar (7 Kap. 21.2.4), Für
ihre Freisetzung ist die Phospholipase A2 verantwortlich.
4 Lysophosphatidate. Diese entstehen u. a. wenn von den
Spaltprodukten der Phospholipase A2, den Lysophospho-
lipiden (. Abb. 22.4), durch die Einwirkung der Phospho-
lipase D auch die alkoholische Gruppe entfernt wird. Bis
heute sind 5 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren für Lyso-
phosphatidate mit unterschiedlicher Organverteilung ge-
funden worden. In die jeweilige Signaltransduktion sind
Adenylatcyclase, Phospholipase Cβ oder kleine G-Proteine
eingeschaltet. Lysophosphatidate sind u. a. an der Angioge-
nese und Vaskularisation, der Differenzierung des Nerven-
systems und der T-Zellfunktion beteiligt (7 Kap. 70.7).
4 Monoacylglycerin. Von besonderer Bedeutung ist das
2-Arachidonylglycerin. Es ist das wichtigste Endocannabi-
noid und wirkt als endogener Ligand der Cannabisrezepto-
ren im Nerven- und Immunsystem. Für seine Biosynthese
ist v. a. die Kombination von Phospholipase C und Diacyl-
glycerinlipase verantwortlich. Das Endocannabinoidsystem
wurde bei Untersuchungen über den Wirkungsmechanis-
mus des Wirkstoffs der Cannabispflanze, Tetrahydrocanna-
binol (THC), entdeckt. Bindung von THC bzw. endogenen
Cannabinoiden an die entsprechenden Rezeptoren führen
u. a. zu verstärktem Hungergefühl, vermindertem Schmerz-
empfinden, aber auch einer Schwächung des Kurzzeit-
gedächtnisses. Darüber hinaus modulieren Endocanna-
binoide das Immunsystem.
4 Diacylglycerin und Inositoltrisphosphat. Sie entstehen
unter der Einwirkung der Phospholipase C aus Phosphatidy-
linositolbisphosphat. Diacylglycerin ist ein Aktivator der Pro-
teinkinase C (7 Kap. 35.4.1), Inositoltrisphosphat erhöht die
cytosolische Calciumkonzentration (7 Kap. 35.3.3).
4 Phosphatidylinositol-(3,4,5)-Trisphosphat entsteht durch
Phosphorylierung von Phosphatidylinositolbisphosphat
durch die PI3-Kinase. Es bleibt in der Membran verankert
und ist Andockplatz für spezifische Proteine, v. a. die
3-Phosphoinositid-abhängige Kinase-1 (PDK1) und die
Proteinkinase B (PKB). Diese Kinasen spielen eine wichtige
Rolle bei der Signaltransduktion von Wachstumsfaktoren
(7 Kap. 36) und Insulin (7 Kap. 34, 35).
4 Platelet activating factor (PAF 7 Abb. 69.2). Er wird aus
1-Alkylphosphatidylcholin (. Abb. 22.5) gebildet. Zunächst
entsteht durch eine spezifische Phospholipase A2 das Lyso-
PAF, welches anschließend an der Position 2 durch eine
Lyso-PAF-Acetyltransferase mit Acetyl-CoA acetyliert wird.
PAF löst die Aggregation von Thrombocyten aus, wirkt
. Abb. 22.10 Entstehung von Ceramid, Ceramid-1-Phosphat sowie
Sphingosin und Sphingosin-1-Phosphat beim Abbau von Sphingolipiden.
proinflammatorisch und aktiviert die Phospholipasen A2
(Einzelheiten s. Text) und C.

Sphingolipide Die in . Abb. 22.10 dargestellten Möglichkeiten


des Sphingolipidabbaus liefern Zwischenprodukte, die verschie-
dene zellbiologische Phänomene beeinflussen:
4 Ceramid, das durch de novo-Biosynthese (. Abb. 22.8) oder
aus Sphingomyelin durch die Sphingomyelinase entsteht, ist

Sphingomyelin# Sphingomyelinase Ceramidkinase Ceramid# Ceramid-1-Phosphat# Ceramidase Sphingosin# Sphingosin-1-Phos-


phatphosphatase Sphingosinkinase Sphingosin-1-Phosphat#
288 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

in vielen Zellen an der Auslösung der Apoptose


(7 Kap. 51.1) beteiligt.
4 Ceramid-1-Phosphat entsteht unter Katalyse der Ceramid-
kinase. Es hemmt die Apoptose und ist ein wichtiger Akti-
vator der Phospholipase A2.
4 Sphingosin entsteht durch die Ceramidase aus Ceramid
und ist ein Inhibitor der Proteinkinase C (7 Abb. 35.15).
4 Sphingosin-1-Phosphat wird durch die Sphingosinkinase
gebildet und durch die Sphingosin-1-Phosphatphosphatase
zu Sphingosin abgebaut. Es lässt sich extrazellulär nachwei-
sen und wirkt über spezifische Sphingosin-1-Phosphat-
Rezeptoren. Es stimuliert in vielen Zellen die Proliferation
und wirkt antiapoptotisch.

22.3.2 Eicosanoide – ungesättigte Fettsäuren


mit 20 C-Atomen

Unter dem Begriff der Eicosanoide fasst man eine umfangreiche


Gruppe von Gewebshormonen zusammen, deren Gemeinsam-
keit darin besteht, dass sie aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren
mit 20 C-Atomen synthetisiert werden. Im Einzelnen unterschei-
det man Prostaglandine, Thromboxane, Leukotriene und die
erst seit Kurzem identifizierten Lipoxine und Resolvine. Throm-
boxane und Prostaglandine werden auch als Prostanoide be-
zeichnet.
Aus Eicosatriensäure (Dihomo-γ-Linolensäure) entstehen
die Prostanoide und Leukotriene der Serie 1, aus Eicosatetraen-
säure (Arachidonsäure) diejenigen der Serie 2 und schließlich
aus Eicosapentaensäure diejenigen der Serie 3 (7 Abb. 21.19).
Diese Gewebshormone entstehen in den meisten tierischen
Geweben, wo sie eine große Zahl hormoneller und anderer Sti-
muli modulieren.

Prostaglandin H-Synthasen sind die geschwindigkeits-


bestimmenden Enzyme für die Prostanoidsynthese
. Abb. 22.11 zeigt, ausgehend von der ω-6-Fettsäure Arachido-
nat, die einzelnen Schritte der Biosynthese von Prostanoiden:
4 Das wichtigste Substrat für die Prostanoidsynthese ist
Arachidonat. Dieses ist häufig mit der OH-Gruppe 2 des
Glycerinteils von Membranphosphoglyceriden (z. B. Phos-
phatidylcholin, Phosphatidylserin) verestert. Für seine Frei- . Abb. 22.11 Biosynthese der Prostaglandine und Thromboxane aus
setzung wird deshalb eine cytosolische Phospholipase A2 Arachidonat (Prostanoide der Serie 2). Durch eine Phospholipase A2 wird
Arachidonat aus Phospholipiden abgespalten. Die Prostaglandin-H-Syntha-
benötigt. Die Phospholipasen des Typs A2 bilden eine be-
se (PGH-Synthase) führt zum Prostaglandin H2 als Muttersubstanz der wei-
sonders umfangreiche Superfamilie. Sie können in sezer- teren Prostaglandine und des Thromboxans A2. PG: Prostaglandin;
nierte, cytosolische und lysosomale Phospholipasen einge- Tx: Thromboxan
teilt werden (7 Kap. 22.1.2).
4 In einer sauerstoffabhängigen Reaktion entsteht unter Kata-
lyse der Prostaglandin-H-Synthase (PGHS) das Prostag- der 15-Hydroperoxylgruppe des Prostaglandins G2 zur
landin H2 (PGH2) als Muttersubstanz der Prostaglandine 15-Hydroxylgruppe des Prostaglandins H2.
(PG) D2, E2, F2α, I2 und des Thromboxans A2. 4 PGHS1 wird konstitutiv in vielen Zellen exprimiert, PGHS2
22 4 Es gibt zwei Isoformen der Prostaglandin-H-Synthase, die unterliegt dagegen einer vielfältigen Regulation. Als allge-
als PGHS1 und PGHS2 bezeichnet werden. meine Regel gilt, dass die Aktivität der PGHS2 durch
4 Beide PGHS-Isoformen enthalten eine Cyclooxygenase Wachstumsfaktoren und Entzündungsmediatoren wie In-
(COX)- und eine Peroxidaseaktivität. Erstere ist für die terleukin-1 oder TNF-α induziert wird. Dagegen reprimie-
Umwandlung von Arachidonsäure zu Prostaglandin G2 ren Glucocorticoide und antiinflammatorische Cytokine
verantwortlich, letztere für die anschließende Reduktion die PGHS2-Expression.

Phospholipase A_2 Arachidonat Cyclooxygenase PGH-Synthase Peroxidase


22.3 · Funktionelle Metabolite von Membranlipiden
289 22
4 Jeweils spezifische Prostaglandinsynthasen führen zu den
weiteren Prostaglandinen (PGD2, PGE2, PGF2α, PGI2) und . Tab. 22.1 Überblick über die biologischen Effekte von Prosta-
zum Thromboxan A2. glandinen und Thromboxanen

Verbindung Wichtigste biologische Aktivität


Prostaglandine und Thromboxane der Serie 2
haben vielfältige Wirkungen als Signalmoleküle Prostaglandin E2 Bronchodilatation, Vasodilatation, Antilipolyse
Die Gewebsverteilung der PGHS und der Prostaglandinsyntha- im Fettgewebe, Erzeugung von Fieber, Entzün-
sen, die an der Biosynthese der Prostaglandine beteiligt sind, dungsreaktion, Entzündungsschmerz, Aktivie-
rung von Osteoklasten, Kontraktion der Uterus-
zeigt, dass nahezu alle Gewebe zur Prostaglandinbiosynthese muskulatur, im Magen Hemmung der Säurese-
befähigt sind. Allerdings haben die sezernierten Prostaglandine kretion und Stimulation der Mucinsekretion
Halbwertszeiten zwischen einigen Sekunden und wenigen Minu-
Prostaglandin D2 Bronchokonstriktion, Schlaferzeugung
ten. Man geht deswegen davon aus, dass sie im Wesentlichen
para- bzw. autokrin wirken und damit eine Funktion als Gewebs- Prostaglandin F2α Bronchokonstriktion, Vasokonstriktion, Kons-
triktion der glatten Muskulatur
hormone haben. Ihr Wirkungsprofil hängt dabei entscheidend
davon ab, welche Prostaglandinrezeptoren (s. u.) in der unmittel- Thromboxan A2 Bronchokonstriktion, Vasokonstriktion,
baren Nachbarschaft der prostaglandinsynthetisierenden Zellen Plättchenaggregation

exprimiert werden. Prostaglandin I2 Vasodilatation, Zunahme der Gefäßpermeabili-


Prostaglandineffekte sind außerordentlich vielfältig und (Prostacyclin) tät, Hemmung der Plättchenaggregation,
schwer unter dem Aspekt eines einheitlichen Wirkungsmecha- Entzündungsreaktion

nismus zu verstehen (. Tab. 22.1).


4 In vielen, allerdings nicht allen bis jetzt untersuchten Gewe-
ben führt Prostaglandin E2 zu einer Zunahme des cAMP-
. Tab. 22.2 Rezeptoren für Prostaglandine
Gehalts, was z. B. eine Relaxierung der glatten Muskulatur
hervorruft (7 Kap. 64.5). Dies zeigt sich besonders deutlich Rezeptor für Effekt Nachgewiesen in
an einer allgemeinen Vasodilatation und einer Erweiterung
des Bronchialsystems. Im Magen hat Prostaglandin E2 einen PG D2

cytoprotektiven Effekt, da es die Mucinsekretion stimuliert. Subtyp DP1 Zunahme von cAMP Gastrointestinaltrakt,
Am Fettgewebe ist Prostaglandin E2 nach Insulin die am Nervensystem
stärksten wirksame antilipolytische Verbindung, da es hier Subtyp DP2 Abfall von cAMP Viele Gewebe
eine Senkung des cAMP-Spiegels auslöst. Außerdem ist
PG E2
Prostaglandin E2 an der Erzeugung von Fieber und dem
Entzündungsschmerz beteiligt. Subtyp EP1 Zunahme von IP3 Nieren

4 Prostaglandin D2 führt zu einer Bronchokonstriktion und Subtyp EP2 Zunahme von cAMP Thymus, Lunge, Myo-
ist, wie andere Prostaglandine auch, mit der Entstehung von kard, Milz, Ileum, Uterus
Asthma bronchiale in Verbindung gebracht worden. Subtyp EP3 Abfall von cAMP Fettgewebe, Magen,
4 Prostaglandin F2α hat in vielen Aspekten einen zum Prosta- Nieren, Uterus
glandin E2 antagonistischen Effekt. So führt es zu einer Subtyp EP4 Zunahme von cAMP Viele Gewebe
Bronchokonstriktion und Vasokonstriktion sowie zu einer
PG F2α Zunahme von IP3 Nieren, Uterus
auch klinisch ausgenützten Kontraktion der Uterusmusku-
latur (Auslösung von Geburtswehen). Thromboxan A2 Abfall von cAMP Thrombocyten, Thymus,
4 Von besonderem Interesse sind die Beziehungen zwischen Lunge, Nieren, Myokard

dem Prostaglandin I2 (Syn. Prostacyclin) und Thrombo- Prostaglandin I2 Zunahme von Thrombocyten, Thymus,
xan A2. Letzteres entsteht bevorzugt in Blutplättchen aus cAMP Myokard, Milz
Prostaglandin H2. Es induziert die Plättchenaggregation
sowie die damit verbundene Freisetzungsreaktion
(7 Kap. 69.1.2) und spielt somit eine wichtige Rolle bei der In . Tab. 22.2 sind die bis heute bekannten Prostaglandinrezep-
Blutstillung. Seine Wirkung wird über einen Abfall der toren zusammengefasst. Es handelt sich immer um Rezeptoren
cAMP-Konzentration in Thrombocyten vermittelt. mit sieben Transmembrandomänen, die an große, heterotrimere
4 Ein Thromboxanantagonist ist das Prostaglandin I2, das in G-Proteine gekoppelt sind (7 Kap. 35.3.1). Sie führen je nach Typ
Gefäßendothelzellen aus Prostaglandin F2α entsteht. Es ist zu einer Stimulierung bzw. Hemmung der Adenylatcyclase mit
ein Aktivator der Adenylatcyclase in vielen Geweben. Des- entsprechenden Veränderungen der cAMP-Konzentration oder
wegen hemmt es die Aggregeation der Blutplättchen. beeinflussen die zelluläre Calciumkonzentration über den Phos-
4 Der Antagonismus zwischen der gerinnungsfördernden phatidylinositolzyklus (7 Kap. 35.3.3).
Wirkung von Thromboxan A2 und Hemmung der Plätt- Prostaglandine sind eine vielfältige Gruppe von Gewebshor-
chenaggregation durch Prostaglandin I2 ist für die Entste- monen, die von sehr vielen Zellen synthetisiert werden können.
hung der Arteriosklerose von Bedeutung. Allerdings zeigen die verschiedenen Zellen ausgeprägte Unter-
schiede bezüglich ihrer Fähigkeit zur Synthese spezifischer
290 Kapitel 22 · Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden

. Abb. 22.12 Biosynthese der Leukotriene aus Arachidonat. Aus Arachidonat entsteht durch die Lipoxygenase das 5-Hydroperoxyeicosatetraenoat
(5-HPTE), das durch Umlagerung das Leukotrien A4 liefert. Durch eine Epoxydhydrolase entsteht das Leukotrien B4, durch Anlagerung von Glutathion das
Leukotrien C4. Die Leukotriene D4 und E4 werden durch schrittweise Abspaltung von Glutamat und Glycin gebildet. 1 Phospholipase A2; 2 5-Lipoxygenase;
3 Leukotrien-A4-Epoxydhydrolase; 4 Leukotrien-C4-Synthase; 5 γ-Glutamyltranspeptidase; 6 Cysteinyl-Glycin-Dipeptidase; GSH: Glutathion

Prostaglandine und, was noch wichtiger ist, zur Spezifität ihrer gulationen von Ionentransport, Wasserreabsorption und glo-
Prostaglandinrezeptoren. Hier zeichnet sich ein besonders fein merulärer Filtrationsrate ermöglicht. Bei der Analyse der Prosta-
22 differenziertes Bild ab. So konnte z. B. durch in situ-Hybridisie- glandin-E2-Rezeptoren des Nervensystems hat sich gezeigt, dass
rung gezeigt werden, dass in der Niere der Subtyp EP3 der Pros- der Subtyp EP3 des Prostaglandin-E-Rezeptors in kleinen Neuro-
taglandin-E-Rezeptoren vornehmlich in den medullären Tubulus- nen der Ganglien der dorsalen Wurzel besonders hoch exprimiert
epithelien lokalisiert ist, der Subtyp EP1 in den Sammelrohren der ist. Man spekuliert, dass sich hierin die durch Prostaglandin E2
Papille und der Subtyp EP2 in den Glomeruli. Man nimmt an, vermittelte Hyperalgesie (Schmerzempfindlichkeit) wider-
dass diese Verteilung die durch Prostaglandin E2 vermittelten Re- spiegelt.

Leukotrien B_4# Leukotrien A_4# Leukotrien C_4# Leukotrien D_4# Leukotrien E_4#
22.3 · Funktionelle Metabolite von Membranlipiden
291 22
Für die Erzeugung von Leukotrienen aus den entsprechend der Zahl der in ihnen vorkommenden Doppel-
Arachidonsäure sind Lipoxygenasen verantwortlich bindungen benannt:
Eine alternative Modifikation der ω-6-Fettsäure Arachidonsäure 4 aus Dihomo-γ-Linolensäure entstehen die Prostanoide
wird durch Lipoxygenasen erzeugt. Die 5-Lipoxygenase führt Prostaglandin D1, E1, F1, I1 und Thromboxan A1 sowie die
zur Bildung einer Hydroperoxydstruktur am C-Atom 5 der Ara- Leukotriene des Typs Lt3,
chidonsäure, aus der durch Umlagerung der Doppelbindungen 4 aus EPA entstehen die Prostanoide des Typs PG3, das
eine Verbindung mit drei konjugierten Doppelbindungen, das Thromboxan A3 und die Leukotriene des Typs Lt5.
Leukotrien A4 (LtA4) entsteht (. Abb. 22.12 2 ). Dieses ist der
Ausgangspunkt für die Biosynthese der anderen Leukotriene. Besonders die aus EPA synthetisierten Prostanoide und Leuko-
Durch die Leukotrien-A4-Epoxydhydrolase entsteht Leuko- triene hemmen im Allg. die Effekte der aus Arachidonat synthe-
trien B4 (LtB4) (. Abb. 22.12 3 ). Alternativ heftet die Leukotrien- tisierten analogen Verbindungen. Dies beruht z. T.
C4-Synthase über eine Thioetherbrücke Glutathion an das Leu- 4 auf einer Verdrängung des als Substrat der Biosynthese
kotrien A4, wodurch Leukotrien C4 entsteht (. Abb. 22.12 4 ). benötigten Arachidonats durch EPA,
Durch schrittweise Abtrennung von Glutamat und Glycin entste- 4 einer kompetitiven Hemmung der Cyclooxygenase und
hen aus dem Leukotrien C4 die Leukotriene D4 und E4 (LtD4, Lipoxygenase und
LtE4) (. Abb. 22.12 5 , 6 ). Außer der 5-Lipoxygenase ist in ver- 4 einer direkten Hemmwirkung an den entsprechenden
schiedenen Geweben eine 14- bzw. 15-Lipoxygenase nachgewie- Zielgeweben.
sen worden. Sie ist für die Bildung von 14- bzw. 15-Hydroper-
oxyeicosatetraensäuren (14-, 15-HPETE) verantwortlich. Über Ebenfalls antiinflammatorisch wirken die sog. nicht-klassischen
die biologische Bedeutung dieser Arachidonsäurederivate ist Eicosanoide, die Lipoxine und Resolvine. Sie unterscheiden sich
noch relativ wenig bekannt. von den klassischen Eicosanoiden durch die Positionierung von
OH-Gruppen und Doppelbindungen. Für ihre Biosynthese wer-
Leukotriene sind Mediatoren der den v. a. Isoformen der Lipoxygenase benötigt.
Entzündungsreaktion
Schon Mitte des letzten Jahrhunderts wurde beobachtet, dass aus
mit Kobragift behandelter Lunge eine Substanz freigesetzt wird, Zusammenfassung
die die glatte Muskulatur zur Kontraktion bringt. Später ergab Im Lipidstoffwechsel entstehen wichtige Signalmoleküle.
sich, dass diese als slow reacting substance (SRS) bezeichnete Ver- Aus dem Stoffwechsel der Phosphoglyceride sind dies:
bindung zusammen mit anderen Mediatoren bei durch Immun- 4 verschiedene Phosphatidylinositolphosphate
globulin E vermittelten Überempfindlichkeitsreaktionen entsteht 4 Inositoltrisphosphat
und dass es sich bei ihr um ein Gemisch aus den Leukotrienen C4, 4 Diacylglycerin
D4 und E4 handelt. Sie gehören zu den stärksten Konstriktoren der 4 Lysophosphatidat
Bronchialmuskulatur. Das Leukotrien C4 ist beispielsweise 100- 4 2-Arachidonylglycerin
bis 1.000-mal wirksamer als Histamin und spielt bei der Entste- 4 platelet-activating factor
hung von Asthmaanfällen eine entscheidende Rolle. 4 Eicosanoide
Auch in eine Reihe von entzündlichen Phänomenen sind
Leukotriene eingeschaltet. Sie erhöhen die Kapillarpermeabilität Eicosanoide sind Derivate der Arachidonsäure. Sie bilden
und führen zu Ödemen. Das Leukotrien B4 hat dagegen einen eine Gruppe sehr wirkungsvoller Gewebshormone, die
chemotaktischen Effekt auf Leukocyten. Man vermutet deshalb, Prostanoide und Leukotriene. Prostanoide wirken über
dass es an der Wanderung weißer Blutzellen in Entzündungsge- heptahelicale Rezeptoren und beeinflussen u. a. die Ent-
biete beteiligt ist. zündungs- und Schmerzreaktion sowie die Kontraktion der
Die eigentliche physiologische Funktion der Leukotriene ist glatten Muskulatur.
allerdings nach wie vor ungeklärt. Knockout-Mäuse (7 Kap. Aus dem Stoffwechsel der Sphingolipide entstehen:
55.2), bei denen das 5-Lipoxygenase-Gen ausgeschaltet wurde, 4 Ceramid
waren erwartungsgemäß nicht mehr zur Leukotrienbiosynthese 4 Ceramid-1-Phosphat
imstande, entwickelten sich jedoch normal und überstanden eine 4 Sphingosin
Reihe experimentell ausgelöster Entzündungs- und Schockreak- 4 Sphingosin-1-Phosphat
tionen besser als die Wildtypmäuse.

Aus ω-3-Fettsäuren synthetisierte Prostanoide 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
und Leukotriene hemmen die Effekte der
aus Arachidonsäure synthetisierten Prostanoide
und Leukotriene
Auch aus Eicosatriensäure (Dihomo-γ-Linolensäure) und der
Eicosapentaensäure (EPA) können Prostanoide und Leukotriene
synthetisiert werden, wobei die Einzelreaktionen den oben ge-
schilderten entsprechen. Die dabei entstehenden Produkte wer-
23 Stoffwechsel von Cholesterin
Georg Löffler

Einleitung
jedoch rasch. Zwischen 1928 und 1975 wurden für Arbeiten
Das zu den Isoprenlipiden zählende Cholesterin ist neben den Phospho- zur Struktur und chemischen Synthese von Cholesterin und
glyceriden und Sphingolipiden (7 Kap. 22) ein typisches Membranlipid verwandten Verbindungen insgesamt neun Nobelpreise für
tierischer Zellen. Darüber hinaus ist Cholesterin die Vorstufe der Steroid- Chemie vergeben.
hormone (7 Kap. 40) und der Gallensäuren (7 Kap. 61 und 62). Vitamin- Viele frühe Untersuchungen zeigten die weite Verbreitung
D-Hormone (Calciferole) werden aus 7-Dehydro-Cholesterin gebildet. von Cholesterin in tierischen Geweben. Die Frage, wie dieses
Als Fettsäureester kann Cholesterin auch intrazellulär gespeichert wer- kompliziert aufgebaute Molekül in Zellen synthetisiert wird,
den. Wie andere Polyisoprene wird Cholesterin ausgehend von Acetyl- konnten Konrad Bloch und Feodor Lynen lösen, die dafür
CoA aus einer aktivierten Isopren-Zwischenstufe synthetisiert. Die 1964 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurden.
Biosynthese von Cholesterin wird über vielfältige Regulationsmechanis- Einen ersten Hinweis auf die Verbindung von Cholesterin mit
men gesteuert. Die Hauptausscheidungsform von Cholesterin sind die pathologischen Vorgängen ergab schon 1903 die
Gallensäuren. Beobachtung von Adolf Windaus, dass Cholesterin in arte-
riosklerotischen Plaques in großer Menge vorhanden ist.
Schwerpunkte Der russische Wissenschafter Alexander Ignatowski zeigte
1908, dass die Verfütterung einer cholesterinreichen Diät
4 Cytosolische Synthese von HMG-CoA
bei Kaninchen eine schwere Arteriosklerose auslöst. Wenn
4 HMG-CoA-Reduktase und die Synthese von Mevalonsäure
auch die Übertragbarkeit dieser Studien auf den Menschen
4 Aktives Isopren und die Synthese von Cholesterin und
schnell angezweifelt wurden, so gaben doch eine Reihe von
anderen Polyisoprenderivaten
Untersuchungen seit den 50iger Jahren des vorigen Jahrhun-
4 Regulation und pharmakologische Hemmung der
derts Grund zu der Annahme, dass es einen Zusammenhang
Cholesterinbiosynthese
zwischen dem Cholesteringehalt der Nahrung und arteriellen
Gefäßerkrankungen gibt. Die bahnbrechenden Untersuchun-
gen von Michael Brown und Josef Goldstein (Nobelpreis für
Medizin 1985) zeigten schließlich, dass normalerweise die
23.1 Cholesterin – Membranlipid endogene Cholesterinsynthese durch ein komplexes Regula-
und Ausgangssubstanz von Steroid- tionssystem an die Nahrungszufuhr angepasst wird und dass
hormonen und Gallensäuren tatsächlich Störungen dieses Systems eine Arteriosklerose
auslösen können. Dies führte zur Entwicklung der choleste-
Cholesterin ist Membranbestandteil und Ausgangs- rinsenkenden Statine, die heute zu den am häufigsten ver-
substanz von Steroidhormonen und Gallensäuren schriebenen Arzneimitteln gehören.

Übrigens Cholesterin erfüllt lebenswichtige Funktionen (. Abb. 23.1) als:


Cholesterin 4 Bestandteil zellulärer Membranen (7 Kap. 11.1),
Kaum eine Verbindung ist auf so großes chemisches wie 4 Vorläufer aller Steroidhormone,
auch medizinisches Interesse gestoßen wie Cholesterin. Es 4 Ausgangssubstanz für die Biosynthese von Gallensäuren,
wurde wahrscheinlich bereits im 18. Jahrhundert aus Gallen- die für eine geordnete Lipidverdauung essentiell sind
steinen angereichert, seine korrekte Isolierung gelang je- (7 Kap. 61.1.4).
doch erst dem französischen Chemiker Michel Eugene
Chevreul (1786–1889), der auch für die Bezeichnung Choles- In Anbetracht dieser zentralen Funktionen muss man davon aus-
terin (von griech. chole = Galle und stereos = fest) verant- gehen, dass alle Zellen des Organismus zur Cholesterinbiosyn-
wortlich ist. Anfang des 20. Jahrhunderts war über die these befähigt sind. Während bei Hund und Ratte die Leber für
Cholesterinstruktur nicht viel mehr bekannt, als die Sum- den Großteil der Biosynthese verantwortlich ist, überwiegt beim
23 menformel und die Tatsache, dass das Molekül eine Doppel- Menschen die extrahepatische Biosynthese (über den Einfluss
bindung und eine OH-Gruppe enthält. Dies änderte sich von LDL auf die extrahepatische Cholesterinbiosynthese
6 7 Kap. 24.2). Die Biosynthese, die mit dem Acetyl-CoA beginnt
und über die Zwischenstufe aktiver Isoprene läuft, deckt etwa

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
23.2 · Synthese von Isoprenlipiden
293 23

. Abb. 23.2 Herkunft der C-Atome des Cholesterins

aber auch den Ausgangspunkt für die Biosynthese der


Steroidhormone und der Gallensäuren darstellt.
. Abb. 23.1 Übersicht über den Stoffwechsel von Cholesterin. Zellen ge- Das Ringsystem des Cholesterins und der anderen Steroide
winnen ihr Cholesterin entweder durch Biosynthese oder durch Aufnahme kann vom tierischen Organismus nicht gespalten werden.
aus Lipoproteinen. Intrazellulär wird Cholesterin entweder durch die ACAT
Deswegen wird Cholesterin als solches oder nach Umwand-
(Acyl-CoA-Cholesterin-Acyltransferase) als Ester gespeichert oder, je nach
Gewebe, für weitere Reaktionen verwendet lung in Gallensäuren ausgeschieden.

zwei Drittel des täglichen Cholesterinverlustes, während ca. ein


Drittel bei ausgeglichener Ernährung mit der Nahrung aufge- 23.2 Synthese von Isoprenlipiden
nommen wird. Cholesterin ist ein typisches Produkt des tieri-
schen Stoffwechsels und kommt daher in größeren Mengen nur Sämtliche C-Atome des Cholesterins stammen vom Acetyl-CoA
in Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs wie Muskelfleisch, ab (. Abb. 23.2). Inkubiert man cholesterinsynthetisierende Zel-
Leber, Hirn, Butter und Eigelb vor. Zu pflanzlichen Sterolen len mit methyl- bzw. carboxylmarkiertem Acetat, so findet man,
7 Kap. 3.2.5 und 7 Kap. 61.3.3. In Form von Cholesterinestern dass sich in dem aus Acetat synthetisierten Cholesterin in sehr
wird Cholesterin in vielen Zellen gespeichert. regelmäßiger Folge Methyl- und Carboxyl-C-Atome des Acetats
abwechseln. Daraus folgt, dass ein lineares, aus Acetylresten auf-
Die Hauptausscheidungsform von Cholesterin gebautes Molekül ein Präkursor des Cholesterins ist. Die einzel-
sind Gallensäuren nen Schritte der Cholesterinbiosynthese wurden in den Arbeits-
Während Cholesterin aus Acetyl-CoA synthetisiert wird gruppen von Konrad Bloch und Feodor Lynen aufgeklärt. Ent-
(7 Kap. 23.2), kann sein Steranskelett im Organismus nicht abge- scheidend war bei ihren Arbeiten die Erkenntnis,
baut werden. Die einzig mögliche Modifikation des Steranske- 4 dass das aus fünf C-Atomen bestehende Isopren
letts ist die Umwandlung von Cholesterin zu Gallensäuren (2-Methyl-1,3-Butadien, 7 Kap. 3, 7 Tafel II.5) der Grund-
(7 Kap. 61.1.2). Neben ihrer Verdauungsfunktion stellen Gallen- körper nicht nur für die Biosynthese der Isoprenlipide,
säuren somit die Hauptausscheidungsform von Cholesterin dar. sondern auch des Cholesterins ist, wobei als Zwischen-
Beim Menschen wird etwa 1 g Cholesterin/24 h in Form von produkt das lineare, aus 30 C-Atomen bestehende Squalen
Gallensäuren ausgeschieden. Ein kleiner Teil von nicht-modifi- auftritt und
ziertem Cholesterin gelangt mit der Galle in den Darm und wird 4 dass Isopren aus Acetyl-CoA synthetisiert werden kann,
mit Hilfe von Darmbakterien zu Koprosterin reduziert und aus- wobei das aus 6 C-Atomen bestehende Mevalonat (Meva-
geschieden. Die aus Cholesterin entstehenden Steroidhormone lonsäure) ein Zwischenprodukt ist.
werden oxidativ modifiziert und anschließend sulfatiert oder
glucuronidiert und in den Urin abgegeben. Dementsprechend wird die Cholesterinbiosynthese in vier Pha-
sen eingeteilt:
4 aus Acetyl-CoA entsteht Mevalonat (Mevalonsäure),
Zusammenfassung 4 aus Mevalonsäure wird das »aktive Isopren« Isopentenyl-
Die Isoprenlipide bilden eine eigene Gruppe von Lipiden mit pyrophosphat gebildet,
großer biologischer und medizinischer Bedeutung. Ein be- 4 Isopentenylpyrophosphat kondensiert zum Squalen,
sonders wichtiges Isoprenderivat ist das Cholesterin, das ein 4 Squalen zyklisiert zum Cholesterin.
essentieller Bestandteil zellulärer Membranen ist, daneben
6
294 Kapitel 23 · Stoffwechsel von Cholesterin

. Abb. 23.3 Biosynthese von Mevalonat aus Acetyl-CoA. Die dargestell-


ten Reaktionen finden im Cytosol statt. (Einzelheiten s. Text)

Für die Biosynthese von Mevalonsäure werden


drei Acetyl-CoA benötigt
Bildung von Mevalonat . Abb. 23.3 stellt die erste Phase der
Cholesterinbiosynthese, nämlich die Bildung von Mevalonat,
dar. Zunächst kondensieren zwei Acetyl-CoA unter Abspaltung
von CoA-SH zu Acetacetyl-CoA. An dieses lagert sich ein wei- . Abb. 23.4 Biosynthese von »aktivem Isopren« aus Mevalonat. (Einzel-
teres  Acetyl-CoA an, sodass β-Hydroxy-β-Methylglutaryl-CoA heiten s. Text)
(HMG-CoA) entsteht. Diese Reaktionssequenz findet sich auch
bei der mitochondrial lokalisierten Biosynthese der Ketonkörper
(7 Kap. 21.2.2). Im Gegensatz zur Ketonkörperbiosynthese wird 4 Mevalonat wird durch zweimalige ATP-abhängige Phos-
allerdings das für die Mevalonatsynthese benötigte HMG-CoA im phorylierung an der CH2OH-Gruppe über das Zwischen-
Cytosol erzeugt. Durch die HMG-CoA-Reduktase wird HMG- produkt 5-Phosphomevalonat in 5-Pyrophosphomevalo-
CoA unter Verbrauch von 2 NADPH reduziert. Die Reduktion nat umgewandelt.
erfolgt an der den Thioester tragenden Carboxylgruppe des HMG- 4 Eine dritte ATP-abhängige Phosphorylierung führt zur
CoA unter Abspaltung von CoA-SH, das Produkt ist Mevalonat. Veresterung auch der Hydroxylgruppe am C-Atom 3 des
Mevalonats, sodass das Zwischenprodukt 3-Phospho-5-
Aktives Isopren wird aus Mevalonat synthetisiert Pyrophosphomevalonat entsteht.
Bildung von aktivem Isopren Die zweite Phase der Cholesterin- 4 Dieses wird decarboxyliert und unter Mitnahme des aus
biosynthese besteht in der Herstellung des aktiven Isoprens Iso- der Hydroxylgruppe stammenden Sauerstoffs dephosphory-
pentenylpyrophosphat (. Abb. 23.4), welches sich formal vom liert, sodass als Zwischenprodukt Isopentenylpyrophos-
2-Methyl-1,3-Butadien herleitet. Isopentenylpyrophosphat ist phat, das sog. aktive Isopren, entsteht.
Ausgangsprodukt nicht nur für die Biosynthese des Cholesterins,
sondern auch für die der Polyisoprene und Terpene, die die ver- Vom Isopentenylpyrophosphat gehen Konden-
schiedensten Funktionen in der Natur übernehmen (s. u.; sationsreaktionen aus, die zu den Polyisoprenen
7 Kap. 3.2.5). und zum Squalen führen
23 Die vom Mevalonat zum aktiven Isopren führenden Reaktio- Bildung von Squalen Die Kondensationen von aktiven Isopren-
nen sind in . Abb. 23.4 zusammengestellt. Die verantwortlichen resten erfolgen in folgenden Schritten unter Katalyse der Iso-
Enzyme sind sowohl im Cytosol als auch in den Peroxisomen pentenylpyrophosphatisomerase und der Prenyltransferase
nachweisbar: (. Abb. 23.5). Zunächst wird Isopentenylpyrophosphat durch die

Acetyl-CoA# 3-Ketothiolase Acetacetyl-CoA# HMG-CoA-Synthase HMG-CoA# HMG-CoA-Reduktase Mevalonat# Mevalonatkinase 5-Phosphomevalonat# Phospho-
mevalonatkinase 5-Pyrophosphomevalonat# 3-Phospho-5-Pyrophosphomevalonat# Pyrophosphomelavonatdecarboxylase Isopentenylpyrophosphat#
23.2 · Synthese von Isoprenlipiden
295 23
Isopentenylpyrophosphatisomerase zu Dimethylallylpyrophos-
phat isomerisiert und damit ein weiteres aktives Isopren erzeugt.
Grundlage der folgenden Kondensationsreaktionen ist eine
Kopf-Schwanz-Kondensation:
4 Vom enzymgebundenen Dimethylallylpyrophosphat wird
Pyrophosphat eliminiert.
4 An das dadurch als Intermediat entstehende Carbokation
(Carbeniumion) kondensiert Isopentenylpyrophosphat,
wobei ein neues Carbokation gebildet wird, aus dem durch
Abspaltung eines Protons Geranylpyrophosphat entsteht.
4 Die Prenyltransferase katalysiert nach einem gleichartigen
Mechanismus die Kondensation von Geranylpyrophosphat
mit Isopentenylpyrophosphat. Das Reaktionsprodukt ist das
aus 15 C-Atomen bestehende Farnesylpyrophosphat.

Durch Kondensation von zwei Molekülen Farnesylpyrophosphat


entsteht unter Katalyse der Squalensynthase das aus insgesamt
30 C-Atomen bestehende Squalen. Bei dieser Reaktion handelt
es sich um eine Kopf-Kopf-Kondensation, bei der ebenfalls nach
Pyrophosphateliminierung ein Carbokation als Intermediat auf-
tritt. Außerdem ist eine NADPH-abhängige Reduktion des Zwi-
schenprodukts Präsqualenpyrophosphat erforderlich.

Die durch Kondensation von aktiven Isoprenresten


gebildeten Zwischenprodukte sind Ausgangspunkt
für die Biosynthese einer großen Zahl von Natur-
stoffen
Aus den bei der Kondensation der aktiven Isoprene entstehenden
Verbindungen werden außer Squalen viele Naturstoffe gebildet
(. Abb. 23.6). Zu ihnen gehören u. a.:
4 Cholesterin und seine Abkömmlinge,
4 Dolichol (7 Kap. 3.2.5),
4 Ubichinon (7 Kap. 19.1.2),
4 Häm A (7 Kap. 19.1.2),
4 D-Hormone (Vitamin D, 7 Kap. 58.3),
4 Carotinoide (Vitamin A, 7 Kap. 58.2),
4 Tocopherol (Vitamin E, 7 Kap. 58.4),
4 Phyllochinone (Vitamin K, 7 Kap. 58.5), aber auch
4 eine große Zahl pflanzlicher Metabolite, u. a. Kautschuk.

Darüber hinaus werden einige vor allem an Regulationsvorgän-


gen beteiligte Proteine durch Geranylierung oder Farnesylierung
(Prenylierung, 7 Kap. 49.3.4) mit den entsprechenden Gruppen
covalent verknüpft und erhalten damit einen Membrananker.

Cholesterin entsteht in 22 Teilreaktionen aus Squalen


Synthese von Cholesterin aus Squalen Squalen ist ein Vorläu-
fer des Cholesterins (. Abb. 23.7). Zunächst entsteht in einer
mehrstufigen Reaktion unter Ringschluss Lanosterin. Dabei
wandert eine Methylgruppe auf das C-Atom 13 und eine
weitere auf das C-Atom 14. In einer sauerstoffabhängigen Reak-
tion wird schließlich am C-Atom 3 eine Hydroxylgruppe ein-
geführt. Durch dreimalige Demethylierung an den C-Atomen 4
. Abb. 23.5 Reaktionsmechanismus der Prenyltransferase.
und 14 entsteht aus Lanosterin das Zymosterin. Es unterschei- (Einzelheiten s. Text)
det sich von Cholesterin nur noch durch die Lage der Dop-
pelbindung und durch eine weitere Doppelbindung in der Sei-
tenkette.

Isopentenylpyrophosphat# Isopentenylpyrophosphatisomerase Dimethylallylpyrophosphat# Prenyltransferase Geranylpyrophosphat# Farnes-


ylpyrophosphat# Squalen-Synthase Squalen#
296 Kapitel 23 · Stoffwechsel von Cholesterin

. Abb. 23.6 Biosynthese wichtiger Verbindungen aus »aktivem Isopren«


in Säugerzellen. (Einzelheiten s. Text)

Zusammenfassung
Cholesterin und andere Isoprenlipide werden aus Acetyl-
CoA synthetisiert, wobei zunächst als Zwischenstufe die
aktiven Isopreneinheiten Dimethylallylpyrophosphat und
Isopentenylpyrophosphat entstehen. Durch Kondensations-
reaktionen beider Verbindungen werden eine große Zahl
von Naturstoffen gebildet, zu denen Cholesterin, viele Vita-
mine, aber auch das intrazellulär synthetisierte Ubichinon
gehören.

23.3 Cholesterinhomöostase

Es ist schon lange bekannt, dass die Geschwindigkeit der Choles-


terinbiosynthese und damit der Cholesteringehalt des Plasmas
von der Menge des mit der Nahrung aufgenommenen Choleste-
rins abhängen. Durch Reduktion der Cholesterinaufnahme lässt
sich der Cholesterinspiegel im Plasma senken. Umgekehrt führt
eine Mehraufnahme von 100 mg Cholesterin/Tag zu einer Erhö-
hung des Cholesterinspiegels um etwa 5 mg/100 ml (0,13 mmol/l)
Plasma. . Abb. 23.7 Biosynthese von Cholesterin aus Squalen. Die Nummerie-
rung der C-Atome in den Zwischenprodukten entspricht der Nummerie-
Cholesterin ist unlöslich in wässrigen Medien und zeigt u. a. rung im Cholesterin. (Einzelheiten s. Text)
bei erhöhter Plasmakonzentration die Tendenz zur Ablagerung,
23 z. B. in der Wand von Blutgefäßen, mit entsprechenden Konse-
quenzen (7 Kap. 25.4.2). Deshalb müssen endogene Cholesterin-
synthese und Cholesterinzufuhr mit der Nahrung möglichst gut
aufeinander abgestimmt werden.
Isopentenylpyrophosphat Dimethylallylpyrophosphat Geranylpyrophosphat Farnesylpyrophosphat Squalen Carotinoide Tocophe-
role Kautschuk Proteine geranylgeranylierte Proteine farnesylierte Häm A Dolicholpyrophosphat Ubichinone D-Hormone
Squalen# Lanosterin# Zymosterin# Cholesterin#
23.3 · Cholesterinhomöostase
297 23
Cholesterin hemmt die Transkription der Enzyme
der Cholesterinbiosynthese
Die Transkription von Enzymen der Cholesterinbiosynthese
hängt von der Verfügbarkeit von Cholesterin ab:
4 Zufuhr von Cholesterin zu kultivierten Zellen führt zu
einer raschen Abnahme der mRNAs aller an der Choleste-
rinsynthese beteiligter Gene, besonders derjenigen, welche
für die HMG-CoA-Reduktase, die HMG-CoA-Synthase, die
Prenyltransferase, aber auch den LDL-Rezeptor codieren
(7 Kap. 24.2).
4 Bei Cholesterinmangel nimmt dagegen die Transkription
dieser Gene und damit deren mRNA-Spiegel zu.

Die Gene der genannten Proteine haben in ihrer Promotorregion


in mehreren Kopien ein aus acht Nucleotiden bestehendes sog.
Sterolregulationselement 1 (SRE 1, sterol regulatory element).
Die Entfernung dieser Elemente bringt die Transkriptionsabhän-
gigkeit von Cholesterin und anderen Sterolen zum Verschwin-
den. SRE 1 ist ein enhancer (7 Kap. 47.2.2), der die Transkription
der o. g. Gene dann aktiviert, wenn Transkriptionsfaktoren an
ihn binden, die als SREBPs (sterol regulatory element binding pro-
tein) bezeichnet werden. SREBPs kommen in drei Isoformen vor,
SREBP-1a, -1c und -2. Für die Regulation der Gen-Transkription
durch Cholesterin ist v. a. SREBP-2 zuständig. Seine Aktivierung
erfolgt in folgenden Schritten (. Abb. 23.8):
4 SREBP-2 ist ein aus drei Domänen bestehendes Protein, das
mit seiner luminalen Domäne haarnadelartig in die Memb-
ran des endoplasmatischen Retikulums integriert ist. Die
N-terminale und die C-terminale Domäne ragen ins Cyto-
sol. Die N-terminale Domäne ist ein Transkriptionsfaktor
der Helix-turn-Helix-Familie (7 Kap. 47.2.2), die C-termi-
nale Domäne hat eine regulatorische Funktion.
4 Die C-terminale Domäne bindet an ein als SCAP (SREBP
cleavage-activating protein) bezeichnetes, mit 8 Transmem-
brandomänen im endoplasmatischen Retikulum veranker-
tes Protein.
4 5 der 8 Transmembransegmente von SCAP wirken als
Sensor für in die Membran eingebautes Cholesterin.
4 Ist die Cholesterinkonzentration hoch, so bindet der
Komplex aus SREBP-2 und SCAP an ein als Insig-Protein
(insulin induced gene) bezeichnetes Membranprotein des
endoplasmatischen Retikulums und fixiert auf diese Weise
SREBP-2.
4 Bei niedrigen Cholesterinkonzentrationen bindet das SCAP
kein Cholesterin, löst sich von der Bindung an Insig und
der SREBP/SCAP-Komplex wird vesikulär zum Golgi-Ap- . Abb. 23.8 Regulation der Cholesterinbiosynthese durch proteoly-
parat transportiert. tische Aktivierung von SREBP 2. SREBPs und damit auch SREBP-2 sind inte-
grale Membranproteine des endoplasmatischen Retikulums, die dort einen
4 Durch eine als S1P bezeichnete Protease wird dort SREBP-2
Komplex mit SCAP (SREBP cleavage-activating protein) bilden. SCAP hat
in der luminalen Domäne gespalten. Beide cytosolische Do- eine cholesterinbindende Domäne. Bei hohen Cholesterinkonzentrationen
mänen sind danach noch in die Golgi-Membran integriert. wird der SREBP-2/SCAP-Komplex an das Insig-Protein (insulin induced gene)
4 Erst durch die S2P-Protease wird die N-terminale Domäne gebunden. Die Freisetzung der als Transkriptionsfaktor dienenden N-termi-
freigesetzt, in den Zellkern transloziert und wirkt dann als nalen Domäne des SREBP-2 erfolgt bei niedrigen Cholesterinkonzentrati-
onen nach Translokation in den Golgi-Apparat. Sie wird durch eine Spal-
Transkriptionsfaktor. S2P ist nur aktiv, wenn S1P die lumi-
tung durch die Protease S1P eingeleitet. Nach der ersten Spaltung wird die
nale Domäne geschnitten hat. Protease S2P aktiv und spaltet den DNA-bindenden Teil des SREBPs ab. Die-
4 Die Transkription aller an der Cholesterinbiosynthese ser gelangt in den Zellkern und wirkt als Transkriptionsfaktor. HLH: Helix-
beteiligter Gene wird durch SREBP-2 gesteigert. Loop-Helix. (Einzelheiten s. Text)
298 Kapitel 23 · Stoffwechsel von Cholesterin

Dieser Mechanismus gewährleistet, dass die für die Cholesterin-


biosynthese benötigten Gene nur dann aktiviert werden, wenn
die Zelle arm an Cholesterin ist.
SREBPs sind nicht nur an der Regulation des Cholesterin-
stoffwechsels beteiligt, sondern greifen auch in die Fettsäure-
und Triacylglycerinsynthese, die Aufnahme von Cholesterin und
Fettsäuren in Zellen und sogar in den Glucosestoffwechsel ein
(. Tab. 23.1). Die Aktivierung ist in diesem Fall allerdings nicht
cholesterin-, sondern insulinabhängig (7 Kap. 15.3.1).

Eine Erhöhung des zellulären Cholesteringehalts


. Abb. 23.9 Strukturen von Compactin und Mevinolin. Der zum Mevalo-
senkt die Halbwertszeit der HMG-CoA-Reduktase nat strukturhomologe Teil ist rot hervorgehoben
Das die Reaktionsgeschwindigkeit der Cholesterinbiosynthese
bestimmende Enzym ist die HMG-CoA-Reduktase. Die HMG-
CoA-Reduktase ist ein Protein des endoplasmatischen Retiku- (. Abb. 23.9). Sie verfügen über eine dem Mevalonat strukturell
lums. Eine cytosolische Domäne trägt die Enzymaktivität. In entsprechende Gruppe, werden deswegen von der HMG-CoA-
die Membran ist das Enzym mit acht Transmembrandomänen Reduktase gebunden und wirken als kompetitive Inhibitoren. Da
integriert. Diese sind eng mit den acht Transmembrandomänen sie eine besonders hohe Affinität zu diesem Enzym besitzen,
von SCAP verwandt und dienen auch als Sensor für Sterole, ne- kann mit ihnen die Biosynthese von Isoprenderivaten und Cho-
ben Cholesterin v. a. Oxysterole (enzymatisch oder nicht-enzy- lesterin vollständig gehemmt werden.
matisch entstandene Oxidationsprodukte des Cholesterins, mit
Hydroxylgruppen an den C-Atomen 7 oder in der Seitenkette). Einfluss von Fasten, Diabetes mellitus,
Die Bindung solcher Sterole an diese Domänen löst die Ubiqui- Schilddrüsenhormonen und Gallensäuren
tinierung und damit einen gesteigerten Abbau von HMG-CoA- auf den Cholesterinspiegel
Reduktase aus, was zu einer Verminderung der Cholesterinbio- Bei Nahrungskarenz ist die Aktivität der HMG-CoA-Reduktase
synthese führt. deutlich reduziert, was das Absinken des Cholesterinspiegels
beim Fasten erklärt. Ähnlich niedrige Aktivitäten der HMG-
Die HMG-CoA-Reduktase wird durch reversible CoA-Reduktase finden sich auch beim Diabetes mellitus. Hier
Phosphorylierung inaktiviert können allerdings die Cholesterinspiegel im Blut hoch sein,
Durch die AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK), die auch die wahrscheinlich wegen einer Verlangsamung des Cholesterinum-
Acetyl-CoA-Carboxylase phosphoryliert und inaktiviert satzes und der Cholesterinausscheidung. Eine dem Diabetes mel-
(7 Kap. 38.1.1), wird die HMG-CoA-Reduktase inaktiviert. Eine litus ähnliche Konstellation findet man bei der Schilddrüsenun-
Proteinphosphatase macht diesen Effekt rückgängig. AMP als terfunktion, der Hypothyreose (7 Kap. 41.4.3). Die Hyperthyre-
der Aktivator der AMPK fällt immer dann an, wenn in Zellen ose geht dagegen trotz Erhöhung der Aktivität der HMG-CoA-
Energiemangel herrscht. In diesem Zustand erscheint es sinnvoll, Reduktase mit erniedrigten Cholesterinspiegeln im Blut einher,
energieverbrauchende Biosynthesen wie die Fettsäure- oder wahrscheinlich weil gleichzeitig Cholesterinumsatz und -aus-
Cholesterinbiosynthese abzuschalten. scheidung gesteigert sind. Auch Gallensäuren hemmen die Cho-
lesterinbiosynthese (7 Kap. 61.4). Wird die Rückresorption der
Zur Behandlung von Hypercholesterinämien werden Gallensäuren im Darm durch die Bindung an einen nicht-resor-
Inhibitoren der HMG-CoA-Reduktase verwendet bierbaren Ionenaustauscher (Colestyramin; 7 Kap. 25.4.2) unter-
Von besonderer Bedeutung für die Behandlung von Hypercho- bunden, kommt es zu einer Steigerung der Cholesterinbiosyn-
lesterinämien (7 Kap. 25.4.2) sind eine Reihe spezifischer Pilzme- these in der Leber. Da jedoch gleichzeitig die Gallensäureneubil-
tabolite. Es handelt sich um Verbindungen wie Mevinolin oder dung aus Cholesterin beträchtlich beschleunigt ist, sinkt der
Compactin, deren Derivate als Statine bezeichnet werden Serumcholesterinspiegel trotzdem ab.

. Tab. 23.1 Proteine, deren Expression durch SREBPs aktiviert wird (Auswahl)

SREBP-2 SREBP-1a SREBP-1c


Aktiviert durch Cholesterinmangel Aktiviert durch Mangel an ungesättigten Fettsäuren Aktiviert durch Insulin

HMG-CoA-Synthase Acetyl-CoA-Carboxylase GLUT2


HMG-CoA-Reduktase Fettsäuresynthase Glucokinase
Alle Enzyme bis zum Isopentenylpyrophosphat Fettsäureelongasen Malatenzym
23 Prenyltransferase Fettsäuredesaturasen Acetyl-CoA-Carboxylase
Squalensynthase Fettsäuresynthase
Enzyme vom Squalen bis zum Cholesterin Glycerophosphat-Acyltransferase
LDL-Rezeptor
23.3 · Cholesterinhomöostase
299 23

Zusammenfassung
Da Cholesterin sowohl mit der Nahrung zugeführt als auch
endogen synthetisiert wird, muss seine Synthese genau
reguliert werden. Dabei sind folgende Prinzipien wirksam:
4 Cholesterin hemmt die Aktivierung von SREBP-2, das als
Transkriptionsfaktor das geschwindigkeitsbestimmende
Enzym der Cholesterinbiosynthese (HMG-CoA-Reduk-
tase) und andere Enzyme der Cholesterinsynthese
induziert.
4 Cholesterin verkürzt die Halbwertszeit der HMG-CoA-
Reduktase.
4 Die HMG-CoA-Reduktase wird durch reversible
Phosphorylierung inaktiviert.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


24 Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut
Georg Löffler

Einleitung Blutplasma schwierig ist. Für die mengenmäßig unbedeutende


Fraktion der nicht veresterten Fettsäuren steht als Transportve-
Den vielfältigen Funktionen der in den 7 Kap. 21–23 besprochenen hikel das Serumalbumin zur Verfügung. Alle anderen Lipide des
Lipide, steht ein Problem gegenüber, das gelegentlich pathobiochemi- Plasmas müssen durch Bindung an spezifische Transportprotei-
sche Konsequenzen hat. Die überwiegend hydrophoben Lipide müssen ne in Form der Lipoproteine transportiert werden.
im Blut und der extrazellulären Flüssigkeit transportiert werden, was
wegen der wässrigen Natur dieser Transportmedien naturgemäß Aufgrund ihrer Dichte können Lipoproteine
schwierig ist. Der Transport erfolgt in Form von Lipoproteinen, Komple- in vier Hauptklassen eingeteilt werden
xen aus spezifischen Proteinen mit definierten Mischungen der einzel- Die verschiedenen Lipoproteine können entsprechend ihrer
nen Lipide. Dichte in der präparativen Ultrazentrifuge (7 Kap. 6.2) vonein-
ander getrennt werden. Dabei ergeben sich, nach ansteigender
Schwerpunkte Dichte geordnet, folgende Klassen:
4 Chylomikronen
4 Zusammensetzung von Chylomikronen, VLDL, HDL, LDL
4 very low density lipoproteins (VLDL)
4 Apolipoproteine
4 low density lipoproteins (LDL) und
4 Funktionen und Stoffwechsel der Lipoproteine
4 high density lipoproteins (HDL)
4 Lecithin-Cholesterin-Acyltransferase (LCAT)
4 Lipoproteinlipase und hepatische Triacylglycerinlipase
Diese Lipoproteine unterscheiden sich sowohl im Lipidgehalt als
4 LDL-Rezeptor
auch im Verhältnis von Lipiden zu Proteinen.
In den Chylomikronen beträgt dieses Verhältnis 98:2, 86 %
der Lipide sind Triacylglycerine, 5 % Cholesterin und nur 7 %
Phospholipide. Über VLDL, LDL und HDL nimmt das Lipid-
24.1 Zusammensetzung der Lipoproteine Protein-Verhältnis bis auf etwa 50:50 bei den HDL ab. In der
gleichen Reihenfolge sinkt auch der Anteil von transportierten
Extrahiert man die Lipide des Blutplasmas mit geeigneten orga- Triacylglycerinen. Den höchsten Cholesteringehalt zeigt die
nischen Lösungsmitteln oder trennt sie mit chemischen Metho- LDL-Fraktion, den höchsten Phosphoglyceridgehalt die HDL-
den auf, so finden sich hauptsächlich: Fraktion (. Tab. 24.2).
4 Cholesterin und Cholesterinester Dass sich die einzelnen Lipoproteinklassen auch bezüglich
4 Phosphoglyceride ihrer Proteinzusammensetzung unterscheiden, wird aus ihrem
4 Triacylglycerine elektrophoretischen Verhalten klar, welches eine weitere Eintei-
4 in geringeren Mengen unveresterte langkettige Fettsäuren lungsmöglichkeit liefert. Während Chylomikronen keine elekt-
(. Tab. 24.1) rophoretische Beweglichkeit haben, wandern LDL mit der
β-Globulinfraktion und HDL mit der α-Globulinfraktion. Sie
Bei Lipiden überwiegen die hydrophoben Eigenschaften. Es ist werden dementsprechend als β- bzw. α-Lipoproteine bezeich-
deswegen verständlich, dass ihr Transport im wässrigen Medium net. VLDL wandern dagegen in der Elektrophorese den
β-Globulinen voraus und werden als Prä-β-Lipoproteine be-
zeichnet.
. Tab. 24.1 Konzentrationsbereiche der im Serum von Gesunden
vorkommenden Lipide. Für die verschiedenen Lipoproteinklassen
sind spezifische Apolipoproteine charakteristisch
Lipid Konzentrationsbereich
. Tab. 24.3 fasst die wichtigsten Eigenschaften und Funktionen
(mg/100 ml) (mmol/l) der einzelnen Apolipoproteine zusammen.
Strukturell können die Apolipoproteine in zwei Gruppen
Triacylglycerine 50–200 0,6–2,4
eingeteilt werden:
Phosphoglyceride 160–250 2,2–3,4 4 ApoB100 und ApoB48 werden als nicht-austauschbare Apo-
Cholesterin (frei + verestert) 150–220 3,9–6,2 lipoproteine bezeichnet, die nicht zwischen den verschiede-
24 Nichtveresterte Fettsäuren 14–22 0,5–0,8
nen Lipoproteinen wechseln können. Sie sind in Wasser
unlöslich.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
24.1 · Zusammensetzung der Lipoproteine
301 24
4 Die Apolipoproteine der Gruppen A, C, D und E sind in
. Tab. 24.2 Physikalische Eigenschaften, chemische Zusammen- freier Form wasserlöslich und werden zwischen Lipo-
setzung und Hauptapolipoproteine der verschiedenen Lipoprote- proteinen ausgetauscht (s. u.).
inklassen

Chylomi- VLDL LDL HDL Wie aus physikalisch-chemischen Untersuchungen hervorgeht,


kronen nehmen Apolipoproteine erst in Gegenwart von Phosphoglyce-
riden ihre endgültige räumliche Konformation an. Diese zeich-
Dichte [g/ml] 0,93 0,93–1,006 1,019–1,063 1,063–1,21
net sich durch einen relativ großen Gehalt an α-helicalen Berei-
Durchmesser 75–1.200 30–80 18–25 5–12 chen aus, die häufig als sog. amphiphile Helices organisiert sind.
[nm] Dies bedeutet, dass sich auf der einen Hälfte der Helixoberfläche
Triacylglycerine 86 55 6 4 überwiegend hydrophile und auf der anderen Hälfte dagegen
[%] überwiegend hydrophobe Aminosäureseitenketten befinden.
Cholesterin und 5 19 50 19 Grundlage aller Strukturmodelle für Lipoproteine bildet die An-
Cholesterinester nahme, dass der Kern jedes Lipoproteins aus Lipiden besteht. Die
[%] Apolipoproteine »schwimmen« mit ihren hydrophoben Struktu-
Phospholipide 7 18 22 34 ren auf der Lipidphase und treten mit ihren hydrophilen Domä-
[%] nen mit der wässrigen Umgebung in Wechselwirkung.
Apolipoproteine 2 8 22 42 Für den Aufbau der LDL-Klasse bestehen experimentell eini-
[%] germaßen gesicherte Vorstellungen (. Abb. 24.1), die auf der
davon Strukturaufklärung des Apolipoproteins B100 (ApoB100) beruhen.
Apo A I + – – + Dieses außerordentlich große Protein besteht aus 4.527 Amino-
Apo A II – – – +
säureresten und lässt sich in fünf Domänen einteilen (. Abb.
Apo A IV + – – +
Apo A V – + – + 24.1A). Beginnend vom N-Terminus findet sich zunächst eine li-
*Apo B48 + (48 %) – – – povitellinähnliche Domäne. Lipovitellin ist das Lipoprotein des
*Apo B100 – + (25 %) + (95 %) – Eidotters. Man nimmt an, dass diese Domäne für die Lipid-
Apo C I (+) + – + beladung des LDL verantwortlich ist. In den folgenden vier Domä-
Apo C II + + – +
nen bis zum C-Terminus wechseln sich amphipathische β-Faltblatt-
Apo C III + + – +
Apo D – – – + strukturen mit ebenfalls amphipathischen α-Helices ab. In . Abb.
Apo E + + + + 24.1B, C ist der Aufbau des LDL schematisch dargestellt:
Apo M – + – + 4 In einem Kernbereich des LDL befinden sich apolare Lipide
* Nicht zwischen den Lipoproteinklassen austauschbare Apolipo- wie Triacylglycerine und Cholesterinester. Um diesen he-
proteine. Nur für sie ist in Klammern der prozentuale Anteil an der rum legt sich eine Schale aus Cholesterin und amphiphilen
Gesamtmenge der Apolipoproteine angegeben. Lipiden, v. a. Phosphoglyceriden.

. Tab. 24.3 Klassifizierung und Funktion der Apolipoproteine des menschlichen Serums

Apolipoprotein Lipoprotein Molekülmasse (kDa) Syntheseort Funktion

AI Chylomikronen, HDL 28,5 Leber, Darm Strukturelement, Aktivator der LCAT

A II HDL 17 Leber Strukturelement, Aktivator der hepatischen


Lipase

A IV Chylomikronen, HDL 46 Darm Strukturelement, Aktivator der LCAT

AV VLDL, HDL 38 Leber Aktivator der hepatischen Lipase

B100* VLDL, LDL 513 Leber Ligand des ApoB100-Rezeptors

B48* Chylomikronen 241 Darm Strukturelement

CI Chylomikronen, VLDL, HDL 7,6 Leber Aktivator der LCAT

CII Chylomikronen, VLDL, HDL 8,9 Leber Aktivator der LPL

CIII Chylomikronen, VLDL, HDL 8,7 Leber Inhibitor der LPL

D HDL 33 Leber Aktivator der LCAT, Strukturelement

E Chylomikronen, VLDL, HDL, (LDL) 34 Leber Ligand des ApoE-Rezeptors

M HDL, VLDL 13 Leber, Nieren Unbekannt

* Nicht austauschbare Apolipoproteine.


LCAT: Lecithin-Cholesterin-Acyltransferase; LPL: Lipoproteinlipase.
302 Kapitel 24 · Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut

B C

. Abb. 24.1 Aufbau eines LDL-Lipoproteins. A Domänen des Apolipoprotein B100 (Apo B100). N-terminal befindet sich eine dem Lipovitellin ähnliche
Domäne, die wegen ihrer Zusammensetzung auch als βα1-Domäne bezeichnet wird. Die als β1 und β2 bezeichneten Domänen zeichnen sich durch einen
hohen Gehalt an β-Faltblattstruktur aus, während die Domänen α2 und α3 (C-Terminus) überwiegend α-helicale Elemente aufweisen. B Querschnitt durch
ein LDL-Partikel. Man erkennt den inneren, aus Triacylglycerinen und Cholesterinestern zusammengesetzten Kern (gelb); die ihn umgebenden amphiphilen
Lipide sind blau dargestellt, das ApoB100-Molekül rot. C LDL in der Aufsicht. Man erkennt, wie sich ApoB100 mit α-helicalen und β-Faltblattanteilen um den
Lipidkern windet. Die hell dargestellten Anteile sind hinter dem Lipidkern gelegen. Prd1–prd3: Prolinreiche Domänen, die für die Bindung an den LDL-Re-
zeptor wichtig sind. (Adaptiert nach Segrest JP et al. 2001)

4 Ein Molekül ApoB100 ist um das kugelförmige Lipidpartikel


gewunden. Dabei tauchen die β-Faltblattstrukturen β1 und schiedlichen Dichten ergeben sich durch die für die jewei-
β2 in die Phosphoglyceridstruktur ein. lige Lipoproteinklasse spezifischen Verhältnisse an Triacyl-
glycerinen, Cholesterin, Phospholipiden und Apolipopro-
Außer ihrer strukturgebenden Funktion haben Apolipoproteine teinen. Apolipoproteine sind neben den Phospholipiden die
wichtige Aufgaben im Rahmen des Metabolismus der Lipoprote- Lösungsvermittler von Cholesterin und Triacylglycerinen.
ine zu erfüllen (. Tab. 24.3). So sind die Apolipoproteine B100 und Darüber hinaus erfüllen sie spezifische Funktionen im Stoff-
E Liganden für spezifische Rezeptoren, die die Internalisierung wechsel der einzelnen Lipoproteine. Einige von ihnen wer-
der Lipoproteine und damit ihren weiteren Stoffwechsel vermit- den zwischen den Lipoproteinen ausgetauscht.
teln. Das Apolipoprotein CII ist ein unerlässlicher Aktivator der
Lipoproteinlipase (LPL), die Apolipoproteine AI, CI und D akti-
vieren die Lecithin-Cholesterin-Acyltransferase (LCAT).
24.2 Funktion und Umsatz einzelner
Lipoproteine
Zusammenfassung
Im Blutplasma erreichen die Lipide Konzentrationen, die ihre Triacylglycerinreiche Lipoproteine entstehen
Löslichkeit weit übersteigen. Sie werden infolgedessen als in Darm und Leber
Proteinkomplexe in Form von Lipoproteinen transportiert. Chylomikronen und VLDL sind die besonders triacylglycerinrei-
Diese werden aufgrund ihrer Dichte in vier Hauptklassen chen Lipoproteine. Die ersteren sind für den Transport mit der
eingeteilt: Chylomikronen, VLDL, LDL und HDL. Die unter- Nahrung aufgenommener Triacylglycerine, die letzteren für den
24 6 Transport der in der Leber aus endogenen Quellen synthetisier-
ten Triacylglycerine verantwortlich.
24.2 · Funktion und Umsatz einzelner Lipoproteine
303 24
Chylomikronen Chylomikronen entstehen in den Mukosazellen
der duodenalen Schleimhaut:
4 Im rauen endoplasmatischen Retikulum der Mukosazellen
assoziieren Phospholipide cotranslational mit dem Apolipo-
protein B48, wobei kleine, unreife Chylomikronen entste-
hen.
4 Die bei der Resorption durch die Pankreaslipase gespalte-
nen Triacylglycerine werden im glatten endoplasmatischen
Retikulum zu Triacylglycerinen resynthetisiert
(7 Kap. 61.3.3).
4 Mit Hilfe eines Triacylglycerintransferproteins assoziieren
unreife Chylomikronen und Triacylglycerine. Die Reifung
von Chylomikronen wird durch Aufnahme weiterer Lipide
wie Cholesterin und Phosphoglyceride sowie der Apolipo-
proteine AI und AIV abgeschlossen.
4 Vom rauen endoplasmatischen Retikulum gelangen die
Chylomikronen in den Golgi-Apparat, wo sie in Sekretgra-
nula gespeichert und durch Exocytose in den extrazellulä-
ren Raum abgegeben werden.
4 Hier sammeln sie sich in den intestinalen Lymphgängen
und gelangen über den Ductus thoracicus in den Blutkreis-
lauf. . Abb. 24.2 Abbau von Chylomikronen. Chy: Chylomikronen; CR: Chylo-
mikronen-remnants; ApoE-R: Apolipoprotein-E-Rezeptor. (Einzelheiten
VLDL Prinzipiell gleichartig wie die der Chylomikronen erfolgt s. Text)
die in den Einzelheiten noch nicht völlig aufgeklärte Bildung der
VLDL:
4 Im rauen endoplasmatischen Retikulum wird das Apolipo- Lipoproteinlipase. Dieses lipolytisch wirksame Enzym
protein B100 synthetisiert und bereits cotranslational mit (7 Kap. 21.1.3) ist an der Plasmamembran von Kapillarendothe-
Triacylglycerinen beladen. lien und extrahepatischen Geweben lokalisiert und katalysiert
4 Hierfür und für den Transfer ins glatte endoplasmatische die Spaltung von Triacylglycerinen zu Glycerin und Fettsäuren.
Retikulum ist das mikrosomale Lipidtransferprotein MTP Die Fettsäuren werden von den extrahepatischen Geweben auf-
notwendig. genommen und verstoffwechselt (7 Kap. 21.1.3). Das Glycerin
4 Im glatten endoplasmatischen Retikulum erfolgt eine wird in der Leber phosphoryliert und anschließend in den Stoff-
Fusion mit Lipidvesikeln, die außer Triacylglycerinen auch wechsel eingeschleust (7 Kap. 21.1.2).
Phophoglyceride, Cholesterin und Cholesterinester ent- Beim Abbau der Chylomikronen durch die Lipoproteinlipa-
halten. se gehen 70–90 % des Triacylglyceringehalts verloren. Gleichzei-
4 Die so entstandenen fertigen VLDL gelangen in den Golgi- tig wird ein beträchtlicher Teil der Apolipoprotein A- und C-
Apparat und werden von dort sezerniert. Moleküle und Cholesterin auf HDL-Vorstufen, sog. discoidale
4 Bei niedrigen Cholesterin- und Phosphoglyceridspiegeln in HDL, übertragen, wobei die Fraktion HDL3 entsteht. Das Über-
der Leber wird die VLDL-Synthese eingeschränkt. Hohe bleibsel des Chylomikronenabbaus, welches auch als remnant
Cholesterinspiegel in der Leber führen dagegen zu choles- (engl. Überbleibsel) bezeichnet wird, enthält noch die Apolipo-
terinreichen VLDL, die eine Arteriosklerose auslösen proteine B48 und E, außerdem weitere resorbierte Lipide, v. a. das
können. Nahrungscholesterin. In der Leber erfolgt über spezifische Re-
zeptoren für das Apolipoprotein E eine Internalisierung und da-
Triacylglycerinreiche Lipoproteine werden mit schließlich ein Abbau dieses Restpartikels.
durch die Lipoproteinlipase abgebaut
Am Abbau der triacylglycerinreichen Lipoproteine sind in be- VLDL Im Gegensatz zu Chylomikronen werden VLDL in der
sonderem Umfang die extrahepatischen Gewebe beteiligt. Aller- Leber synthetisiert. Nach der Sekretion erfolgt durch Wechsel-
dings bestehen beträchtliche Unterschiede in den Abbauwegen wirkung mit HDL-Partikeln eine Anreicherung mit Choleste-
für Chylomikronen und VLDL (. Abb. 24.2 und 24.3). rinestern sowie den Apolipoproteinen E und C, besonders CII
(. Abb. 24.3). Durch CII-vermittelte Stimulation der am Kapil-
Chylomikronen Unmittelbar nach ihrem Erscheinen im Blut än- larendothel vorhandenen Lipoproteinlipase werden VLDL-
dert sich die Oberfläche der Chylomikronen (. Abb. 24.2). In Partikel zu Glycerin und Fettsäuren abgebaut, wobei, ähnlich
Abhängigkeit von der Konzentration von HDL, besonders der wie bei Chylomikronen, zunächst ein VLDL-Remnant entsteht.
Untergruppe HDL2 (s. u.), erfolgt ein Austausch der Apolipopro- Wegen seines Gehalts an Apolipoprotein E kann es von der
teine des Typs C und E zwischen HDL und Chylomikronen. Be- Leber über entsprechende Rezeptoren internalisiert werden.
sonders wichtig ist das Apolipoprotein CII als ein Cofaktor der Alternativ reagieren die VLDL-Remnants mit der hepatischen
304 Kapitel 24 · Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut

. Abb. 24.3 Abbau von VLDL very low density-Lipoproteinen. TG: Triacylglycerin; VR: VLDL-Remnant; CE: Cholesterinester; –R: Rezeptor.
(Einzelheiten s. Text)

Triacylglycerinlipase und verlieren auf diese Weise weiter Domäne mit einer sog. β-Propellerstruktur (P), danach eine wei-
an Triacylglycerinen, wobei ein Lipoprotein intermediärer tere EGF-homologe Domäne (EGF-C). Der extrazelluläre Teil
Dichte, das IDL (IDL, intermediate density lipoprotein), entsteht. des Rezeptors wird durch eine Sequenz mit O-glycosidisch ge-
Dieses verliert unter Bildung von LDL-Partikeln sein Apolipo- bundenen Kohlenhydratseitenketten abgeschlossen (K). In der
protein E an den HDL-Pool. LDL enthalten nur noch das Apo- intrazellulären Domäne befinden sich noch zwei Sequenzen (I),
lipoprotein B100. die für die Internalisierung des Rezeptors einschließlich des ge-
bundenen LDL verantwortlich sind.
Die LDL transportieren Cholesterin zur Leber Der LDL-Rezeptor wird im rauen endoplasmatischen Reti-
und den extrahepatischen Geweben und regulieren kulum in Form eines Präkursor-Proteins synthetisiert und wie
deren Cholesterinbiosynthese alle Glykoproteine dort sowie im Golgi-Apparat prozessiert
Von den Plasmalipoproteinen enthalten die LDL am meisten (. Abb. 24.5). Etwa 45 min nach seiner Synthese erscheint er in
Cholesterin und Cholesterinester, die zu den Geweben transpor-
tiert werden, wo sie als Membranbauteil oder zur Synthese von
Steroidhormonen oder Gallensäuren verwendet werden. Beson-
dere Mechanismen sind allerdings notwendig, um die Choleste-
rinzufuhr mit LDL und die endogene Cholesterinsynthese der
jeweiligen Zellen aufeinander abzustimmen.
Schon vor vielen Jahren haben Joseph Goldstein und Micha-
el Brown (Nobelpreis für Medizin 1985) gefunden, dass Zusatz
von LDL zu kultivierten Zellen deren endogene Cholesterinsyn-
these blockiert. Dies führte in der Folge zur Entdeckung der in
. Abb. 24.5 dargestellten Beziehung zwischen dem in den LDL
transportierten Cholesterin und der Cholesterinbiosynthese ex-
trahepatischer Gewebe.
Entscheidend hierfür ist, dass zunächst die LDL-Partikel an
einen spezifischen, in der Plasmamembran der Zielzelle gelege-
nen Rezeptor, den LDL-Rezeptor, binden. Sein Ligand ist das
Apolipoprotein B100.
Der LDL-Rezeptor (. Abb. 24.4) besteht aus 839 Aminosäu-
ren und ist ein Membranprotein mit einer Transmembrandomä-
ne, einem extrazellulären N-Terminus und einem intrazellulären
C-Terminus. N-terminal befinden sich zunächst 7 sog. LA-Mo-
dule (LA: LDL-receptor type A), die für die Bindung des Ligan-
. Abb. 24.4 Aufbau des LDL-Rezeptors aus verschiedenen Domänen.
den Apo B100 verantwortlich sind. Sie bilden einen beweglichen
LA: LDL-receptor type A-Domäne; EA–EC: EGF(epidermal growth factor)-ho-
Arm, der die unterschiedlich großen LDL (und VLDL-remnant) mologe Domänen; P: β-Propellerdomäne; K: kohlenhydratreiche Domäne;
24 Moleküle binden kann. An die LA-Module schließen sich zwei TMD: Transmembrandomäne; I: Internalisierungsdomänen. (Einzelheiten
EGF-homologe Domänen (EGF-A, EGF-B) an. Ihnen folgt eine s. Text)
24.2 · Funktion und Umsatz einzelner Lipoproteine
305 24

. Abb. 24.5 Der intrazelluläre Kreislauf des LDL-Rezeptors. ACAT: Acyl-CoA-Cholesterin-Acyltransferase. (Einzelheiten s. Text)

korrekter Orientierung auf der Zelloberfläche. Der cytoplasma- einer Veresterung des Cholesterins mit Speicherung der
tische Teil des Rezeptorproteins kann über das Adaptorpro- entstehenden Cholesterinester in den Lipidtropfen der
tein AP2 mit Clathrin in Wechselwirkung (7 Kap. 6.4) treten, Zelle führt.
sodass sich der Rezeptor in coated pits sammelt. Die Bindung
von LDL an den LDL-Rezeptor erfolgt im Verhältnis 1:1. Inner- Auf diese Weise spielt der LDL-Rezeptor extrahepatischer
halb von 3–5 min nach der Bindung kommt es unter Bildung Gewebe eine bedeutende Rolle im Cholesterinstoffwechsel. Er
von coated vesicles zur Endocytose der LDL/LDL-Rezeptor- ist für die Bindung und Aufnahme der cholesterinreichen
Komplexe. Nach Verlust der Clathrinschicht fusionieren diese LDL-Partikel verantwortlich und sorgt damit für eine Sen-
mit frühen Endosomen. In ihnen sinkt der pH-Wert wegen kung des Cholesterinspiegels im Plasma. Zusätzlich vermit-
des Vorhandenseins einer ATP-getriebenen Protonenpumpe telt er eine Hemmung der Cholesterinbiosynthese extrahepa-
(7 Kap. 19.1.3) auf Werte unter 6,5, was die Dissoziation von LDL tischer Gewebe und verhindert so eine Überschwemmung
und Rezeptor auslöst. Der Rezeptor kehrt in Form kleiner Vesikel der Zellen mit Cholesterin. (Über die Bedeutung der LDL-
wieder zur Zelloberfläche zurück (receptor recycling) und steht für Rezeptoren bei der familiären Hypercholesterinämie s.
die Bindung weiterer Lipoproteine zur Verfügung. Die für einen 7 Kap. 25.4.2).
derartigen Transportzyklus benötigte Zeit beträgt etwa 10 min.
Das LDL-Apolipoprotein wird in Lysosomen abgebaut und die Die HDL sind für den reversen Cholesterintransport
in den LDL-Partikeln enthaltenen Cholesterinester durch eine verantwortlich
lysosomale saure Lipase hydrolysiert. Danach verlässt das freie Unter dem Begriff des reversen Cholesterintransportes fasst
Cholesterin das Lysosom. man die Mechanismen zusammen, die den Transport von Cho-
An den Membranen des endoplasmatischen Retikulums be- lesterin aus den extrahepatischen Geweben zur Leber und damit
einflusst Cholesterin nun zwei Vorgänge: zur Cholesterinausscheidung vermitteln. Ein derartiger Trans-
4 Es reduziert die Aktivität sämtlicher an der Cholesterinbio- port ist notwendig, da extrahepatische Gewebe zwar Choleste-
synthese beteiligter Enzyme durch eine Reduktion der rin synthetisieren können, aber über keine Reaktionen zum
Transkription der zugehörigen Gene (7 Kap. 23.3). Cholesterinabbau verfügen. Beim reversen Cholesterintrans-
4 Es aktiviert hauptsächlich über einen allosterischen Effekt port spielt die sehr uneinheitliche Fraktion der HDL eine ent-
die Acyl-CoA-Cholesterin-Acyltransferase (ACAT), was zu scheidende Rolle. Aufgrund eines unterschiedlichen Gehalts an
306 Kapitel 24 · Lipoproteine – Transportformen der Lipide im Blut

4 Durch die Einwirkung der LCAT nimmt der Gehalt der


HDL an Cholesterinestern zu, gleichzeitig verringert sich
ihr Gehalt an Phosphoglyceriden, da das gebildete Lyso-
phosphatidylcholin wegen seiner besseren Wasserlöslichkeit
von den HDL-Partikeln abdiffundiert. Hierdurch nehmen
die HDL ihre runde Form als mizelläre Partikel an.
4 Die durch LCAT gebildeten Cholesterinester wandern in
den apolaren Kern der HDL-Partikel. Dadurch entsteht auf
der HDL-Oberfläche Platz, in den aus den Membranen
extrahepatischer Gewebe stammendes Cholesterin eingela-
gert werden kann. Für den Cholesterintransport durch die
Plasmamembran werden die Lipidtransporter ABCA1 und
ABCG1 benötigt.
4 Auf diese Weise entsteht zunächst die Fraktion der HDL3,
durch weiteren Angriff der LCAT und Übernahme von
Material, welches beim Abbau der VLDL entsteht (Phos-
pholipide mit Hilfe des PLTP, Apolipoproteine C, E) auch
die HDL2.
4 Für die Aufnahme der in den HDL gespeicherten Lipide in
die Leber gibt es drei Möglichkeiten:
5 Für den Menschen am wichtigsten ist die selektive Auf-
nahme von Cholesterinestern durch den scavenger re-
ceptor-B1 (SR-B1-Rezeptor). Dabei entstehen aus den
HDL2 diskoidale HDL oder (in . Abb. 24.6 nicht darge-
. Abb. 24.6 Die Funktion der HDL beim reversen Cholesterintransport. stellt) HDL3.
ABCA1, ABCG1: Lipidtransporter; C: Cholesterin; CE: Cholesterinester; d-HDL:
5 Das Cholesterinester-Transferprotein (CETP) vermittelt
diskoidale HDL; CETP: Cholesterinester-Transferprotein; HL: hepatische Triacyl-
glycerinlipase; LCAT: Lecithin-Cholesterin-Acyltransferase; LDL-R: LDL-Rezep- den Austausch von Cholesterinestern der HDL2 gegen
tor; PL: Phospholipide; PLTP: Phospholipidtransferprotein; SR-B1: hepatischer Triacylglycerine der VLDL. Dadurch entstehen mit Tria-
scavenger receptor-B1; Lyso-PL: Lysophospholipid, (Einzelheiten s. Text) cylglycerinen beladene HDL2 und VLDL, die reich an
Cholesterinestern sind und deswegen den LDL ähneln.
5 Durch die hepatische Triacylglycerinlipase werden die
Apolipoproteinen und unterschiedlichem Lipidgehalt können mit Triacylglycerinen beladenen HDL2 abgebaut, wo-
mindestens drei HDL-Gruppen unterschieden werden, die als durch wieder diskoidale HDL oder HDL3 entstehen.
diskoidale HDL, HDL2 und HDL3 bezeichnet werden (als HDL1 5 Die an Cholesterinestern reichen (V)LDL werden durch
bezeichnet man eine HDL2-Fraktion, die lediglich das Apolipo- den LDL-Rezeptor der Leber aufgenommen.
protein E enthält). 4 Außer durch die genannten Mechanismen besteht die Mög-
. Abb. 24.6 fasst die Vorstellungen über die Entstehung, die lichkeit der direkten Aufnahme von HDL2 in die Leber
Reifung und den Abbau der verschiedenen HDL-Fraktionen zu- durch Apo-E- oder Apo-A1-Rezeptoren.
sammen:
4 Der Stoffwechsel der HDL beginnt mit der Synthese und
Sekretion der für diese Lipoproteinfraktion charakteristi-
schen Apolipoproteine AI und AII in der Leber und in den Zusammenfassung
Mucosazellen des Dünndarms. Eine weitere Quelle von 4 Chylomikronen sind für den Transport von mit der
A-Apolipoproteinen sind triacylglycerinreiche Lipoproteine Nahrung aufgenommenen Triacylglycerinen und ande-
(Chylomikronen, VLDL). ren Lipiden verantwortlich.
4 Unter Bildung diskoidaler HDL binden Apo AI und AII 4 VLDL transportieren im Wesentlichen in der Leber
Cholesterin und Phospholipide, bevorzugt aus der Leber. synthetisierte Triacylglycerine sowie Phospholipide und
Für diesen Vorgang ist der ATP-abhängige Lipidtranspor- Cholesterin.
ter ABCA1 (ABC = ATP-binding cassette) verantwortlich. 4 Beim VLDL-Abbau durch die Lipoproteinlipase ent-
Durch das Phospholipidtransferprotein (PLTP) werden stehen LDL als cholesterinreiche Lipoproteine, die rezep-
weitere Phospholipide aus triacylglycerinreichen Lipo- torvermittelt v. a. von extrahepatischen Geweben auf-
proteinen auf die diskoidalen HDL übertragen. genommen werden.
4 Das Apolipoprotein A1 bindet das von der Leber syntheti- 4 Für den reversen Cholesterintransport zur Leber und damit
sierte und sezernierte Enzym Lecithin-Cholesterin-Acyl- zum Ort der Ausscheidung sind die HDL verantwortlich.
transferase (LCAT). Das Enzym katalysiert die Reaktion:
24 Cholesterin + Phosphatidylcholin Cholesterinester
+ Lysophosphatidylcholin 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
307 25

25 Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels


Georg Löffler

Einleitung 25.1.1 Defekte im Fettsäureabbau

Diabetes mellitus, Fettleber und Adipositas sind häufige Störungen Prinzipiell kann jedes der am Triacylglycerin- und Fettsäure-
des Stoffwechsels von Triacylglycerinen und Fettsäuren. Die Sympto- stoffwechsel beteiligten Enzyme durch Mutationen defekt wer-
matik von angeborenen Erkrankungen wie der Adrenoleukodystrophie den. Es handelt sich immer um relativ seltene Erkrankungen. Gut
und von Störungen der mitochondrialen β-Oxidation verdeutlicht die untersucht sind u. a. die Adrenoleukodystrophie und die Defek-
Bedeutung der Energieversorgung von Geweben durch Fettsäuren. te der Acyl-CoA-Dehydrogenase bzw. der Carnitin-Palmitoyl-
Enzymdefekte im Abbau von Sphingolipiden (7 Kap. 22) führen zu Transferase.
den Lipidspeicherkrankheiten, die heute über Enzymersatztherapie
behandelt werden. Überschreiten Serumlipoproteine (7 Kap. 24) die Ein Defekt des peroxisomalen Abbaus
normalen Konzentrationen, kann es zu Ablagerungen von Lipiden in von langkettigen Fettsäuren
Blutgefäßen, zur Verengung des Lumens der Blutgefäße und damit zu führt zu schweren Stoffwechselstörungen
einer Reihe bedrohlicher Krankheitsbilder kommen. Die Biosynthese der Adrenoleukodystrophie Bei dieser Erkrankung handelt es sich
Eicosanoide (7 Kap. 22) ist Angriffspunkt der in der Alltagsmedizin weit um einen Defekt des Adrenoleukodystrophieproteins (ALDP),
verbreiteten steroidalen und nichtsteroidalen Schmerz- und Entzün- das überlange Fettsäuren in die Peroxisomen einschleust (7 Kap.
dungshemmer. 21.2.1), sodass bei Ausfall die Oxidation langkettiger Fettsäuren
in den Peroxisomen nicht mehr erfolgen kann. Sie sammeln sich
Schwerpunkte daher intrazellulär an und führen zu schweren Stoffwechselstö-
rungen. Typisch für die Adrenoleukodystrophie sind Schäden
4 Angeborene Defekte des peroxisomalen und mitochondria-
der Myelinscheiden der Nerven, v. a. in der weißen Hirnsubs-
len Fettsäureabbaus
tanz. Außerdem ist die Funktion der Nebenniere stark beein-
4 Pharmakologische Hemmung der Eicosanoidbiosynthese
trächtigt. Im Vordergrund der Symptomatik der Erkrankten
4 Lipidosen
stehen neurologische Symptome wie Gleichgewichtsstörungen,
4 Hypo- und Hyperlipoproteinämien
Taubheit und Krämpfe sowie die Symptome einer allgemeinen
Unterfunktion der Nebennierenrinde. Die Adrenoleukodystro-
phie ist die am längsten bekannte peroxisomale Erkrankung. Sie
tritt mit einer Häufigkeit von 1:20.000 bis 1:100.000 Geburten
25.1 Störungen des Fettsäurestoffwechsels auf. Eine ursächliche Therapie ist nicht bekannt.

Störungen des Stoffwechsels von Triacylglycerinen und Fettsäu- Myopathien sind charakteristisch für Störungen
ren sind häufige Begleiterscheinungen oder Folgen unterschied- des mitochondrialen Fettsäureabbaus
lichster Erkrankungen und werden in anderen Kapiteln bespro- Defekt der Acyl-CoA-Dehydrogenase Bei der Mehrzahl der be-
chen (. Tab. 25.1). troffenen Patienten ist das trifunktionelles Protein der β-Oxi-
dation der Fettsäuren (7 Kap. 21.2.1) infolge einer autosomal-
rezessiv vererbten Mutation defekt. Die Patienten erkranken
anfallsweise an einem hypoketotisch-hypoglykämischen Koma
. Tab. 25.1 Hinweise zur Pathobiochemie
mit Kardiomyopathie, Muskelschwäche und Störungen des Le-
Erkrankung Siehe Kapitel berstoffwechsels. 70 % der Erkrankten erblinden im Laufe der
Zeit. Bei der Behandlung steht die Therapie der Komaanfälle im
Adipositas 56.3.2
Vordergrund, außerdem sollte die Ernährung arm an langketti-
Fettleber 62.6.1 gen Fettsäuren sein.
Diabetes mellitus 36.7
Defekt der Carnitin-Palmitoyltransferase 1 oder 2 Bei der häu-
Dyslipidämie 25.4.2
figsten myopathischen Form dieser Erkrankung steht die Un-
fähigkeit v. a. der Muskulatur zu Oxidation von Fettsäuren im
Vordergrund. Ursächlich liegt der Erkrankung ein autosomal-
rezessiv vererbter Defekt der Carnitin-Palmitoyltransferase 2
zugrunde, die die Erzeugung von mitochondrialem Acyl-CoA

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
308 Kapitel 25 · Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels

verhindert (7 Kap. 21.2.1). Die Erkrankung tritt häufig erst im


25 Erwachsenenalter auf und ist durch anfallsweise Muskelschwä-
che, Rhabdomyolyse (Zerstörung von Muskelfasern), Myoglo-
binurie und Myalgie gekennzeichnet.

25.1.2 Mangel an essentiellen Fettsäuren

Mangel an essentiellen Fettsäuren löst ein


unspezifisches Krankheitsbild aus
Versucht man im Tierexperiment durch Weglassen essentieller
Fettsäuren in der Nahrung Mangelerscheinungen zu erzeugen,
so beobachtet man:
4 eine Wachstumsverlangsamung,
. Abb. 25.1 Pharmakologische Hemmung der Eicosanoidbiosynthese.
4 Schäden des Hautepithels und der Nieren sowie Glucocorticoide führen zu einer Hemmung der cytosolischen Phospholipa-
4 Fertilitätsstörungen. se A2, die auch durch Hemmung der intrazellulären Calciumakkumulation
negativ beeinflusst werden kann. Nicht-steroidale Entzündungshemmer
Alle diese Änderungen bilden sich nach Zusatz von essentiellen (Aspirin, Indomethazin) sind dagegen Hemmstoffe der Cyclooxygenasen
Fettsäuren wieder zurück.
Beim Menschen lassen sich Ausfallerscheinungen, die auf Diabetes mellitus mit Gefäßkomplikationen, findet man eine
einen Mangel an essentiellen Fettsäuren zurückzuführen sind, Verminderung der Prostaglandin-I2-Biosynthese und eine Stei-
nicht so deutlich nachweisen. Man hat jedoch beobachtet, dass gerung der Thromboxanbiosynthese. Dies löst ein Überwiegen
Hautveränderungen bei Kleinkindern, die mit einer speziell fett- der gerinnungsfördernden gegenüber den fibrinolytischen Vor-
armen Diät ernährt wurden, nach Zugabe von Linolsäure ver- gängen aus. Wahrscheinlich hat das arteriosklerotisch geschädig-
schwinden. te Gefäßendothel eine verringerte Kapazität zur Prostaglan-
din-I2-Synthese. Das alleine führt schon dazu, dass die plättchen-
aggregierende Wirkung der Thromboxane überwiegt.
Zusammenfassung In zahlreichen Studien wurde das Prinzip der Therapie arte-
Viele erworbene Störungen des Fettstoffwechsels sind riosklerotischer Gefäßkrankheiten, besonders der Koronarskle-
Begleiterscheinungen häufiger Erkrankungen und werden rose, mit Hemmstoffen der Cyclooxygenase bekräftigt (s. u.).
an anderer Stelle besprochen. Angeborene Störungen des
Stoffwechsels von Triacylglycerinen und Fettsäuren können
prinzipiell jedes der beteiligten Enzyme und Proteine betref- 25.2.2 Hemmung der Eicosanoidbiosynthese
fen. Besonders gut untersuchte hereditäre Erkrankungen
sind: Eine Vielzahl entzündungs- und schmerz-
4 die Adrenoleukodystrophie, bei der ein Defekt des Fett- hemmender Pharmaka greift in den Stoffwechsel
säuretransportsystems in die Peroxisomen vorliegt, der Eicosanoide ein
4 Defekte der Acyl-CoA-Dehydrogenase, die mit einem hy- . Abb. 25.1 fasst die verschiedenen Angriffspunkte derartiger
poketotisch-hypoglykämischem Koma einhergehen und Medikamente zusammen.
4 Defekte der Carnitin-Palmitoyltransferase mit einer Un-
fähigkeit v. a. der Muskulatur zur Fettsäureoxidation. Nicht-steroidale Entzündungshemmer (NSAIDs, non steroidal an-
tiinflammatory drugs) Unter dieser Bezeichnung fasst man
Wirkstoffe zusammen, die die Prostaglandinbiosynthese durch
Hemmung der Cyclooxygenaseaktivität (COX) der Prostaglan-
25.2 Störungen und pharmakologische Beein- din-H-Synthase (PGHS) (7 Kap. 22.3.2) vermindern. Dieser
flussung des Eicosanoidstoffwechsels Gruppe von Arzneimitteln ist gemeinsam, dass die beiden Iso-
formen des Enzyms in gleicher Weise in ihrer Aktivität reduziert
25.2.1 Verhältnis von Thromboxan A2 werden. Das bekannteste derartige Arzneimittel ist das Aspirin
zu Prostaglandin I2 (Acetylsalicylsäure), das die beiden PGHS-Isoformen an einem
Serylrest acetyliert und damit die Bindung des Substrates Arachi-
Störungen der Produktion einzelner Eicosanoide donsäure hemmt. Ein anderer Wirkstoff aus dieser Gruppe ist
spielen eine Rolle bei unterschiedlichen patholo- das Indomethacin, das als kompetitiver Hemmstoff an der Ara-
gischen Zuständen und können mit spezifischen chidonsäurebindungsstelle wirkt. Nicht-steroidale Entzün-
Hemmstoffen behandelt werden dungshemmer haben vielfältige Effekte. Sie wirken vermutlich
Ein wichtiges Beispiel für die pathobiochemische Bedeutung ver- durch eine Hemmung der Biosynthese von Prostaglandin E2
schiedener Eicosanoide ist das Verhältnis von Thromboxan A2 schmerzstillend und dämpfen Entzündungsreaktionen. In we-
und Prostaglandin I2. Bei der Arteriosklerose, aber auch bei sentlich geringerer Dosierung hemmen sie hauptsächlich die
25.3 · Störungen des Stoffwechsels von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
309 25
Thromboxanbiosynthese und vermindern damit die Plättchen- von Glaukomen, Gefäßverschlüssen und Durchblutungsstörun-
aggregation, während eine Hemmung der Prostaglandin-I2-Syn- gen, aber auch um die Geburtseinleitung und die Verstärkung
these demgegenüber nicht ins Gewicht fällt. Dies ist die Grund- der Wehentätigkeit.
lage der Aspirindauerbehandlung bei der Bekämpfung der mit
einer Koronarsklerose einhergehenden koronaren Herzerkran-
kung, bei der eine Störung des Gleichgewichts zwischen Throm- Zusammenfassung
boxanen und Prostaglandin I2 vorliegt. Eine allen nicht-steroida- Erkrankungen mit Arteriosklerose gehen häufig mit Störun-
len Entzündungshemmern gemeinsame Nebenwirkung betrifft gen der Biosynthese einzelner Prostaglandine einher, wobei
die Mucinproduktion des Magens, die durch Prostaglandin E2 das Verhältnis von Thromboxan A2 zu Prostaglandin I2 von
gesteigert wird (7 Kap. 61.2). Jede Hemmung der Prostaglandin- besonderer Bedeutung ist. Derartige Störungen werden mit
synthese führt also zu einer verminderten Mucinsynthese und Inhibitoren der Prostaglandin-H-Synthase (Cyclooxygenase)
damit zum Wegfall eines wichtigen Faktors, der die Magenmu- behandelt. Neben dem beide PGH-Synthase-Isoenzyme
kosa vor der Selbstverdauung v. a. durch die Salzsäure schützt. hemmenden Aspirin stehen hierfür auch Wirkstoffe mit
Etwa 1 % der Patienten, die diese Arzneimittel in Dauermedika- einer hohen Spezifität für die PGH-Synthase 2 zur Verfü-
tion nehmen, erkranken an Magengeschwüren und anderen gung. Zur Hemmung der Prostaglandin- und Leukotrien-
schweren gastrointestinalen Komplikationen. synthese eignen sich Glucocorticoide, welche die Phospho-
lipase A2 hemmen.
COX2-Inhibitoren Eine neue Gruppe von Inhibitoren der
Prostaglandinbiosynthese sind die sog. COX2-Inhibitoren.
Diese Verbindungen hemmen spezifisch die Cyclooxygenase-
aktivität der PGHS2. Da dieses Enzym in der Magenschleim- 25.3 Störungen des Stoffwechsels von
haut nicht vorkommt, fällt bei Verwendung von COX2-Inhi- Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
bitoren die oben beschriebene Nebenwirkung weg, während
die erwünschten Wirkungen weitgehend erhalten bleiben. Al- 25.3.1 Antiphospholipidsyndrom
lerdings hemmen COX2-Inhibitoren auch die Prostaglandin-
I2-Produktion der Endothelzellen und fördern so thromboti- Autoantikörper gegen Phospholipide
sche Ereignisse. führen zum Antiphospholipidsyndrom
Von Graham Hughes wurde 1983 ein Krankheitsbild beschrie-
Phospholipase-A2-Inhibitoren Die sog. nicht-steroidalen Ent- ben, das durch Thrombosen gekennzeichnet ist. ca. 80 % der
zündungshemmer beeinflussen aufgrund ihres Wirkungsspekt- Betroffenen sind Frauen, bei denen es infolge der Erkrankung zu
rums nicht die Leukotrienbiosynthese. Für die Hemmung der Fehlgeburten und intrauterinem Fruchttod kommt. Für die als
Biosynthese aller Eicosanoide muss die durch die cytosolische Antiphospholipidsyndrom bezeichnete Erkrankung ist typisch,
Phospholipase A2 (cPLA2) ausgelöste Arachidonsäurefreiset- dass hohe Titer von Autoantikörpern gegen verschiedene, meist
zung gehemmt werden. Hier spielen Glucocorticoide eine wich- negativ geladene Phospholipide auftreten. Am häufigsten han-
tige Rolle: Sie reprimieren die cPLA2 und induzieren Lipo- delt es sich um Antikörper gegen das mitochondriale Phospho-
cortin 1. Dieses zur Annexin-Familie gehörende Protein hemmt lipid Cardiolipin. Man weiß heute allerdings, dass die Antikörper
die durch Phospholipase A2 katalysierte Arachidonsäurefreiset- bevorzugt mit an bestimmte Proteine gebundenen Phospholipi-
zung. den reagieren. Hierzu gehören u. a. Gerinnungsproteine wie Pro-
Außer durch Hemmstoffe wird die Aktivität der Phospholi- thrombin, Protein C oder Protein S (7 Kap. 69.1). Es handelt sich
pase A2 durch Veränderung der intrazellulären Lokalisation be- um eine relativ häufige Autoimmunerkrankung, da Phospholi-
einflusst. Dies beruht auf der Tatsache, dass sie in einer inaktiven pid Antikörper bei etwa 1–5 % der Bevölkerung nachweisbar
Form im Cytosol lokalisiert ist. Sämtliche Signale, die zu einer sind.
Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration führen, ka- Über die pathogenetischen Mechanismen, die die beschrie-
talysieren die Translokation der cPLA2 an die Plasmamembran, bene Symptomatik mit den Autoantikörpern verknüpfen,
wo es zu ihrer Aktivierung kommt. Außerdem wird das Enzym herrscht noch keine Klarheit.
durch Phosphorylierung aktiviert. Wirkstoffe, die in diese Vor-
gänge eingreifen, beeinflussen die Eicosanoidproduktion. Aller-
dings sind die bisher entwickelten Verbindungen zu unspezifisch 25.3.2 Lipidspeicherkrankheiten
und eignen sich deshalb nicht für den klinischen Einsatz.
Enzymdefekte des Sphingolipidabbaus
Für therapeutische Zwecke werden verursachen Lipidspeicherkrankheiten
Prostanoidanaloga verwendet Eine Reihe erblicher Stoffwechseldefekte ist durch pathologische
Wegen ihrer oftmals außerordentlich kurzen Halbwertszeit eig- Lipidansammlungen in verschiedenen Geweben charakterisiert,
nen sich natürliche Prostanoide und Leukotriene nicht für den weswegen für diese Erkrankungen auch der Sammelbegriff Li-
therapeutischen Einsatz. Einige Prostaglandinanaloga sind je- pidspeicherkrankheiten oder Lipidosen verwendet wird. Häufig
doch synthetisiert worden, die sich zur Therapie einiger Erkran- ist das Zentralnervensystem, nicht selten aber auch Leber und
kungen eignen. Es handelt sich besonders um die Behandlung Niere betroffen.
310 Kapitel 25 · Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels

Verwendung modifizierter Glucocerebrosidasen, die vermehrt


25 mannosehaltige Kohlenhydratseitenketten aufweisen und des-
wegen viel besser von Makrophagen internalisiert werden kön-
nen. Hiermit sind bei einer Reihe von Patienten gute Erfolge er-
zielt worden.

Zusammenfassung
Störungen im Stoffwechsel von Phosphoglyceriden und
Sphingolipiden sind:
4 Das Antiphospholipidsyndrom, das durch Autoantikör-
per gegen Phopholipide gekennzeichnet ist und zu
Thrombosen und Fehlgeburten führt, sowie
4 Lipidspeicherkrankheiten, die auf hereditären Defekten
der für den Sphingolipidabbau verantwortlichen
Enzyme beruhen.

. Abb. 25.2 Enzymdefekte, die Sphingolipidosen verursachen (Aus-


wahl). Cer: Ceramid; Gal: Galactose; GalNAc: N-Acetyl-Galactosamin; Glc:
25.4 Störungen des Lipoproteinstoffwechsels
Glucose; NANA: N-Acetyl-Neuraminat. Der schwarze Balken gibt die Lokali-
sation des Enzymdefekts beim Sphingolipidabbau an, aus dem sich die Sehr häufig sind Erkrankungen, die durch Veränderungen im
pathologisch gespeicherte Verbindung ableitet Lipoproteinmuster des Plasmas gekennzeichnet sind. Generell
kann man Hypo- und Hyperlipoproteinämien unterscheiden.
Neben primären Lipoproteinstoffwechselstörungen, die auf
Die spezielle Bezeichnung Sphingolipidose wird auf be- genetischen Defekten beruhen, kommen wesentlich häufiger se-
stimmte, in der Regel autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechsel- kundäre Lipoproteinstoffwechselstörungen vor, die durch Diät-
defekte angewendet, die meist schon im Kindesalter auftreten. fehler oder andere Primärerkrankungen verursacht werden.
Bei diesen Erkrankungen finden sich abnorme Ablagerungen
von gelegentlich falsch aufgebauten Sphingolipiden in den be-
troffenen Geweben. Die Ursache dieser Sphingolipidspeicherung 25.4.1 Hypolipoproteinämien
lässt sich auf genetisch bedingte Defekte der spezifischen, für den
Abbau der betreffenden Lipide verantwortlichen Hydrolasen zu- Hypolipoproteinämien beruhen meist
rückführen, seltener auch auf Defekte der Sphingolipidaktivator- auf genetischen Defekten
proteine. . Abb. 25.2 stellt die wichtigsten heute bekannten A-β-Lipoproteinämie Die A-β-Lipoproteinämie ist charakteri-
Sphingolipidosen zusammen. Die Diagnose kann durch die Be- siert durch eine Verminderung oder das Fehlen der LDL und
stimmung des gespeicherten Lipids und v.a. durch den Nachweis anderer, das Apolipoprotein B tragender Lipoproteine im Plas-
des entsprechenden Enzymdefekts, häufig mit molekularbiologi- ma. Ursache dieser Erkrankung ist entweder eine Störung der
schen Methoden, in Gewebeproben von Haut, Leber, Dünndarm Apolipoprotein-B-Biosynthese oder Mutationen des Triacylgly-
und auch in den Leukocyten gesichert werden. Selbst beim noch cerintransferproteins (7 Kap. 24.2). Da beide Proteine für die
ungeborenen Kind können durch Amniocentese aus dem Freisetzung von Apolipoprotein B enthaltenden Lipoproteinen
Fruchtwasser Zellen gewonnen und angezüchtet werden, in de- notwendig sind, findet sich bei den Patienten eine Verminderung
nen der Lipidosenachweis durch Enzymbestimmung oder Gen- der Chylomikronen, VLDL und LDL. Nach oraler Fettbelastung
analyse durchgeführt wird. Für die Behandlung einer der Sphin- kommt es nicht zu einer Freisetzung von Chylomikronen. Als
golipidosen, des Morbus Gaucher, gibt es inzwischen ein gut Ausdruck der Transportstörung findet sich eine ausgeprägte Er-
eingeführtes Verfahren. Die Erkrankung, die mit einer Häufig- höhung des Triacylglyceringehalts der Darmmukosa und der
keit von 1:40.000 vorkommt, beruht auf dem Mangel einer spe- Leber. Die Patienten haben zwar ein erniedrigtes Risiko für kar-
zifischen Glucoceramidase. Sie geht mit der Ablagerung großer diovaskuläre Erkrankungen, jedoch ein erhöhtes Risiko für Kar-
Mengen an Glucoceramid in den Makrophagen einher und be- zinome und Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes sowie der
fällt verschiedene Organe und Gewebe. Im Knochenmark Lungen, das derzeit nicht erklärt werden kann.
kommt es zu einer schweren Störung der Hämatopoese, am Kno-
chen treten Nekrosen und Frakturen auf, Leber und Milz können Hypo-α-Lipoproteinämie (Tangier-Erkrankung) Diese Erkran-
extrem vergrößert sein. kung wurde erstmalig bei Geschwistern, die auf der Tangier-Insel
Für die Therapie injiziert man den Patienten die ihnen feh- in Virginia lebten, entdeckt. Im Plasma dieser Patienten sind die
lende Glucocerebrosidase. In nativer Form wird dieses Enzym Menge an HDL und damit auch der Cholesteringehalt extrem
allerdings eher von Hepatocyten als von Makrophagen aufge- erniedrigt; es kommt zu einer Cholesterinspeicherung in den
nommen und ist deswegen ziemlich wirkungslos. Besser ist die Zellen des retikuloendothelialen Systems. Die Ursache dieser Er-

Niemann-Pick-Syndrom Gaucher-Krankheit Leukodystrophie metachromatische Angiokeratoma corporis diffusum Fabry-Krankheit Tay-Sachs-Syndrom


Gangliosidose generalisierte Defekt Shingomyelinase β-Glucoceramidase Sulfatidase α-Galactosidase Hexosaminidase β-Galactosidase
25.4 · Störungen des Stoffwechsels von Phosphoglyceriden und Sphingolipiden
311 25

. Tab. 25.2 Risikofaktoren für koronare Herzerkrankung und


arterielle periphere Verschlusskrankheit

Koronare Herzerkrankung Arterielle periphere Verschluss-


krankheit

Hyper- und Dyslipoproteinämie Zigarettenrauchen


Zigarettenrauchen Hyper- und Dyslipoproteinämie
Hypertonie Diabetes mellitus
Diabetes mellitus
Übergewicht

Primäre Hyperlipoproteinämien beruhen auf gene-


tischen Defekten des Lipoproteinstoffwechsels
. Abb. 25.3 An der Entstehung der koronaren Herzkrankheit beteiligte Hyperlipoproteinämie Typ I Bei der Hyperlipoproteinämie Typ I
Risikofaktoren sind auch nach 12-stündiger Nahrungskarenz Chylomikronen
im Plasma nachweisbar. Aus dem trüben, lipämischen Serum
setzt sich nach einiger Zeit eine dicke Fettschicht ab. Der Triacyl-
krankung beruht auf einer Mutation des ABCA1-Transporters. glyceringehalt des Serums ist entsprechend erhöht, jedoch kann
Dies führt zu einer Unfähigkeit, HDL-Vorstufen entsprechend auch der Cholesteringehalt gesteigert sein. Der Grund für diesen
mit Cholesterin zu beladen. Dementsprechend finden sich Cho- Anstieg der Plasmatriacylglycerine ist ein Mangel an Lipoprote-
lesterinablagerungen bei den betroffenen Patienten im retikulo- inlipase, der autosomal-rezessiv vererbt wird. In manchen Fällen
endothelialen System. Eine Erhöhung des Risikos für kardiovas- fehlt auch das Apolipoprotein CII, sodass es nicht zur Aktivie-
kuläre Erkrankungen ist nicht bei allen Patienten nachweisbar. rung der Lipoproteinlipase kommt. Dieser Mangel an Lipopro-
teinlipaseaktivität führt dazu, dass Nahrungsfette zwar resorbiert
und als Chylomikronen in das Blut eingespeist, aber nicht rasch
25.4.2 Hyperlipoproteinämien genug verwertet werden können. Die Therapie der Erkrankung
besteht in einer Reduktion der Fettzufuhr auf weniger als 3 g/
Hyperlipoproteinämien stellen ein Tag. Dabei sollten Triacylglycerine mit Fettsäuren kurzer und
schweres Gesundheitsrisiko dar mittlerer Kettenlänge bevorzugt werden, da diese direkt an das
Im Jahr 2010 starben in Deutschland 352.689 Personen an Pfortaderblut abgegeben und nicht in Chylomikronen eingebaut
Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, was ungefähr 45 % al- werden (7 Kap. 57.1.3).
ler Todesfälle ausmacht. Die Häufigkeit dieser Erkrankungen
steigt von Jahr zu Jahr. An einer koronaren Herzerkrankung lei- Hyperlipoproteinämie Typ II (familiäre Hypercholesterinämie)
den mehr als 15 % der Bevölkerung. Diese beruht auf einer arte- Diese autosomal-dominant vererbte Erkrankung ist durch eine
riosklerotischen Erkrankung der Koronararterien und kann u. a. sehr starke Erhöhung der Cholesterinkonzentration des Serums
zum Herzinfarkt führen. Auch die arterielle periphere Ver- gekennzeichnet, die mit einer Erhöhung der LDL-Fraktion ein-
schlusskrankheit ist häufig (ca. 5 % der Bevölkerung). Sie betrifft hergeht. Die Triacylglycerinkonzentration kann normal (Typ IIa)
meist die Beinarterien und kann im Endstadium sogar eine bzw. leicht erhöht (Typ IIb) sein. Heterozygote kommen mit ei-
Gangrän auslösen. ner Häufigkeit von 1:500 vor und machen etwa 5 % der Patienten
Untersucht man die Betroffenen, so finden sich außerordent- aus, die jünger als 60 Jahre sind und bereits einen Myokardin-
lich häufig die in . Tab. 25.2 zusammengestellten Risikofaktoren. farkt hinter sich haben. Homozygote Träger der Erkrankung
Neben Adipositas, Diabetes mellitus, Hypertonie oder Homocy- kommen mit einer Frequenz von 1:1.000.000 vor und leiden
steinämie und Zigarettenrauchen nehmen Hyper- und Dyslipo- schon in der Kindheit an einer schweren Arteriosklerose mit ko-
proteinämien einen ganz besonders hohen Rang ein. In einer ronarer Herzerkrankung und Cerebralsklerose.
Reihe von Studien konnte gezeigt werden, dass eine Korrelation Die Ursache des Defektes liegt in einem Funktionsdefekt des
zwischen der Höhe des Cholesterinspiegels und der Mortalität an LDL-Rezeptors. Aufgrund molekularbiologischer Untersuchun-
koronarer Herzerkrankung besteht. Darüber hinaus haben meh- gen des LDL-Rezeptors bzw. seines Gens an einer großen Zahl
rere prospektive Langzeitstudien zu der Erkenntnis geführt, dass homozygoter Patienten konnten vier Klassen von Mutationen
eine Senkung des Cholesterinspiegels in der Tat das Koronarrisi- definiert werden, die das Krankheitsbild auslösen können. Am
ko vermindert. Natürlich sind über den Faktor Hyperlipidämie häufigsten (ca. 50 % der Fälle) findet sich ein Rezeptormangel.
hinaus noch eine Reihe weiterer pathophysiologischer Mecha- In anderen Fällen wird der Rezeptor zwar synthetisiert jedoch
nismen entscheidend an der Entstehung der koronaren Herzer- nicht posttranslational prozessiert und glycosyliert, sodass er
krankung beteiligt (. Abb. 25.3). Zu diesen gehören Störungen nicht in die Membran eingebaut werden kann. Gelegentlich fan-
der Plättchenaggregation und die Hypertonie mit ihren Folgeer- den sich Defekte der LDL-Bindungsstellen des Rezeptors oder
krankungen. infolge von Mutationen am C-terminalen Teil des Rezeptors, eine
312 Kapitel 25 · Pathobiochemie des Lipidstoffwechsels

Störung der Assoziation mit Clathrin und damit der Bildung wicht, Diabetes mellitus und Hyperurikämie. Die Therapie besteht
25 der für die Rezeptorinternalisierung wichtigen coated pits. Die in einer Reduktion der Energie- und Kohlenhydratzufuhr.
genannten Defekte führen ohne Ausnahme zu einer Hemmung
der LDL-Aufnahme und damit zum Anstieg des Serumcholes- Hyperlipoproteinämie Typ V In ihrem Erscheinungsbild ent-
terins. Auf der anderen Seite fällt die Hemmung der endoge- spricht diese Form der Hyperlipoproteinämie einer Mischform
nen Cholesterinbiosynthese der extrahepatischen Gewebe der Typen I und IV. Charakteristisch sind eine exzessive Vermeh-
durch die LDL-Aufnahme (7 Kap. 24.2) weg, sodass es zur über- rung der Triacylglycerine und eine mäßige Vermehrung des
schüssigen Cholesterinbiosynthese kommt. Dies erhöht die Cholesterins im Serum. In der Elektrophorese findet sich eine
Serumcholesterinkonzentration und damit das Arteriosklerose- Zunahme der Chylomikronen und der VLDL. Der primäre De-
risiko weiter. fekt der Erkrankung ist nicht bekannt, das Krankheitsbild ist
Die Behandlung besteht bei Homozygoten darin, das Plasma außer der Änderung der Blutfettkonzentrationen durch Ablage-
in regelmäßigen Abständen durch Affinitätschromatographie an rung von Cholesterin in der Haut gekennzeichnet. Ein besonde-
einer mit einem Apolipoprotein-B-Antikörper gekoppelten Ma- res Arterioskleroserisiko besteht nicht.
trix zu behandeln. Daneben muss die Cholesterinzufuhr gesenkt
und der Cholesterinspiegel durch Gaben von Colestyramin 20–25 % der erwachsenen Bevölkerung leiden
(7 Kap. 23.3 und 7 Kap. 61.1.4) gesenkt werden. Zusätzlich kann an sekundärer Hypercholesterinämie
eine Behandlung mit Nicotinsäure durchgeführt werden (s. Sekundäre Hypercholesterinämie 20–25 % der erwachsenen Be-
Lehrbücher der Pharmakologie). völkerung Deutschlands leiden an einer Erhöhung der Serum-
Ein weiteres Therapieprinzip, das bei heterozygoten Patien- cholesterinkonzentration über den Normalbereich. Man nimmt
ten eingesetzt werden kann, besteht in der Behandlung mit an, dass bei diesen Patienten eine genetische Disposition zu er-
Hemmstoffen der HMG-CoA-Reduktase (Mevinolin, s. 7 Abb. höhten LDL-Konzentrationen besteht, die jedoch durch zusätz-
23.9), die außerdem zu einer vermehrten Synthese von LDL- liche exogene Faktoren wie Übergewicht oder Bewegungsmangel
Rezeptoren führen. Bei Homozygoten ist wegen des Befalls bei- verstärkt werden muss.
der Allele des LDL-Rezeptor-Gens eine derartige Therapie nicht Sekundäre Hyperlipoproteinämien können die verschie-
sinnvoll. densten Ursachen haben. Bei einer Reihe von Erkrankungen wie
Diabetes mellitus, Übergewicht, Verschlussikterus, nephroti-
Hyperlipoproteinämie Typ III Kennzeichnend für diese Erkran- sches Syndrom, Gicht, Pankreatitis, Alkoholismus und Hypothy-
kung ist das Auftreten einer besonders breiten Lipoproteinbande reose entstehen Hyperlipoproteinämien, bei denen häufig spezi-
im β-Globulinbereich der Lipidelektrophorese. Die in dieser fische Lipoproteine vermehrt vorkommen. Am häufigsten han-
Bande wandernden Lipoproteine gehören ihrer Dichte nach zu delt es sich um Hyperlipoproteinämien des Typs IV, gelegentlich
den VLDL. Aus der gegenüber normalen VLDL geänderten elek- auch des Typs II. Eine sekundäre Hyperlipoproteinämie des
trophoretischen Wanderungsgeschwindigkeit kann geschlossen Typs I findet sich nur bei unbehandeltem Diabetes-Typ-1 und ist
werden, dass es sich um ein atypisches VLDL mit geänderter dementsprechend heute sehr selten. Beim Verschlussikterus und
Zusammensetzung der Apolipoproteine handelt. Die Patienten der Hyperthyreose finden sich darüber hinaus atypische Lipo-
sind homozygot für eine als Apo E2 bezeichnete Variante des proteine.
Apolipoprotein E. Lipoproteine mit diesem Protein werden nicht
vom LDL-Rezeptor erkannt, weswegen sich im Blut relativ cho-
lesterinreiche Apolipoproteine ansammeln, die von einem spezi- Zusammenfassung
fischen, als scavenger-Rezeptor bezeichneten Makrophagenre- Häufig kommen Störungen der Lipoproteinzusammenset-
zeptor (scavenger receptor A, SR A oder CD 36) gebunden wer- zung oder des Lipoproteinstoffwechsels vor.
den. Dies führt zur Internalisierung und zur Umwandlung von Man unterscheidet Hypo- und Hyperlipidämien, Letztere
Makrophagen in lipidreiche Schaumzellen. Im Serum finden sich werden auch als Dyslipidämien bezeichnet.
erhöhte Triacylglycerin- und Cholesterinspiegel, außerdem la- Genetische Formen dieser Erkrankungen betreffen Mutatio-
gert sich Cholesterin in der Haut der Erkrankten ab. Das Arte- nen in den Genen für:
rioskleroserisiko ist extrem hoch. Die Behandlung besteht in ei- 4 Apolipoproteine
ner Reduktion der Cholesterinzufuhr. 4 die Assemblierung von Lipoproteinen
4 lipolytische Enzyme und
Hyperlipoproteinämie Typ IV Diese Form der Hyperlipoproteinä- 4 Rezeptoren, die für die Lipoproteinaufnahme benötigt
mie zeichnet sich durch eine deutliche Zunahme der Triacylglyce- werden
rine mit einem geringgradigen Anstieg des Cholesteringehalts im
Serum aus. Das Serum ist in Abhängigkeit vom Ausmaß der Tria- Erworbene Hyperlipoproteinämien betreffen häufig das Ver-
cylglycerinvermehrung klar bis milchig trüb. Vermehrt sind die hältnis von LDL zu HDL und sind von einer Hypercholeste-
VLDL. Die Konzentration der Lipoproteine wird durch eine koh- rinämie begleitet. Sie gelten als Risikofaktoren für Arterio-
lenhydratreiche Mahlzeit deutlich erhöht, weswegen die Erkran- sklerose und koronare Herzerkrankung.
kung auch als kohlenhydratinduzierte Hyperlipämie bezeichnet
wird. Der metabolische Defekt der Erkrankung ist nicht bekannt,
häufig handelt es sich um Patienten mit auffallendem Überge- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
313 26

26 Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel


und Stickstoffumsatz
Klaus-Heinrich Röhm

Einleitung

Der allgemeine Aufbau und die physikochemischen Eigenschaften


von Aminosäuren werden in 7 Kap. 3.3 vorgestellt und 7 Kap. 5 be-
schreibt die Aminosäuren als strukturgebende Bausteine von Proteinen.
Darüber hinaus erfüllen Aminosäuren aber auch zahlreiche Stoffwech-
selfunktionen. Mit ihren Aminogruppen nehmen sie eine zentrale Rolle
im Stickstoff-Stoffwechsel des Organismus ein. Die Entfernung der Ami-
nogruppen erfolgt meistens durch Übertragung auf eine -Ketosäure
(Transaminierung) oder direkt durch Desaminierung. Durch Decarboxy-
lierung von Aminosäuren entstehen zahlreiche biogene Amine, von de-
nen viele als Neurotransmitter fungieren. Zur Energiegewinnung kann
das Kohlenstoffgerüst der Aminosäuren direkt abgebaut werden oder es
dient der Synthese von Glucose und Ketonkörpern. Da der menschliche
Organismus 8 bis 9 Aminosäuren nicht de novo synthetisieren kann, stel-
len Proteine eine essentielle Nahrungsquelle dar.

Schwerpunkte

4 Bedeutung von Aminosäuren für den Stickstoffkreislauf in


der Natur
. Abb. 26.1 Stickstoffkreislauf. (Einzelheiten s. Text)
4 Rolle von Aminosäuren beim Stoffwechsel des neuro-
toxischen Ammoniak
4 Nicht-proteinogene Funktionen von Aminosäuren
26.1.1 Bildung von Ammoniak in der Biosphäre
4 Essentielle Aminosäuren und minimale Eiweißzufuhr
4 Pyridoxalphosphat (Vitamin B6) und die Transaminierung,
Die Fähigkeit zur Stickstoff-Fixierung – d. h. zur Reduktion von
Desaminierung und Decarboxylierung von Aminosäuren
N2 zu NH4+ – ist auf einige Bakterien beschränkt, die häufig in
4 Die sechs Endprodukte des Aminosäureabbaus
Symbiose mit Pflanzen leben. N2-fixierende Organismen stellen
4 Synthese von Glucose und Ketonkörpern aus Aminosäuren
einen großen Teil der für die Landwirtschaft wichtigen Ammo-
niumsalze bereit und sind deshalb ökologisch sehr wichtig.
Für Pflanzen und bestimmte Bakterien stellen Nitrat (NO3–)
und Nitrit (NO2–) alternative Stickstoffquellen dar, die ebenfalls
26.1 Beziehung zwischen Stickstoff, Ammoniak zu Ammoniak (NH3) reduziert werden müssen, bevor sie in or-
und Aminosäurestoffwechsel ganische Moleküle eingebaut werden können (Nitratreduktion,
Ammonifizierung).
Stickstoff ist ein Hauptbestandteil von Proteinen, Nucleotiden Andere Bakterien oxidieren NH3 zu Nitrat und wandeln die-
und anderen Biomolekülen und damit ein unentbehrliches Makro- ses weiter in N2 um. Diese Prozesse (Nitrifizierung und Denitri-
element. Als N2-Molekül steht Stickstoff in der Erdatmosphäre fizierung) entziehen der Biosphäre leicht nutzbaren Stickstoff
in fast unbegrenzten Mengen zur Verfügung, kann in dieser und vermindern den für eine effiziente landwirtschaftliche Nut-
Form aber nur von wenigen Lebewesen genutzt werden. Der zung wichtigen Stickstoffgehalt des Bodens.
Stickstoffkreislauf ist in . Abb. 26.1 in vereinfachter Form dar- Im tierischen Stoffwechsel kommt Stickstoff fast ausschließ-
gestellt. lich auf der Oxidationsstufe von Ammoniak (NH3) vor (eine der
wenigen Ausnahmen ist NO, 7 Kap. 27.2.2). Tiere können Stick-
stoff nur in Form von Ammoniumionen verwerten. Für sie stel-
len Aminosäuren die einzige verwertbare Stickstoffquelle dar.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
314 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

26.1.2 Eigenschaften von Ammoniak Landlebende Tiere wandeln NH4+ in


weniger giftige Ausscheidungsprodukte um
Unter physiologischen Bedingungen Ausscheidungsformen Die Art und Weise, wie Tiere Stickstoff
26 liegt Ammoniak zu 99 % protoniert vor ausscheiden, ist sehr unterschiedlich und wird v. a. von ihrer Le-
Ammoniak ist eine mittelstarke Base mit einem pKa-Wert von bensweise bestimmt. Fische und andere wasserlebende Tiere
9,2. Beim pH-Wert des Blutes (7,4) liegen demnach etwa 98,5 % geben NH4+ über die Kiemen oder die Haut direkt ins Wasser ab.
des Ammoniaks als Ammoniumonen (NH4+) vor. Im Zellinne- Diese ammonotelische Form der Exkretion steht landlebenden
ren, wo der pH-Wert zwischen 6,0 und 7,1 liegt, ist dieser Pro- Tieren nicht zur Verfügung. Sie integrieren NH4+ in weniger to-
zentsatz sogar noch höher. Das Protonierungsgleichgewicht zwi- xische Verbindungen, wie Harnstoff, Harnsäure, Guanin oder
schen NH3 und der konjugierten Säure NH4+ ist mit dem CO2/ Kreatinin und geben diese Substanzen über Nieren oder Kloaken
Hydrogencarbonat-System (7 Kap. 66.1.3) gekoppelt, und damit nach außen ab.
vom Säure-Basen-Status des Organismus abhängig, d.h. Die Bildung von Harnsäure (die sog. uricotelische Form
der Ausscheidung) wird u. a. von Vögeln und Reptilien genutzt.
NH3 + CO2 + H2O NH4+ + HCO3– Sie ist besonders wassersparend, weil die schwer lösliche Harn-
säure in fester Form abgegeben werden kann. Deshalb können
In der Literatur wird häufig vereinfachend von »Ammoniak« uricotelische Tiere auch in extrem trockenen Umgebungen
gesprochen, auch wenn das physiologische Gleichgewichtsge- überleben.
misch von 99 % NH4+ und 1 % NH3 gemeint ist. In diesem Kapi- Die ureotelische Form (d. h. die Ausscheidung von Harn-
tel wird die Bezeichnung »Ammoniak« nur dann verwendet, stoff mit dem Urin wie sie auch im Menschen vorkommt) ist
wenn es tatsächlich um die freie Base NH3 geht. zwangsläufig mit beträchtlichen Wasserverlusten verbunden.
Deshalb kann es vorkommen, dass sich während der Individu-
Die toxischen Wirkungen von NH4+ alentwicklung die Art der Stickstoffausscheidung ändert. So
schädigen v. a. das ZNS verwandeln sich ammonotelische Kaulquappen in ureotelische
Im Blut ist sind die Konzentrationen von NH3 und NH4+ norma- Frösche. Auch beim Menschen entwickelt sich die Fähigkeit zur
lerweise sehr gering (15–60 μmol/l). Eine deutliche Erhöhung Harnstoffbildung erst kurz vor der Geburt.
dieses Wertes kann bei Mensch und Tier schwere neurologische
Defekte hervorrufen.
Mögliche Ursachen der Neurotoxizität von Ammoniak 26.1.4 Zelluläre Aufgaben von Aminosäuren
werden in 7 Kap. 28.1 diskutiert. Vorausgeschickt sei hier, dass
die Toxizität von NH3 nicht auf pH-Verschiebungen aufgrund Aminosäuren haben im Organismus zahlreiche Funktionen.
seiner basischen Eigenschaften beruht. Allerdings spielt der Aminosäuren oder von ihnen abgeleitete Verbindungen dienen
NH3-Anteil im NH4+/NH3-Gleichgewicht für den Übergang u. a. als
von NH3 aus dem Blut in die Gewebe eine wesentliche Rolle: 4 bevorzugte Substrate des Energiestoffwechsels
Während NH3 in Lipiden (und damit auch in biologischen (z. B. Glutamin für Leukocyten und Enterocyten),
Membranen) gut löslich ist, kann das geladene Ammoniumion 4 Bausteine von Peptiden und Proteinen (die proteinogenen
Biomembranen nicht passieren. Änderungen des pH-Werts im Aminosäuren),
Blut (7 Kap. 66.1) verschieben das NH4+/NH3-Gleichgewicht. 4 Bausteine anderer Biomoleküle, (z. B. Glycin, Taurin und
Eine Alkalisierung des Körpers führt zum vermehrten Auftreten Serin in Lipiden),
von lipidlöslichem NH3 in Blut und Liquor. So verdoppelt sich 4 Vorläufer von Glucose (die glucogenen Aminosäuren),
z. B. bei einer pH-Erhöhung von 7,4 auf 7,7 der NH3-Anteil im 4 Vorläufer von Lipiden und Ketonkörpern (die ketogenen
Gleichgewicht von 1,5 % auf 3 %. Aminosäuren),
4 Vorstufen für die Synthese von Nucleotiden, Amino-
zuckern und Häm (Glycin, Glutamin, Aspartat),
26.1.3 Fixierung von Ammoniak 4 Transportmoleküle für Aminogruppen (v. a. Glutamin
und Stickstoffeliminierung und Alanin),
4 Signalstoffe und Neurotransmitter bzw. als Vorläufer
Pflanzen und Bakterien fixieren Ammoniumionen solcher Substanzen (Glutamat, Aspartat, Tyrosin,
in Glutamat und Glutamin Tryptophan),
Prozesse, bei denen Ammoniumionen in organischer Bindung 4 Antioxidantien (Cystein, Glycin, Glutamat als Bestandteile
fixiert werden, bezeichnet man als »Ammoniumassimilation«. von Glutathion),
In Bakterien und Pflanzen ist der wichtigste Assimilationsweg 4 Regulatoren des Säure-Basen-Haushalts
die Bildung der Aminosäuren Glutamat und Glutamin aus (v. a. Glutamin).
α-Ketoglutarat und NH4+ bzw. Glutamat und NH4+. Im mensch-
lichen Stoffwechsel scheint die Glutamatbildung aus α-Keto-
glutarat quantitativ keine große Rolle zu spielen, während die
Fixierung von NH4+ im Glutamin und Alanin v. a. zu Transport-
zwecken dient (7 Kap. 27.2.1).
26.2 · Stickstoffumsatz im menschlichen Organismus
315 26

Zusammenfassung
Im tierischen Stoffwechsel kommt Stickstoff fast ausschließ-
lich auf der Oxidationsstufe des Ammoniaks vor. Ammoniak
(NH3) steht im Gleichgewicht mit der konjugierten Säure
Ammoniumion (NH4+), die bei physiologischen pH-Werten
dominiert.
Prozesse zur Fixierung von Ammoniumionen in organische
Verbindungen werden Ammoniumassimilation genannt. Im
menschlichen Organismus ist die Ammoniumfixierung im . Abb. 26.2 Stickstoffhaushalt des Menschen. Beim Aminosäurepool
eines gesunden Erwachsenen halten sich die Zuflüsse und Abflüsse die
Glutamin zu Transportzwecken bedeutsam.
Waage. Die Werte sind auf eine Person von 70 kg Körpergewicht bezogen
Im Stoffwechsel entstehen NH3 und NH4+ v. a. beim Amino-
säureabbau. Sie sind neurotoxisch und werden deshalb zum
Transport und zur Ausscheidung in weniger giftige
organische Verbindungen (Glutamin, Alanin, Harnstoff, u. a.) sorptionsphase, Hunger) Proteinsynthese sowie Protein- und
eingebaut. Aminosäureabbau und Stickstoffausscheidung den Erfordernis-
Aminosäuren erfüllen im Stoffwechsel zahlreiche Aufgaben, sen angepasst werden. Da Menge und Qualität der Proteinzufuhr
u. a. als Molekülbausteine, Vorstufen für andere Metabolite von den physiologischen Regulationssystemen des Körpers nicht
und als Signalmoleküle. zu beeinflussen sind, sind es v. a. der Abbau und die Ausschei-
dung von Aminosäuren, die zum Ausgleich der Stickstoffbilanz
herangezogen werden. Weniger wichtige Angriffspunkte sind die
Biosynthese und der Abbau körpereigener Proteine.
26.2 Stickstoffumsatz im menschlichen
Organismus
26.2.2 Essentielle und nicht-essentielle
26.2.1 Anpassung von Stickstoffaufnahme Aminosäuren
und -abgabe
Der Mensch kann fast die Hälfte der proteinogenen
Der Körper eines Erwachsenen enthält etwa 10 kg Protein, von Aminosäuren nicht selbst synthetisieren
denen allein 2,5 kg auf Kollagen entfallen (. Abb. 26.2). Da die Die Fähigkeit zur Eigensynthese vieler proteinogener Amino-
meisten anderen Proteine relativ kurzlebig sind, werden täglich säuren ging Vorläufern der heutigen Tiere schon vor Millionen
250–300 g Protein ab- und etwa die gleiche Menge wieder aufge- von Jahren verloren. Da sich diese Vorläufer von reichlich vor-
baut. Besonders intensiv ist die Proteinsynthese in der Muskula- handenen Pflanzen oder anderen Tieren ernähren konnten,
tur (bis zu 100 g/Tag), in der Leber (etwa 50 g/Tag, davon entfal- waren die Reaktionen der Aminosäurebiosynthese für ihren
len allein 12 g auf Albumin) und in Immunzellen, die u. a. Anti- Stoffwechsel eine unnötige energetische Belastung. Mutationen,
körper bilden. Auch die Neusynthese von Hämoglobin im Kno- die durch Inaktivierung eines oder mehrerer Enzyme zum Ver-
chenmark macht mit etwa 8 g/Tag einen erheblichen Teil der lust eines Biosynthesewegs führten, bedeuteten deshalb einen
Gesamtsynthese aus. Selektionsvorteil.
Bewohner entwickelter Industriestaaten nehmen mit der
Nahrung täglich mindestens 100 g Protein zu sich. Zu diesen Bei Aminosäuren ist »essentiell oder nicht«
Nahrungsproteinen kommen 70 g Protein hinzu, die mit eine Frage der Definition
den Verdauungssekreten ins Darmlumen gelangen oder aus ab- Bis heute gibt es in der Literatur Kontroversen über Art und
geschilferten Mukosazellen stammen. Auch diese Proteine wer- Menge der Aminosäuren, die der Mensch mit der Nahrung auf-
den zum großen Teil verdaut und in Form von Aminosäuren nehmen muss. Die klassischen Untersuchungen zum Amino-
wieder aufgenommen. Die Vorräte an freien Aminosäuren in säurebedarf des Menschen wurden an jungen, gesunden Erwach-
Geweben und Blut (der »Aminosäurepool«) machen zusammen senen durchgeführt. Als essentiell wurden dabei diejenigen
70–100 g aus. Aminosäuren eingestuft, deren Fehlen in der Nahrung zu einer
Die Ausscheidung von Stickstoff erfolgt beim Menschen v. a. negativen Stickstoffbilanz (7 Kap. 57.1.1) und verzögertem
in Form von Harnstoff über den Urin (etwa 85 %) und in den Wachstum führte.
Faeces (10–15 %). Kleinere Mengen von Stickstoff (<5 %) gehen
auch mit dem Schweiß, abgeschilferten Hautzellen, ausgefalle- Essentielle Aminosäuren Einigkeit besteht darüber, dass 8 prote-
nen Haaren und mit anderen Körpersekreten verloren. Die aus- inogene Aminosäuren absolut essentiell sind (. Tab. 26.1). Neben
geschiedene Menge an Harnstoff spiegelt v. a. die aufgenommene Lysin und Methionin sind dies alle verzweigtkettigen Amino-
Proteinmenge wider. säuren (Val, Leu, Ile, Thr) und zwei der aromatischen Amino-
säuren (Phe, Trp).
Regulation Komplexe Mechanismen sorgen dafür, dass in unter- Von diesen Aminosäuren benötigen Erwachsene pro kg Kör-
schiedlichen Stoffwechselsituationen (Resorptions- und Postre- pergewicht täglich zwischen 5 und 40 mg (. Tab. 26.1, auch hier-
316 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

. Tab. 26.1 Aminosäurebedarf des Menschen

Nicht-essentiell Bedingt essentiell Essentiell


26
Synthesevorstufe Bedarf (mg/kg pro Tag) Grundstruktur
a
Alanin Asparagin Aspartat Histidin 20 Imidazolring

Aspartat Arginin Glutamat Isoleucin 18 Verzweigung

Glutamat Cystein Serin Leucin 25 Verzweigung

Serin Glutamin Glutamat Lysin 22 Primäres Amin

Glycin Serin Methionin 24 Sekundäres Thiol

Prolin Glutamat Phenylalanin 25 Aromat

Tyrosin Phenylalanin Threonin 13 Verzweigung

Tryptophan 6 Indolring

Valin 18 Verzweigung
a Siehe Text.

zu können die Angaben verschiedener Autoren erheblich vonei- Die optimale Proteinzufuhr hängt von
nander abweichen). Die Tabelle nennt zudem die chemischen vielen Faktoren ab
Ursachen für den essentiellen Charakter der jeweiligen Amino- Proteinbedarf des Menschen Für die täglich notwendige Protein-
säure (»Grundstruktur«), d. h. die chemische Struktur, die im zufuhr lassen sich keine allgemein gültigen Werte angeben. Die
tierischen Stoffwechsel nicht de novo gebildet werden kann. Über optimale Menge hängt u. a. vom Alter, vom körperlichen Zustand
die Bedeutung von essentiellen Aminosäuren in der menschli- und v. a. von der Qualität des aufgenommenen Proteins ab
chen Nahrung informiert 7 Kap. 57.1.1. (7 Kap. 57.1). Für Erwachsene wird (je nach biologischer Wertig-
Ob Histidin für Erwachsene essentiell ist oder nicht, ist im- keit des Proteins) eine tägliche Aufnahme von 0,5–1 g Protein/
mer noch umstritten, u. a. weil im Körper erhebliche Vorräte an kg Körpergewicht empfohlen, für Kinder bis zum 6. Lebensjahr
Histidin vorhanden sind, die dafür sorgen, dass bei histidinfreier liegt die Menge – bezogen auf das Körpergewicht – etwa doppelt
Kost Mangelerscheinungen erst sehr spät auftreten. Bis heute so hoch. Um die obligatorischen Stickstoffverluste von 30–50 mg
fehlen jedenfalls Befunde, die eindeutig belegen, dass der N2/kg Körpergewicht und Tag auszugleichen, ist eine minimale
menschliche Organismus Histidin in größeren Mengen synthe- Proteinaufnahme von 20–30 g Protein/Tag erforderlich.
tisieren kann. Für Säuglinge ist Histidin mit Sicherheit essentiell.

Bedingt essentielle Aminosäuren Eine weitere Gruppe von Übrigens


7 Aminosäuren sind nur deshalb nicht-essentiell, weil sie aus an- Biosynthese der essentiellen Aminosäuren
deren Aminosäuren synthetisiert werden können, so z. B. Tyro- Ohne auf Einzelheiten einzugehen, wird im Folgenden kurz
sin aus Phenylalanin oder Cystein aus Serin bzw. Methionin. erläutert, wie Mikroorganismen und Pflanzen die für den
Solche Aminosäuren bezeichnet man als bedingt essentiell. Menschen essentiellen Aminosäuren aufbauen (Einzelheiten
Unter veränderten Stoffwechselbedingungen und bei raschem s. Lehrbücher der Mikrobiologie oder Pflanzenbiochemie).
Wachstum können sie durchaus essentiell werden. Für Säuglinge Die Kohlenstoffgerüste dieser Aminosäuren stammen aus
und Kleinkinder sind – streng genommen – nur Alanin, Aspar- dem Stoffwechsel der Kohlenhydrate. Da anabole Wege
tat, Glutamat und Serin nicht-essentiell. stets reduktive Schritte enthalten, wird NADPH/H+ benötigt,
das in Pflanzen vorwiegend durch Photosynthese und bei
Nicht-essentielle Aminosäuren Nicht-essentiell im engeren Sin- Mikroorganismen im Pentosephosphatweg entsteht. Die
ne sind Aminosäuren, die der Organismus aus leicht zugängli- Aminogruppen werden meist durch Transaminierung von
chen Vorstufen und mit ausreichender Geschwindigkeit selbst Glutamat übernommen, das von diesen Organismen durch
herstellen kann. So wäre der Mensch zwar in der Lage, mehrere die GLDH aus α-Ketoglutarat gebildet werden kann
essentielle Aminosäuren aus den entsprechenden α-Ketosäuren (7 Kap. 26.1.3).
durch Transaminierung zu synthetisieren, keine dieser Vorstufen
ist jedoch normalerweise in der Nahrung enthalten oder als Familien
Zwischenprodukt des Stoffwechsels zugänglich. Völlig von Ausgangsmoleküle für die Biosynthese der essentiellen Ami-
Grund auf – also ohne Beteiligung anderer Aminosäuren – kann nosäuren sind andere Aminosäuren bzw. die entsprechen-
nur Glutamat gebildet werden (in der GLDH-Reaktion aus 6
α-Ketoglutarat und NH4+).
26.3 · Enzymatische Mechanismen des Aminosäurestoffwechsels
317 26
erst nach Decarboxylierung der Aminosäure entfernt. Die so
den α-Ketosäuren. Je nachdem, aus welcher Carbonsäure gebildeten biogenen Amine sind Molekülbausteine oder erfüllen
die Mitglieder einer Gruppe von Aminosäuren hervorgehen, wichtige Signalfunktionen (7 Kap. 26.3.3).
unterscheidet man drei Familien:
4 die Aspartat-Familie (aus Aspartat bzw. Oxalacetat
entstehen Threonin, Methionin, Isoleucin und Lysin) 26.3.1 Transaminierung
4 die Pyruvat-Familie (aus Pyruvat gehen Leucin und Valin
hervor) An Transaminierungsreaktionen sind zwei Amino-
4 die Shikimat-Familie (aus Shikimisäure, einer säuren und zwei α-Ketosäuren beteiligt
α-Ketosäure mit 7 C-Atomen, die aus Intermediaten von Transaminierungsreaktionen werden von Aminotransferasen
Glycolyse und Pentosephosphatweg gebildet wird, (Transaminasen) katalysiert (Enzymklassen-Klassifikations-
entstehen die aromatischen Aminosäuren Phenylalanin, nummer 2.6.1). Diese Enzyme übertragen die Aminogruppe ei-
Tyrosin und Tryptophan) ner Aminosäure auf eine α-Ketosäure (2-Oxosäure), wobei eine
neue Aminosäure entsteht und von der ursprünglichen Amino-
Alle diese Wege sind kompliziert und benötigen für die Bio- säure eine α-Ketosäure zurückbleibt.
synthese bis zu 11 Enzyme. Bei den nicht-essentiellen Ami-
nosäuren benötigt dagegen kein Syntheseweg mehr als Aminosäure 1 + α-Ketosäure 2 α-Ketosäure 1 +
4 Enzyme. Aminosäure 2

Eines der beiden Aminosäure/α-Ketosäure-Paare wird in der Re-


gel von Glutamat/α-Ketoglutarat gebildet. So katalysiert z. B. die
Zusammenfassung Aspartat-Aminotransferase (AST, oder im klinischen Sprachge-
Auf- und Abbau von Proteinen im Organismus sind streng brauch Glutamat-Oxalacetat-Transaminase, GOT), 7 Kap. 27.2.1)
reguliert. Der »Pool« an freien Aminosäuren im Organismus die Reaktion
ist weitgehend konstant. Aufgefüllt wird er v. a. durch Nah-
rungsaminosäuren und aus dem Proteinabbau. Überschüssi- Glutamat + Oxalacetat α-Ketoglutarat + Aspartat
ge freie Aminosäuren werden abgebaut. Fast die Hälfte der
20 proteinogenen Aminosäuren können vom menschlichen und die Alanin-Aminotransferase (ALT, oder Glutamat-Pyru-
Stoffwechsel nicht synthetisiert werden. Diese Aminosäuren vat-Transaminase, GPT) die Reaktion
sind essentielle Nahrungsbestandteile. Absolut essentiell
sind Lys, Met, Val, Leu, Ile, Thr, Phe, Trp und wahrscheinlich Glutamat + Pyruvat α-Ketoglutarat + Alanin
auch His.
Nicht nur α-Aminogruppen können transaminiert werden, son-
dern auch Aminogruppen in Seitenketten (s. dazu Reaktion 2 in
7 Abb. 27.10). Während der Reaktion wird die zu transferierende
26.3 Enzymatische Mechanismen Aminogruppe vom enzymgebundenem Coenzym Pyridoxal-
des Aminosäurestoffwechsels phosphat übernommen (s. u.), das in allen Aminotransferasen
und vielen weiteren Enzymen des Aminosäurestoffwechsels vor-
Kohlenstoff wird im Intermediärstoffwechsel überwiegend kommt.
durch katabole Stoffwechselwege zu CO2 oxidiert und ausge-
schieden. Dabei fallen Reduktionsäquivalente an, die zur Bil- Pyridoxalphosphat ist das Coenzym der Amino-
dung energiereicher Triphosphate genutzt werden. transferasen und weiterer Enzyme im Aminosäure-
Würden im tierischen Stoffwechsel Stickstoffverbindungen stoffwechsel
auf ähnliche Weise oxidiert, entstünden sehr toxische Endpro- Pyridoxalphosphat (PALP, 7 Kap. 59.5) ist ein ungewöhn-
dukte (Stickoxide unterschiedlicher Oxidationsstufen und die lich vielseitiges Coenzym, das zahlreiche Umsetzungen im
entsprechenden Säuren). Stattdessen setzen die Zellen organisch Aminosäurestoffwechsel unterstützt. PALP-abhängige Reak-
gebundenen Stickstoff in Form von Ammoniumionen (NH4+) tionen finden nicht nur am α-C-Atom statt, sondern kön-
frei und scheiden diese direkt oder nach Einbau in weniger gif- nen auch die β- und γ-Atome in der Seitenkette von Amino-
tige Verbindungen aus. säuren betreffen. Wichtige Beispiele sind in . Tab. 26.2 zusam-
Der Aminostickstoff der Aminosäuren wird beim Abbau ent- mengestellt.
weder als NH4+ abgespalten (Desaminierung, 7 Kap. 26.3.2)
oder durch Transaminierung (7 Kap. 26.3.1) für die Biosynthese Wirkungsweise In Abwesenheit von Substraten ist die Aldehyd-
anderer Aminosäuren verwendet (v. a. in Alanin, Aspartat oder gruppe des Pyridoxalphosphats in der Regel als Aldimin (Schiff-
Glutamat). Die Aminogruppen dieser Transaminierungspro- Base) kovalent an einen Lysinrest der Aminotransferasen gebun-
dukte werden – je nach Stoffwechsellage – wieder für Biosynthe- den. Zu Beginn der Reaktion verdrängt die α-Aminogruppe der
sen verwendet oder zur Ausscheidung in Harnstoff eingebaut zuerst gebundenen Aminosäure den Lysinrest und bildet mit
(7 Kap. 27.1.2). In anderen Abbauwegen wird die Aminogruppe dem Coenzym selbst ein Aldimin (. Abb. 26.3, links).
318 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

. Tab. 26.2 Von Pyridoxalphosphat abhängige Reaktionen im Aminosäurestoffwechsel

Reaktion Enzym(e) Beispiel Siehe Abb.


26
Reaktionen am α-C-Atom

Transaminierung Aminotransferasen 26.4

Decarboxylierung Aminosäuredecarboxylasen 26.7

Racemisierung D/L-Aminosäureracemasen

Eliminierung Serin-Hydroxymethyltransferase 27.21

Reaktionen am β-C-Atom

Substitution Tryptophansynthase (nicht beim Menschen) Serin + Indol Tryptophan –


+
α,β-Eliminierung Serin-Threonin-Dehydratase Serin Pyruvat + NH4 26.6
Threonin α-Ketobutyrat + NH4+

Reaktionen am γ-C-Atom

Eliminierung Cystathionin-γ-Lyase Cystathionin Cystein + α-Ketobutyrat 27.14

Aus diesem Zwischenprodukt lässt sich der Wasserstoff gruppe der ehemaligen Aminosäure 1 covalent an das Coenzym
am α-C-Atom leicht als Proton abspalten, weil die zurückblei- gebunden ist.
bende negative Ladung in der chinoiden Form des Coenzyms Der zweite Teil der Reaktion (unterer Bildteil) ist die exakte
delokalisiert werden kann (. Abb. 26.3, eckige Klammer). Mit Umkehrung des bisher beschriebenen Ablaufs: Die Ketosäure 2
anderen Worten: Die Deprotonierung ist begünstigt, weil das bildet mit Pyridoxaminphosphat ein Ketimin 2, das nach Umla-
gebildete Carbanion mesomeriestabilisiert ist. Dabei wirkt gerung zur chinoiden Form zum Aldimin 2 protoniert wird. Die-
der Pyridinring von PALP als »Elektronenfalle«. Das Proton ses setzt schließlich die Aminosäure 2 frei, an deren Stelle wieder
wird von einer basischen Gruppe »E« des Enzyms übernom- der Lysinrest des Enzyms tritt.
men, die dadurch in die protonierte Form »EH+« übergeht. Fast
alle der in . Tab. 26.2 genannten Reaktionen verlaufen über ein Aktives Zentrum Wichtige funktionelle Gruppen PALP-abhän-
derartiges chinoides Zwischenprodukt. Welcher Reaktionsweg giger Enzyme (in . Abb. 26.4 mit »E« abgekürzt) sind basische
von dort aus eingeschlagen wird, hängt von den Aminosäureres- Aminosäurereste, die das aus der α-Position des Aldimins abge-
ten des Enzyms ab, die mit der chinoiden Form in Wechselwir- spaltene Proton binden (mit »EH+« abgekürzt). Weitere Amino-
kung treten. säurereste fixieren den positiv geladenen Pyridiniumstickstoff
und die Phosphatgruppe des Coenzyms sowie die Carboxylat-
Bei Transaminierungen tritt als kovalentes gruppen der gebundenen Amino- bzw. Ketosäuren. In der Mitte
Zwischenprodukt Pyridoxaminphosphat auf der . Abb. 26.4 ist die Lage dieser Reste am Beispiel der Aldim-
Mechanismus der Transaminierung Der Ablauf einer enzymka- inform einer Aspartat-Aminotransferase dargestellt (funktio-
talysierten Transaminierung ist in . Abb. 26.4 im Einzelnen dar- nell wichtige Aminosäurereste des Enzyms sind grün gefärbt,
gestellt. Zunächst bildet sich aus dem Aldimin 1 die chinoide H-Atome der Übersichtlichkeit wegen weggelassen). In der ge-
Form 1 (oben Mitte), die in das entsprechende Ketimin 1 umge- zeigten Aminotransferase hat Lysin 258 eine Doppelfunktion: In
lagert wird. Die C-N-Doppelbindung dieses Zwischenprodukts Abwesenheit der Substrate verknüpft es das Coenzym PALP co-
lässt sich hydrolytisch spalten, wobei die Ketosäure 1 freigesetzt valent mit dem Apoenzym; zusätzlich übernimmt es während
wird. Zurück bleibt Pyridoxaminphosphat, in dem die Amino- der Katalyse die Rolle der Base »E«. Das Coenzym ist u. a. durch

. Abb. 26.3 Die chinoide Form von Pyridoxalphosphat als gemeinsames Intermediat PALP-abhängiger Reaktionen. (Einzelheiten s. Text)
26.3 · Enzymatische Mechanismen des Aminosäurestoffwechsels
319 26

. Abb. 26.4 Mechanismus der Transaminierung. In der Mitte der Abbildung ist ein Teil des aktiven Zentrums der Aspartat-Aminotransferase dargestellt.
Sauerstoffatome sind rot, Stickstoffatome blau und das Phosphoratom grün dargestellt. (Einzelheiten s. Text)

elektrostatische Wechselwirkungen mit Asp 222 und Arg 266 26.3.2 Desaminierung
und über Wasserstoffbrücken mit Asn 194 verbunden. Die
beiden Carboxylatgruppen des kovalent mit PALP verknüpften Desaminierungsreaktionen setzen NH4+
Aspartatrestes sind durch elektrostatische Wechselwirkungen aus Aminosäuren frei
mit Argininresten fixiert, von denen nur einer (Arg 386) darge- Desaminierung Als Desaminierungen bezeichnet man Reaktio-
stellt ist. nen, bei denen die Aminogruppe einer Aminosäure als Ammo-
niumion (NH4+) freigesetzt wird. Nach ihrem Reaktionsmecha-
nismus lassen sich mehrere Fälle unterscheiden (. Abb. 26.5):
4 Die dehydrierende Desaminierung betrifft beim Men-
schen nur Glutamat, das durch die Glutamatdehydrogenase
(GLDH) in NH4+, α-Ketoglutarat und NADH+H+ zerlegt
wird (. Abb. 26.5A).

Aldimin 1# Pyridoxalphosphat (PALP)# chinoide Form# Ketimin 1# Ketosäure 1# Pyridoxaminphosphat# Ketosäure 2# Ketimin 2# Aldimin
2# Pyridoxalphosphat#
320 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

26

. Abb. 26.5 Desaminierungsformen. A Dehydrierende Desaminierung, B hydrolytische Desaminierung, C eliminierende Desaminierung

4 Bei der hydrolytischen Desaminierung wird NH4+ durch 4 Aspartat wird indirekt über den Purinnucleotidzyklus und
Hydrolyse der Amidgruppen von Glutamin oder Asparagin den Harnstoffzyklus desaminiert (7 Abb. 27.9).
freigesetzt (. Abb. 26.5B). 4 Bei der O2-abhängigen oxidativen Desaminierung werden
4 Durch eliminierende Desaminierung werden im mensch- Aminosäuren oder biogene Amine durch Oxidasen in
lichen Stoffwechsel nur Serin und Threonin (. Abb. 26.5C) -Ketosäuren oder Aldehyde umgewandelt.
abgebaut.

. Tab. 26.3 Pyridoxalphosphat-abhängige Decarboxylierungen von Aminosäuren (Auswahl)

Aminosäure gebildetes Amin Funktion des Amins

Arginin Agmatin möglicherweise Neurotransmitter


Aspartat β-Alanin (in Mikroorganismen) Komponente von Coenzym A
Cystein Cysteamin Komponente von Coenzym A
3,4-Dihydroxyphenylalanin (Dopa) 3,4-Dihydroxyphenylethylamin (Dopamin) Neurotransmitter, Zwischenstufe der
Katecholaminsynthese
Glutamat γ-Aminobutyrat (GABA) Neurotransmitter
Histidin Histamin Gewebshormon, Immunmodulator
5-Hydroxytryptophan Serotonin (5-Hydroxytryptamin) Neurotransmitter
Lysin Cadaverin Produkt der Darmflora
Methionin decarboxyliertes S-Adenosylmethionin Coenzym der Polyaminbiosynthese
(als S-Adenosylmethionin) (»Methamin«)
Ornithin Putrescin Polyamin-Vorstufe
Serin Ethanolamin Komponente von Phospholipiden
Tryptophan Tryptamin Neuromodulator, möglicherweise Neurotransmitter
Tyrosin Tyramin Produkt der Darmflora, stimuliert Katecholamin-
freisetzung

Aminosäuren dehydrierende Desaminierung Glutamat-Dehydrogenase L-Glutamat# α-Iminoglutarat# α-Ketoglutarat# Aminosäuren


hydrolytische Desaminierung eliminierende Desaminierung Glutaminase Serin-Dehydratase L-Glutamin# L-Glutamat# L-Serin#
Aminoacrylat# Pyruvat
26.3 · Enzymatische Mechanismen des Aminosäurestoffwechsels
321 26

. Abb. 26.6 Reaktionsmechanismus der Serin-Threonin-Dehydratase

Die dehydrierende Desaminierung von Glutamat Die eliminierende Desaminierung von Serin
verläuft über ein Iminzwischenprodukt und Threonin benötigt PALP
Die von der mitochondrialen Glutamatdehydrogenase (GLDH) Mechanismus der Serin-Threonin-Dehydratase Wie schon ihr
katalysierte dehydrierende Desaminierung von Glutamat ist ein Name andeutet, setzt diese PALP-abhängige Dehydratase bei der
wichtiger Schritt beim Aminosäureabbau. Desaminierung ihrer Substrate Ammoniumionen nicht direkt
Die GLDH-Reaktion läuft in zwei Schritten ab (. Abb. 26.5A). frei, sondern spaltet zunächst durch α, β-Eliminierung ein Was-
Zunächst wird Glutamat an der α-Aminogruppe zum entspre- sermolekül ab (. Abb. 26.6).
chenden Imin (α-Iminoglutarat) oxidiert das – ähnlich wie das Die Rolle des Pyridoxalphosphats ähnelt derjenigen in Ami-
Ketimin bei Transaminierungsreaktionen – hydrolyseempfind- notransferasen, d. h. auch hier entstehen der Reihe nach ein Aldi-
lich ist und im zweiten Schritt unter Wasseraufnahme in NH4+ min und eine chinoide Form. Nach Abgabe von H2O und Abspal-
und α-Ketoglutarat gespalten wird. tung von Aminoacrylat wird freies Coenzym regeneriert. Amino-
Über die Regulation der GLDH-Aktivität und die Bedeutung acrylat ist instabil und zerfällt nach spontaner Umlagerung in
des Enzyms im Stoffwechsel der Leber informiert 7 Kap. 27.2.1. α-Iminopropionat durch Hydrolyse in Pyruvat und NH4+.
In geringem Umfang wird auch Cystein durch eliminierende
Desaminierung abgebaut (7 Kap. 27.2.4). Die Desaminierung
von Histidin durch die Histidase (7 Abb. 27.23) folgt einem an-
deren Mechanismus und benötigt kein PALP.

Serin# Aldimin# Pyridoxalphosphat (PALP) chinoide Form α-Iminipropionat# Aminoacrylat#


322 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

26

. Abb. 26.7 Biosynthese und Abbau der biogenen Amine. 1 Aminosäuredecarboxylase, 2 Monoaminoxidase, 3 Aldehyddehydrogenase

Die oxidative Desaminierung von Aminosäuren


und Aminen hat unterschiedliche Funktionen durch Abspaltung als NH4+ (Desaminierung). Einige Amino-
In Leber, Nieren und anderen Organen gibt es Enzyme, die Ami- säuren werden zunächst decarboxyliert, bevor die Amino-
nosäuren sauerstoffabhängig zu α-Ketosäuren desaminieren. gruppe der so gebildeten biogenen Amine durch oxidative
Diese Aminosäureoxidasen greifen nach folgendem Schema Desaminierung freigesetzt wird. Transaminierung, Decarbo-
entweder normale L-Aminosäuren oder unphysiologische D- xylierung und von den Desaminierungen die eliminierende
Aminosäuren an: Form werden von Pyridoxalphosphat (PALP)-abhängigen
Enzymen katalysiert.
Aminosäure + H2O + O2 α-Ketosäure + NH4+ + H2O2

4 D-Aminosäureoxidasen sind in den Peroxisomen (7 Kap.


12.1.8) lokalisiert und benutzen FAD als Coenzym. Sie bau- 26.4 Prinzipien des Aminosäureabbaus
en D-Aminosäuren ab, die mit der Nahrung aufgenommen beim Menschen
wurden.
4 L-Aminosäureoxidasen finden sich u. a. im endoplasmati- 26.4.1 Abbauprodukte und Abbauprinzipien
schen Retikulum und arbeiten mit FMN. Ihre Funktion ist
unklar. Der Abbau der Aminosäuren liefert nur
sechs Endprodukte
Die reduzierten Coenzyme FMNH2 und FADH2werden durch Abbau (und Biosynthese) der nicht- (oder bedingt-)essentiellen
O2 reoxidiert. Das dabei gebildete H2O2 wird in den Peroxiso- Aminosäuren (7 Kap. 26.2.2) sind eng mit dem Citratzyklus und
men durch Katalase zu ½ O2 und H2O disproportioniert. seinen Eingangsreaktionen verknüpft. Lediglich Serin und Gly-
4 Die Monoaminoxidase (MAO), ein integrales Flavoenzym cin entstehen aus einem Zwischenprodukt der Glycolyse. Die
der äußeren Mitochondrienmembran, oxidiert biogene meisten nicht-essentiellen Aminosäuren werden zu denselben
Amine (7 Kap. 26.3.3), darunter Neurotransmitter wie Sero- Verbindungen abgebaut, aus denen sie auch gebildet wurden. Die
tonin, Noradrenalin und Dopamin und inaktiviert sie da- entsprechenden Prozesse sind in . Abb. 26.8 im Vergleich darge-
durch. Bei der Reaktion entstehen Aldehyde, die weiter zu stellt.
Carbonsäuren abgebaut werden (. Abb. 26.7). Nicht-essentielle Aminosäuren liefern beim Abbau
4 α-Ketoglutarat (Pro, Arg, Gln, Glu)
4 Oxalacetat (Asn, Asp)
26.3.3 Decarboxylierung 4 Pyruvat (Gly, Ser, Cys, Ala)
4 Fumarat (Asp)
Durch PALP-abhängige Decarboxylierung
von Aminosäuren entstehen biogene Amine Der katabole Stoffwechsel der essentiellen Aminosäuren ist kom-
Decarboxylierung Fast alle Aminosäuren lassen sich durch pyri- plizierter als derjenige der nicht-essentiellen. Aber auch er liefert
doxalphosphatabhängige Decarboxylasen zu Aminen (sog. »bio- nur eine kleine Zahl von Endprodukten, die entweder dem Cit-
genen Aminen«) decarboxylieren, die als Gewebshormone, Neu- ratzyklus angehören oder mit ihm in Verbindung stehen, näm-
rotransmitter oder Bestandteile von Coenzymen fungieren lich
(. Tab. 26.3). 4 α-Ketoglutarat (His)
4 Succinyl-CoA (Val, Ile, Met, Thr)
4 Fumarat (Phe/Tyr)
Zusammenfassung 4 Pyruvat (Trp, Thr)
Beim Abbau der meisten Aminosäuren wird zunächst die 4 Acetyl-CoA (Phe/Tyr, Trp, Leu, Ile und Lys)
α-Aminogruppe entfernt. Dies geschieht entweder durch
Übertragung der NH2-Gruppe auf eine Ketosäure unter Bil- Der Abbau der Aminosäuren folgt wenigen
dung einer anderen Aminosäure (Transaminierung) oder enzymatischen Prinzipien
6 Die meisten essentiellen Aminosäuren werden schon zu Beginn
des Abbaus transaminiert oder desaminiert, wobei in der Regel

Aminosäuren# biogenes Amin# Aldehyd# Carbonsäure#


26.4 · Prinzipien des Aminosäureabbaus beim Menschen
323 26

. Abb. 26.8 Abbau der glucogenen (grün) und ketogenen (rot) Aminosäuren im Überblick

Übrigens
Evolution des Aminosäurestoffwechsels
Freie Aminosäuren kommen auch in Materialien vor, die
abiogen (ohne Beteiligung von Lebewesen) entstanden
sind, z. B. in Meteoriten, in steriler Lava und in Proben eines
. Abb. 26.9 Transaminierung gefolgt von dehydrierender Decarboxylie- Kometen, die kürzlich zur Erde zurückgebracht wurden.
rung als einleitende Reaktionen im Abbau einiger Aminosäuren (Einzel- Auch im Labor lassen sich viele Aminosäuren abiogen erzeu-
heiten s. Text)
gen. Im klassischen Miller-Urey-Experiment (1953) wurden
hypothetische Bestandteile der frühen Erdatmosphäre (H2O,
α-Ketosäuren entstehen. Die α-Aminogruppen von Methionin CH4, NH3, H2O, und CO) gemischt und längere Zeit elektri-
und Tryptophan enden dagegen als Aminogruppen nicht-essen- schen Entladungen ausgesetzt. Unter den organischen Re-
tieller Aminosäuren (Cystein bzw. Alanin). Mit Ausnahme von aktionsprodukten dominierten neben Carbonsäuren auch
Histidin, das über einen besonderen Weg zu Glutamat abgebaut Aminosäuren (v. a. Gly, Ala, Glu und Asp). Genau diese Ami-
wird, werden die Kohlenstoffskelette der neun essentiellen Ami- nosäuren sind es auch, die in abiogenen Materialien und in
nosäuren ganz oder teilweise in sechs verschiedene α-Ketosäuren modernen Proteinen besonders häufig sind. Da freie Amino-
überführt. säuren offenbar schon unter primitiven abiotischen Bedin-
In vielen Fällen schließt sich der Transaminierung eine dehy- gungen verfügbar waren, ist es nicht unwahrscheinlich, dass
drierende Decarboxylierung dieser α-Ketosäuren zu Coenzym- ihre Umsetzungen auch zu den frühesten Reaktionen des
A-Derivaten an wie sie aus dem Abbau von Pyruvat und Stoffwechsels gehörten.
α-Ketoglutarat bekannt ist (. Abb. 26.9). Auch beim Aminosäu- Dies wird auch durch phylogenetische Untersuchungen ge-
reabbau sind Multienzymkomplexe für die dehydrierende De- stützt, bei denen man mit statistischen Methoden Enzyme
carboxylierung zuständig. So werden die aus dem Abbau von und Wege des Aminosäurestoffwechsels in zahlreichen Spe-
Valin, Leucin und Isoleucin hervorgehenden α-Ketosäuren alle zies verglich. Die Ergebnisse legen nahe, dass sich in einer
von einem sog. Verzweigtketten-Dehydrogenasekomplex um- sehr frühen Phase des Lebens zuerst der katabole Stoffwech-
gesetzt (7 Kap. 27.2.3). sel von Asn, Asp, Gln und Glu entwickelte – wahrscheinlich
Der weitere Abbau zu den oben genannten Endprodukten noch vor Entstehung des Citratzyklus. Die ältesten Reaktio-
umfasst diverse weitere Reaktionen, darunter Oxidationsschritte, nen waren dabei offenbar Desaminierungen, Transaminie-
Hydratisierungen sowie Carboxylierungen und Decarboxylie- rungen und Decarboxylierungen.
rungen. Sie werden im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel
einzelner Aminosäuren in 7 Kap. 27.2 genauer besprochen.

Glucose Tryptophan Glycin Phosphoenolpyruvat Alanin Serin Cystein Isoleucin Leucin Lysin Tryptophan Leucin Phenylalanin
Tyrosin Asparagin Pyruvat Acetyl-CoA Acetacetyl-CoA Aspartat Oxalacetat Citrat Citratzyklus Phenylalanin Tyrosin Fumarat
Aspartat α-Ketoglutarat Glutamat Glutamin Isoleucin Valin Methionin Threonin Succinyl-CoA Prolin Arginin Histidin
324 Kapitel 26 · Prinzipien von Aminosäurestoffwechsel und Stickstoffumsatz

26.4.2 Umbau zu Glucose und Ketonkörpern

Nur zwei proteinogene Aminosäuren können


26 nicht zu Glucose umgebaut werden
Ein entscheidendes Ausgangsprodukt für die Gluconeogenese ist
mitochondriales Oxalacetat (7 Kap. 14.3). Alle Aminosäuren,
deren Kohlenstoffskelett ganz oder teilweise in Oxalacetat umge-
baut werden kann, sind deshalb auch Vorstufen der Gluconeoge-
nese, sie sind glucogen. Wie . Abb. 26.8 zeigt, trifft dies für fast
alle proteinogenen Aminosäuren zu.
Die einzigen Ausnahmen sind Leucin und Lysin, deren C-
Skelette nur Acetacetat bzw. Acetyl-CoA liefern, aus denen in
Säugerzellen keine Glucose neugebildet werden kann. Da im
Hungerzustand die Leber aus Acetyl-CoA Ketonkörper bildet,
sind diese Aminosäuren ketogen (. Abb. 26.8).
Nur Leucin und Lysin sind rein ketogene Aminosäuren.
Die meisten anderen (darunter alle nicht-essentiellen) Amino-
säuren sind rein glucogen, während Threonin, Phenylalanin,
Tyrosin und Tryptophan glucogene und ketogene Eigenschaf-
ten haben. Wie in 7 Kap. 14.3 besprochen, bilden glucogene
Aminosäuren die wichtigsten Vorstufen der Gluconeogenese in
Leber und Niere.

Zusammenfassung
Die 20 proteinogenen Aminosäuren ergeben beim Abbau
nur 6 verschiedene Endprodukte, die entweder Zwischen-
produkte des Citratzyklus sind (α-Ketoglutarat, Oxalacetat,
Fumarat, Succinat) oder mit diesem in enger Verbindung
stehen (Pyruvat, Acetyl-CoA). Je nachdem ob diese Endpro-
dukte in Glucose umgebaut werden können oder nicht, un-
terscheidet man glucogene und ketogene Aminosäuren.
Alle proteinogenen Aminosäuren, außer Lysin und Leucin,
sind glucogen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


325 27

27 Funktioneller Aminosäurestoffwechsel
Klaus-Heinrich Röhm

Einleitung
. Tab. 27.1 Plasmaaminosäurekonzentrationen normaler Ver-
suchspersonen im postprandialen Zustand (n = 10). Mittelwerte ±
Die Prinzipien des Abbaus und Aufbaus von Aminosäuren sind Thema
Standardabweichung des Mittelwertes. (Nach Felig et al. 1970)
von 7 Kap. 26. Über die Bereitstellung von Aminogruppen oder die Ver-
wendung ihres Kohlenstoffgerüsts für die Synthese von Glucose oder Aminosäure Konzentration (µmol/l)
Ketonkörpern hinaus dienen Aminosäuren als Vorstufen bzw. Bausteine
zahlreicher Biomoleküle. In bestimmten Organen ist der Aminosäure- Alanin 344 ± 29
stoffwechsel in deren spezifische Organfunktionen eingebunden, wie in Arginin 69 ± 8
die Energiegewinnung in Leber, Darm und Muskulatur, die Ausschei-
Aspartat <20
dung von Ammoniak in Leber und Niere oder in individuelle Synthese-
Citrullina 30 ± 3
leistungen von Leber und ZNS (Neurotransmitter).
Cystein und Cystin 92 ± 5
Schwerpunkte
Glutamat 30–70

4 Transport von gebundenem Ammoniak im Blut über Glutamin 600–800


Glutamin und Alanin Glycin 215 ± 8
4 Entgiftung von Ammoniumionen im Harnstoffzyklus
Histidin 73 ± 4
der Leber
4 Beteiligung der Niere am Säure-Basen-Haushalt über die Isoleucin 59 ± 2
Ausscheidung von Ammoniumionen Leucin 112 ± 4
4 Stoffwechsel von Glutamat und die Fixierung und Frei-
Lysin 164 ± 9
setzung von Ammoniumionen
4 Bedeutung von Aspartat als Stickstoffdonor im Aspartat- Methionin 24 ± 1
und Purinnucleotidzyklus Ornithin a 67 ± 9
4 Bereitstellung von aktivierten Methylgruppen über den
Phenylalanin 49 ± 2
Methioninzyklus
4 Stoffwechselprodukte von Alanin, Aspartat, Glutamin und Prolin 175 ± 13

Glutamat; Arginin, Prolin und Ornithin; Cystein und Methio- Serin 109 ± 7
nin; Tyrosin und Tryptophan; Glycin und Serin; Histidin und Taurin b
51 ± 3
Lysin
Threonin 134 ± 10

Tryptophan 39 ± 6

Tyrosin 54 ± 4
27.1 Organspezifische Aspekte
Valin 212 ± 8
27.1.1 Transport von Aminostickstoff α-Aminobutyrat b 20 ± 2
a Nicht-proteinogene Aminosäuren, die an der Harnstoffbiosynthese
Glutamin und Alanin dienen dem Transport
teilnehmen.
von Aminostickstoff im Blut b Taurin entsteht im Stoffwechsel aus Cystein, α-Aminobutyrat durch
Im Aminosäurestoffwechsel der Tiere übernehmen die einzelnen Transaminierung aus α-Ketobutyrat (Threonin- und Methioninabbau).
Organe besondere Aufgaben. Sie produzieren oder verstoff-
wechseln bestimmte Aminosäuren und geben die Produkte ins
Blut ab, um sie anderen Geweben zugänglich zu machen. Dabei Zentrales Organ des Aminosäurestoffwechsels ist – wie auch
ist sichergestellt, dass nur geringe Mengen an Ammonium- im Kohlenhydratstoffwechsel – die Leber. Sie ist als einziges Or-
ionen  (NH4+) entstehen, da diese stark neurotoxisch wirken gan in der Lage, aus Glutamin und Alanin freigesetzte Ammo-
(7 Kap. 28.1). Als Transportmoleküle für Aminostickstoff im niumionen zur Ausscheidung in den weniger giftigen Harnstoff
Blut dienen deshalb freie Aminosäuren, insbesondere Glutamin umzuwandeln. Auch die Niere setzt Ammoniak aus Glutamin
und Alanin, die mengenmäßig mehr als ein Drittel der Amino- frei. Dieser Vorgang dient jedoch in erster Linie der pH-Regula-
säuren im Blut stellen (. Tab. 27.1). tion (7 Kap. 66.1).

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
326 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

Da Pyruvat bei Sauerstoffmangel nicht weiter abgebaut werden


kann, wird es unter diesen Bedingungen entweder zu Lactat re-
duziert oder zu Alanin transaminiert. Beide Produkte gelangen
über den Blutkreislauf zur Leber, wo sie durch die jeweiligen
Umkehrreaktionen wieder zu Glucose aufgebaut werden. Die so
gebildete Glucose wird ins Blut abgegeben und steht der Musku-
27 latur erneut zur Verfügung. Die geschilderten Kreisläufe sind im
Falle des Lactats als Cori-Zyklus (7 Kap. 38.1.3), beim Alanin als
Alaninzyklus bekannt. Natürlich leistet auch das von den En-
terocyten des Darms freigesetzte Alanin einen Beitrag zum Ala-
ninzyklus.

27.1.2 Fixierung von Ammoniak in der Leber

Die Leber verfügt als einziges Organ über eine komplette Enzym-
ausstattung zum Abbau der Aminosäuren. Zusätzlich enthält sie
hohe Aktivitäten desaminierender Enzyme. Ebenfalls als einziges
Organ ist die Leber in der Lage, die durch Desaminierung freige-
setzten neurotoxischen Ammoniumionen wirksam zu entgiften.

. Abb. 27.1 Aminosäurestoffwechsel der Organe im Überblick


Die Leber spielt auch im Aminosäurestoffwechsel
BCAA: branched-chain amino acids. (Einzelheiten s. Text)
eine zentrale Rolle
Übersicht Nach einer proteinreichen Mahlzeit kommt es zu ei-
. Abb. 27.1 zeigt in vereinfachter Form die Beteiligung der nem starken Anstieg der Aminosäurekonzentrationen im Pfort-
wichtigen Organe an Bildung und Verbrauch von Glutamin und aderblut, nicht jedoch im Systemkreislauf, da die Leber den größ-
Alanin. Die größten Mengen beider Aminosäuren werden von der ten Teil der im Darm resorbierten (und dort nicht abgebauten)
Muskulatur abgegeben. Sie entstammen v. a. dem Proteinabbau Aminosäuren aufnimmt. In der Leber werden sie entweder in
oder dem Abbau verzweigtkettiger Aminosäuren (7 Kap. 27.2.3). Plasmaproteine und lebereigene Proteine eingebaut oder unter
Auch die Lunge und das Fettgewebe bilden beträchtliche Men- NH4+-Abspaltung in α-Ketosäuren umgewandelt, die dann als
gen von Glutamin, ohne dass die Ursachen hierfür völlig verstan- Gluconeogenesevorstufen dienen oder unter ATP-Bildung oxi-
den sind. Der Darm entlässt v. a. Alanin ins Blut, jedoch kaum dativ abgebaut werden.
Glutamin (7 Kap. 27.1.3). Alanin im Plasma dient vorwiegend der Die freigesetzten Ammoniumionen können in stickstoffhal-
Gluconeogenese in der Leber, während Glutamin sowohl von der tige Verbindungen (Purin-, Pyrimidinbasen, Aminozucker) ein-
Leber als auch von Darm, Nieren, Gehirn und Leukocyten aufge- gebaut werden, überschüssiges NH4+ wird in der Leber in Harn-
nommen und verstoffwechselt wird. In der Leber werden die frei- stoff umgewandelt, der mit dem Blut zu den Nieren transportiert
gesetzten Ammoniumionen zur Ausscheidung in Harnstoff einge- und dort mit dem Urin eliminiert wird. Außerdem fixiert die
baut. Restmengen von NH4+, die dem Harnstoffzyklus entgangen Leber NH4+ in Form von Glutamin, aus dem die Nieren Ammo-
sind, werden von perivenösen Hepatocyten abgefangen und in niak freisetzen und in den Urin abgeben können.
Form von Glutamin wieder ins Blut abgegeben (7 Kap. 27.1.2).
Die Nieren nutzen Glutamin in erster Linie zur Freisetzung Zur Entgiftung baut die Leber NH4+ in Carbamyl-
von NH3, das sie zur Neutralisierung von saurem Urin einsetzen. phosphat oder Glutamin ein
Deshalb steigt der renale Glutaminverbrauch bei metabolischen Die quantitativ wichtigste Reaktion zur Fixierung von Ammo-
Acidosen stark an (7 Kap. 27.1.4). Das im proximalen Tubulus niumionen im menschlichen Stoffwechsel ist die Eingangsreak-
durch »Transdesaminierung« aus Glutamin gebildete α-Keto- tion des Harnstoffzyklus, nämlich die ATP-abhängige Verknüp-
glutarat wird zum größten Teil über Oxalacetat in die Gluco- fung von NH4+ und HCO3– zu Carbamylphosphat, katalysiert
neogenese eingeschleust. durch die mitochondriale Carbamylphosphatsynthetase 1
Weitere Glutaminverbraucher sind die Enterocyten des (CPS1; . Abb. 27.2, 1 ).
Darms (7 Kap. 27.1.3) und die Lymphocyten, die Glutamin zur Die CPS1 macht in der Matrix der Lebermitochondrien etwa
Energiegewinnung veratmen. Das Gehirn verbraucht Glutamin 20 % aller Proteine aus. Die hohe Konzentration des Enzyms und
v. a. zur Synthese der Neurotransmitter Glutamat und GABA sein niedriger KM-Wert für NH4+ (etwa 0,2 mmol/l) sind wesent-
(7 Kap. 27.1.6). lich für die Effizienz der Ammoniakfixierung in der Leber ver-
antwortlich. Die ebenfalls mitochondrial lokalisierte Glutamat-
Der Alaninzyklus stellt die Glucoseversorgung dehydrogenase hat einen viel höheren KM-Wert für NH4+ als die
des arbeitenden Muskels sicher CPS1 (etwa 3 mmol/l) und wird zudem durch ATP gehemmt.
Cori- und Alaninzyklus Das vom arbeitenden Muskel freigesetzte Unter physiologischen Bedingungen dürfte die GLDH daher
Alanin stammt vorwiegend aus dem anaeroben Glucoseabbau. nicht wesentlich zur NH4+-Fixierung beitragen.
27.1 · Organspezifische Aspekte
327 27

. Abb. 27.2 Reaktionen des Harnstoffzyklus. ORNT1: Ornithin-Citrullin-Antiport. (Einzelheiten s. Text)

Mechanismus Die CPS1-Reaktion verläuft in drei Teilschritten, mit Aspartat zu Argininosuccinat durch die Argininosucci-
wobei zwei Moleküle ATP zu ADP und Pi gespalten werden. Im natsynthetase ( 3 ) benötigt ebenfalls zwei energiereiche Bin-
ersten Schritt entsteht ein gemischtes Anhydrid aus Kohlensäure dungen, weil ATP zu AMP und Pyrophosphat (PPi) gespalten
und Phosphorsäure, danach wird der Phosphatrest dieses Inter- wird. Die nachfolgende enzymatische Hydrolyse von PPi
mediats durch NH4+ substituiert, bevor im dritten Schritt das verschiebt das Reaktionsgleichgewicht weiter in Richtung der
gebildete Carbamat durch das zweite ATP zu Carbamylphosphat Produkte.
phosphoryliert wird. Die Aktivität der CPS1 ist von der Anwe- Im nächsten Schritt spaltet die Argininosuccinatlyase ( 4 )
senheit von N-Acetylglutamat abhängig, das als allosterischer Fumarat ab, und das proteinogene Arginin bleibt zurück, in dem
Aktivator der CPS1 fungiert (s. u.). Außerdem wird in Säugerzel- der spätere Harnstoff nun einen Teil der Guanidinogruppe bil-
len die CPS1 (und die Ornithin-Carbamyltransferase, s. u.) det. Die Arginase ( 5 ) setzt schließlich aus Arginin hydrolytisch
durch Acetylierung inaktiviert. Für die Aktivierung sorgen Isoharnstoff frei, der sich spontan zu Harnstoff umlagert. Als
NAD+-abhängige Deacetylasen (sog. Sirtuine). zweites Produkt entsteht Ornithin, das über ORNT1 ins Mito-
chondrium zurückkehrt, um an einer weiteren Runde des Zyklus
Der Harnstoffzyklus ist zwischen Cytosol teilzunehmen.
und Mitochondrien verteilt
Reaktionen des Harnstoffzyklus Im Carbamylphosphat ist – auf Bilanz Die Synthese von Harnstoff ist energieaufwendig: Für je-
den Stickstoff bezogen – bereits eine der beiden NH2-Gruppen des Harnstoffmolekül wird das Äquivalent von 4 Molekülen ATP
des späteren Harnstoffmoleküls enthalten. Zur weiteren Umset- verbraucht. Die Gesamtbilanz ist:
zung überträgt zunächst die Ornithin-Carbamyltransferase die
Carbamylgruppe (H2N-CO–) auf Ornithin (. Abb. 27.2, 2 ), wo- NH4+ + HCO3– + 3 ATP + Aspartat + 2 H2O
bei das ebenfalls nicht-proteinogene Citrullin entsteht. Dieses Harnstoff + 2 ADP + AMP + 4 Pi + Fumarat
muss zunächst ins Cytosol transportiert werden, bevor es weiter
umgesetzt werden kann. Das entsprechende Transportsystem in Neben der Entgiftung von NH4+ sorgt der Harnstoffzyklus dafür,
der inneren Mitochondrienmembran, ORNT1, ist ein Antiporter, dass auch das beim oxidativen Abbau von Aminosäuren anfal-
der Citrullin gegen Ornithin austauscht. lende Hydrogencarbonat (HCO3–) verbraucht wird und fängt
Anschließend wird die zweite Aminogruppe des späteren damit größere Verschiebungen im Säure-Basen-Haushalt ab.
Harnstoffmoleküls eingeführt. Die Kondensation von Citrullin Beim Aminosäureabbau entsteht HCO3–, weil die Decarboxylie-

Harnstoff# Ornithin# Arginin# Fumarat# Argininosuccinatlyase Argininosuccinat# Aspartat# Argininosuccinat-Synthetase Ornithin#


ORNT1# Citrullin# Carbamylphosphat# Carbamylphosphat-Synthetase 1
328 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.3 Stellung des Harnstoffzyklus im Aminosäurestoffwechsel. Enzyme 1 – 5 s. . Abb. 27.2. Weitere Enzyme: 6 Glutaminase; 7 Alanin-Amino-
transferase; 8 Pyruvatcarboxylase; 9 Aspartat-Aminotransferase; 10 N-Acetylglutamatsynthase. CITRIN: Glutamat-Aspartat-Antiporter; IMM: Innere
Mitochondrienmembran; ORNT1: Ornithin-Citrullin-Antiporter; PEP: Phosphoenolpyrurat. (Einzelheiten s. Text)

rung von negativ geladenen α-Ketosäuren aus Gründen der Elek- lyse über eine Aktivierung der Transkription vermehrt Enzyme
troneutralität stets äquimolare Mengen an HCO3– liefert: des Harnstoffzyklus sowie die N-Acetylglutamatsynthase und
ORNT1 gebildet. Verantwortlich für diese Induktionsprozesse
R-COO– + H2O R-H + HCO3– sind v. a. die Hormone Glucagon und Cortisol.

Der Harnstoffzyklus wird v. a. über Der Harnstoffzyklus ist eng mit der
das Aminosäureangebot reguliert Gluconeogenese verknüpft
Da die Harnstoffbildung im Wesentlichen dazu dient, die Am- Herkunft von NH4+ und Aspartat Die für die Bildung von Carba-
moniumkonzentration in den Körperflüssigkeiten niedrig zu mylphosphat benötigten Ammoniumionen gelangen entweder
halten, unterliegt nur die CPS1 (das einzige NH4+-fixierende und als solche in die Mitochondrien oder sie werden dort durch die
zudem das geschwindigkeitsbestimmende Enzym des Zyklus) mitochondriale Glutaminase aus Glutamin freigesetzt (. Abb.
einer besonderen Regulation. 27.3, 6 ).
Woher das in Reaktion 3 (. Abb. 27.3) in den Zyklus einge-
N-Acetylglutamat Fehlt N-Acetylglutamat, ist die CPS1 praktisch führte Aspartat stammt, ist weniger leicht zu beantworten. Wie
inaktiv, während sie in Gegenwart ausreichender Mengen dieser bereits erwähnt, sind die Aspartatspiegel im Blut gering, wäh-
Verbindung in einer Art »Alles-oder-Nichts«-Reaktion voll aktiv rend andererseits neben Glutamin erhebliche Mengen an Alanin
wird. Die Biosynthese von N-Acetylglutamat aus Glutamat und zur Verfügung stehen. Im unteren Teil von . Abb. 27.3 ist ein
Acetyl-CoA wird in den Mitochondrien durch eine besondere Weg zur Umwandlung von Alanin in Aspartat dargestellt, der mit
Synthase katalysiert (. Abb. 27.3, 10 ). Ein hohes Angebot des den heute verfügbaren Daten in Einklang steht: Zunächst wandelt
Substrats Glutamat erhöht die Aktivität der Acetylglutamatsyn- die cytosolische Alanin-Aminotransferase ( 7 ), die in Hepatocy-
thase, außerdem wird sie durch Arginin aktiviert. Es hat daher den ten in hoher Aktivität vorkommt, Alanin und α-Ketoglutarat in
Anschein, dass nicht der Ammoniakspiegel, sondern das Amino- Glutamat und Pyruvat um. Beide Produkte gelangen in die Mi-
säureangebot im Hepatocyten die Harnstoffbildung steuert. tochondrienmatrix (Glutamat durch den Glutamat-Aspartat-
Langfristig werden bei hohem Aminosäureangebot, im Hun- Antiporter und Pyruvat im Cotransport mit H+). Dort wird das
ger und bei hyperkatabolen Zuständen mit gesteigerter Proteo- importierte Glutamat durch die Aspartat-Aminotransferase zu
27.1 · Organspezifische Aspekte
329 27

. Abb. 27.4 Zonierung des NH4+-Stoffwechsels im Leberläppchen. Enzyme 1 – 6 s. . Abb. 27.3. 11 Glutaminsynthetase. (Einzelheiten s. Text)

Aspartat transaminiert ( 9 ). Das dazu notwendige Oxalacetat Oxidation der Tagesmenge von 100 g Aminosäuren zu CO2 und
kann in der Mitochondrienmatrix durch die Pyruvatcarboxy- H2O in der Leber weit mehr ATP anfallen würde, als diese in
lase ( 8 ) aus Pyruvat gebildet werden, ohne die Funktion des dieser Zeit überhaupt bilden und verbrauchen kann. Man nimmt
Citrazyklus zu beeinträchtigen. Schließlich werden die Produkte deshalb an, dass mehr als die Hälfte der aus dem Aminosäureab-
von Reaktion 9 (Aspartat und α-Ketoglutarat) über entspre- bau stammenden Kohlenstoffskelette über Fumarat, Malat und
chende Transportsysteme wieder ins Cytosol exportiert, wo sie Oxalacetat in die Gluconeogenese eingeschleust werden (. Abb.
den Reaktionen 3 und 7 erneut zur Verfügung stehen. 27.3). Dies geschieht wohlgemerkt nicht nur bei Glucosemangel,
Dass der Aspartat-Glutamat-Austausch für den Harnstoffzy- sondern bereits in der Postresorptionsphase, wenn der Insulin-
klus eine wesentliche Rolle spielt, wird u. a. daran deutlich, dass spiegel wieder abgesunken ist. Die gebildete Glucose wird dann
Defekte dieses auch als Citrin bezeichneten Transporters zu Stö- wie üblich zur Glycogenbildung oder zur Versorgung anderer
rungen der NH4+-Entgiftung führen können (7 Kap. 28.1 und Organe eingesetzt.
7 Kap. 28.2).
Perivenöse Hepatocyten fixieren Restammoniak
Schicksal des Fumarats Obwohl das in Reaktion 4 (. Abb. 27.3) in Form von Glutamin
anfallende Fumarat durch Reaktionen des Aspartatzyklus Zonierung Genauere Untersuchungen zur Verteilung der Enzy-
(. Abb. 27.9) wieder in Aspartat umgewandelt werden kann, ist me des Aminosäureabbaus in der Leber zeigten, dass auch in die-
fraglich, ob diese Reaktionsfolge in der Leber vorherrscht. Vor ser Hinsicht nicht alle Hepatocyten äquivalent sind (. Abb. 27.4).
allem energetische Überlegungen sprechen gegen einen solchen Die periportalen Hepatocyten im äußeren Bereich der Leber-
Mechanismus. So lässt sich berechnen, dass bei vollständiger läppchen enthalten Glutaminase und die Enzyme des Harnstoff-

Harnstoffzyklus Glutamin Glutamat N-Acetylglutamat Carbamylphosphat ORNT1 Citrullin Arginin Ornithin


330 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.5 Aminosäurestoffwechsel der Enterocyten. 1 Glutaminase; 2 Alanin-Aminotransferase; 3 Aspartat-Aminotransferase; 4 Ornithintranscar-


bamylase; 5 Carbamylphosphatsynthetase 1. (Einzelheiten s. Text)

zyklus in hohen Aktivitäten. Sie »entgiften« den im arteriellen dem Blut fast vollständig entnommen und auch die aus dem
Blut vorhandenen Stickstoff, indem sie einen großen Teil des auf- Darmlumen resorbierten Mengen der drei Aminosäuren errei-
genommenen Glutamins mit Hilfe der Glutaminase desaminie- chen den Systemkreislauf nur zu einem geringen Teil. Glutamin
ren. Die dabei entstehenden Ammoniumionen werden – ebenso wird nach Desaminierung zu Glutamat über α-Ketoglutarat und
wie diejenigen, die mit dem Pfortaderblut aus dem Darm den Citratzyklus abgebaut und so zur ATP-Synthese genutzt. As-
(7 Kap. 27.1.3) zur Leber gelangen – im Harnstoffzyklus fixiert. partat nimmt nach Transaminierung zu Oxalacetat denselben
Eine dünne Schicht von Hepatocyten rund um die Zentral- Weg. Auch einige der essentiellen Aminosäuren wie Threonin,
vene, die perivenösen Hepatocyten, sind darauf spezialisiert, Leucin, Lysin und Phenylalanin werden von Enterocyten ver-
mit Hilfe der cytosolischen Glutaminsynthetase restlichen Am- stoffwechselt.
moniak, der den periportalen Zellen entgangen ist, in organi-
scher Bindung zu fixieren und wieder in Form von Glutamin Die Darmschleimhaut produziert Alanin
freizusetzen (7 Kap. 27.2.1). Die Glutaminsynthetase hat – im und fixiert NH4+ in Form von Citrullin
Gegensatz zur Glutamatdehydrogenase – einen relativ günstigen Ein kleiner Teil der von den Enterocyten resorbierten Glucose
KM-Wert für NH4+ (etwa 1 mmol/l) und wird nicht durch ATP dient als Vorstufe zur Bildung von Pyruvat, das überwiegend zu
gehemmt. Das zur Fixierung notwendige Glutamat wird von den Alanin transaminiert wird. In dieser Form verlässt der größte Teil
perivenösen Hepatocyten wahrscheinlich aus Arginin erzeugt, des Stickstoffs der abgebauten Aminosäuren die Darmschleim-
das von den Nieren synthetisiert und ins Blut abgegeben wird haut (. Abb. 27.4).
(7 Kap. 27.1.4). Etwa ein Viertel des in der Leber gebildeten Harnstoffs ge-
Vom oben beschriebenen Vorgang einmal abgesehen, ist die langt nicht in den Urin, sondern durch Diffusion aus dem Blut
räumlich getrennte Expression von Glutaminase und Glutamin- ins Darmlumen. Dort wird er durch die Urease der Darmbakte-
synthetase in unterschiedlichen Hepatocyten ohnehin notwendig, rien zu einem großen Teil wieder in NH4+ und HCO3– gespalten.
da sonst ein ATP-verbrauchender Leerlaufzyklus entstehen würde. Die Enterocyten können diese Produkte wieder in organischer
Bindung fixieren, indem sie mit Hilfe der CPS1 Citrullin bilden.
Das dazu notwendige Ornithin wird aus Glutamat hergestellt
27.1.3 Aminosäurestoffwechsel von Enterocyten (. Abb. 27.10). Das vom Darm produzierte Citrullin gelangt aber
nicht in die Leber sondern dient v. a. der renalen Argininsynthe-
Auch die Enterocyten des Dünndarms betreiben einen sehr ak- se (7 Kap. 27.1.4).
tiven Aminosäurestoffwechsel.

Enterocyten decken ihren Energiebedarf 27.1.4 Kopplung von Aminosäurestoff-


v. a. durch Oxidation der sauren Aminosäuren wechsel und Säure-Basen-Haushalt
Die Zellen der Darmschleimhaut haben wegen der zahlreichen in den Nierentubuli
dort ablaufenden aktiven Transportprozesse einen hohen Bedarf
an ATP. Da die Enterocyten die aus dem Darm resorbierte Glu- Die Nieren beteiligen sich am Aminosäurestoffwechsel des Ge-
cose nicht zur Energiegewinnung nutzen, sondern zum größten samtorganismus durch die Synthese von Arginin aus Citrullin
Teil in die Pfortader abgeben, gewinnen sie ATP überwiegend und von Serin aus Glutamin bzw. Glycin. Zusätzlich sind sie in
durch den oxidativen Abbau der Aminosäuren Glutamin, Glut- der Lage, zur Neutralisierung von saurem Urin den beim Ami-
amat und Aspartat (. Abb. 27.5). Diese Aminosäuren werden nosäureabbau gebildeten Ammoniak in das Tubuluslumen abzu-
27.1 · Organspezifische Aspekte
331 27

. Abb. 27.6 Aminosäurestoffwechsel der Nieren. 1 Glutaminase; 2 Glutamatdehydrogenase; 3 PEP-Carboxykinase. (Einzelheiten s. Text)

geben und beteiligen sich auf diese Weise maßgeblich an der Ionen. Diese werden bei Acidosen über den H+/Na+-Antiport
Regulation des Säure-Basen-Haushalts (. Abb. 27.6). Das Koh- und andere Wege in großen Mengen ausgeschieden, um den
lenstoffskelett des Glutamins wird überwiegend zur Gluconeo- gestörten Säure-Basen-Status auszugleichen. Die gleichzeitige
genese genutzt, die nicht nur in der Leber sondern auch in den NH3-Ausscheidung verhindert eine Übersäuerung des Urins
Tubuluszellen der Niere ablaufen kann (7 Kap. 14.3). und fördert damit die H+-Sekretion (7 Kap. 66.1.5).
Auch der Abbau von Glycin durch das »glycinspaltende Sys-
Extrahepatisch gebildetes Arginin stammt tem« (. Abb. 27.21, 6 ) kann zur NH3-Sekretion der Nieren bei-
überwiegend aus den Nieren tragen. Die Glycinspaltung liefert außerdem N5,N10-Methylen-
Leberzellen enthalten wegen des dort lokalisierten Harnstoff- THF, das zur Umwandlung von Glycin in Serin benötigt wird.
zyklus eine sehr hohe Arginaseaktivität und geben deshalb kaum Alternativ kann Serin auch aus dem Gluconeogenese-Intermedi-
Arginin ins Blut ab. Das Arginin, das extrahepatisch zur Protein- at 3-Phosphoglycerat gebildet werden.
biosynthese und zur Bildung von NO und Polyaminen benötigt Bei normalem Säure-Basen-Status extrahieren die Nieren
wird (7 Kap. 27.2.2), stammt überwiegend aus den Nieren. Zur kaum Glutamin aus dem Plasma, und auch das aus dem Tubu-
Synthese nehmen sie das v. a. im Darmepithel gebildete Citrullin luslumen rückresorbierte Glutamin gelangt fast vollständig wie-
auf und bauen es durch zwei Enzyme des Harnstoffzyklus über der zurück ins Blut. Beim Eintritt einer metabolischen Acidose
Argininosuccinat in Arginin um. Die täglich von den Nieren syn- (7 Kap. 66.1.5) ändert sich dies schlagartig. Der resultierende
thetisierte Argininmenge von 2–4 g entspricht etwa derjenigen, Mangel an Hydrogencarbonat drosselt den Harnstoffzyklus in
die im gleichen Zeitraum durch Abbau von Nahrungsproteinen der Leber. Zudem wird die Synthese von Glutamin in der Leber
freigesetzt wird. Strikten Fleischfressern fehlen die Enzyme zur (7 Kap. 27.1.2) gesteigert und offensichtlich auch der Verbrauch
intestinalen Synthese von Citrullin. Für sie ist Arginin deshalb von Glutamin durch die Enterocyten (7 Kap. 27.1.3) reduziert.
eine essentielle Aminosäure. Dies und weitere Ursachen führen dazu, dass der Plasmaspiegel
von Glutamin innerhalb weniger Stunden um bis zu 100 % steigt,
Die renale Freisetzung von NH4+ aus Glutamin und die Nieren damit beginnen, dem Blut erhebliche Mengen
dient der Kompensation metabolischer Acidosen Glutamin zu entnehmen.
Nieren und Säure-Basen-Haushalt Beim Vorliegen einer meta-
bolischen Acidose setzen die Nieren durch Desaminierung von Zur Steigerung der renalen NH4+-Freisetzung
Glutamin und Glutamat verstärkt NH4+ frei. Der mit den Am- werden Glutaminase, GLDH und PEPCK induziert
moniumionen im Gleichgewicht stehende Ammoniak diffun- Regulation Um die Kapazität der Niere zur NH3-Ausscheidung
diert ins Tubuluslumen und dient dort zur Abpufferung von H+- zu steigern, werden bei Acidosen pH-abhängig nicht nur die bei-
332 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

den Desaminasen Glutaminase und Glutamatdehydrogenase


(. Abb. 27.6, 1 und 2 ) induziert, sondern auch die PEP-Car-
boxykinase, ein Schlüsselenzym der Gluconeogenese ( 3 ). Dies
ist sinnvoll, weil das durch die zweifache Desaminierung gebil-
dete α-Ketoglutarat v. a. über die Gluconeogenese verwertet
wird. Auch der bereits erwähnte Na+/H+-Antiporter wird bei
27 Acidosen verstärkt exprimiert.
Die für diese pH-abhängige Induktion verantwortlichen Sig-
naltransduktionswege sind noch nicht vollständig aufgeklärt, es
scheint jedoch, dass die gesteigerte Synthese beider Desaminasen
auf der längeren Lebensdauer der entsprechenden mRNAs be-
ruht. In diesen mRNAs fand man aus 8 Nucleotiden bestehende
pH-response elements. Unter acidotischen Bedingungen synthe-
tisiert das Tubulusepithel spezielle Proteine, die an diese Elemen-
te binden und dadurch die mRNAs vor Abbau schützen. Im Ge-
gensatz dazu beruht die Induktion der PEPCK auf der Phospho- . Abb. 27.7 Aminosäurestoffwechsel der Muskulatur. 1 Verzweigtket-
rylierung bestimmter Transkriptionsfaktoren, die durch Rekru- ten-Aminotransferase; 2 Alanin-Aminotransferase; 3 Glutaminsynthetase.
tierung weiterer Faktoren die Transkription des PEPCK-Gens (Einzelheiten s. Text)
verstärken. An beiden Prozessen scheint die MAPK-Kaskade
(7 Kap. 35.4.2) beteiligt zu sein, der eigentliche pH-Sensor ist
noch nicht identifiziert. weder selbst als Neurotransmitter (Glu, Gly, Asp) oder als Vor-
stufen von Transmittern dienen (Glu, Tyr, Trp). Um zu verhin-
dern, dass Schwankungen von Aminosäurekonzentrationen im
27.1.5 Produktion von Glutamin Blut die Gehirnfunktion beeinflussen, trennt die Blut-Hirn-
und Alanin im Muskel Schranke den Aminosäurepool des Blutplasmas weitgehend von
dem des zentralen Nervensystems.
Die Muskulatur baut überwiegend verzweigtkettige Besonders wichtig ist auch im Gehirn der Stoffwechsel von
Aminosäuren ab und produziert große Mengen Glutamin und Glutamat. Glutamin wird v. a. in Gliazellen syn-
an Glutamin und Alanin thetisiert und von diesen an Neuronen weitergegeben, die daraus
Glutamin- und Alaninbiosynthese Die Muskulatur liefert mehr Glutamat oder γ-Aminobuttersäure (GABA) herstellen. Beide
als die Hälfte des im Blut zirkulierenden Glutamins und ist damit Transmitter werden nach der Ausschüttung rückresorbiert und
der wichtigste Glutaminproduzent (der Rest stammt überwie- wieder in Glutamin umgewandelt. Diese Zusammenhänge wer-
gend aus Lungen und Fettgewebe) (. Abb. 27.7). Ein großer Teil den in 7 Kap. 74.1.7 ausführlich dargestellt.
des im Muskel gebildeten Glutamins und Alanins stammt aus
dem Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren (Valin, Leu-
cin, Isoleucin), auf den die Muskulatur spezialisiert ist (. Abb. Zusammenfassung
27.13). Die Glutaminsynthese wird u. a. durch Glucocorticoide Die größeren Organe (Leber, Muskulatur, Darm, Niere)
reguliert, die die Glutaminsynthetase induzieren. Andererseits übernehmen im Aminosäurestoffwechsel besondere Auf-
beschleunigen hohe Glutaminkonzentrationen den proteolyti- gaben. So werden verzweigtkettige Aminosäuren v. a. in der
schen Abbau des Glutaminsynthetaseproteins und verhindern so Muskulatur abgebaut, während die Nieren Arginin synthe-
eine überschießende Bildung von Glutamin. tisieren. Wegen der Toxizität von NH4+ wird Aminostickstoff
Der Abbau von Valin und Isoleucin liefert u. a. Succinyl-CoA, im Blut in Form von Aminosäuren (Ala und Gln) transpor-
dessen anaplerotische (den Citratzyklus auffüllende) Wirkung tiert. Die Leber nimmt diese Aminosäuren auf und »entgif-
sicherstellt, dass genügend α-Ketoglutarat für die Transaminie- tet« den Stickstoff durch Einbau in Harnstoff, der im Urin
rung der verzweigtkettigen Aminosäuren zur Verfügung steht ausgeschieden wird. Zusätzlich geben die Nieren auch NH4+
(. Abb. 27.13). in den Urin ab.

27.1.6 Aminosäuren als Vorstufen


von Neurotransmittern 27.2 Stoffwechsel einzelner Aminosäuren

Im ZNS dienen Aminosäuren als Vorstufen Im Folgenden werden wichtige Wege des menschlichen Amino-
von Neurotransmittern säurestoffwechsels im Detail besprochen. Die einzelnen Amino-
Aminosäuren als Neurotransmitter Quantitativ betrachtet ist der säuren sind dabei zu Gruppen zusammengefasst, deren Eintei-
Aminosäurestoffwechsel des Gehirns im Vergleich zu anderen lung an Wechselbeziehungen im Stoffwechsel orientiert ist. Bei
Organen unbedeutend. Seine Relevanz beruht v. a. auf der Tatsa- essentiellen Aminosäuren werden nur die Abbauwege berück-
che, dass einige Aminosäuren (Glu, Gln, Asp, Gly, Tyr, Trp) ent- sichtigt.
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
333 27

. Tab. 27.2 Stoffwechselbedeutung von Alanin, der sauren Aminosäuren und ihrer Amide

Aminosäure Produkt Funktion als/bei Siehe Kapitel

Alanin NH2-Transport (Alaninzyklus) 27.1.1

Aspartat Neurotransmitter

Argininosuccinat NH2-Donor (Harnstoffzyklus) 27.1.2

Carbamylaspartat NH2-Donor (Pyrimidinsynthese) 30.1

AICAR NH2-Donor (Purinsynthese) 29.1

Adenylosuccinat NH2-Donor (Purinsynthese) 29.1

Asparagin Vorstufe 27.2.1

Glutamat Neurotransmitter 74.1.6

γ-Aminobutyrat Neurotransmitter 74.1.7

Andere Aminosäuren NH2-Donor (Transaminierung) 26.3.1


+
NH4 /NH3 Vorstufe (Desaminierung) 26.3.2

Glutamin, Prolin, Ornithin, Arginin Vorstufe 27.2.2

N-Acetylglutamat Vorstufe 27.1.2

Glutamin NH2-Transport 27.1.1

Asparagin NH2-Donor 27.2.1

Glucosamin-6-Phosphat NH2-Donor (Aminozuckersynthese) 16.1

Carbamylphosphat NH2-Donor (Pyrimidinsynthese) 30.1

Phosphoribosylamin NH2-Donor (Purinsynthese) 29.1

Formylglycinamidinribonucleotid NH2-Donor (Purinsynthese) 29.1

GMP NH2-Donor (Purinsynthese) 29.1

CTP NH2-Donor (Pyrimidinsynthese) 30.1

NAD+ NH2-Donor (NAD+-Synthese) 59.4

Glutaminkonjugate Biotransformation (Phase II) 62.3

27.2.1 Alanin, Aspartat und Asparagin, außerdem als Ausgangssubstanzen für die Biosynthese weiterer
Glutamat und Glutamin Aminosäuren.

Ala, Asp, Asn, Glu, Gln haben vielfältige Glutamat ist die Drehscheibe im
Stoffwechselfunktionen Aminosäurestoffwechsel
Die Aminosäuren dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, Wie . Abb. 27.8 zeigt:
dass sie sich durch eine oder höchstens zwei Reaktionen in 4 lassen sich Ammoniumionen durch Amidierung von
α-Ketosäuren überführen lassen, die als Vorstufen oder Zwi- Glutamat zu Glutamin ( 1 ) oder durch Aminierung von
schenprodukte des Citratzyklus im Zwischenstoffwechsel von α-Ketoglutarat zu Glutamat ( 4 ) in organischer Bindung
zentraler Bedeutung sind. Die physiologischen Funktionen die- fixieren,
ser Aminosäuren sind in . Tab. 27.2 zusammengefasst. 4 können die Reaktionen 2 und 4 durch Desaminierung
von Glutamin bzw. Glutamat auch Ammoniak freisetzen,
Stoffwechselbedeutung Alanin ist neben Glutamin das 4 kann die Aminogruppe des Glutamats durch Transaminie-
wichtigste Transportmolekül für Aminostickstoff im Blut rung auf Pyruvat und andere α-Ketosäuren übertragen
(7 Kap. 27.1.1) und ein bedeutendes Substrat der Gluconeo- werden, wobei Alanin oder andere Aminosäuren gebildet
genese in der Leber. Glutamat, Aspartat und das von Gluta- werden ( 3 ).
mat abgeleitete GABA wirken im Gehirn als Neurotransmit- 4 Umgekehrt kann aus den entsprechenden Aminosäuren durch
ter, wobei die beiden Letztgenannten von Gliazellen aus Gluta- die gleiche reversible Reaktion auch Glutamat entstehen,
min gebildet werden (7 Kap. 74.1.7). Im Stoffwechsel beteiligen 4 kann die Aminogruppe von Glutamat durch Transaminie-
sich Aspartat, Glutamat und Glutamin als NH2-Donoren an rung auf die α-Ketosäure Oxalacetat übertragen werden,
zahlreichen Reaktionen. Aspartat und Glutamat fungieren wobei Aspartat entsteht ( 5 ),
334 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

Die Amide Glutamin und Asparagin werden ATP-


abhängig gebildet und durch Hydrolasen abgebaut
Glutamin und Asparagin Wie in 7 Kap. 27.1.2 besprochen, ist ne-
ben der Carbamylphosphatsynthetase 1-Reaktion die Bildung
von Glutamin aus Glutamat die zweite wichtige Reaktion zur
NH4+-Fixierung. Katalysiert wird sie durch die Glutaminsynthe-
27 tase, die die γ-Carboxylgruppe von Glutamat ATP-abhängig
amidiert (. Abb. 27.8, 1 ). Als Zwischenprodukt tritt enzymge-
bundenes γ-Glutamylphosphat auf. Im menschlichen Organis-
mus läuft die Glutaminsynthese in der Leber, aber auch in der
Muskulatur, in den Lungen und im Fettgewebe ab. Die Umkehr-
reaktion wird durch die mitochondriale, durch Phosphat akti-
vierte Glutaminase katalysiert, die aus Glutamin durch hydroly-
tische Desaminierung wieder NH4+ freisetzt (. Abb. 27.8, 2 ).
Ähnlich wie Glutamat und Glutamin werden auch Aspartat
und Asparagin ineinander umgewandelt. Im Gegensatz zur Glu-
taminsynthetase verwendet die Asparaginsynthetase allerdings
als NH2-Donor nicht NH4+ sondern Glutamin (. Abb. 27.8, 6 ).
Da Asparagin – anders als Glutamin – nicht dem Stickstofftrans-
port dient, sind die Blutspiegel von Asparagin und Aspartat und
. Abb. 27.8 Stoffwechsel von Alanin, der sauren Aminosäuren und ihrer
Amide. 1 Glutaminsynthetase; 2 Glutaminase; 3 Alanin-Aminotransfera-
die Aktivitäten von Asparaginsynthetase und Asparaginase
se (ALT, GPT); 4 Glutamatdehydrogenase; 5 Aspartat-Aminotransferase (. Abb. 27.8, 6 und 7 ) im tierischen Organismus vergleichswei-
(AST, GOT); 6 Asparaginsynthetase; 7 Asparaginase; 8 Glutamin als NH2- se niedrig.
Donor; 9 Aspartat als NH2-Donor. (Einzelheiten s. Text)
Die menschliche Glutamatdehydrogenase (GLDH)
unterliegt einer komplexen Regulation
4 wird aus Glutamin und Aspartat Asparagin gebildet ( 6 ), Die wichtigste Desaminierungsreaktion bei Aminosäuren ist die
das wieder hydrolytisch zu Aspartat desaminiert werden dehydrierende Desaminierung von Glutamat (7 Kap. 26.3.2),
kann ( 7 ), die nicht nur NH4+ freisetzt, sondern mit NADH/H+ und
4 ist das aus Glutamat gebildete Glutamin ein wichtiger Stick- α-Ketoglutarat zwei weitere Produkte bildet, die zur mitochond-
stoffdonor bei Biosynthesen ( 8 ), rialen ATP-Synthese beitragen (. Abb. 27.8, 4 ).
4 wirkt auch Aspartat als Stickstoffdonor, wobei es in Fumarat Die menschliche GLDH ist in der Mitochondrienmatrix lo-
übergeht ( 9 ). Aus diesem kann in mehreren Schritten wie- kalisiert und besteht aus 6 identischen Untereinheiten. Sie
der Aspartat regeneriert werden (Aspartatzyklus). kommt in allen Geweben vor, die weitaus höchsten Aktivitäten
finden sich jedoch in der Leber. Obwohl das Gleichgewicht der
Außerdem stellt Glutamat die Vorstufe für die Aminosäuren Pro- GLDH-Reaktion auf der Seite der Glutamatbildung liegt, domi-
lin und Arginin dar bzw. entsteht bei deren Abbau und beim niert in der Leber unter physiologischen Bedingungen wahr-
Abbau von Histidin (7 Kap. 27.2.2 und 27.2.7). scheinlich die Desaminierungsreaktion weil:
4 der KM-Wert der GLDH für Ammoniak mit etwa 3 mmol/l
Alanin, Aspartat und Glutamat lassen sich relativ hoch ist, während die NH4+-Konzentration in Hepa-
durch Aminotransferasen ineinander überführen tocyten durch Glutaminsynthetase und Carbamylphosphat-
Biosynthese und Abbau Alanin, Aspartat und Glutamat stehen synthetase 1 sehr niedrig gehalten wird (7 Kap. 27.1.2),
über zwei ubiquitär vorkommende Transaminierungsreaktionen 4 ATP und GTP die GLDH allosterisch hemmen, während
miteinander im Gleichgewicht (7 Kap. 26.3.1 und . Abb. 27.8). ADP und Leucin das Enzym aktivieren.
Sowohl die Aspartat-Aminotransferase (in der Klinik mit
AST oder GOT abgekürzt) (. Abb. 27.8, 5 ) wie auch die Alanin- Die Tatsache, dass die GLDH-Aktivität durch den Energiestatus
Aminotransferase (ALT, GPT) (. Abb. 27.8, 3 ) kommen als der Zelle (d. h. vom ATP/ADP-Verhältnis) kontrolliert wird, legt
cytosolische und mitochondriale Isoenzyme vor. Wichtig ist dies nahe, dass die Reaktion nicht in erster Linie der Freisetzung oder
u. a. für den Transport von Reduktionsäquivalenten über den Fixierung von NH4+ dient, sondern der Bereitstellung von Vor-
Malat-Aspartat-Zyklus(7 Kap. 19.1.1), an dem die beiden AST- stufen für die ATP-Bildung (d. h. α-Ketoglutarat und NADH/H+).
Isoenzyme beteiligt sind. Während die AST im Herzen und in Die Vorstellung, dass die Desaminierung von Glutamat zu
der Skelettmuskulatur in besonders hohen Aktivitäten vor- α-Ketoglutarat der ATP-Synthese dient, wird durch die Sympto-
kommt, findet sich die ALT vorwiegend in der Leber und Muskel me der seltenen Hyperininsulinämischen Hypoglykämie des
wo sie im Rahmen des Alaninzyklus (7 Kap. 27.1.1) eine beson- Kindesalters gestützt (7 Kap. 28.2).
dere Rolle spielt.
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
335 27

. Tab. 27.3 Stoffwechselbedeutung von Prolin und Arginin

Amino- Produkt Funktion Siehe


säure als/bei

Prolin Hydroxyprolin Vorstufe 7 Kap. 71.1.2

Ornithin Citrullin Intermediat im 7 Kap. 27.1.2


Harnstoffzyklus

Putrescin Polyamin- 7 Kap. 27.2.2


vorstufe

Arginin Harnstoff Intermediat im 7 Kap. 27.1.2


Harnstoffzyklus . Abb. 27.11
Guanidinoacetat Kreatinvorstufe 7 Kap. 27.2.2
NO Vorstufe 7 Kap. 35.6.1
Agmatin Vorstufe 7 Tab. 26.3

Stoffwechselbedeutung Die zyklische Aminosäure Prolin ist als


Vorstufe von posttranslational gebildetem Hydroxyprolin wich-
tig (7 Kap. 71.1.2). Ornithin und Arginin sind Intermediate im
Harnstoffzyklus. Arginin dient außerdem als Vorstufe für Stick-
stoffmonoxid (NO) und Kreatin, während Ornithin die Mutter-
. Abb. 27.9 Aspartatzyklus und Purinnucleotidzyklus. (Einzelheiten s. Text) substanz der sog. Polyamine ist (. Tab. 27.3).

Aspartat dient als Stickstoffdonor im Aspartat- Glutamat, Arginin und Prolin lassen sich
und Purinnucleotidzyklus leicht ineinander überführen
Neben Glutamat und Glutamin kann auch Aspartat seine Biosynthese und Abbau Die Stoffwechselschritte, die Ornithin
α-Aminogruppe auf Ketoverbindungen übertragen. Dabei geht bzw. Arginin und Prolin mit Glutamat verknüpfen, sind weitge-
es allerdings nicht in die Ketosäure Oxalacetat, sondern in das hend reversibel und dienen deshalb sowohl der Biosynthese wie
ungesättigte Fumarat über. auch dem Abbau der betreffenden Aminosäuren. Gemeinsame
Zwei wichtige Reaktionen dieser Art sind die Bildung von Zwischenprodukte beider Wege sind Glutamat-γ-Semialdehyd
Arginin aus Citrullin im Harnstoffzyklus (7 Kap. 27.1.2) und die bzw. dessen unter Wasserabspaltung gebildete zyklische Form
Synthese von AMP aus IMP im Rahmen der Synthese von Purin- ∆1-Pyrrolincarboxylat (. Abb. 27.10).
nucleotiden (7 Kap. 29.1). Wie . Abb. 27.9 zeigt, verlaufen beide Während der freie Semialdehyd über eine Transaminierungs-
Reaktionen nach einem ähnlichen Mechanismus: Zunächst ent- reaktion mit Ornithin in Beziehung steht (. Abb. 27.10, 2 ), lassen
steht in einer energieabhängigen Reaktion ein Kondensations- sich Δ1-Pyrrolincarboxylat und Glutamat durch eine Dehydroge-
produkt (Argininosuccinat bzw. Adenylosuccinat; . Abb. 27.9, 1a nase ineinander überführen (. Abb. 27.10, 1 ). Eine weitere De-
bzw. 1b), das in einem zweiten Schritt durch eine Lyase in Fuma- hydrogenase (. Abb. 27.10, 3 ) katalysiert die Gleichgewichtsein-
rat und das jeweilige Produkt zerlegt wird ( 2a bzw. 2b). Diese stellung zwischen Δ1-Pyrrolincarboxylat und Prolin. Arginin kann
Reaktionen und drei weitere Umsetzungen, die aus Fumarat wie- deshalb sowohl zu Glutamat als auch zu Prolin abgebaut werden.
der Aspartat regenerieren (. Abb. 27.9, 3 – 5 ) bilden den sog. Ein weiterer (nicht im Detail dargestellter) Abbauweg des Arginins
Aspartatzyklus. führt über das biogene Amin Agmatin und das Polyamin Putres-
Im Purinnucleotidzyklus, der besonders in der Muskulatur cin (s. u.) zum Succinat.
von Bedeutung ist, wird das aus IMP gebildete AMP durch die Die Biosynthesevon Arginin findet überwiegend extrahepa-
AMP-Desaminase (. Abb. 27.9, 6 ) wieder zu IMP desaminiert. tisch statt, weil in der Leber keine größeren Argininmengen aus
In der Bilanz wird also Aspartat in Fumarat und NH4+ zerlegt. dem Harnstoffzyklus abgezweigt werden können. Die Argininsyn-
Während Fumarat dem arbeitenden Muskel als Energiesubstrat these teilen sich die Enterocyten des Darms (Umwandlung von
dient, wird NH4+ in Glutamin eingebaut und in dieser Form ex- Glutamat in Citrullin, . Abb. 27.5) und die Niere (Citrullin in Ar-
portiert (7 Kap. 27.1.1). ginin, . Abb. 27.6). Das extrahepatisch gebildete Arginin wird u. a.
zur Synthese von Kreatin und NO sowie zur Bereitstellung von
Glutamat in perivenösen Hepatocyten genutzt (7 Kap. 27.1.2).
27.2.2 Arginin, Prolin, Ornithin
Der Mediator Stickstoffmonoxid (NO)
Die Aminosäuren dieser Gruppe bilden zusammen mit Gluta- wird aus Arginin gebildet
min die Glutamatfamilie. Alle können aus Glutamat syntheti- NO-Synthese Stickstoffmonoxid (NO) ist ein kurzlebiges Radi-
siert und durch Umkehrung der Syntheseschritte wieder zu Glu- kal mit Signalfunktion (7 Kap. 35.6.1). Unter anderem erweitert
tamat abgebaut werden. es die Blutgefäße, wirkt als Neurotransmitter und beeinflusst das
336 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.10 Stoffwechsel von Prolin, Ornithin und Arginin. 1 Pyrrolincarboxylatdehydrogenase; 2 Ornithintransaminase; 3 Pyrrolincarboxylatreduk-
tase. (Einzelheiten s. Text)

Immunsystem sowie die Hämostase. Wegen seiner begrenzten


Lebensdauer muss NO in der Nähe des jeweiligen Wirkortes ge- des cGMP-Spiegels die Gefäßweite und andere physiologi-
bildet werden. Das dafür verantwortliche Enzym, die NO-Syn- sche Prozesse (7 Kap. 35.6.1). Auch H2S führt zu einer Rela-
thase (NOS), kommt in mehreren Formen vor: Konstitutiv ge- xation der Gefäßmuskulatur, allerdings ist dieser Effekt nicht
bildet werden das neuronale (nNOS) und das endotheliale durch cGMP vermittelt. Das ebenfalls aus dem Aminosäure-
Isoenzym (eNOS). Beide werden durch Ca2+-Calmodulin akti- säureabbau stammende NH3 wirkt in entgegengesetztem
viert, während die sog. induzierbare NOS (iNOS) durch diverse Sinne, indem es die Synthese von NO hemmt.
Stimuli calciumunabhängig induziert wird.

Mechanismus Die Biosynthese von NO aus Arginin ist ein kom- Polyamine regulieren Zellproliferation
plizierter, noch nicht völlig verstandener Prozess, der zwei Oxida- und Apoptose
tionsschritte vom Monooxygenasetyp umfasst. Als enzymgebun- Polyamine Putrescin, Spermidin und Spermin (. Abb. 27.11)
denes Intermediat tritt Nω-Hydroxyarginin auf (. Abb. 27.11, 3 ). sind di-, tri- bzw. tetravalente organische Kationen, die in tieri-
Die N-terminale Oxygenasedomäne der NO-Synthese (NOS) schen Zellen in millimolaren Konzentrationen vorkommen und
(. Abb. 27.12) enthält eine Häm-Gruppe und als weiteren Cofak- für den normalen Ablauf der Zellproliferation notwendig sind.
tor Tetrahydrobiopterin (THB) (. Abb. 27.18). Die C-terminale Ihre Wirkung beruht auf ihren amphipathischen Eigenschaften:
Reduktasedomäne, die im Falle von nNOS und eNOS auch den Während die Methylengruppen (–CH2–) hydrophobe Wechsel-
Aktivator Ca2+-Calmodulin bindet, überträgt Elektronen von wirkungen eingehen können, interagieren die positiv geladenen
NADPH/H+ über FAD und FMN zum Oxygenasezentrum. N-Atome mit negativen Ladungen, z. B. den Phosphatresten der
DNA. Wegen dieser Eigenschaften sind die Polyamine in der Lage,
DNA-Protein- und Protein-Protein-Wechselwirkungen zu modi-
Übrigens fizieren und dadurch in die Regulation von Zellzyklus und Apop-
Gasförmige Aminosäuremetabolite als Signalmoleküle tose einzugreifen (7 Kap. 43 und 51). Zum sperminabhängigen
Die toxischen Gase Stickstoffmonoxid (NO), Schwefelwasser- Block von Kir-Typ Kaliumkanälen s. Lehrbücher der Physiologie.
stoff (H2S), Schwefeldioxid (SO2) und Kohlenmonoxid (CO)
haben im tierischen Organismus in niedriger Konzentration Biosynthese Die Synthese der Polyamine geht von Ornithin aus,
Signalfunktionen. Alle sind Produkte des Aminosäurestoff- das von der Ornithindecarboxylase (ODC) (. Abb. 27.11, 4 ) zu
wechsels: NO entsteht aus Arginin (7 Kap. 27.2.2), H2S und Putrescin (1,4-Diaminobutan) decarboxyliert wird. Mit Halb-
SO2 werden aus Cystein gebildet (7 Kap. 27.2.4), während wertszeiten von wenigen Stunden ist die ODC eines der kurzle-
das beim Häm-Abbau anfallende CO ursprünglich aus Glycin bigsten zellulären Proteine. An den beiden nachfolgenden Reak-
stammt (7 Kap. 32.2.1). NO, SO2 und CO aktivieren die tionen, der Umwandlung von Putrescin in Spermidin und von
Guanylatzyklase und beeinflussen damit über die Erhöhung Spermidin in Spermin ist ein ungewöhnlicher Cofaktor beteiligt,
6 nämlich decarboxyliertes S-Adenosylmethionin, das als Donor
für 3-Aminopropylreste fungiert.

Glutamat-γ-semialsehyd# L-Ornithin# L-Arginin# L-Glutamat# ∆_1__-Pyrrolincarboxylat# L-Prolin#


Pyrrolincarboxylat#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
337 27

. Abb. 27.11 Umwandlungsreaktionen von Arginin. 1 Glycin-Amidinotransferase; 2 Guanidinoacetattransmethylase; 3 NO-Synthase; 4 Ornithinde-


carboxylase; 5 Spermidinsynthase; 6 Adenosylmethionindecarboxylase; 7 Sperminsynthase; SAH: S-Adenosylhomocystein. Zu Reaktion 2 s. auch . Abb.
27.15. Die Zahl der benötigten NADPH-Moleküle in Reaktion 3 ist nicht geklärt

Über Synthese und Funktion von Kreatin informiert Menschen essentiell. Ihre Abbauwege zeigen Übereinstimmun-
7 Kap. 63.3.1. gen und werden deshalb gemeinsam besprochen.

Stoffwechselbedeutung Wie in 7 Kap. 27.1.5 besprochen, wer-


27.2.3 Valin, Leucin und Isoleucin den die BCAA v. a. von der Muskulatur verstoffwechselt und
tragen so zur Versorgung anderer Gewebe mit Alanin und Glut-
Die verzweigten aliphatischen Aminosäuren Valin, Leucin und amin bei. Als ketogene Aminosäure ist Leucin eine Vorstufe für
Isoleucin (branched-chain amino acids, BCAA) sind für den Ketonkörper und Fettsäuren. Die BCAA-Konzentration im Plas-

Kreatin# Guanidinoacetat# Glycin# S-Adenosylmethionin (SAM)# L-Ornithin# L-Arginin# S-Adenosylmethionin# decarboxylier-


tes# Putrescin# Spermidin# N_ω__-Hydroxyarginin# Methylthioadenosin# Spermin# Citrullin#
338 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

zweigtketten-Dehydrogenase den Pyruvatdehydrogenase-


bzw. α-Ketoglutaratdehydrogenasekomplexen (7 Kap. 18.2).

Der weitere Abbau des aus Isoleucin gebildeten 2-Methylbuty-


ryl-CoA (. Abb. 27.13, linke Spalte) verläuft ähnlich wie die
β-Oxidation der Fettsäuren: Zunächst wird durch eine FAD-ab-
27 hängige Dehydrogenase eine Doppelbindung eingeführt. Durch
Hydratisierung entsteht aus dem Enoyl-CoA ein Alkohol, der
durch eine weitere Oxidation in die β-Ketoverbindung 2-Methyl-
acetoacetyl-CoA übergeht. Eine abschließende Spaltung liefert
schließlich Acetyl-CoA und Propionyl-CoA.
. Abb. 27.12 Struktur der NO-Synthase. (Einzelheiten s. Text) Beim Abbau von Leucin wird das Enoyl-CoA-Zwischenpro-
dukt zunächst in einer biotinabhängigen Reaktion carboxyliert.
Durch Hydratisierung entsteht daraus 3-Hydroxy-3-Methylglu-
ma stellt vermutlich ein globales Signal für den Ernährungszu- taryl-CoA, das auch Zwischenprodukt der Ketonkörpersynthese
stand des Organismus dar. Sicher ist, dass Leucin zu den Amino- ist (7 Kap. 21.2.2). Da seine Spaltung Acetyl-CoA und Acetacetat
säuren gehört, die zusammen mit Glucose die Insulinausschüt- liefert, ist Leucin neben Lysin die einzige rein ketogene Amino-
tung aus dem Pankreas fördern (7 Kap. 36.3). säure.
Der Abbau von Valin unterscheidet sich deutlich von dem
der beiden anderen Aminosäuren. In drei Schritten wird das hy-
Übrigens dratisierte Intermediat 3-Hydroxyisobutyryl-CoA zu Propionyl-
Aminosäuren als globale Stoffwechselregulatoren CoA abgebaut.
An der globalen Regulation des Intermediärstoffwechsels
und der Proteinbiosynthese sind die Proteinkinasen mTOR
und AMPK maßgeblich beteiligt. In den letzten Jahren wur- 27.2.4 Methionin, Cystein und Derivate
de klar, dass beide Kinasen auch durch freie Aminosäuren re- von Cystein
guliert werden.
mTOR (7 Kap. 38.2.1) aktiviert in Form des mTORC1-Komple- Stoffwechselbedeutung Der Stoffwechsel der schwefelhaltigen
xes Zielproteine, die für Proteinsynthese und Zellproliferati- Aminosäuren Cystein und Methionin ist eng verzahnt. Cystein
on wichtig sind. Neben Hormonen aktivieren auch freie Ami- gehört zu den bedingt essentiellen Aminosäuren, weil seine SH-
nosäuren (Leu, Glu, Arg u. a.) mTORC1, wobei Leucin in der Gruppe aus dem Abbauweg des essentiellen Methionins stammt.
Regel die stärkste Wirkung zeigt. Noch unklar ist, ob dieser Methionin ist gleichzeitig Vorstufe für S-Adenosylmethionin,
Effekt durch Aminosäuremetabolite oder durch einen be- das wichtigste methylierende Coenzym im Stoffwechsel (s. u.).
sonderen Aminosäuresensor vermittelt wird. Aus Cystein entstehen u. a. die nicht-proteinogene Aminosäure
Die AMPK dient als Sensor für den Energiestatus der Zelle Taurin, das durch nicht-enzymatische Oxidation bzw. im Prote-
(7 Kap. 38.1.1). Sie wird aktiviert, wenn der AMP-Spiegel an- inverband gebildete Disulfid Cystin und das als Antioxidans
steigt und unterdrückt dann ATP-verbrauchende anabole wirksame Tripeptid Glutathion (. Tab. 27.4).
Stoffwechselwege, während energieliefernde katabole Wege
stimuliert werden. Freie Aminosäuren hemmen – ebenso Der Methioninabbau benötigt Serin
wie Glucose – die AMPK und fördern damit eine anabole und liefert Cystein
Stoffwechsellage. Da die AMPK indirekt mTORC1 hemmt, sti- Der Abbauweg des Methionins (. Abb. 27.14) durchläuft zu-
muliert die Wirkung von Aminosäuren auf die AMPK indirekt nächst Teile des sog. Methioninzyklus (s. u.), wobei die Methyl-
auch die Proteinbiosynthese. gruppe entfernt wird. Das dabei gebildete Homocystein wird im
nächsten Schritt durch die PALP-abhängige Cystathionin-β-
Synthase auf Serin übertragen wobei Cystathionin entsteht. Des-
Die Abbauwege für Valin, Leucin und Isoleucin sen Spaltung durch die ebenfalls PALP-abhängige Cystathionin-
zeigen viele Gemeinsamkeiten γ-Lyase (7 Tab. 26.2) liefert Cystein und α-Ketobutyrat. Dieser
In . Abb. 27.13 sind die Abbauwege von Isoleucin, Leucin und Reaktionsweg wird auch als »Transsulfurierung« bezeichnet,
Valin in einer Übersicht dargestellt. Die einleitenden Schritte weil er das Schwefelatom des Methionins in Cystein einbaut.
sind in allen drei Fällen die gleichen, nämlich: Menschliche Feten und Frühgeborene besitzen noch keine aus-
4 eine Transaminierung (katalysiert durch ein- und dasselbe reichende Aktivität von Cystathionin-γ-Lyase. Für sie ist Cystein
Enzym für alle drei Aminosäuren) gefolgt von der deshalb essentiell.
4 dehydrierenden Decarboxylierung der gebildeten Das aus Methionin gebildete α-Ketobutyrat wird zu Succinyl-
α-Ketosäuren zu Acyl-CoA-Derivaten. CoA abgebaut (. Abb. 27.22) oder in peripheren Geweben,
4 Auch für diese zweite Reaktion gibt es nur ein Enzymsys- denen die α-Ketobutyratdehydrogenase fehlt, zunächst zu
tem, den sog. Verzweigtketten-Dehydrogenasekomplex. α-Aminobutyrat transaminiert, das in der Leber weiter verstoff-
In Aufbau und Reaktionsmechanismus ähnelt die Ver- wechselt wird.
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
339 27

. Abb. 27.13 Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren. Roter Balken: Enzymdefekt bei der Ahornsirupkrankheit. (Einzelheiten s. Text)

Aminosäuren verzweigtkettige Transaminierung Decarboxylierung dehydrierende Oxidation Hydratisierung C-C-Spaltung Abbau#


L-Isoleucin# L-Leucin# L-Valin# 2-Methylbutyryl-CoA# Isovaleryl-CoA# Isobutyryl-CoA# Propionyl-CoA# Acetacetat# Succinyl-
CoA Acetyl-CoA
340 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.14 Abbau von Methionin. (Einzelheiten s. Text)

Der Methioninzyklus liefert aktivierte CH3-Gruppen


. Tab. 27.4 Stoffwechselbedeutung der schwefelhaltigen Amino- für Methylierungsreaktionen
säuren
S-Adenosylmethionin Der Methioninzyklus (. Abb. 27.15) ist
Amino- Produkt Funktion Siehe Kapitel ein geschlossener Kreislauf, in dessen Verlauf zunächst aus Me-
säure als/bei thionin das Coenzym S-Adenosylmethionin (SAM) gebildet
wird, der wichtigste Cofaktor bei Methylierungsreaktionen an
Cystein Taurin Vorstufe 27.2.4
Stickstoff- und Sauerstoffatomen. Bis heute wurden mehr als
Cystin Vorstufe 27.2.4 40 SAM-abhängige Methyltransferasen identifiziert. Wichtige
Glutathion Vorstufe 27.2.4 Beispiele sind in . Tab. 27.5 zusammengestellt. Nach Decarboxy-
lierung von S-Adenosylmethionin kann auch der entstehende
Coenzym A Vorstufe 59.6
Aminopropylrest für Biosynthesen eingesetzt werden (. Abb.
Methionin Cystein Vorstufe 27.2.4 27.11). Wegen des Bedarfs an Methylgruppen für Methylierungs-
S-Adenosyl- Vorstufe, 27.2.4 reaktionen verfügen auch nicht-hepatische Gewebe über die
methionin CH3-Donor meisten Enzyme des Methioninstoffwechsels.

Transmethylierung Bei der Synthese von S-Adenosylmethionin


überträgt eine Transferase den Adenosylrest von ATP auf das
L-Methionin# S-Adenosylmethionin (SAM)# L-Homocystein# S-Adenosylhomocystein (SAH)# Cystathionin-β-Synthase L-Serin#
L-Cystathionin# Cystathionin-γ-Lyase L-Cystein# α-Ketobutyrat# Propionyl-CoA# α-Aminobutyrat Succinyl-CoA# Methionin
Transmethylierung Transsulfurierung
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
341 27

. Abb. 27.15 Methioninzyklus. 1 Methionin-Adenosyltransferase; 2 diverse Methyltransferasen; 3 Adenosyl-Homocystein-Hydrolase; 4 Methionin-


synthase; 5 Methylen-THF-Reduktase; 6 Betain-Homocystein-Transmethylase; THF: Tetrahydrofolat. (Einzelheiten s. Text)

Schwefelatom von Methionin (. Abb. 27.15, 1 ). Die CH3-Grup- Adenosin und das im Vergleich zu Cystein um eine CH2-Gruppe
pe gelangt dadurch auf hohes chemisches Potential und kann verlängerte Homocystein gespalten wird (. Abb. 27.15, 3 ). Adeno-
leicht auf andere Moleküle übertragen werden (»Transmethylie- sin wird über mehrere Schritte wieder zu ATP rephosphoryliert,
rung«). Außerdem entstehen anorganisches Phosphat und Pyro- das für die Methioninaktivierung wiederverwendet werden kann.
phosphat. Letzteres wird anschließend durch eine Pyrophospha-
tase hydrolysiert, sodass die Methioninaktivierung zwei ener- Remethylierung Homocystein wird entweder in Methionin zu-
giereiche Bindungen »kostet«. rück verwandelt (»remethyliert«) oder durch Transsulfurierung
Bei Transmethylierungen geht SAM in S-Adenosylhomocys- (s. o.) weiter abgebaut. Zur Remethylierung von Homocystein
tein über (. Abb. 27.15, 2 ), das im nächsten Schritt hydrolytisch in gibt es zwei Möglichkeiten:

. Tab. 27.5 S-Adenosylmethionin als Coenzym von Methyltransferasen

Edukt methyliertes Produkt Funktion des Produkts/der Methylierung

Metabolite

Phosphatidylethanolamin Phosphatidylcholin Membranlipid


Guanidinoacetat Kreatin Vorstufe von Kreatinphosphat
N-Acetylserotonin Melatonin Hormon
Noradrenalin Adrenalin Hormon, Neurotransmitter
Pharmaka methylierte Pharmaka Inaktivierung
Makromoleküle
Nukleobasen in DNA und RNA methylierte Basen Genregulation
Arginin- und Lysinreste in Histonen methylierte Reste Genregulation

Histidinreste in Muskelproteinen 3-Methylhistidin unklar

Methioninzyklus# L-Methionin# Adenin# ATP# Dimethylglycin# S-Adenosylmethionin# Betain# L-Homocystein# Adenosin#


S-Adenosylhomocystein#
342 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.16 Abbau von Cystein. (Einzelheiten s. Text)

4 Die Methioninsynthase (. Abb. 27.15, 4 ) enthält als teinsulfinat gebildet (. Abb. 27.16). Während die Konzentratio-
Cofaktor Methylcobalamin (B12-Coenzym). nen von Taurin im Blut gering sind (. Tab. 27.1), kann es intrazel-
Die Methylgruppe stammt aus N5-Methyltetrahydrofolat lulär Konzentrationen bis 50 mmol/l erreichen. In Muskulatur,
(N5-CH3-THF), das durch die Methylen-THF-Reduktase Gehirn und Leukocyten ist es sogar die häufigste Aminosäure.
(. Abb. 27.15, 5 ) unter NADPH/H+-Verbrauch aus N5,N10- In den Zellen entfaltet Taurin v. a. cytoprotektive Wirkungen.
Methylen-THF hergestellt wird. Unter anderem wirkt es als Osmolyt und puffert die Auswirkun-
4 Die Betain-Homocystein-Methylase (. Abb. 27.15, 6 ) ent- gen osmotischer Schwankungen der Körperflüssigkeiten ab. Tau-
nimmt die Methylgruppe dem Betain (N-Trimethylglycin), rin schützt außerdem vor oxidativen Zellschäden, hemmt Ent-
das dabei in Dimethylglycin übergeht. zündungsreaktionen und aktiviert bestimmte Immunzellen.
Diese noch nicht voll verstandenen Wirkungen werden teilweise
Die Methioninsynthase ist neben der Methylmalonyl-CoA-Mu- durch Taurinchloramin vermittelt, das bei der Reaktion von Tau-
tase (. Abb. 27.22) das einzige Vitamin-B12-abhängige Enzym im rin mit hypochloriger Säure entsteht. Schon länger bekannt ist
tierischen Stoffwechsel. die Rolle des Taurins als Baustein konjugierter Gallensäuren
(7 Kap. 61.1.4). Kürzlich wurde gezeigt, dass Taurin auch als
Cystein wird über mehrere Wege funktioneller Bestandteil modifizierter Basen in mitochondria-
zu Pyruvat abgebaut len tRNAs vorkommt (7 Kap. 48.1.2).
Cysteinabbau Zum Abbau von Cystein gibt es mehrere Wege
(. Abb. 27.16). Im menschlichen Stoffwechsel vorherrschend ist Glutathion (GSH) ist das wichtigste
die O2-abhängige Oxidation zu Cysteinsulfinat, das durch die intrazelluläre Antioxidans
ubiquitär vorhandene Aspartat-Aminotransferase (7 Kap. 27.2.1) Cystin Wie alle Thiole wird Cystein durch Luftsauerstoff und
zu Sulfinylpyruvat transaminiert wird. Dieses Intermediat zer- andere Oxidationsmittel rasch zum Disulfid Cystin oxidiert. In
fällt schließlich in Pyruvat und Sulfit (SO32–), das durch Oxida- Proteinen stellen Disulfidbrücken aus zwei verknüpften Cystein-
tion mit Hilfe der Sulfitoxidase in Sulfat (SO42–) übergeht. resten die einzigen konformationsstabilisierenden Wechselwir-
Kleine Mengen von Cystein werden außerdem durch Abspal- kungen covalenter Art dar. Cystin kann auf nicht-enzymatischem
tung von H2S über Aminoacrylat in Pyruvat überführt. Diese Wege durch Disulfidaustausch wieder zu Cystein reduziert wer-
Reaktion, eine eliminierende Desaminierung (7 Kap. 26.3.2), den, es gibt aber auch Enzyme, die es in NH4+, Pyruvat und Thio-
geht auf eine Nebenaktivität der Cystathionin-γ-Lyase (. Abb. cystein zerlegen (. Abb. 27.17, 5 ). Das Letztere zerfällt spontan
27.14) zurück. Das freigesetzte H2S hat Wirkungen, die denen zu Cystein und H2S (s. o.).
von NO (7 Kap. 35.6.1) ähneln.
Glutathion Das cysteinhaltige Tripeptid Glutathion (GSH,
In vielen Geweben gehört Taurin γ-Glu-Cys-Gly) ist mit intrazellulären Konzentrationen zwi-
zu den häufigsten Aminosäuren schen 0,5 und 10 mmol/l das wichtigste Antioxidans des mensch-
Taurinsynthese Im menschlichen Stoffwechsel wird etwa ein lichen Organismus. Seine Funktion beruht auf der stark reduzie-
Drittel des Cysteins zu Taurin abgebaut. Diese nicht-proteinogene renden Wirkung der Thiolgruppe, die leicht mit freien Radikalen
Aminosäure (eine β-Aminosulfonsäure) wird durch Decarboxy- und reaktiven Sauerstoffspezies (reactive oxygen species, ROS)
lierung und nachfolgende Oxidation der Sulfinatgruppe aus Cys- reagiert. Dabei entsteht das Glutathiondisulfid GSSG, das in

Taurin# Hypotaurin# Cysteinsulfinat-Decarboxylase Cystein-Dioxygenase L-Cystein# L-Cysteinsulfinat# Aspartat-Aminotransferase


β-Sulfinylpyruvat# Pyruvat#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
343 27

. Abb. 27.17 Umwandlungsreaktionen von Cystein. 1 γ-Glutamylcysteinsynthetase; 2 Glutathionsynthetase; 3 γ-Glutamyltranspeptidase;


4 Aminopeptidase N; 5 Cystathionin-γ-Lyase. (Einzelheiten s. Text)

einer NADPH/H+-abhängigen Reaktion wieder zu GSH redu- lulär synthetisiertem Glutathion auf extrazelluläre Aminosäuren,
ziert werden kann (7 Kap. 68.2.4). Das Redoxpaar GSSG/2 GSH die dann als γ-Glu-Isopeptid in Zellen aufgenommen werden
sorgt für das stark reduktive Milieu im Inneren der Zellen und können. Nach intrazellulärer Freisetzung der aufgenommenen
bestimmt ihre antioxidative Kapazität. Außerdem dient GSH als Aminosäure wird Glutamat regeneriert und kann zur Resynthe-
Bestandteil von Leukotrienen (7 Kap. 22.3.2), als Konjugations- se von Glutathion (. Abb. 27.17, 1 ) dienen, was den Zyklus
partner beiBiotransformationen in der Leber (7 Kap. 62.3) und (γ-Glutamylzyklus) schließt.
unterstützt den Aminosäuretransport (s. u.).
Die ATP-abhängige Synthese von GSH aus Glutamat, Cystein
und Glycin wird durch zwei cytosolische Synthetasen katalysiert. 27.2.5 Tyrosin, Phenylalanin und Tryptophan
Zunächst verknüpft die γ-Glutamylcysteinsynthetase (. Abb.
27.17, 1 ) die γ-Carboxylgruppe von Glutamat mit der Stoffwechselbedeutung Tryptophan und das aus Phenylalanin
α-Aminogruppe von Cystein (Isopeptidbindung), dann wird gebildete Tyrosin sind Vorstufen für eine Reihe wichtiger Signal-
durch die GSH-Synthetase ( 2 ) der Glycinrest angefügt. Da die stoffe (. Tab. 27.6). Dazu gehören die von Tyrosin abgeleiteten
γ-Glutamyltranspeptidase (. Abb. 27.17, 3 ) in der Plasmamem- Katecholamine Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin, die als
bran lokalisiert ist, überträgt sie den γ-Glutamylrest von intrazel- Neurotransmitter bzw. Hormone wirken (7 Kap. 37.2). Tyrosin ist
zudem Vorstufe der braunen oder roten Melanine, die in Haut und
Haaren abgelagert werden und vor den Auswirkungen von UV-
. Tab. 27.6 Stoffwechselbedeutung der aromatischen Amino-
säuren Strahlung schützen. Dabei oxidiert die in Melanocyten vorhande-
ne Tyrosinase Tyrosin in zwei Schritten zu Dopachinon, das dann
Amino- Produkt Funktion Siehe – unterstützt durch weitere Enzyme – zu Melanin polymerisiert.
säure als/bei Kapitel Aus Tryptophan entstehen der Mediator und Transmitter
Tyrosin Dopa Melanin- 27.2.5
Serotonin sowie Melatonin, welches den circadianen Rhythmus
Dopachinon (katalysiert vorstufe reguliert. In begrenzten Mengen kann aus Tryptophan auch der
durch Tyrosinase) Nicotinamidring von NAD(P)+ synthetisiert werden.
Dopa Katecholamin- 37.2.2
(katalysiert durch vorstufe Tyrosin entsteht durch Hydroxylierung
Tyrosinhydroxylase) von Phenylalanin
3-Iodotyrosin Hormonvor- 41.2 Phenylalaninhydroxylase Da der menschliche Stoffwechsel au-
stufe (T3, T4) ßer dem Benzolring der Östrogene (7 Kap. 40.3) keine aromati-
schen Ringsysteme aufbauen kann, sind Tryptophan und Phenyl-
Trypto- Chinolinat NAD+-Vorstufe 27.2.5
phan alanin essentielle Aminosäuren. Im Gegensatz dazu ist Tyrosin
5-Hydroxytryptophan Vorstufe für 74.1.10 nur bedingt-essentiell, weil es unter normalen Stoffwechselbedin-
Serotonin und
Melatonin
gungen in ausreichenden Mengen aus Phenylalanin gebildet wer-
den kann. Die Tyrosinbildung verbraucht normalerweise etwa

γ-Glutamylcystein# Glutathion (GSH)# Cys-Gly# L-Cystein# L-Cystin# Thiocystein#


344 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.18 Umwandlungsreaktionen des Phenylalanins.


(Einzelheiten s. Text)

drei Viertel des mit der Nahrung aufgenommenen Phenylalanins, (6,7-Dihydrobiopterin), wird schließlich wieder zu THB redu-
der Rest wird zum größten Teil in Proteine eingebaut. ziert. Die beiden regenerierenden Reaktionen werden durch spe-
Verantwortlich für die Tyrosinsynthese ist die Phenylalanin- zielle Hilfsenzyme (. Abb. 27.18, 2 und 3 ) katalysiert.
hydroxylase (PAH, . Abb. 27.18, 1 ), eine hauptsächlich in der
Leber vorkommende, eisenhaltige Monooxygenase, die moleku- Die aromatischen Ringe von Tyrosin und Trypto-
laren Sauerstoff (O2) und als Cofaktor 5,6,7,8-Tetrahydrobiopte- phan werden durch Dioxygenasen aufgespalten
rin (THB) benötigt. Tyrosinabbau Wie bei vielen anderen Aminosäuren auch, leitet
eine Transaminierung den Tyrosinabbau ein (. Abb. 27.19). Der
Reaktionsmechanismus Wie bei allen Monooxygenasen baut die aromatische Ring des gebildeten p-Hydroxyphenylpyruvats
PAH eines der beiden Sauerstoffatome von O2 unter Bildung von wird dann in zwei aufeinander folgenden oxidativen Schritten
p-Hydroxyphenylalanin (Tyrosin) in das Substrat Phenylalanin aufgespalten. Diese Schritte werden durch Dioxygenasen kata-
ein. Das zweite O-Atom erscheint zunächst als Hydroxylgruppe lysiert, d. h. Enzyme, die (anders als Monooxygenasen) beide
im Biopterin-Cofaktor bevor es als Wassermolekül freigesetzt Sauerstoffatome eines O2-Moleküls in ihre Substrate einbauen.
wird. Der oxidierte Cofaktor, das sog. chinoide Biopterin Im ersten Schritt, an dem Ascorbinsäure (Vitamin C) als Cofak-

5,6,7,8-Tetrahydrobiopterin (THB)# 6,7-Dihydrobiopterin# α-Hydroxybiopterin# L-Phenylalanin# Phenylalanin-Hydroxylase L-Tyrosin#


Aminotransferase Phenylethylamin# Phenylpyruvat# Dehydrogenasen Phenyllactat# Phenylacetat# Phenylacetyl-CoA#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
345 27

. Abb. 27.19 Abbau von Tyrosin. (Einzelheiten s. Text)

tor beteiligt ist, wird die Ringspaltung vorbereitet: ein- und das- häufen sich Kynurenin und 3-Hydroxykynurenin an und zykli-
selbe Enzym decarboxyliert und hydroxyliert p-Hydroxyphenyl- sieren nach Transaminierung durch eine vom PALP-Mangel we-
pyruvat und verschiebt die Seitenkette innerhalb des Moleküls. niger betroffene Kynurenin-Aminotransferase nicht-enzyma-
Dann spaltet eine zweite Dioxygenase das gebildete (immer noch tisch zu Kynurensäure bzw. Xanthurensäure (. Abb. 27.20). Auf
aromatische) Homogentisat unter Bildung von Maleylacetace- diesen Reaktionen beruht ein klinischer Test zum Nachweis ei-
tat. Nach Isomerisierung des cis-konfigurierten Maleylacetace- ner B6-Hypovitaminose, bei dem die Xanthurensäureausschei-
tats in die trans-Verbindung Fumarylacetacetat setzt eine ab- dung im Urin nach Gabe von Tryptophan gemessen wird.
schließende hydrolytische Spaltung die Endprodukte Acetace-
tat, einen Ketonkörper und die Gluconeogenesevorstufe Fuma- Tryptophan ist Provitamin für die
rat frei. Tyrosin (und natürlich auch seine Vorstufe Phenylalanin) Nicotinsäuresynthese
gehören deshalb zu den Aminosäuren, die gleichzeitig glucogen NAD+-Synthese Von Acroleyl-β-Aminofumarat zweigt der Bio-
und ketogen sind. syntheseweg der Nicotinsäure ab (. Abb. 27.20). Die Isomerisie-
rung zum cis-Isomeren und dessen nicht-enzymatische Konden-
Tryptophanabbau Im Menschen wird Tryptophan fast aus- sation führen zum Pyridinderivat Chinolinsäure (Pyridin-2,3-
schließlich über den sog. Kynureninweg abgebaut. Er enthält Dicarbonsäure), das nach Kondensation mit Phosphoribosylpy-
keinen Transaminierungs- oder Desaminierungsschritt, weil der rophosphat (PRPP) und Decarboxylierung die NAD+-Vorstufe
aliphatische Teil des Tryptophanmoleküls während des Abbaus Nicotinsäuremononucleotid (NMN) liefert.
in unveränderter Form als Alanin freigesetzt wird (. Abb. 27.20). Angesichts dieses Stoffwechselwegs zählt Nicotinsäure nur
In der Leber beginnt der Tryptophanabbau mit der oxidativen bedingt zur Stoffklasse der Vitamine. Beim Menschen reicht die
Spaltung des Pyrrolanteils des Indolrings durch die Tryptophan- tägliche Aufnahme von Tryptophan i. Allg. zur Deckung des
dioxygenase. Das Produkt der Reaktion, N-Formylkynurenin, Nicotinsäurebedarfs aus. Mangelzustände wie die Pellagra
wird zunächst zu Kynurenin deformyliert und dann im Ring hy- (7 Kap. 59.4) beruhen deshalb eher auf einer Kombination von
droxyliert, bevor mit Hilfe von PALP die schon erwähnte Abspal- Protein- (d. h. Tryptophan-) und Vitaminmangel.
tung von Alanin erfolgt. Der aromatische Sechsring des Reak-
tionsprodukts 3-Hydroxyanthranilat wird durch eine zweite Di- Tryptophan und seine Metabolite beeinflussen
oxygenase in Acroleyl-β-aminofumarat gespalten, das schließ- Zellproliferation, Immunantwort und Transmitter-
lich über eine Reihe weiterer Reaktionen α-Ketoadipat liefert, wie funktionen im Zentralnervensystem
es auch beim Abbau von Lysin entsteht. Der weitere Abbau ver- Die physiologische Bedeutung von Tryptophan beruht nicht nur
läuft über Glutaryl-CoA und Acetacetyl-CoA zu Acetyl-CoA. auf seiner Eigenschaft als Vorstufe für Serotonin und Melatonin,
auch die Aminosäure selbst und die beim Abbau entstehenden
Bei Pyridoxinmangel werden Kynurensäure Metabolite haben wichtige physiologische Wirkungen. Schon
und Xanthurensäure gebildet lange ist bekannt, dass hohe intrazelluläre Tryptophankonzen-
Bei Mangel an Vitamin B6 (Pyridoxin) beschreitet der Trypto- trationen die Proteinsynthese und die Zellproliferation stimulie-
phanabbau einen Nebenweg, der v. a. in den Nieren und anderen ren. Umgekehrt wirkt eine Verarmung der Zellen an Tryptophan
extrahepatischen Geweben abläuft. Sinkt die Aktivität der Kynu- cytostatisch – ein Effekt, der auch im Organismus von Bedeu-
reninase wegen des Fehlens von Pyridoxalphosphat stark ab, tung zu sein scheint.
Tyrosin-Aminotransferase α-Ketoglutarat Glutamat L-Tyrosin# p-Hydroxyphenylalanin# Fumarat# Acetacetat# Fumarylacetacetat-Hydrolase
p-Hydroxyphenylpyruvat# Ascorbinsäure# Homogentisat# p-Hydroxyphenylpyruvat-Oxygenase Homogentisat-Dioxygenase Maleylacetacetat-
cis-trans<kk>-Isomerase Fumarylacetoacetat# Maleylacetacetat#
346 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.20 Abbau von Tryptophan. (Einzelheiten s. Text)

Während die Tryptophandioxygenase auf die Leber be- darauf, dass über die Aktivierung der Indolamin-2,3-Dioxygena-
schränkt und für die Regulation des Tryptophanspiegels im Plas- se die Proliferation und Reaktivität der mütterlichen T-Zellen
ma verantwortlich ist, exprimieren periphere Gewebe ein zweites herabgesetzt ist. Tatsächlich ließ sich zeigen, dass Hemmstoffe
Enzym mit ähnlicher Wirkungsspezifität, die sog. Indolamin-2,3- der Indolamin-2,3-Dioxygenase wie 1-Methyltryptophan zur
Dioxygenase (IDO). Man geht heute davon aus, dass die cytos- Abstoßung des Fetus führen können.
tatische Wirkung von Interferon-γ ganz oder teilweise auf einer Schließlich beeinflussen Tryptophanmetabolite auch die
Aktivierung der Indolamin-2,3-Dioxygenase und nachfolgender Funktion des Nervensystems. So interagieren Chinolinsäure (als
Tryptophanverarmung in den Tumorzellen beruht. Hinzu Agonist) und Kynurensäure (als Antagonist) mit Glutamatrezep-
kommt, dass einige Tryptophanmetabolite, z. B. 3-Hydroxyky- toren vom NMDA-Typ. Diese Verbindungen spielen deshalb
nurenin, cytotoxische Wirkung haben. eine wichtige Rolle bei der Entwicklung verschiedener neurolo-
Ein zweiter Prozess, bei dem die Indolamin-2,3-Dioxygenase gischer Erkrankungen.
eine Rolle zu spielen scheint, ist die T-Zellaktivierung durch an- Die weitere Umwandlung von Propionyl-CoA in Succinyl-
tigenpräsentierende Zellen (7 Kap. 70.7). Die lange rätselhafte CoA ist in . Abb. 27.22 im Einzelnen dargestellt.
Tatsache, dass das Immunsystem der Mutter während einer
Schwangerschaft den Fetus toleriert, beruht zumindest teilweise
L-Tryptophan# Tryptophan-Dioxygenase Kynurensäure# Xanthurensäure# N-Formylkynurenin# Kynurenin-Formylase Kynurenin# Kynureninmonooxygenase
3-Hydroxykynurenin# Kynureninase (PALP) α-Aminomuconat-δ-Semialdehyd# Acroleyl-β-Aminofumarat-Decarboxylase Acroleyl-β-Aminofumarat# 3-Hydroxy-
Anthranilat-Dioxygenase 3-Hydroxy-Anthranilat# Nicotinamidmononucleotid (MMN) Acetyl-CoA α-Ketoadipat# Oxalcrotonat#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
347 27

. Abb. 27.21 Stoffwechsel von Serin, Threonin und Glycin. 1 Phosphoglyceratdehydrogenase; 2 Phosphoserintransaminase; 3 Phosphoserinphos-
phatase; 4 , 4’ Serin-Threonin-Dehydratase; 5 Serin-Hydroxymethyltransferase; 6 Glycin-spaltendes System; 7 Threonindehydrogenase; 8 α-Amino-
β-Ketobutyrat-CoA-Ligase; 9 Serin-Pyruvat-Aminotransferase; 10 Glyoxylat-Alanin-Aminotransferase 11 Glyoxylatoxidase. (Einzelheiten s. Text)

27.2.6 Glycin, Serin und Threonin


. Tab. 27.7 Stoffwechselbedeutung von Glycin, Serin
und Threonin
Die physiologischen Funktionen dieser Aminosäuren sind in
Amino- Produkt Funktion Siehe . Tab. 27.7 zusammengefasst.
säure als/bei Kapitel
Glycin und Serin lassen sich leicht
Glycin Neurotransmitter 74.1
ineinander umwandeln
Guanidinoacetat Kreatinvorstufe 27.2.2 Biosynthese von Serin Der wichtigste Weg zum Serin geht von
Glutathion Vorstufe 27.2.4 3-Phosphoglycerat aus, einem Zwischenprodukt von Glycolyse
und Gluconeogenese (. Abb. 27.21, 1 , 2 und 5 ). Nach Oxida-
δ-Aminolävulinat Häm-Vorstufe 32.1.3
tion der α-OH-Gruppe zur Ketogruppe wird die α-Aminogruppe
Glycinamid- Purinvorstufe 29.1 durch Transaminierung eingeführt. Die Hydrolyse der Phosphor-
ribonucleotid
säureesterbindung in 3-Stellung schließt die Synthese ab.
Glycocholsäure Gallensäurebau- 61.1.4 Alternativ dazu kann Serin in Mitochondrien durch die
stein
PALP-abhängige Serin-Hydroxymethyltransferase (SHMT) aus
Glycinkonjugate Biotransformation 62.3 Glycin gebildet werden (. Abb. 27.21, 5 ). Die dazu notwendige
(Phase II) Hydroxymethylgruppe stammt aus N5,N10-Methylen-THF, das
Cystein Vorstufe 27.2.4 beim Abbau eines weiteren Glycinmoleküls zu CO2 und NH4+
Glycin Vorstufe 27.2.6
entsteht. Für die letztere Reaktion ist das sog. »Glycin-spaltende
System« (GCS, . Abb. 27.21, 6 ) verantwortlich, ein komplexes
Serin Phosphatidylserin Phospholipid- 3.2.3
Enzym aus 4 unterschiedlichen Komponenten, von denen eine
baustein
einen Liponamid-»Arm« trägt, wie er auch in α-Ketosäurede-
N5,N10-CH2-THF C1-Donor 59.8 hydrogenasen zu finden ist (7 Kap. 18.2).
Sphingosin Vorstufe 3.2.4
Biosynthese von Glycin Die Bildung von Glycin aus Serin wird
Selenocystein Vorstufe 3.3.1
durch ein cytosolisches Isoenzym der Serin-Hydroxymethyl-

3-Phospho-D-Glycerat# 3-Phosphohydroxypyruvat# Phospho-L-Serin# Oxalat# Glyoxylat# Pyruvat L-Serin# Glycin# α-Ketobutyrat#


L-Threonin# α-Amino-β-Ketobutyrat#
348 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

transferase (SHMT) katalysiert. Es liefert außerdem N5, N10-Me-


thylen-THF, das im Cytosol u. a. zur Bildung von dTMP aus
dUMP (7 Kap. 30.2) benötigt wird. Glycin wird außerdem in Per-
oxisomen durch Transaminierung aus Glyoxylat gebildet, welches
auf diese Weise entgiftet wird (. Abb. 27.21, 10 ). Fällt diese Trans-
aminase aus, kann es zum Krankheitsbild der primären Hyper-
27 oxalurie (Typ 1) kommen, weil dann das angestaute Glyoxylat
vermehrt zu Oxalat oxidiert wird (. Abb. 27.21, 11 ).

Serin und Threonin werden über


mehrere Wege abgebaut
Abbau Wie oben besprochen, wird Glycin durch das Glycin-
spaltende System (GCS) abgebaut und/oder in Serin umgewan-
delt. Zum Abbau von Serin gibt es mehrere Möglichkeiten:
4 die direkte Desaminierung zu Pyruvat (. Abb. 27.21, 4 )
4 die Transaminierung zu Hydroxypyruvat (. Abb. 27.21, 9 )
4 den durch die SHMT katalysierten Abbau zu Glycin
(. Abb. 27.21, 5 ) und
4 die Umwandlung in Cystein (. Abb. 27.14) . Abb. 27.22 Stoffwechsel von Propionyl-CoA. 1 Propionyl-CoA-Carbox-
lase; 2 Methylmalonyl-CoA-Epimerase; 3 Methylmalonyl-CoA-Mutase.
Die eliminierende Desaminierung von Serin zu Pyruvat (. Abb. (Einzelheiten s. Text)
27.21, 4 ) wird in 7 Kap. 26.3.2 im Einzelnen dargestellt. Alterna-
tiv dazu wandelt eine kurz als Serin-Pyruvat-Transaminase
(SPT) bezeichnete Aminotransferase Serin und Pyruvat in Ala- 27.2.7 Histidin und Lysin
nin und Hydroxypyruvat um, das über weitere Zwischenstufen
(nicht dargestellt) in Glyoxylat oder in Pyruvat übergehen kann. Die essentiellen Aminosäuren Lysin und Histidin werden über
Welcher dieser beiden Wege zum Serinabbau dominiert, hängt besondere Wege abgebaut, die keine Beziehungen zueinander und
vom untersuchten Organ ab. zu den Abbauwegen der anderen Aminosäuren erkennen lassen.
Threonin wird im menschlichen Organismus zu einem ge-
ringen Anteil zu α-Amino-β-Ketobutyrat dehydriert und an- Stoffwechselbedeutung (. Tab. 27.8) Im Actin und im Myosin-
schließend zu Acetyl-CoA und Glycin zerlegt (. Abb. 27.21, 7 der weißen Muskelfasern ist die ungewöhnliche Aminosäure
und 8 ). Der überwiegende Teil wird jedoch zu α-Ketobutyrat 3-Methylhistidin enthalten, die posttranslational gebildet und
desaminiert (. Abb. 27.21, 4’ ). Verantwortlich für diese Reaktion nach dem Abbau der Muskelproteine nicht reutilisiert wird. Die
ist dieselbe Lyase, die auch Serin desaminiert und deshalb statt mit dem Urin ausgeschiedene Menge von 3-Methylhistidin
Serindehydratase zutreffender als Serin-Threonin-Dehydratase spiegelt deshalb den Proteinumsatz in der Muskulatur wider.
bezeichnet werden sollte. Das gebildete α-Ketobutyrat wird zu- N-Trimethyllysin ist die Vorstufe des Acyl-Carriers Carnitin
nächst oxidativ zu Propionyl-CoA decarboxyliert (. Abb. 27.22). (7 Kap. 21.2.1). Posttranslational gebildetes 5-Hydroxylysin ist
Die anschließende dreistufige Synthese von Succinyl-CoA aus neben Hydroxyprolin ein typischer Baustein von Kollagen
Propionyl-CoA stellt den Anschluss an den Citratzyklus her und
wird als gemeinsame Endstrecke von mehreren katabolen Wegen
genutzt (. Abb. 27.22). Diese sind: . Tab. 27.8 Stoffwechselbedeutung von Histidin und Lysin
4 die Abbauwege der Aminosäuren Threonin, Methionin,
Isoleucin, und Valin (7 Kap. 27.2.6, 27.2.4 und 27.2.3), Amino- Produkt Funktion Siehe
säure als/bei Kapitel
4 der Abbau ungeradzahliger Fettsäuren (7 Kap. 21.2) und
4 der Abbau von Thymin (7 Kap. 30.5). Histidin 3-Methylhistidin Bestandteil von
Actin und Myosin
Zunächst wird Propionyl-CoA zu D-Methylmalonyl-CoA carbo-
Histamin Mediator 27.2.7
xyliert (. Abb. 27.22, 1 ), das nach Isomerisierung zum L-Epime-
ren (. Abb. 27.22, 2 ) durch eine Coenzym-B12-abhängige Iso- Lysin 5-Hydroxylysin Bestandteil von 71.1.1
Kollagen
merase in Succinyl-CoA umgelagert wird. Diese Methylmalo-
nyl-CoA-Mutase (. Abb. 27.22, 3 ) ist neben der Methioninsyn- Trimethyllysin Vorstufe von Carnitin 21.2.1
thase (7 Kap. 27.2.4) das einzige menschliche Enzym, das ein Allysin Quervernetzung von 71.1.2
Cobalamin als Coenzym benötigt (7 Kap. 59.9). Kollagenfibrillen

N-Acetyllysin Vorkommen in Histonen 10.2.3

Biocytin Bestandteil von 59.7


Carboxylasen

Methylmalonatsemialdehyd β-Aminoisobutyrat α-Ketobutyrat# Propionyl-CoA# D-Methylmalonyl-CoA#


L-Methylmalonyl-CoA# Succinyl-CoA#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
349 27

. Abb. 27.23 Abbau von Histidin. (Einzelheiten s. Text)

(7 Kap. 71.1.1). Da freies Hydroxylysin (wie auch Hydroxyprolin) Der Abbau von Histamin kann ebenfalls zwei Wege nehmen:
nicht in Kollagen eingebaut werden kann, wird es entweder 4 die oxidative Desaminierung durch die Diaminoxidase
unverändert im Urin ausgeschieden oder über α-Aminoadipat (Histaminase) ergibt den entsprechenden Aldehyd, dessen
abgebaut. Dehydrierung durch Aldehyddehydrogenase Imidazolace-
tat liefert (. Abb. 27.23) oder
Histamin ist ein vielseitiger Mediator 4 durch N-Methylierung des Imidazolrings und anschließen-
zellulärer Funktionen de Oxidation des Produkts zu N( )-Methylimidazolacetat
Biosynthese und Abbau Das biogene Amin Histamin wird durch (nicht gezeigt).
PALP-abhängige Decarboxylierung aus Histidin gebildet. Für
diese Reaktion gibt es zwei Enzyme: Alle Enzymaktivtitäten des Histaminaufbaus und -abbaus wer-
4 die in Gehirn, Nieren und Leber vorkommende aromati- den durch mehrere Hormone und Cytokine kontrolliert.
sche L-Aminosäuredecarboxylase hat eine breite Subs-
tratspezifität (Phenylalanin, Tyrosin, 3,4-Dihydroxyphenyl- Funktionen Histamin ist ein Mediator mit vielen Wirkungen.
alanin (DOPA), Tryptophan, 5-Hydroxytryptophan, Histi- Über H1-Rezeptoren führt es zur Kontraktion der glatten Mus-
din) während kulatur von Bronchien und Darm. In Gefäßendothelzellen för-
4 die Histidindecarboxylase (in Mastzellen, basophilen Granu- dert es dagegen die Freisetzung von NO (. Abb. 27.11), welches
locyten, den ECL-Zellen (entero-chromaffine-like) der Magen- sekundär die Relaxation glatter Muskelzellen und damit eine
mukosa und weiteren Geweben) für Histidin spezifisch ist. Gefäßerweiterung verursacht. Auf den Belegzellen der Magen-
L-Histidin# Histidase Imidazolacrylat# Urocanase Imidazolonpropionat# Imidazolonpropionat-Hydrolase N-Formiminoglutamat# Gluta-
matformimino-Transferase L-Glutamat# Histidin-Decarboxylase Diaminoxidase Aldehyd-Dehydrogenase L-Histamin# Imidazolacetaldehyd#
Imidazolacetat#
350 Kapitel 27 · Funktioneller Aminosäurestoffwechsel

27

. Abb. 27.24 Abbau von Lysin. Im Einschub ist der Mechanismus der Saccharopindehydrogenase im Detail dargestellt. (Einzelheiten s. Text)

schleimhaut bindet Histamin an G-Protein-gekoppelte H2-Re- lässt sich deshalb durch Bestimmung von Formiminoglutamat im
zeptoren und stimuliert so die Freisetzung von Magensäure Urin nach Histidingabe diagnostizieren (Histidinbelastungstest).
(7 Kap. 61.2). Die Funktionen der Rezeptoren vom Typ H3 und
H4 sind noch wenig untersucht. Histaminantagonisten (Antihis- Der Lysinabbau beginnt mit einer
taminika) werden zur Behandlung von allergischen Reaktionen besonderen Transaminierung
und Magengeschwüren eingesetzt. Lysin kann über verschiedene Wege abgebaut werden. Im
menschlichen Stoffwechsel ist der Saccharopinweg (. Abb.
Histidin wird zu Glutamat abgebaut 27.24) vorherrschend.
Histidinabbau Beim Histidinabbau (. Abb. 27.23) wird zunächst
die α-Aminogruppe durch Desaminierung als Ammoniumion ε-Transaminierung Die einleitende Reaktion des Saccharopin-
freigesetzt. Im Gegensatz zur Serin-Threonin-Dehydratase weges entspricht im Ergebnis einer Transaminierung, nimmt
(. Abb. 26.6) benötigt die dafür verantwortliche Lyase (Histi- aber einen völlig anderen Verlauf. Die Saccharopindehydrogena-
dase) kein Pyridoxalphosphat. Im nächsten Schritt wird das ge- se (eine neuere Bezeichnung ist Aminoadipatsemialdehydsyn-
bildete Urocanat zu Imidazolonpropionat hydratisiert, dessen thase) wird stark in der Leber und in geringerem Ausmaß auch
Amidbindung hydrolytisch gespalten werden kann. Die Formi- in anderen Geweben exprimiert.
minogruppe des Zwischenprodukts »Figlu« wird von Tetrahyd- Zunächst wird die ε-Aminogruppe des Lysins unter Wasser-
rofolsäure (THF, 7 Kap. 59.8) übernommen und Glutamat bleibt abspaltung mit der Ketogruppe von α-Ketoglutarat kondensiert
zurück. Das gebildete Formimino-THF wird schließlich durch (. Abb. 27.24, Einschub). Durch Hydrierung dieser Schiff-Base
eine Desaminase in das Folsäurederivat N5,N10-Methenyl-THF entsteht eine Zwischenverbindung namens Saccharopin. Durch
überführt. eine NAD+-abhängige Oxidation wird die Stickstoff-Kohlenstoff-
Bei Patienten, die einen Folsäuremangel aufweisen, ist die Ab- Doppelbindung vom α-C-Atom des ehemaligen α-Ketoglutarats
spaltung der Formiminogruppe gestört. Ein derartiger Mangel zum ε-C-Atom des Lysinanteils hin verschoben. Die hydrolyti-
L-Lysin# Saccharopin-Dehydrogenase α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd# Aminoadipatsemialdehyd-Dehydrogenase α-Aminoadipat# Aminoadipat-
Aminotransferase α-Ketoadipat# α-Ketoglutarat-Dehydrogenase Glutaryl-CoA# Glutaryl-CoA-Dehydrogenase Crotonyl-CoA# Lysin# Sac-
charopin# α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd#
27.2 · Stoffwechsel einzelner Aminosäuren
351 27
sche Spaltung dieser neu gebildeten C=N-Bindung lässt schließ- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
lich α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd und Glutamat entstehen.
Zusammengenommen bewirken Synthese und Spaltung von
Saccharopin die irreversible Transaminierung der ε-Amino-
gruppe des Lysins. Warum diese Reaktionsfolge in der Evolution
einer einfachen Transaminierung vorgezogen wurde ist unklar,
zumal im Peptidverband (Kollagen, 7 Kap. 71.1.2) die direkte
Desaminierung von Lysin möglich ist.

Weiterer Abbau Der entstandene Semialdehyd wird – wie bei


Semialdehyden üblich – zunächst zur Dicarbonsäure dehydriert
und anschließend zu α-Ketoadipat (einem Homologen von
α-Ketoglutarat) transaminiert. Als α-Ketocarbonsäure kann
α-Ketoadipat durch dehydrierende Decarboxylierung mit Hilfe
der α-Ketoglutaratdehydrogenase (7 Abb. 26.9) in Glutaryl-CoA
überführt werden, das nach Oxidation und Decarboxylierung
Crotonyl-CoA liefert. Als Intermediat der β-Oxidation lässt sich
diese Verbindung auf dem üblichen Weg zu Acetyl-CoA abbauen.
Da Acetyl-CoA das einzige Reaktionsprodukt darstellt, ist Lysin
– wie auch Leucin – eine rein ketogene Aminosäure.
Ein weiterer (hier nicht im Einzelnen dargestellter) Abbau-
weg des Lysins führt über L-Pipecolinsäure, die sich ebenfalls in
α-Aminoadipat-δ-Semialdehyd überführen lässt.

Regulation Die Oxidation von Lysin wird durch einen erhöhten


Gehalt an Proteinen in der Ernährung gesteigert. Dabei wird der
Abbau wahrscheinlich durch das einleitende Enzym (die Sac-
charopindehydrogenase) und den Transport von α-Ketoadipat
vom Cytoplasma in das Mitochondrium reguliert.

Zusammenfassung
Zum Abbau der proteinogenen Aminosäuren gibt es eine
Vielzahl von Stoffwechselwegen. Abbau und Synthese der
nicht- oder bedingt essentiellen Aminosäuren sind eng mit
Glycolyse und Citratzyklus verknüpft und benötigt höchs-
tens vier Reaktionsschritte. Die Abbauwege der essentiellen
Aminosäuren sind komplizierter. Häufig beginnen sie mit ei-
ner Transaminierung, gefolgt von der dehydrierenden De-
carboxylierung der gebildeten α-Ketosäure zu CoA-Deriva-
ten. Besondere Abbauwege existieren für Histidin, Methio-
nin, Lysin und Tryptophan.
Aminosäuren dienen als Transportformen von Ammoniak
(Ala, Gln), als Neurotransmitter bzw. Vorstufen davon (Asp,
Gln, Glu, Gly, Trp, Tyr), liefern Stickstoffatome für Synthesen
(Asp, Gln, Glu) und sind Vorstufen für die Synthese zahlrei-
cher Metabolite (Katecholamine, Coenzym A, Kreatin, Gal-
lensäurekonjugate, Glutathion, Häm, Histamin, Melanine,
NAD+, NO, Polyamine, Phospholipide, Purin- und Pyrimidin-
basen, Schilddrüsenhormone). Ala, Asp und Glu lassen sich
durch Aminotransferasen ineinander überführen. Der Stoff-
wechsel von Ser, Gly, Met und His ist eng mit dem von Tetra-
hydrofolsäure verknüpft. Der Methioninzyklus liefert akti-
vierte CH3-Gruppen für Methylierungsreaktionen. Ver-
zweigtkettige Aminosäuren sind bevorzugte Energiesubst-
rate der Muskulatur.
28 Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels
Klaus-Heinrich Röhm

28
Einleitung 4 Eine Verarmung der Zellen an Glutamat und/oder α-Keto-
glutarat aufgrund einer verstärkten Glutaminsynthese und
Die Symptomatik von angeborenen oder erworbenen Störungen der eine daraus resultierende Hemmung des Citratzyklus.
Harnstoffsynthese wird im Wesentlichen durch die Akkumulation der 4 Ein ATP-Mangel durch Stimulation der Na+/K+-ATPase
neurotoxischen Ammoniumionen bestimmt. Von den angeborenen oder Hemmung der Atmungskette durch NH3/NH4+.
Defekten im Aminosäurestoffwechsel kommt die Phenylketonurie am 4 Anstieg des NAD+/NADH-Quotienten in der Mitochon-
häufigsten vor. Ein erhöhter Spiegel an Homocystin führt v. a. zu drienmatrix und
Endothelschäden. Die medikamentöse Hemmung von Monoamino- 4 die gesteigerte Permeabilität der inneren Mitochondrien-
oxidasen spielt in der Neuropharmakologie eine bedeutende Rolle. membran (ein sog. mitochondrialer Permeabilitätsübergang,
Enzyme des hepatozellulären Aminosäurestoffwechsels sind für die mitochondrial permeability transition, MPT), gefolgt vom
Differentialdiagnostik von Lebererkrankungen von herausragender Anschwellen der Mitochondrien und oxidativem Stress.
Bedeutung.
Nach anderen Vorstellungen ist in erster Linie die Signalweiter-
Schwerpunkte leitung im ZNS betroffen, z. B. durch:
4 Störungen der Transmitterbiosynthese,
4 Ursachen der Neurotoxizität von Ammoniak
4 Interferenz der NH4+-Ionen mit der Funktion der ähnlich
4 Harnstoffzyklusdefekte
großen K+-Ionen und damit Beeinträchtigungen der Erre-
4 Methylmalonacidämie, Verzweigtkettenkrankheit, Phenyl-
gungsleitung oder
ketonurie
4 Störungen von Signaltransduktionswegen, v. a. solcher, die
4 Aminosäurestoffwechsel in Diagnostik und Therapie
von NMDA-Rezeptoren (7 Kap. 74.1.6) ausgehen.

Am wahrscheinlichsten ist, dass alle diese Vorgänge (und weitere


noch unbekannte Effekte) zur Neurotoxizität von Ammoniak
28.1 Neurotoxizität von Ammoniak und Ammoniumionen beitragen.

Die Ursachen der Neurotoxizität von Ammoniak


sind noch nicht völlig geklärt 28.2 Angeborene Störungen im
Ammoniakvergiftung Wie in 7 Kap. 26.1 besprochen, fixieren Aminosäurestoffwechsel
höhere Tiere Ammoniak durch Bildung von Harnstoff, Glutamin
oder anderer Verbindungen. In den Körperflüssigkeiten des Die aromatische L-Aminosäuredecarboxylase hat
Menschen wird der Spiegel an freiem Ammoniak durch diese zentrale Aufgaben im Neurotransmitterstoffwechsel
Reaktionen normalerweise bei Werten unter 35 μmol/l gehalten. Alle aromatischen Aminosäuren (Phe, Tyr, Trp und His und
Ein starker NH4+-Anstieg im Blut, wie er bei Leberversagen, als L-Dopa und 5-Hydroxytryptophan) werden durch ein- und das-
Folge von erblichen Störungen der Harnstoffsynthese (7 Kap. selbe Enzym, die sog. aromatische L-Aminosäuredecarboxyla-
27.1.2) oder beim Einatmen von gasförmigem Ammoniak auf- se (AADC), decarboxyliert. Erbliche Defekte der AADC können
tritt, kann das Gehirn in kurzer Zeit irreversibel schädigen. deshalb zu einem Mangel an wichtigen Signalstoffen (Dopamin,
Typische Symptome einer Ammoniakvergiftung sind: Serotonin, Histamin) führen. Andererseits scheint die Substitu-
4 Husten, Atemnot tion der humanen AADC über einen viralen Vektor (Genthera-
4 Sprach- und Sehstörungen pie, 7 Kap. 55.4) durch verstärkte Bildung von Dopamin im Ge-
4 Störungen der Bewegungskoordination hirn die Symptome der Parkinson-Erkrankung günstig zu beein-
4 Lethargie bis hin zum Koma flussen. Ein therapeutischer Ansatz dieser Art befindet sich
zurzeit in klinischer Erprobung.
Im Gehirn sind v. a. die Astrocyten betroffen, die als Zellen der
Makroglia NH4+-Ionen aufnehmen und für die Glutaminsynthe- Angeborene Defekte des Harnstoffzyklus
se einsetzen. Trotz intensiver Bemühungen sind die Ursachen für sind relativ häufig
die Neurotoxizität von Ammoniumionen noch nicht völlig ge- Hyperammoniämien Da der Harnstoffzyklus während der Em-
klärt. Diskutiert werden u. a. Stoffwechselveränderungen als Fol- bryonalentwicklung noch nicht benötigt wird, machen sich
ge des zu hohen Angebots an NH3 bzw. NH4+: angeborene Defekte in diesem Bereich bis zur Geburt kaum

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
28.2 · Angeborene Störungen im Aminosäurestoffwechsel
353 28
bemerkbar. Sie gehören deshalb zu den häufigeren erblichen Bei Neugeborenen sind die ersten Symptome einer gestör-
Stoffwechselerkrankungen (etwa 1 Fall unter 30.000 Lebendge- ten  NH4+-Entgiftung (Lethargie, Appetitlosigkeit, Erbrechen,
burten). Krämpfe) wenig charakteristisch und könnten z. B. auch auf eine
Schon in den ersten Lebenstagen führen homozygote Defek- Acidose zurückgehen. Ist eine Acidose auszuschließen, müssen
te von Enzymen des Harnstoffzyklus zu massiven Hyperammo- zur Sicherung der Diagnose unbedingt die Plasmaspiegel wich-
niämien mit Spitzenwerten von 2.000 µmol/l NH4+ und mehr, tiger Zyklusmetabolite (NH4+, Citrullin, Argininosuccinat) be-
die aufgrund von Gehirnschädigungen letal enden können, stimmt werden. Wie bei Enzymdefekten üblich, stauen sich auch
wenn sie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Hete- bei Störungen im Harnstoffzyklus Substrate der betroffenen En-
rozygote Träger zeigen in der Regel keine oder nur geringfügige zyme an. So kann z. B. bei der Citrullinämie I, bei der die Argini-
Symptome, da die verbliebene Aktivität von 50 % für eine wirk- nosuccinatsyntethase defekt ist, der Citrullinspiegel im Serum
same Entgiftung ausreicht. Patienten mit Restaktivitäten unter von 50 µmol/l auf über 1.000 µmol/l ansteigen, während sich
50 % sind während der Neugeborenenphase weitgehend symp- beim Fehlen der Argininosuccinatlyase neben kleineren Men-
tomfrei, erkranken aber oft in der Jugend oder im frühen Er- gen von Argininosuccinat, das überwiegend mit dem Urin aus-
wachsenenalter (late onset). Zu den typischen Spätfolgen von geschieden wird, auch Citrullin ansammelt. Beim Ausfall der
Zyklusdefekten gehören Entwicklungsstörungen und Minderun- Ornithintranscarbamylase sind die Spiegel beider Metabolite
gen der Intelligenz. Unter Stress können auch immer wieder unverändert, dafür taucht im Blut und im Urin die Pyrimidin-
Schübe von Hyperammoniämie auftreten. vorstufe Orotat auf. Da Carbamylphosphat in diesem Fall nicht
mehr zur Synthese von Citrullin dienen kann, wird es im Cytosol
Molekulare Ursachen Wichtige Defekte des Harnstoffzyklus, zur Synthese von Pyrimidinbasen verwendet (7 Kap. 30.1). Bei
ihre Ursachen und ihre Auswirkungen sind in . Tab. 28.1 zusam- Defekten des Eingangsenzyms Carbamylphosphatsynthetase 1
mengestellt. Nicht nur Enzyme des Zyklus können betroffen sein, treten außer einer starken Hyperammoniämie keine anderen
sondern auch die Synthese des Aktivators N-Acetylglutamat und Metabolitveränderungen auf. Auch der seltene Arginasemangel
Transportsysteme, die Vor- und Zwischenstufen des Zyklus fällt eher durch neurologische Symptome auf.
durch die innere Mitochondrienmembran schleusen.
Mutationen der Glutamatdehydrogenase (GLDH)
können eine Hyperinsulinämie auslösen
Bei einer seltenen erblichen Stoffwechselerkrankung, der
. Tab. 28.1 Angeborene Störungen des Harnstoffzyklus Hyperinsulinämischen Hypoglykämie des Kindesalters ist die
Regulation der Insulinausschüttung aus den β-Zellen des Pank-
Krankheit Betroffenes Gen/ Bemerkungen
Enzym
reas gestört (7 Kap. 36.3). Als eine der möglichen Ursachen wur-
den Mutationen im Glutamatdehydrogenase-Gen identifiziert,
Hyper- CPS1 2q35 NH3, Glutamat die das Enzym gegen die allosterische Hemmung durch ATP
ammoniämie Carbamylphosphat- Citrullin, Arginin und GTP unempfindlich und dadurch aktiver machen. In der
Typ I synthetase 1 (CPS1) Therapie: Arginin, Benzoat,
Folge kommt es nicht nur zu einer (in der Regel milden) Hyper-
Phenylacetat
ammoniämie (mit Blutspiegeln um 100 µmol/l), sondern auch
Hyper- OTC Xp21.1 Häufigste Form, zu einer Hypoglykämie. Offenbar führt die höhere GLDH-
ammoniämie Ornithin-Carbamyl- X-chromosmal vererbt
Aktivität zur Erhöhung des ATP-Spiegels in den β-Zellen und
Typ II transferase NH3, Glutamat, Orotat
Citrullin, Arginin damit zur verstärkten Insulinausschüttung. Die bei der HHI
beobachtete Hyperammoniämie resultiert nicht allein aus der
Citrullinämie ASS 9q34 NH3 (bis > 1.000 µM),
Typ I Argininosuccinat- Citrullin
gesteigerten NH4+-Freisetzung durch die höhere GLDH-Aktivi-
syntethase Therapie: Arginin, Benzoat, tät, sondern indirekt auch aus der verminderten Synthese von
Phenylacetat N-Acetylglutamat als Folge geringerer Glutamatkonzentratio-
Arginino- 7cen-q11.2 NH3 Citrullin
nen in der Mitochondrienmatrix. Dies senkt die Aktivität der
succinaturie Argininosuccinat- (100–300 µM), Arginino- CPS1 und damit die Fähigkeit der Leber zur NH4+-Fixierung.
lyase succinat
Therapie: Arginin, Benzoat Störungen des Propionyl-CoA-Stoffwechsels
Hyper- 6q23 Selten Propionacidämie Patienten, die an einem angeborenen Defekt
argininämie Arginase NH3 Arginin der Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Abb. 27.22, 1 ) leiden, wei-
Therapie: Arginin- und sen hohe Propionsäurekonzentrationen im Blutplasma auf, das
proteinarme Diät
aus dem hydrolytischen Abbau von Propionyl-CoA stammt.
N-Acetyl- 17q21.31 NH3 Therapeutische Maßnahmen sind:
glutamat- N-Acetylglutamat- Therapie: Carbamylgluta- 4 Einschränkung der Proteinzufuhr
synthase- synthase mat zur Aktivierung der
4 Beseitigung der durch Propionsäure ausgelösten Acidose
mangel CPS1

Citrullinämie – late onset Methylmalonacidämie und -urie Genetische Defekte der Me-
Typ II »Citrin« (Glutamat- NH3 Citrullin
thylmalonyl-CoA-Mutase (7 Abb. 27.22, 3 ) führen zum Anstieg
Aspartat-Antiporter) Arginin
von Methylmalonat im Plasma und zur Eliminierung über die
354 Kapitel 28 · Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels

Nieren. Da Vitamin-B12-Mangel ähnliche Auswirkungen hat, Die Phenylketonurie (PKU) ist die häufigste genetisch
dient die Konzentration an Methylmalonat im Blutplasma als bedingte Störung des Aminosäurestoffwechsels
Parameter für die Vitamin-B12-Versorgung. Phenylketonurie Defekte der Phenylalaninhydroxylase (PAH)
sind die häufigsten genetischen Veränderungen des Stoffwech-
Erhöhte Homocysteinspiegel sind sels der Aminosäuren. In Deutschland werden jährlich ca.100
ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen Kinder mit homozygoter Phenylketonurie geboren (1:10.000).
und M. Alzheimer Die Häufigkeit heterozygoter Träger in der Bevölkerung liegt bei
Homocystinurie Homocystein findet sich im Plasma normaler- etwa 1:50. Wegen der fehlenden Aktivität der Phenylalaninhyd-
28 weise in Konzentrationen um 10 µmol/l. Es liegt dort hauptsäch- roxylase wird Phenylalanin nicht mehr oder nur noch langsam
lich in Form des Disulfids Homocystin oder gebunden an Albu- in Tyrosin überführt und häuft sich deshalb in den Zellen und im
min vor. Schon geringfügige Erhöhungen der Homocystinkon- Blut an. Die Plasmakonzentration des Phenylalanins, die norma-
zentration im Blut führen zu Schäden an den Gefäßendothelien lerweise bei 50–100 µmol/l (1–2 mg/dl) liegt, kann bei den Pa-
und dadurch zu einem deutlich höheren Risiko für kardiovasku- tienten auf das 50fache erhöht sein.
läre Erkrankungen. Auch das Risiko, an der Alzheimer-Krank- Durch den Defekt der Phenylalaninhydroxylase wird
heit zu erkranken, ist signifikant erhöht. Tyrosin zur essentiellen Aminosäure. Da der vorherrschende
Neben einem Mangel der Vitamine, die für die Remethylie- Abbauweg über Tyrosin ausfällt, wird Phenylalanin bei den
rung oder Transsulfurierung von Homocystein benötigt werden Patienten über alternative Stoffwechselwege abgebaut, die bei
(Folsäure, B6 oder B12), kann eine Homocystinurie auch auf ei- Gesunden wegen ihrer geringen Aktivität kaum ins Gewicht fal-
nen autosomal-rezessiv vererbten Defekt der Cystathionin-β- len (7 Abb. 27.18):
Synthase zurückgehen. Die Methioninsynthase oder das Hilfsen- 4 Durch Transaminierung entsteht aus Phenylalanin die
zym Methylen-THF-Reduktase (7 Abb. 27.15) können ebenfalls α-Ketosäure Phenylpyruvat, deren Vorkommen in Blut
betroffen sein. In allen Fällen staut sich Homocystin im Blut und und Urin der Krankheit ihren Namen verliehen hat.
in den Geweben an und verursacht bei homozygoten Formen 4 Das gebildete Phenylpyruvat wird entweder zu Phenyllac-
schwere Endothelschäden, die schon im frühen Alter zu Gefäß- tat reduziert oder durch dehydrierende Decarboxylierung
verschlüssen und damit zu Myokardinfarkten und Gehirnschlä- in Phenylacetyl-CoA überführt, dessen Kondensationspro-
gen (Apoplexen) führen können. Cystein, das beim Menschen zu dukt mit Glutamin als Phenylacetylglutamin im Urin
den bedingt essentiellen Aminosäuren zählt, wird durch diese nachgewiesen werden kann.
Enzymdefekte absolut essentiell. Verantwortlich für die Endo- 4 Ein Teil des Phenylalanins wird außerdem durch Decarbo-
thelschädigung bei Homocystinämie ist wahrscheinlich die Bil- xylierung und anschließende oxidative Desaminierung über
dung des äußerst cytotoxischen Metaboliten Homocysteinthio- Phenylethylamin zu Phenylacetat abgebaut.
lacton.
Die Therapie der Homocystinurie besteht in einer Diät, die Symptome Die schwerwiegendsten Symptome der unbehandel-
wenig Methionin enthält, dafür aber mit Cystein und Vitaminen ten Krankheit sind eine geistige Retardierung bis hin zum
angereichert ist. Schwachsinn und progressiv verlaufende neurologische Ausfälle.
Die biochemischen Ursachen sind noch nicht abschließend ge-
Verzweigtkettenkrankheit (»Ahornsirupkrankheit«) klärt. Diskutiert werden u. a.
Verzweigtkettenkrankheit Bei dieser Störung liegt ein geneti- 4 eine durch Phenylalanin bedingte Hemmung des Trans-
scher Defekt der dehydrierenden Decarboxylierung der drei aus ports anderer Aminosäuren durch die Blut-Hirn-Schranke
BCAA (branched-chain aminoacid) gebildeten α-Ketosäuren vor. und daraus resultierende Störungen der Proteinbiosynthese
Da die Verzweigtkettendehydrogenase aus drei Komponenten im Gehirn,
besteht (7 Kap. 27.2.3), ist es möglich, dass Mutationen in allen 4 Defekte in der Biosynthese der Neurotransmitter Dopamin,
drei Genen eine Änderung der Enzymaktivität des Multienzym- Noradrenalin und Serotonin und
komplexes zur Folge haben. Entsprechend stark ist die moleku- 4 Störungen der Myelinisierung bzw. Demyelinisierung von
lare Heterogenität der Erkrankung. Nervenfasern durch Phenylalaninmetabolite.
Eine frühe Erkennung der Erkrankung ist ausschlaggebend.
Erste Hinweise gibt der seltsame Geruch von Urin und Schweiß, Molekulargenetik Das Gen für die Phenylalaninhydroxylase
der an den Sirup des amerikanischen Zuckerahorns oder – bei liegt auf Chromosom 12. Während das PAH-Gen eine Länge von
uns besser bekannt – an Maggi-Würze erinnert. Neben den drei über 90 kbp aufweist, ist die reife mRNA nur 2,4 kb lang. Das
Aminosäuren werden auch die entsprechenden α-Ketosäuren entsprechend Gen ist auf 13 Exons verteilt. Die Phenylalaninhy-
und die durch Reduktiongebildeten α-Hydroxysäuren vermehrt droxylase erreicht ihre maximale Aktivität erst nach der Tren-
im Urin ausgeschieden. Außerdem tritt im Plasma und Urin die nung vom mütterlichen Kreislauf, in der Leber menschlicher
ungewöhnliche Aminosäure L-Alloisoleucin auf. Feten sind nur geringe Mengen nachweisbar.
Eine Diät, arm an (aber nicht frei von) Valin, Leucin und Durch molekularbiologische Analysen des Phenylalaninhy-
Isoleucin, sollte sofort eingeleitet werden. Sonst entwickeln sich droxylase-Gens von Patienten wurden bisher fast 500 verschie-
eine Acidose und schwere zentralnervöse Schädigungen, die mit dene Mutationen identifiziert. Ein Großteil der Patienten ist ge-
Atemnot und Cyanose verbunden sind und schon in den ersten mischt heterozygot, d. h. die beiden Allele der Phenylalaninhyd-
Lebenswochen zum Tode führen können. roxylase enthalten unterschiedliche Mutationen.
28.3 · Aminosäurestoffwechsel in Therapie und Diagnostik
355 28
Bei einzelnen Patienten erklären die beobachteten Genoty- MAO kommt in zwei Isoformen (MAO-A und MAO-B) mit
pen die individuelle Ausprägung der Krankheit. Bei einigen Be- etwas unterschiedlicher Substratspezifität vor. Inhibitoren der
troffenen lässt sich keine Enzymaktivität mehr nachweisen, bei Monoaminoxidase werden in selektive und nicht-selektive Wirk-
anderen wiederum findet man Restaktivitäten bis ca. 30 %. Es stoffe unterteilt. Selektive MAO-A-Inhibitoren haben eine vor-
wird vermutet, dass die Phenylketonurie unterschiedliche geo- wiegend antidepressive Wirkung. Gegen MAO-B gerichtete
graphische und ethnische Ursprünge hat, da die Mutationshäu- Wirkstoffe werden dagegen in erster Linie zur Behandlung der
figkeit in verschiedenen Ethnien stark variiert. Parkinson-Erkrankung eingesetzt. Nicht-selektive irreversible
MAO-Inhibitoren hemmen beide Isoenzyme.
Diagnose An Phenylketonurie erkrankte Säuglinge werden ohne Inhibitoren der MAO gelten als gut wirksam, sind jedoch
erkennbare Störungen geboren. Erst nach der Geburt und nach der nicht frei von unerwünschten Nebenwirkungen. So müssen z. B.
ersten Nahrungszufuhr steigt der Phenylalaninspiegel stark an. Patienten, die nicht-selektive irreversible MAO-Hemmer ein-
Da eine phenylalaninarme Diät die Entwicklung des nehmen, eine streng tyraminarme Diät einhalten. Das in Käse
Schwachsinns bei den Patienten verhindern kann, muss die Di- und Nüssen enthaltene Tyramin kann bei gleichzeitiger Einnah-
agnose sehr früh gestellt werden. Reihenuntersuchungen zur me der genannten Inhibitoren zu einem gefährlichen Blutdruck-
Erkennung der Phenylketonurie werden in der Regel zwischen anstieg führen.
dem 4. und 6. Lebenstag durchgeführt. Zum Nachweis erhöhter
Phenylalaninspiegel setzt man heute anstelle des klassischen mi- Zur Therapie von Harnstoffzyklusdefekten
krobiologischen Guthrie-Tests die Tandem-Massenspektrome- werden alternative Wege
trie ein. Dies hat den Vorteil, mit einer Messung ein ganzes Spek- der Stickstoffausscheidung genutzt
trum von Störungen des Aminosäure- und Fettstoffwechsels di- Therapie Zur Behandlung der akuten Phasen von Störungen der
agnostizieren zu können. Phenylalaninkonzentrationen über Harnstoffbildung gibt es mehrere Ansätze, die meist gleichzeitig
240 µmol/l (3,5 mg/dl) gelten als verdächtig und ziehen weitere verfolgt werden:
Untersuchungen nach sich. 4 rasche Erniedrigung des NH4+-Spiegels im Blut durch
Hämodialyse,
Therapie Eine phenylalaninarme, aber nicht phenylalaninfreie 4 Verabreichung einer möglichst stickstoffarmen, dafür aber
Diät (Phenylalanin ist eine essentielle Aminosäure) sollte min- fett- und kohlenhydratreichen Diät,
destens 10 Jahre eingehalten werden. Da der Phenylalaninanteil 4 Substitution fehlender Metabolite (v. a. in Form von
natürlicher Proteine mit 4–5 % relativ hoch ist, wird der Protein- Arginin) und
bedarf der Patienten durch Produkte gedeckt, denen das Phenyl- 4 Gabe von Substanzen, die zusätzliche Wege zur Stickstoff-
alanin weitgehend entzogen wurde. Diese Präparate sind im ausscheidung eröffnen (s. u.).
Handel zu beziehen. Die sonstige Nahrung sollte möglichst pro-
teinfrei sein. Mit einer solchen Kost gelingt es in den meisten Langfristig geht es darum, die neurologischen Folgen der Hyper-
Fällen, die Blutphenylalaninspiegel dauerhaft unter 500 µmol/l ammoniämie zu mildern.
(10 mg/dl) zu halten und damit die Folgen der Phenylketonurie Zur Substitution der fehlenden Metabolite verabreicht man
zu verhindern. in der Regel Arginin, das nicht nur Ornithin bilden, sondern
auch als Baustein für die Proteinbiosynthese dienen kann. Um
dem Organismus zusätzlichen Stickstoff zu entziehen, gibt man
28.3 Aminosäurestoffwechsel in Therapie außerdem Substanzen, die in der Leber mit Glycin oder Gluta-
und Diagnostik min konjugiert werden können. Beide Aminosäuren werden in
freier Form in der Niere rückresorbiert, als Konjugate jedoch
In der Nahrung lassen sich α-Aminosäuren über die Nieren eliminiert. Wirksame Konjugationspartner sind
durch α-Ketosäuren ersetzen Benzoesäure, die mit Glycin Hippursäure liefert und Phenyl-
Viele Ketosäuren können die entsprechenden Aminosäuren in acetat, das mit Glutamin zu Phenylacetylglutamin konjugiert
der Ernährung substituieren. Dieser therapeutische Ansatz wird wird (. Abb. 28.1). Diese Substanzen werden über Wochen in
bei Leberkoma und chronischem Nierenversagen erfolgreich an- relativ hohen Dosen von 300–500 mg/kg/d verabreicht. Gaben
gewendet. von Phenylbutyrat, das durch β-Oxidation zu Phenylacetat abge-
Da bei den Betroffenen die Entgiftung bzw. Ausscheidung baut wird, haben die gleiche Wirkung.
stickstoffhaltiger Metabolite gestört ist, muss die Aufnahme sol- Auch Defekte der N-Acetylglutamatsynthase können die Ur-
cher Substanzen vermieden oder stark eingeschränkt werden. sache von Hyperammoniämien sein. Hier können Gaben von
Carbamylglutamat helfen, welches wie N-Acetylglutamat die
Hemmstoffe der Monoaminoxidase werden CPS1 aktiviert, im Gegensatz zu diesem aber in den Hepatocyten
zur Behandlung neurologischer und psychischer nicht enzymatisch abgebaut wird.
Erkrankungen eingesetzt Eine Heilung von Defekten des Harnstoffzyklus ist zurzeit
Eine Hemmung der Monoaminoxidase (7 Kap. 26.3.2) führt zu nur durch eine Lebertransplantation (in Zukunft vielleicht auch
erhöhten Konzentrationen der betreffenden Neurotransmitter im durch Gentherapie) möglich.
Gehirn und hat deshalb einen günstigen Einfluss auf depressive
Zustände und andere Erkrankungen des Zentralnervensystems.
356 Kapitel 28 · Pathobiochemie des Aminosäurestoffwechsels

28

. Abb. 28.1 Konjugation von Glycin und Glutamin in der Leber. 1 Acyl-CoA-Synthetase; 2 Glycin-N-Acyltransferase; 3 Glutamin-N-Acyltransferase

Mikrobielle Asparaginasen werden


zur Behandlung von Leukämien eingesetzt Zusammenfassung
Zu den wenigen Enzymen, die einen festen Platz in der Therapie Wegen der zahlreichen Reaktionen im Aminosäurestoff-
von Tumorerkrankungen gefunden haben, gehören bakterielle wechsel sind angeborene Enzymdefekte in diesem Stoff-
Asparaginasen, die zusammen mit anderen Cytostatika seit über wechselsegment besonders häufig. Ausfälle von Enzymen
30 Jahren erfolgreich gegen die akute lymphatische Leukämie oder Transportern des Harnstoffzyklus äußern sich in der
(ALL) eingesetzt werden. Die Wirkung der Asparaginasen (heu- Regel in Hyperammoniämien mit neurotoxischer Wirkung.
te wird klinisch nur noch ein Enzym aus E. coli verwendet) be- Defekte im Abbauweg einzelner Aminosäuren führen zur
ruht auf der Tatsache, dass die für ALL verantwortlichen trans- Akkumulation einzelner Metabolite mit jeweils unterschied-
formierten Leukocytenvorläufer (Blasten) kaum Asparaginsyn- lichen Auswirkungen. Viele Enzyme aus dem Aminosäure-
thetaseaktivität enthalten und deshalb auf die Zufuhr von Aspa- stoffwechsel haben außerdem diagnostische Bedeutung
ragin angewiesen sind. Die Gabe von Asparaginase senkt die oder dienen als Zielmoleküle für Pharmaka.
Asparaginkonzentration im Blut so weit, dass die Proliferation
der Blasten massiv gehemmt wird. Ein schwerwiegender Nach-
teil der Asparaginasetherapie sind immunologische Reaktionen 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
gegen das bakterielle Protein, die allergische Reaktionen auslö-
sen und das verabreichte Enzym unwirksam machen können.

Enzyme des Glutamatstoffwechsels


in der klinischen Diagnostik
AST und ALT gehören zu den Enzymen, deren Übertritt ins Blut
diagnostische Hinweise auf Gewebeschädigungen liefern kann.
Zusammen mit der Glutamatdehydrogenase (GLDH) und der
γ-Glutamyltranspeptidase (γ-GT, 7 Kap. 27.2.4) sind beide
Aminotransferasen v. a. zur Erkennung und Differentialdiagno-
se von Lebererkrankungen nützlich. Zur weiteren Differenzie-
rung der Befunde kann man das Verhältnis der Serumaktivitäten
von AST und ALT (den de-Ritis-Quotienten) heranziehen. Bei
leichteren Leberzellschäden ist der Quotient in der Regel <1 weil
die vorwiegend cytosolisch lokalisierte hepatische ALT leichter
ins Blut übertritt als die hauptsächlich mitochondrial lokalisierte
AST-Aktivität. Bei schweren Leberschäden mit Zerfall der Mito-
chondrien und ganz besonders bei Myokardinfarkten und
schweren Muskeltraumen dominiert die AST, sodass der Quo-
tient auf Werte bis über 2 ansteigen kann.

Benzoat# Benzoyl-CoA# N-Benzoylglycin# Hippurat# Phenylacetat# Phenylacetyl-CoA# N-Phenylacetylglutamin#


357 29

29 Purinnucleotide –
Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
Monika Löffler

Einleitung

In 7 Kap. 29 werden Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau der


Purine und in 7 Kap. 30 die der Pyrimidine besprochen. Mit der Patho-
biochemie der genannten Nucleinsäurebasen beschäftigt sich 7 Kap.
31. Purine und Pyrimidine dienen in Form von ihren zugehörigen
Nucleinsäuren der Informationsspeicherung und -weitergabe in biologi-
schen Systemen. Sie sind universelle Energieträger und an Prozessen der
Signaltransduktion beteiligt. Außerdem haben sie als Bausteine von Co-
enzymen wie z. B. im NAD, FAD, CoA wichtige Aufgaben. Sie sind zur
. Abb. 29.1 Herkunft der Kohlenstoff- und Stickstoffatome im Purin-
Aktivierung von Zuckern für den Aufbau von Glycogen, Glykoproteinen gerüst. THF: Tetrahydrofolat
und Glykolipiden notwenig. Darüber hinaus sind sie in Form von akti-
viertem Cholin, Ethanolamin und Diacylgylcerin an der Bildung von
Phospholipiden und somit am Membranstoffwechsel beteiligt. Für die wird. Die Biosynthese erfolgt vielmehr von der ersten Reaktion
Biosynthese der Purin- und Pyrimidinbasen werden einfache Bausteine an in Form eines zunächst offenen, später ringförmigen Ribonu-
als Substrate verwendet. cleotids . Dazu ist zunächst die Biosynthese eines reaktionsfreu-
digen Derivats des Ribose-5-Phosphats notwendig.
Schwerpunkte
Biosynthese von 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat Um die re-
4 Die Purinsynthese beim Menschen mit Hilfe multifunktio-
aktionsfähige Verbindung 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat
neller Proteine
(PRPP) herzustellen, wird ein Zwischenprodukt des Hexosemo-
4 Adenosinmonophosphat (AMP) und Guanosinmonophos-
nophosphatweges (7 Kap. 14.1.2) – Ribose-5-Phosphat – pyro-
phat (GMP) Bildung aus dem Präkursor Inosinmonophos-
phosphoryliert (. Abb. 29.2). Diese Reaktion ist ungewöhnlich,
phat (IMP)
da eine aus dem β- und γ-Phosphat des ATP bestehende Pyro-
4 Der ungewöhnlich hohe Energieaufwand für die Purinneu-
phosphatgruppe in α-Stellung auf das C1-Atom des Ribose-
synthese
5-Phosphats übertragen wird. Die für diese Reaktion verantwort-
4 Wiederverwertung (salvage pathway) der aus dem Abbau
liche PRPP-Synthetase ist nicht ausschließlich für die Biosynthe-
von Nucleinsäuren entstandenen Purinbasen Adenin, Gua-
se von Purinnucleotiden spezifisch, sie wird auch bei der Biosyn-
nin und Hypoxanthin durch Phosphoribosyltransferasen
these von Pyrimidinnucleotiden benötigt (7 Kap. 30.1).
4 Die Oxidation von Purinbasen zu Harnsäure, dem Endpro-
dukt des Purinabbaus beim Menschen
Biosynthese von Inosinmonophosphat Durch schrittweise Anla-
gerung der einzelnen C- und N-Atome an das PRPP wird der
Purinring aufgebaut. In insgesamt 10 Reaktionsschritten entsteht
29.1 Biosynthese von Purinnucleotiden Inosinmonophosphat (IMP) (. Abb. 29.3).
4 Anlagerung des N-Atoms 9 des Puringerüsts. Der Stickstoff
Das Puringerüst wird aus Glutamin, Aspartat, entstammt der Amidogruppe des Glutamins und wird un-
Glycin sowie Formiat und HCO3– aufgebaut ter Abspaltung von Pyrophosphat und gleichzeitiger Inver-
Schon in den fünfziger Jahren konnte experimentell durch Ein- sion am C-Atom 1 der Ribose angelagert, sodass
satz isotopenmarkierter Verbindungen die Herkunft der einzel- 5-Phosphoribosyl-1β-Amin (PRA) entsteht 1 .
nen, am Aufbau des Puringerüstes beteiligten Kohlenstoff (C)- 4 Anlagerung der Atome 4, 5 und 7 des Puringerüsts. An
und Stickstoff (N)-Atome nachgewiesen werden (. Abb. 29.1). PRA wird in einer ATP-abhängigen Reaktion Glycin unter
Bildung einer Säureamidbindung zwischen seiner Carb-
Purine werden als Ribonucleotide synthetisiert oxylgruppe und der Aminogruppe des 5-Phosphoribosyl-
Der Mechanismus dieser Biosynthese wurde erst verständlich, amins angelagert, wobei Glycinamid-Ribonucleotid (GAR)
als gezeigt werden konnte, dass im Gegensatz zur Pyrimidinbio- entsteht 2 .
synthese (7 Kap. 30.1) nicht zuerst das Puringerüst synthetisiert 4 Anlagerung des C-Atoms 8 des Puringerüsts an die freie
und danach die N-glycosidische Bindung mit Ribose geknüpft Aminogruppe des GAR. Es wird als Formylrest durch N10-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
358 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

IMP ist der Startpunkt der Biosynthese


von AMP und GMP
Vom IMP startet die Biosynthese der beiden anderen Purinnu-
cleotide Adenosinmonophosphat (AMP, Adenylat) und Gua-
nosinmonophosphat (GMP, Guanylat) (. Abb. 29.4).

AMP-Biosynthese Zur AMP-Biosynthese ist der Ersatz des


Sauerstoffs am C-Atom 6 des IMP durch eine Aminogruppe not-
wendig. Dieser erfolgt in einer zweistufigen Reaktion, wobei
Aspartat wieder der Donor der Aminogruppe ist:
29 4 Aspartat wird in einer GTP-abhängigen Reaktion unter
Wasserabspaltung an das C-Atom 6 des IMP geheftet. Es
entsteht das Adenylosuccinat (Succinoadeninnucleotid).
4 Durch Abspaltung von Fumarat wird nun Adenosinmono-
phosphat (AMP) gebildet.
. Abb. 29.2 Pyrophosphorylierung von D-Ribose-5-Phosphat
GMP-Biosynthese Auch die Biosynthese des GMP erfolgt in ei-
ner zweistufigen Reaktion:
Formyltetrahydrofolat übertragen, wobei Formylglycin- 4 Zunächst wird IMP am C-Atom 2 oxidiert, wobei Xantho-
amid-Ribonucleotid (FGAR) entsteht 3 . sinmonophosphat (XMP, Xanthosylat) entsteht.
4 Anlagerung des N-Atoms 3 des Puringerüsts. In einer wei- 4 An dieses wird in einer ATP-abhängigen Reaktion unter
teren ATP-abhängigen Reaktion wird das C-Atom 4 amidi- Bildung von Guanosinmonophosphat eine Aminogruppe
ert. Der Stickstoff stammt wiederum vom Amidstickstoff geheftet. Der Stickstoff entstammt dem Amidstickstoff des
des Glutamins, das dabei in Glutamat übergeht. Es entsteht Glutamins.
Formylglycinamidin-Ribonucleotid (FGAM) 4 .
4 Bildung des Imidazolrings des Puringerüsts. Diese erfolgt Bildung von Purinnucleosiddi- und -triphosphaten Für die Über-
in einer wiederum ATP-abhängigen Reaktion durch Ring- führung von AMP und GMP in die entsprechenden Di- und
schluss zwischen dem C-Atom 8 und N-Atom 9. Es entsteht Triphosphate (NDP und NTP) steht eine Reihe von transphos-
5-Aminoimidazol-Ribonucleotid (AIR) 5 . phorylierenden Reaktionen zur Verfügung:
4 Anlagerung des C-Atoms 6 des Puringerüsts. An AIR wird 4 die Nucleosidmonophosphatkinase
in einer reversiblen Reaktion CO2 angelagert, womit auch NMP + ATP NDP + ADP
das C-Atom 6 des Purinkörpers gebildet ist und das 4-Carb- 4 die Nucleosiddiphosphatkinase
oxy-5-Aminoimidazol-Ribonucleotid (CAIR) entsteht. NDP + ATP NTP + ADP
Auffallenderweise erfolgt die Carboxylierung ohne Beteili- 4 die Adenylatkinase
gung von Biotin. Im Gegensatz zu Mikroorganismen benö- AMP + ATP 2 ADP
tigen Vertebraten dazu kein ATP 6 .
4 Anlagerung des N-Atoms 1 des Puringerüsts. Hierfür wer- Drei multifunktionelle Enzyme sind bei Vertebraten
den zwei Reaktionen benötigt. Zunächst wird in einer ATP- an der IMP-Biosynthese beteiligt
abhängigen Reaktion am C-Atom 6 Aspartat angelagert, so- Die oben geschilderten Reaktionssequenzen für die Biosynthese
dass 5-Aminoimidazol-4-N-Succinocarboxamid-Ribonuc- von Purinnucleotiden sind bei Pro- und Eukaryonten identisch. Bei
leotid (SAICAR) entsteht 7 . Prokaryonten sind inzwischen sämtliche Enzyme für die 10 benö-
4 Von dieser Verbindung wird Fumarat abgespalten, sodass tigten Reaktionen isoliert, charakterisiert und kristallisiert worden.
5-Aminoimidazol-4-Carboxamid-Ribonucleotid (AICAR) Mit Blick auf die Entwicklung spezifischer Hemmstoffe wurde die
entsteht. Diese Art der Übertragung einer Aminogruppe räumliche Struktur einiger Säugerenzyme ebenfalls aufgeklärt.
kommt auch bei verschiedenen Reaktionen des Aminosäu- Beim Menschen und anderen Vertebraten sind drei multifunktio-
restoffwechsels und beim Harnstoffzyklus (7 Kap. 27.2.2) nelle Enzyme an der Purinnucleotidbiosynthese beteiligt, deren
vor. Aspartat stellt gewissermaßen das Trägermolekül für Gene auf unterschiedlichen Chromosomen lokalisiert sind:
die Aminogruppe dar 8 . 4 Das GART-Gen (auf Chromosom 21) codiert für ein multi-
4 Anheftung des C-Atoms 2 des Puringerüsts. Das noch feh- funktionelles Protein mit den Aktivitäten für die GAR-
lende C-Atom 2 wird wieder als Formylrest durch N10-For- Synthetase, GAR-Transformylase und AIR-Synthetase
myltetrahydrofolat an das N-Atom in Position 3 des Purin- (Enzyme 2, 3, 5).
rings angelagert, sodass 5-Formamidoimidazol-4-Carboxa- 4 Das AIRC-Gen (auf Chromosom 4) codiert für ein multi-
mid-Ribonucleotid (FAICAR) entsteht 9 . funktionelles Protein mit einer AIR-Carboxylase- und
4 Durch einfache Wasserabspaltung zwischen dem C-Atom 2 SAICAR-Synthetaseaktivität (Enzyme 6–7).
und dem N-Atom 1 erfolgt ohne ATP der Schluss des zwei- 4 Das IMPS-Gen (auf Chromosom 2) codiert für ein multi-
ten Rings, wobei Inosinmonophosphat (IMP, Inosylat) ge- funktionelles Protein mit einer AICAR-Transformylase-
bildet wird 10 . und IMP-Cyclohydrolaseaktivität (Enzym 9–10).

D-Ribose-5-Phosphat# 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat (PRPP)#


29.1 · Biosynthese von Purinnucleotiden
359 29

. Abb. 29.3 Reaktionen der Purinbiosynthese bei Vertebraten (Einzelheiten s. Text). 1 Glutamin-PRPP-Amidotransferase; 2 GAR-Synthetase; 3 GAR-
Transformylase; 4 FGAM-Synthetase; 5 AIR-Synthetase; 6 AIR-Carboxylase; 7 SAICAR-Synthetase; 8 Adenylosuccinatlyase; 9 AICAR-Transformylase;
10 IMP-Cyclohydrolase. Es ist zu beachten, dass sich die Nummerierung des zunächst aufgebauten Imidazolrings von derjenigen im Purinring unterscheidet

PRPP (5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat) 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat (PRPP)# Pyrophosphat Glutamin Glutamat PRA (5-Phosphoribosyl-1β-Amin)


5-Phosphoribosyl-1β-Amin (PRA)# Glycin GAR (Glycinamid-Ribonucleotid) Glycinamid-Ribonucleotid (GAR)# N^10^^-Formyltetrahydrofolat Tetrahydrofolat
FGAR (Formylglycinamid-Ribonucleotid) Formylglycinamid-Ribonucleotid (FGAR)# FGAM (Formylglycinamidin-Ribonucleotid) Formylglycinamidin-Ribonucleotid
(FGAM)# Ribose-Phosphat AIR (5-Aminoimidazol-Ribonucleotid) 5-Aminoimidazol-Ribonucleotid (AIR)# CAIR (4-Carboxy-5-Aminoimidazol-Ribonucleotid)
4-Carboxy-5-Aminoimidazol-Ribonucleotid (CAIR)# Aspartat SAICAR (5-Aminoimidazol-4-N-Succinocarboxamid-Ribonucleotid) 5-Aminoimidazol-4-N-Succino-
carboxamid-Ribonucleotid (SAICAR)# Fumarat AICAR (5-Aminoimidazol-4-Carboxamid-Ribonucleotid) 5-Aminoimidazol-4-Carboxamid-Ribonucleotid (AICAR)#
FAICAR (5-Formamidoimidazol-4-Carboxamid-Ribonucleotid) 5-Formamidoimidazol-4-Carboxamid-Ribonucleotid (FAICAR)# IMP (Inosinmonophosphat) Inosin-
360 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

Fünf ATP werden für die Biosynthese


von IMP benötigt
Der Energieaufwand für die Purinbiosynthese ist sehr hoch. Wie
. Abb. 29.2 und 29.3 zu entnehmen ist, werden für die de novo-
Biosynthese von IMP insgesamt 5 mol ATP benötigt. Das für die
Bildung von PRPP (. Abb. 29.2) benutzte ATP wird zudem zu
AMP und Pyrophosphat (entsprechend 2 Pi) gespalten. Um zum
AMP zu kommen, wird ein GTP benötigt; die Biosynthese von
GMP aus IMP erfordert ein ATP, das jedoch wieder zu AMP und
Pyrophosphat (entsprechend 2 Pi) gespalten wird (. Abb. 29.4).
29 In der Summe werden also sieben energiereiche Bindungen für
die Biosynthese des AMP und acht für die des GMP benötigt.

Purindesoxynucleotide werden von der


Ribonucleotidreduktase gebildet
Die Desoxyribonucleotidsynthese wird in 7 Kap. 30.2 beschrie-
ben.

Zusammenfassung
Bei Eukaryonten liegen die für die Purinbiosynthese benö-
tigten Enzymaktivitäten überwiegend als Domänen multi-
funktioneller Proteine vor.
Die Biosynthese der Purinnucleotide ist sehr energieauf-
wändig.
Die Purinbiosynthese startet mit Ribose-5-Phosphat und
umfasst folgende Schritte:
4 Bildung von 5-Phosphoribosyl-1α-Pyrophosphat (PRPP).
4 Biosynthese von IMP in 10 Reaktionen durch schrittwei-
se Anheftung der C- bzw. N-Atome des Purinrings an
PRPP unter Beteiligung von Glycin, Aspartat, Glutamin,
HCO3–, N10-Formyl-THF.
. Abb. 29.4 Biosynthesen von AMP und GMP aus IMP. (Einzelheiten s. Text) 4 Biosynthese von AMP bzw. GMP aus der gemeinsamen
Vorstufe IMP.

Lediglich der erste Schritt der Biosynthesekette, die Glutamin-


PRPP-Amidotransferase (Gen auf Chromosom 4) sowie die
FGAM-Synthetase (Gen auf Chromosom 17) und die Adenylo- 29.2 Regulation der Biosynthese
succinatsynthetase (Gen auf Chromosom 1) stellen monofunk- von Purinnucleotiden
tionelle Proteine dar. Die Adenylosuccinatlyase (Gen auf Chro-
mosom 22) katalysiert jedoch außer der Reaktion 8 der IMP- Die Purinbiosynthese wird allosterisch reguliert
Biosynthese auch die Umwandlung von Adenylosuccinat zu Regulation der IMP-Biosynthese Das geschwindigkeitsbestimmen-
AMP, ist also für zwei Reaktionen verantwortlich. de Enzym der IMP-Biosynthese ist die PRPP-Amidotransferase
Die Enzyme der Purinbiosynthese sind damit ein weiteres (7 Kap. 29.1), welche die glutaminabhängige Bildung von 5-Phos-
eindrucksvolles Beispiel für die in höheren Eukaryonten zu fin- phoribosylamin katalysiert. Das Enzym unterliegt der Regulation
dende Tendenz, die Enzyme für längere Biosynthesewege als durch allosterische Aktivatoren und Inhibitoren (. Abb. 29.5):
multifunktionelle Proteine zusammenzufassen und damit unter 4 PRPP, der Akzeptor der vom Glutamin abgespaltenen
die Kontrolle nur eines oder weniger Promotoren zu stellen Amidgruppe, erniedrigt den KM-Wert des Enzyms für Glut-
(7 Kap. 30.1). Außerdem ermöglichen multifunktionelle Enzyme amin und führt so zu einer beträchtlichen Aktivierung.
die allosterische Regulation der einzelnen Domänen und halten 4 Alle Purinnucleotide als Endprodukte der Biosynthesekette
die beteiligten Aktivitäten in genau gleichen stöchiometrischen sind allosterische Inhibitoren der PRPP-Amidotransferase.
Verhältnissen zueinander. Sie bieten zudem instabilen Substra-
ten/Zwischenprodukten einen Schutz vor Zerfall oder Abbau. Dieser komplexe Mechanismus gewährleistet eine sehr genaue
Anpassung der de novo-Biosynthese von Purinen an die Bedürf-
nisse des Organismus, ist aber auch zugleich die pathobiochemi-
sche Grundlage einiger schwerer Störungen des Purinstoffwech-
sels (7 Kap. 31.2).

IMP# Adenylosuccinat-Synthetase IMP-Dehydrogenase Adenylosuccinat# Xanthosin-5'-Monophosphat# Adenylosuccinat-


Lyase GMP-Synthetase Adenosin-5'-Monophosphat (AMP)# Guanosin-5'-Monophosphat (GMP)#
29.3 · Wiederverwertung von Purinen
361 29

. Abb. 29.6 Wiederverwertung von Adenin, Hypoxanthin und Guanin.


1 Adenin-Phosphoribosyltransferase (APRT); 2 Hypoxanthin-Guanin-
Phosphoribosyltransferase (HGPRT)

29.3 Wiederverwertung von Purinen

Purin- und Pyrimidinbasen bzw. die entsprechenden Nucleoside


fallen beim intrazellulären Abbau von Nucleinsäuren an, außer-
dem werden sie bei der intestinalen Resorption von Nahrungs-
stoffen in den Organismus aufgenommen. Wiederverwertungsre-
aktionen gewährleisten, dass diese unter hohem Energieaufwand
synthetisierten Purine dem Organismus nicht verloren gehen.
. Abb. 29.5 Regulation der Purinbiosynthese. PRPP: 5-Phosphoribosyl-
1-Pyrophosphat. (Einzelheiten s. Text) Durch den salvage pathway werden Purinbasen
in die entsprechenden Mononucleotide
umgewandelt
Regulation der Biosynthese von Adenin- und Guaninnucleotiden Für die Wiederverwertung (Reutilisierung; salvage pathway) der
Auch die Umwandlung von IMP zu AMP bzw. GMP wird regu- Purinbasen Adenin, Hypoxanthin und Guanin stehen zwei En-
liert (. Abb. 29.5): zyme zur Verfügung (. Abb. 29.6).
4 Die IMP-Dehydrogenase wird durch GMP gehemmt, die Durch die Adenin-Phosphoribosyltransferase (APRT 1 )
Adenylosuccinatsynthetase durch AMP. wird Adenin in einer PRPP-abhängigen Reaktion zu Adenosin-
4 Hohe Konzentrationen von GTP fördern die AMP-Bildung, monophosphat umgewandelt. Das Enzym wird durch Adenin-
hohe Konzentrationen von ATP die GMP-Bildung. nucleotide (insbesondere AMP) gehemmt.
Die Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase
Hemmstoffe der Purinsynthese werden in 7 Kap. 31.1 bespro- (HGPRT 2 ) ist für die Wiederverwertung von Hypoxanthin und
chen. Guanin verantwortlich. Wieder ist PRPP der Donor des Phos-
phoribosylrestes. Das Enzym wird durch seine Endprodukte
IMP und GMP gehemmt.
Zusammenfassung In Anbetracht der biologischen Bedeutung der Purinnucleo-
Die Purinnucleotidbiosynthese wird durch allosterische tide muss gewährleistet sein, dass der Zelle unter allen Umstän-
Mechanismen reguliert: den ausreichende Mengen der einzelnen Vertreter dieser Subs-
4 Das Schlüsselenzym für die Purinbiosynthese ist die tanzklasse zur Verfügung stehen. Dafür steht ein aus zahlreichen
Glutamin-PRPP-Amidotransferase. Sie wird durch PRPP Enzymen bestehendes System bereit, mit dessen Hilfe es gelingt,
aktiviert und durch Adenin- bzw. Guaninnucleotide inhi- Purine, Purinnucleoside und Purinnucleotide ineinander zu
biert. überführen. Da auf diese Weise eine gewisse Unabhängigkeit der
4 Die IMP-Dehydrogenase wird durch GMP gehemmt. Purinnucleotidneubildung von der Biosynthesegeschwindigkeit
4 Die Adenylosuccinatsynthetase wird durch AMP aus den Grundbausteinen gewährleistet wird, ist die biologische
gehemmt Bedeutung dieses »enzymatischen Netzwerkes« beträchtlich.
4 Die AMP-Bildung wird durch GTP, die GMP-Bildung
durch ATP gefördert. Der Purinnucleotidzyklus liefert Fumarat
für den Skelettmuskel
Die einzelnen Schritte des sog. Purinnucleotidzyklus sind in
. Abb. 29.7 dargestellt:

PRPP-Synthetase PRPP-Amidotransferase Adenylosuccinat-Synthetase IMP-Dehydrogenase


362 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

Die Wiederverwertung von Purindesoxynucleosiden wird


durch besondere Enzyme gewährleistet. Im Cytosol phosphory-
liert die Desoxycytidinkinase nicht nur Desoxycytidin (7 Kap.
30.4.1) sondern auch Desoxyguanosin und Desoxyadenosin. In
Mitochondrien werden beide Desoxypurinnucleoside von der
Desoxyguanosinkinase phosphoryliert. Die Rolle der Nucleo-
sidtransporter wird in 7 Kap. 31.1.1 betrachtet.

Zusammenfassung

29 Purine, die beim Abbau der Nucleinsäuren entstehen bzw.


bei der intestinalen Resorption aufgenommen werden,
. Abb. 29.7 Der Purinnucleotidzyklus. Der Purinnucleotidzyklus wird können wieder verwertet werden:
durch die Enzyme AMP-Desaminase, Adenylosuccinatsynthetase und Ade-
4 Für die Wiederverwertung von Purinbasen sind die
nylosuccinatlyase gebildet und hängt mit einer Reihe anderer Enzyme des
Purinstoffwechsels zusammen. (Einzelheiten s. Text) Adenin-Phosphoribosyltransferase und die Hypoxan-
thin-Guanin-Phosphoribosyltransferase verantwortlich.
4 Die cytosolische Desoxycytidinkinase sowie die mito-
4 Die zyklusstartetende AMP-Desaminase überführt AMP chondriale Desoxyguanosinkinase sind an der Wieder-
unter NH3-Abspaltung in IMP. Dadurch wird der Abbau verwertung von Purindesoxynucleosiden beteiligt.
von AMP zu Adenosin verhindert. 4 Für die Wiederverwertung sind auch Nucleosidtrans-
4 IMP wird, wie schon bei der Biosynthese der Adeninnucle- porter von Bedeutung.
otide beschrieben, unter Aufnahme von Aspartat mit Hilfe
der Adenylosuccinatsynthetase in Adenylosuccinat umge-
wandelt.
4 Adenylosuccinat wird durch die Adenylosuccinatlyase 29.4 Abbau von Purinnucleotiden
wieder in AMP überführt und dabei das C-Skelett des As-
partats als Fumarat freigesetzt. Purinnucleotide werden zu Basen abgebaut und
anschließend unter Bildung von Harnsäure oxidiert
Die biologische Bedeutung des Purinnucleotidzyklus wird im We- Der Abbau der Purinnucleotide läuft nach einer anderen Reak-
sentlichen der Umwandlung von Aspartat in Fumarat zuerkannt. tionssequenz als ihre Biosynthese ab (. Abb. 29.8).
Hierdurch kann der Citratzyklus im Sinne einer anaplerotischen 4 Die Purinmononucleotide werden zunächst durch spezifi-
(d. h. auffüllenden) Reaktion (7 Kap. 18.1) mit Substrat beschickt sche Purin-5’-Nucleotidasen 1 die sowohl cytoplasma-
werden. Eine direkte Überführung des Aspartats zu Oxalacetat – tisch als auch membrangebunden als Ectoenzyme vor-
in Analogie zur Glutamatdehydrogenase katalysierten oxidativen kommen, in die entsprechenden Nucleoside überführt.
Desaminierung (7 Kap. 27.2.1) – scheint aufgrund des Fehlens von 4 Adenosin wird durch die Adenosindesaminase 2 in Ino-
Aspartatdehydrogenase im Menschen nicht möglich zu sein. Die sin überführt.
schon in den späten 20er Jahren gemachte Beobachtung, dass ge- 4 Die Purinnucleoside Inosin, Xanthosin und Guanosin wer-
steigerte Muskelarbeit mit einer gesteigerten NH3-Produktion im den mit anorganischem Phosphat unter Katalyse entspre-
Muskelgewebe einhergeht, wird durch die Existenz des Purinnu- chender Nucleosidphosphorylasen 3 gespalten. Dadurch
cleotidzyklus erklärt. Da der Zyklus die AMP-Konzentration nied- werden die Purinbasen Hypoxanthin aus Inosin, Xanthin
rig hält, wird zudem das bei starker Muskelkontraktion anfallende aus Xanthosin und Guanin aus Guanosin gebildet, außer-
AMP nur in geringem Umfang zu Adenosin abgebaut. Dass dieser dem entsteht Ribose-1-Phosphat.
Zyklus für den Muskelstoffwechsel von großer Bedeutung ist, geht 4 Unter Abspaltung von NH3 wird Guanin durch die
aus den gelegentlich zu beobachtenden schweren Störungen der Guanase 4 in Xanthin überführt.
Muskelfunktion bei einem Mangel an AMP-Desaminase oder 4 Die Xanthindehydrogenase/Oxidase 5 wandelt Hypoxan-
Adenylosuccinatlyase hervor (7 Tab. 31.1). thin in Xanthin und dieses in Harnsäure um. Das komplex
aufgebaute Enzym liegt als Homodimer vor. Jede Unterein-
Die Wiederverwertung von Purinen ist für heit enthält als Cofaktor Molybdän, Eisen-Schwefel-Zent-
manche Gewebe von besonderer Bedeutung ren und FAD. Es kommt in zwei Formen vor: Xanthindehy-
Im Prinzip sind alle kernhaltigen Zellen zur de novo-Biosynthese drogenase und Xanthinoxidase.
von Purinnucleotiden und Pyrimidinnucleotiden (7 Kap. 30.1) im-
stande, allerdings in ganz unterschiedlichem Umfang. Eine beson- Unter physiologischen Bedingungen liegt das Enzym als Xan-
ders schlechte Enzymausstattung zur Purinbiosynthese hat z. B. das thindehydrogenase vor. Es katalysiert die Reaktionen
Zentralnervensystem. Hier findet sich jedoch die höchste Aktivität
der Hypoxanthin-Guanin- und der Adenin-Phosphoribosyltrans- Hypoxanthin + NAD+ + H2O Xanthin + NADH + H+
ferase. Möglicherweise ist dies die Ursache für die ausgeprägte ce-
rebrale Symptomatik beim Lesch-Nyhan-Syndrom (7 Kap. 31.2). Xanthin + NAD+ + H2O Harnsäure + NADH + H+

Adenylosuccinat-Synthetase Adenylosuccinat-Lyase AMP-Desaminase


29.4 · Abbau von Purinnucleotiden
363 29

. Abb. 29.8 Reaktionen des Purinabbaus. 1 Purin-5’-Nucleotidase; 2 Adenosindesaminase; 3 Purinnucleosidphosphorylase; 4 Guanase; 5 Xanthin-
dehydrogenase/Oxidase. (Einzelheiten s. Text)

Interessanterweise kann die Xanthindehydrogenase in eine O2- löslichen Produkten abbauen. Die meisten Säuger exprimieren
abhängige Xanthinoxidase umgewandelt werden. Sie katalysiert das Enzym Uricase, welches die Harnsäure zu dem wesentlich
dann die gleichen Reaktionen, verwendet allerdings O2 als Oxi- besser löslichen Allantoin spaltet. Fische sind in der Lage,
dationsmittel, wobei das Superoxidradikal O2t‒ entsteht. Dieses Allantoin nach Ringspaltung zu Allantoinsäure in Harnstoff
wird durch die Superoxiddismutase in H2O2 umgewandelt und Glyoxylsäure umzuwandeln, und marine Invertebraten
(7 Kap. 20). Die Umwandlung der Xanthindehydrogenase in eine spalten schließlich Harnstoff mit Hilfe der Urease zu Ammo-
Xanthinoxidase kann entweder reversibel durch Oxidation von niak und CO2.
Cysteinylresten des Enzymproteins oder irreversibel durch limi- Im Gegensatz zur Oxidation von Kohlenhydraten, Fetten
tierte Proteolyse erfolgen. Es gibt einige Hinweise dafür, dass die oder Aminosäuren kann der Purinabbau von der Zelle nicht zur
Xanthinoxidase eine Rolle bei der Entstehung reaktiver Sauer- Energiegewinnung herangezogen werden, da weder eine Subs-
stoffspezies (7 Kap. 20) spielt. tratkettenphosphorylierung noch die Produktion von Reduk-
tionsäquivalenten zur Energiegewinnung in der Atmungskette
Harnsäure ist bei Primaten, Vögeln und einigen möglich sind.
Reptilien das Endprodukt des Purinabbaus
Harnsäure kann von Primaten und damit auch dem Menschen, Die Nieren sind das Hauptorgan der
außerdem von Vögeln und einigen Reptilien nicht weiter meta- Harnsäureausscheidung
bolisiert werden und ist deswegen das Endprodukt des Purin- In zwei Organen wird die Hauptmenge der im Organismus ent-
abbaus. Harnsäure ist ein Enol und kann in die Ketoform tauto- stehenden Harnsäure gebildet:
merisieren (. Abb. 29.8). Ihr Säurecharakter erklärt sich aus 4 In der Leber wird der größte Teil der im Stoffwechsel
dem pKs-Wert von 5,4 der OH-Gruppe am C-Atom 8. Nach entstehenden und abzubauenden Purine im Cytosol und
Dissoziation können Salze (z. B. Natrium-Urat) gebildet wer- in den Peroxisomen der Hepatocyten zu Harnsäure um-
den. Andere Lebewesen können Harnsäure zu besser wasser- gewandelt.

Adenosin# Inosin# Xanthosin# Guanosin# Hypoxanthin# Xanthin# Guanin# Harnsäure# Ketoform (Lactam)# Harnsäure# Enolform
(Lactim)# Harnsäure# dissoziiert# Purine# Abbau# Purinnucleotide# Abbau#
364 Kapitel 29 · Purinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

Das URAT1-Protein ist mit 12 Transmembranhelices in der


apikalen (luminalen) Membran der Tubulusepithelien verankert.
Auf der cytosolischen Seite sind Sequenzmotive vorhanden, die
eine Phosphorylierung durch die Proteinkinasen A und C er-
möglichen. Somit ist eine Regulation des URAT1 über Phospho-
rylierung/Dephosphorylierung vorstellbar.

Zusammenfassung
Der Abbau von Purinnucleotiden führt über eine Reihe von
29 Reaktionen zur Harnsäure, die bei Primaten, Vögeln und
einigen Reptilien das Endprodukt des Purinabbaus ist:
4 Durch Nucleotidasen werden Nucleotide in die entspre-
chenden Nucleoside überführt. Aus diesen entstehen
durch die Nucleosidphosphorylasen die Basen Hypo-
. Abb. 29.9 Tubuläre Reabsorption von Harnsäure. Glomerulär filtrierte
xanthin, Xanthin und Guanin.
Harnsäure wird mit Hilfe des Anionenantiporters URAT1 in den renalen
ubuli reabsorbiert. SLC5A8: Na+-abhängiger Anionentransporter. (Einzel- 4 Die Xanthindehydrogenase/Oxidase wandelt die Basen
heiten s. Text) in einer NAD+/sauerstoffabhängigen Reaktion in Harn-
säure um.

4 Im Darm wird bereits ein Großteil der in der Nahrung


enthaltenen Purine zu Harnsäure abgebaut, die anschlie- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
ßend über die Pfortader zur Leber gelangt.

Die Gesamtmenge der durch intrazellulären Purinabbau ent-


standenen und an das Blut abgegebenen Harnsäure beträgt beim
Menschen etwa 4–6 mmol/Tag entsprechend etwa 0,65–1 g/Tag.
Von dieser Menge wird der größte Teil (gut zwei Drittel) mit dem
Urin ausgeschieden (ca. 0,4–0,7 g/24 h). Bis zu einem Drittel
kann über den Gastrointestinaltrakt ausgeschieden werden. Die
kalkulierte Geschwindigkeit der Purinbiosynthese (s. auch Pyri-
midine 7 Kap. 30.4) entspricht somit ziemlich genau der tägli-
chen Harnsäureausscheidung.

Beim Menschen wird die renale Harnsäureaus-


scheidung durch das Verhältnis von glomerulärer
Filtration und tubulärer Reabsorption bestimmt
Die von der Leber an das Blut abgegebene Harnsäure wird zu-
nächst glomerulär filtriert. Anschließend erfolgt jedoch eine tu-
buläre Reabsorption der Harnsäure, sodass schließlich weniger
als 10 % der filtrierten Menge ausgeschieden werden.
Für die Reabsorption der Harnsäure ist ein spezifisches
Anionenaustauschprotein verantwortlich, das URAT1-Protein
(SLC22A12). Dieses reabsorbiert luminale Harnsäure im Aus-
tausch gegen eine Reihe verschiedener organischer Anionen,
z. B. Lactat, Butyrat oder Acetacetat. Die Letzteren werden durch
sekundär aktiven, Na+-abhängigen Transport wieder in die Tu-
bulusepithelien aufgenommen (SLC5A8) (. Abb. 29.9). Durch
Rückresorption der Harnsäure wird verhindert, dass diese wäh-
rend der Urinankonzentrierung im Tubuluslumen ausfällt. Es ist
noch nicht geklärt, über welchen der in der Literatur beschriebe-
nen Transporter die Harnsäure auf der basolateralen Seite die
Tubulusepithelien verlässt. Ebenfalls ist nicht gesichert, ob die
bei manchen Säugern nachgewiesene zusätzlich wiederholte tu-
buläre Sekretion und Reabsorption von Harnsäure für den Men-
schen von Bedeutung ist.
365 30

30 Pyrimidinnucleotide –
Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau
Monika Löffler

Einleitung die anderen Nucleotide der Pyrimidinreihe zur Verfügung


stellt.
In 7 Kap. 29 wurden Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau der
Purine besprochen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Pyri- Aus UMP entstehen die weiteren Pyrimidinnucleotide
midinen. Mit der Pathobiochemie von Pyrimidinen und Purinen befasst . Abb. 30.2 gibt einen Überblick über die Biosynthese der weite-
sich 7 Kap. 31. ren Pyrimidinnucleotide aus UMP. Dieses kann in zwei ATP-
abhängigen Reaktionen zu Uridindiphosphat (UDP) und Uri-
Schwerpunkte dintriphosphat (UTP) mit Hilfe spezifischer Kinasen phos-
phoryliert werden. Durch die CTP-Synthetase wird die Amido-
4 Synthese des Pyrimidinrings aus Aspartat und Carbamyl-
gruppe von Glutamin auf das C-Atom in Position 4 des UTP
phosphat, im Unterschied dazu Beginn der Neusynthese des
übertragen, wobei Cytidintriphosphat (CTP) entsteht. Über die
Puringerüsts mit der aktivierten Ribose PRPP
Biosynthese von Thyminnucleotiden s. 7 Kap. 30.2.
4 Pyrimidinbiosynthese durch multifunktionelle Enzyme
4 Reduktion der 2’ OH-Gruppe in Ribonucleosiddiphosphaten
Auch für die Pyrimidinbiosynthese werden
zu 2’-Desoxyribonucleosiddiphosphaten durch die Ribo-
multifunktionelle Enzyme verwendet
nucleotidreduktase
Im Gegensatz zu Prokaryonten und niederen Eukaryonten wer-
4 Komplexe allosterische Regulation von Pyrimidinbio-
den bei Vertebraten für die sechs Reaktionen der Pyrimidinbio-
synthese und Ribonucleotidreduktase
synthese lediglich drei Enzymproteine benötigt, von denen zwei
4 Effektive Wiederverwertungsmechanismen für Pyrimidine
multifunktionelle Proteine sind:
auf der Ebene der Nucleoside
4 Das vom sog. CAD-Gen (auf Chromosom 2) codierte
trifunktionelle CAD-Enzym ist im Cytosol lokalisiert und
enthält in seinen drei Domänen eine Carbamylphos-
30.1 Biosynthese von Pyrimidinnucleotiden phatsynthetase-, eine Aspartattranscarbamylase- und eine
Dihydroorotaseaktivität. Von besonderem Interesse ist die
Aspartat und Carbamylphosphat liefern die Kohlen- Carbamylphosphatsynthetase-Aktivität, die auch als Carba-
stoff- und Stickstoffatome des Pyrimidinrings mylphosphatsynthetase 2 bezeichnet wird. Im Gegensatz
Das Pyrimidingerüst wird aus Aspartat und Carbamylphosphat zu der Carbamylphosphatsynthetase 1 des Harnstoffzyklus
aufgebaut (. Abb. 30.1): ist bei ihr der Donor für die NH2-Gruppe des Carbamyl-
Die Synthese beginnt mit Carbamylphosphat, welches aus phosphats nicht Ammoniak, sondern die Amidgruppe der
Glutamin, Bicarbonat und zwei ATP mit Hilfe der Carbamyl- Aminosäure Glutamin, sodass die Carbamylphosphatsyn-
phosphatsynthetase 2 gebildet wird. thetase 2 eine Glutaminase als zusätzliche Domäne ent-
4 Durch Kondensation von Aspartat mit Carbamylphosphat hält. Die von diesem Enzym katalysierte Reaktion lautet:
entsteht Carbamylaspartat (Ureidosuccinat), das damit
bereits die Atome 1–6 des Pyrimidinrings enthält. Glutamin + HCO3‒ + 2 ATP + H2O Carbamylphosphat +
4 Durch Wasserabspaltung zwischen der endständigen Glutamat + 2 ADP + Pi
Carboxylgruppe und der NH2-Gruppe des Carbamylaspar-
tats wird Dihydroorotat gebildet. Damit ist das Grundge- 4 Die Dihydroorotatdehydrogenase (Gen auf Chromo-
rüst der Pyrimidine synthetisiert. som 16) ist ein aus einer Peptidkette bestehendes Flavin-
4 Durch die Dihydroorotatdehydrogenase der inneren Mito- enzym (FMN). Es ist in der inneren Mitochondrienmem-
chondrienmembran entsteht Orotat. bran lokalisiert und benutzt unmittelbar das Ubichinon (Q)
4 Orotat reagiert mit PRPP zum Orotidin-5’-Monophosphat der Atmungskette als Elektronenakzeptor.
(OMP). Im Gegensatz zur Purinbiosynthese, die von 4 Für die letzten beiden Teilreaktionen wird ein von einem
Anfang an in Form des entsprechenden Nucleotids erfolgt Gen auf Chromosom 3 codiertes bifunktionelles Enzym
(7 Abb. 29.3), kommt es bei der Pyrimidinbiosynthese erst verwendet, das als UMP-Synthase bezeichnet wird. Es ver-
relativ spät zur Anlagerung eines Ribosephosphats. fügt über eine Orotat-Phosphoribosyltransferase sowie
4 Durch Decarboxylierung von OMP wird Uridinmonophos- eine OMP-Decarboxylase-Domäne und ist wiederum im
phat (UMP, Uridylat) gebildet, das den Grundbaustein für Cytosol lokalisiert (. Abb. 30.1).

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
366 Kapitel 30 · Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

30

. Abb. 30.1 Reaktionen der Pyrimidinbiosynthese. OM: äußere Mitochondrienmembran; IM: innere Mitochondrienmembran; Q: Ubichinon;
QH2: Ubihydrochinon. (Einzelheiten s. Text)

30.2 Biosynthese von Desoxyribonucleotiden

Die Ribonucleotidreduktase katalysiert die


Reduktion der Ribose von Ribonucleotiddiphos-
phaten zu Desoxyribose
Die Existenz zweier verschiedener Zucker in den Nucleotiden,
die zum Aufbau von RNA und DNA dienen, ist von grundsätzli-
cher Bedeutung (7 Kap. 3.4.1). RNA-Stränge sind – bedingt
durch die Reaktivität der den Phosphorsäurediesterbindungen
benachbarten 2ʹ-OH-Gruppen der Ribose – hydrolyseempfind-
lich. Durch Verwendung der Desoxyribose an Stelle der Ribose
konnte die viel stabilere DNA als genetisches Material entstehen.
Da allerdings 2-Desoxyribose in freier Form ein wenig stabiler
Zucker ist und im Stoffwechsel nicht vorkommt, ist die enzyma-
tische Umwandlung von Ribonucleotiden zu entsprechenden
Desoxyribonucleotiden ein essentieller Biosyntheseschritt für
alle Lebewesen.
Die irreversible Reaktion wird durch Ribonucleotidredukta-
sen katalysiert. Reduktionsmittel sind kleine Redoxproteine mit
Dicysteinzentren wie Glutaredoxin (Grx) oder alternativ
Thioredoxin (Trx), die ihrerseits aus der oxidierten (= Disulfid)
Form durch NADPH-abhängige Reduktasen (insbesondere Glu-
tathionreduktase) regeneriert werden (. Abb. 30.3):
. Abb. 30.2 Biosynthese von Uridindiphosphat, Uridintriphosphat und
Cytidintriphosphat (Einzelheiten s. Text)
Pyrimidinbiosynthese CAD-Enzym Carbamylophosphat-Synthetase 2 Aspartat-Transcarbamylase Dihydroorotase UMP-Synthase Orotidin-5’-Phosphat-Decarboxylase
Orotat-Phosphoribosyl-Transferase Carbamylphosphat# UMP# N-Carbamylaspartat# OMP# Dihydroorotat# Orotat#
30.2 · Biosynthese von Desoxyribonucleotiden
367 30
Ribonucleosiddiphosphat + Grx(SH)2 Die durch die Ribonucleotidreduktase gebildeten Desoxyri-
2ʹ-Desoxyribonucleosiddiphosphat + Grx-S2 + H2O bonucleosiddiphosphate werden mit Hilfe von ATP durch ent-
sprechende Nucleosiddiphosphatkinasen in die Desoxyribonuc-
Ungeachtet dieser einfachen Summengleichung handelt es sich leosidtriphosphate umgewandelt:
um eine komplizierte Reaktion, da die Reduktion (Abtrennung
der OH-Gruppe aus einem Zuckermolekül und Ersatz durch H) dNDP + ATP dNTP + ADP
unter physiologischen Bedingungen nur mit radikalischen Zwi-
schenstufen, d. h. Übertragung einzelner Elektronen anstelle von
Elektronenpaaren, möglich ist. Thyminnucleotide entstehen durch Methylierung
von Desoxyuridinmonophosphat
Reaktionsmechanismus der Ribonucleotidreduktasen Die Ribo- Bezeichnend für den Unterschied zwischen DNA und RNA ist
nucleotidreduktasen eukaryontischer Zellen einschließlich des nicht nur, dass die DNA 2ʹ-Desoxyribose enthält, sondern auch
Menschen bestehen aus zwei sehr unterschiedlichen, jeweils di- die Base Thymin (5-Methyluracil) anstelle des in der RNA vor-
meren Proteinuntereinheiten R1 und R2. Die R1-Untereinheiten kommenden Uracils (7 Kap. 3.4 bzw. 10.1).
besitzen Bindungsstellen für die vier Ribonucleosiddiphosphat- Das für die Biosynthese der Thyminnucleotide verantwort-
Substrate und für andere Nucleotide als allosterische Effektoren liche Enzym ist die Thymidylatsynthase, die folgende Reaktion
(s. u.) sowie drei essentielle Cysteinreste mit Thiolgruppen katalysiert:
(–SH). Die R2-Untereinheiten enthalten proteingebundene Ei-
senzentren vom Typ »Fe-O-Fe« und ein langlebiges Tyrosylra- dUMP + N5, N10– Methylentetrahydrofolat
dikal Tyr-Ot. Dieses wird am Phenolring eines Tyrosinrestes im dTMP + Dihydrofolat
Protein oxidativ durch Sauerstoff und das Eisenzentrum erzeugt
und stabilisiert. In einer für Enzymmechanismen sehr unge- . Abb. 30.4 zeigt die bei der Thymidylatsynthese ablaufenden
wöhnlichen, sich über beide Untereinheiten erstreckenden Radi- Teilreaktionen:
kalkettenreaktion laufen mehrere schnelle Ein-Elektronenüber- 4 Der Donor der Methylgruppe ist das N5, N10-Methylentetra-
tragungen ab. Der Ablauf an der R1-Untereinheit ist im Folgen- hydrofolat (N5, N10-THF). Da dieses jedoch eine höhere
den beschrieben (. Abb. 30.3): Oxidationsstufe aufweist als eine Methylgruppe, liefert das
4 Das Tyrosylradikal (Tyr-Ot) in R2 (wird nicht gezeigt) reduzierte Pteridingerüst des N5, N10-Methylentetrahydro-
abstrahiert das Wasserstoffatom eines einzelnen Cystein- folats auch noch Wasserstoff und Elektronen, sodass es nach
restes in R1 und erzeugt dort ein kurzlebiges Thiylradikal– der Thymidylatbildung als Dihydrofolat (DHF) vorliegt.
S t 1 . 4 Durch die als Hilfsenzym wirkende Dihydrofolatreduktase
4 Dieses abstrahiert das Wasserstoffatom in Position 3ʹ eines wird DHF mit Hilfe von NADPH/H+ in Tetrahydrofolat
Ribonucleotidsubstrats 2 und wird zum Thiol 3 , das (THF) umgewandelt.
Nucleotid zu einem kurzlebigen Substratradikal 4 . 4 THF kann unter Katalyse der Serin-Hydroxymethyltrans-
4 Nach Protonierung 5 tritt an der benachbarten 2ʹ-Position ferase einen –CH2OH-Rest des Serins aufnehmen und liegt
des Substrats 4 die OH-Gruppe als Wasser aus, und es ent- nach Wasserabspaltung wieder als N5, N10-Methylentetra-
steht ein positiv geladenes Radikal 6 . Dieses Radikal ist hydrofolat vor (7 Kap. 27.2.6).
mesomeriestabilisiert (die mesomeren Grenzstrukturen
sind in . Abb. 30.3 nicht dargestellt). Damit ist die Geschwindigkeit der Thyminnucleotidbiosynthese
4 Vom reduzierten Dicysteinzentrum in R1 gehen über eine eng mit dem Stoffwechsel der Folsäure verknüpft. Bei jeder Ver-
radikalische Zwischenstufe insgesamt ein Wasserstoffatom minderung des Folsäureangebotes bzw. der zur Verfügung ste-
und ein Elektron als Reduktionsmittel stereospezifisch auf henden Folsäure muss es zu einer Störung der Thyminnucleotid-
Position C2ʹ des Substratradikals 6 über, und es entsteht biosynthese und damit v. a. der DNA-Replikation kommen.
ein Produktradikal 7 . Die Cysteine sind nun zum Disulfid
oxidiert und müssen durch reduziertes Glutaredoxin (Grx)
regeneriert werden. Zusammenfassung
4 Das einzelne Cystein auf R1 8 überträgt sein H (grün) radi- Bei Eukaryonten liegen die für die Pyrimidinbiosynthese
kalisch auf C3ʹ des Produktradikals zurück und wird da- benötigten Enzymaktivitäten überwiegend als Domänen
durch wieder zum Thiylradikal 9 . Desoxyribose 10 ist als multifunktioneller Proteine vor.
Endprodukt der Reaktion entstanden. Die Biosynthese von Pyrimidinnucleotiden läuft in verschie-
denen Zellkompartimenten ab. Sie ist im Vergleich zu der-
Der beschriebene radikalische Mechanismus der Ribonucleotid- jenigen von Purinnucleotiden einfacher und energie-
reduktase in der DNA-Vorläufersynthese erklärt, warum be- sparender:
stimmte Chemikalien, die als »Radikalfänger« (Ein-Elektronen- 4 Aus Carbamylphosphat und Aspartat entsteht Carba-
akzeptoren) wirken, Inhibitoren der DNA-Synthese und des Zell- mylaspartat, aus dem unter Wasserabspaltung und
zyklus sind. Besonders wirksam sind Hydroxyharnstoff (NH2-CO- Oxidation Orotat gebildet wird.
NH-OH) und seine Derivate (7 Kap. 31, 7 Abb. 31.1). Solche 6
Substanzen sind daher auch von chemotherapeutischem Interesse.
368 Kapitel 30 · Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

30

. Abb. 30.3 Mechanismus der Ribonucleotidreduktase. Oben: Nettoreaktion der Ribonucleotidbildung. Mitte: Der Austausch der Hydroxylgruppe (rot)
an C2ʹ des Riboserestes eines Substratmoleküls gegen Wasserstoff (blau) geschieht in Ein-Elektronenschritten über radikalische Zwischenstufen des
Nucleotidsubstrats und der Cysteinreste des Enzyms (R1-Untereinheit). Die kurzlebigen Zwischenstufen sind nicht isolierbar aber durch Experimente mit
Wasserstoffisotopen (Deuterium und Tritium) und Elektronenspinresonanz (ESR)-spektroskopisch belegt. Unten: Die Regeneration des reduzierenden
Dicysteinzentrums von R1 geschieht durch reduziertes Glutaredoxin, Grx(SH)2. Das oxidierte GrxS2 wird von Glutathion (GSH) reduziert. Schließlich redu-
ziert die Glutathionreduktase das GSSG mit Hilfe von NADPH+H+. (Einzelheiten s. Text)

30.3 Regulation der Biosynthese


4 Orotat reagiert mit PRPP zum OMP, aus dem durch von Pyrimidinnucleotiden
Decarboxylierung UMP entsteht.
4 UTP übernimmt die Amidogruppe des Glutamins, Die Pyrimidinbiosynthese wird auf der Stufe
wobei CTP entsteht. des trifunktionellen CAD-Enzyms reguliert
4 dUMP wird mit N5, N10-Methylen-THF zu dTMP Bei Prokaryonten ist das hierfür verantwortliche allosterisch re-
methyliert. gulierte Enzym die Aspartattranscarbamylase (7 Kap. 30.1), bei
4 Die NADPH-abhängige Reduktion von Pyrimidin- und Eukaryonten ist es dagegen das erste für die Pyrimidinbiosynthe-
Purinribonucleotiden zu Desoxyribonucleotiden wird se spezifische Enzym, die Carbamylphosphatsynthetase-2-Ak-
durch die Ribonucleotidreduktase katalysiert. tivität des CAD-Proteins (. Abb. 30.5). Diese wird durch UTP
als Endprodukt der Biosynthesekette gehemmt 1 . PRPP ist da-
gegen ein wirksamer allosterischer Aktivator 2 . Für eine Koor-
dination von Purin- und Pyrimidinbiosynthese sorgt auch die
CTP-Synthetase, die durch GTP allosterisch aktiviert und durch
ihr Produkt CTP gehemmt wird 3 .
30.3 · Regulation der Biosynthese von Pyrimidinnucleotiden
369 30
Um die Biosynthese von Nucleinsäuren zu
gewährleisten, müssen Purin- und Pyrimidin-
biosynthese koordiniert ablaufen
Regulation der Purin- und Pyrimidinbiosynthese In ruhenden
oder voll differenzierten Zellen ist die Geschwindigkeit der
de novo-Biosynthese von Purin- und Pyrimidinnucleotiden re-
lativ gering, da ein großer Teil des Bedarfs über die Wiederver-
wertungsmechanismen (7 Kap. 29.3 und 30.4) gedeckt werden
kann. Für proliferierende Zellen muss beim Übergang von der
G1-Phase in die S-Phase des Zellzyklus (7 Kap. 43.1) gewährlei-
stet sein, dass Nucleinsäurevorstufen in erhöhtem Umfang und
in richtigen stöchiometrischen Verhältnissen zueinander syn-
thetisiert werden können. Dem PRPP kommt dabei nicht nur
die Rolle eines Substrates, sondern auch die eines allosterischen
Aktivators für die Pyrimidin- und Purinbiosynthese zu. Beson-
ders gut ist dies für die Pyrimidinbiosynthese untersucht. So
konnte gezeigt werden, dass für den Übergang von der G1- in die
S-Phase benötigte Wachstumsfaktoren (z. B. EGF, 7 Kap. 43.4)
eine Phosphorylierung des CAD-Enzyms über eine Aktivierung
von MAP-Kinasen bewirken. Dadurch wird die Stimulierbar-
keit des CAD durch PRPP erhöht und die Hemmbarkeit durch
UTP erniedrigt. Eine deutliche Aktivitätszunahme der Enzyme
der Purinbiosynthese, der Ribonucleotidreduktase, der Thymi-
dylatsynthase, der Dihydrofolatreduktase und der Thymidinki-
nase findet ebenfalls beim Übergang in die S-Phase des Zellzy-
. Abb. 30.4 Mechanismus der Thymidylatsynthase. Bei der Umwandlung klus statt. Hierbei spielen in diesem Stadium des Zellzyklus ak-
des Methylenrestes des N5, N10-Methylentetrahydrofolats (N5, N10-THF) in tivierte Transkriptionsfaktoren eine wichtige Rolle (7 Kap. 43.3).
die Methylgruppe des Thymidylats werden Reduktionsäquivalente aus der
Tetrahydrofolsäure benötigt. Dies führt zur Dehydrierung/Oxidation der
Regulation der Ribonucleotidreduktase Die Ribonucleotid-
Tetrahydrofolsäure zu Dihydrofolsäure (DHF). Durch die Dihydrofolatreduk-
tase (DHFR) entsteht Tetrahydrofolsäure (THF), die mit der Serin-Hydroxi- reduktase muss die für die DNA-Biosynthese benötigten Des-
methyltransferase (SHMT) und Serin in N5,N10-Methylen-THF umgewandelt oxyribonucleosidtriphosphate im richtigen Verhältnis zueinan-
wird. (Einzelheiten s. Text) der zur Verfügung stellen. Sie unterliegt deswegen einer beson-
ders komplexen allosterischen Regulation. Die Aktivität der
R1-Untereinheiten wird i. Allg. durch steigende zelluläre ATP-
Konzentrationen stimuliert, während bei Anhäufung von Des-
oxyribonucleotiden (insbesondere dATP) eine Hemmung beob-
achtet wird. So werden Substratbedarf und Energiebedarf der
DNA-Replikation während der S-Phase des Zellzyklus einander
angepasst.

Regulation der Thymidylatsynthase Thymin ist die einzige Base,


die ausschließlich in DNA vorkommt. Thyminmangel führt zum
Zelltod durch Apoptose, Thyminüberschuss zum Stopp des Zell-
zyklus. Eine wichtige Rolle hierbei spielt offenbar, dass die Thy-
midylatsynthase sehr spezifisch an ihre eigene mRNA und an die
mRNA des Tumorsuppressorproteins p53 (7 Kap. 52) bindet und
so die Translation beider Proteine vermindert (. Abb. 30.6).
Hierdurch wird zum einen eine überschießende Thyminnu-
cleotidsynthese vermieden und zum anderen der durch p53 ver-
ursachte Stopp am G1/S-Übergang des Zellzyklus aufgehoben
und ggf. die Einleitung einer Apoptose (7 Kap. 51) verhindert.
Hemmstoffe der Pyrimidinsynthese werden im 7 Kap. 31.1
besprochen.

. Abb. 30.5 Regulation der Pyrimidinbiosynthese. (Einzelheiten s. Text)

dUMP# dTMP# Thymidylat-Synthase N^5, N^10-Methylen-THF# 7,8-Dihydrofolat (DHF)# 5,6,7,8-Tetrahydrofolat (THF)#


Carbamylphosphat-Synthetase 2 Aspartat-Transcarbamylase Dihydroorotase UMP-Synthase Orotidin-5’-Phosphat-Decarboxylase
Orotat-Phosphoribosyl-Transferase
370 Kapitel 30 · Pyrimidinnucleotide – Biosynthese, Wiederverwertung und Abbau

. Abb. 30.6 Regulation der Thymidylatsynthase. p53: Tumorsuppressor-


30 protein p53 (Einzelheiten s. Text)

Zusammenfassung
Die Pyrimidinnucleotidbiosynthese wird durch allosterische
Mechanismen reguliert:
4 Die Carbamylphosphatsynthetase 2 ist das Schlüssel-
enzym der Pyrimidinbiosynthese. UTP ist ein allosteri-
scher Inhibitor, PRPP ein allosterischer Aktivator dieses
Enzyms.
4 Die Ribonucleotidreduktase unterliegt einer komplexen
allosterischen Regulation durch Ribo- und Desoxyribo-
nucleotide.
4 Die Thymidylatsynthase unterliegt einer Translations-
kontrolle.

30.4 Wiederverwertung der Pyrimidine

Pyrimidin- und Purinnucleoside sowie Desoxynucleoside bzw.


die entsprechenden Basen fallen beim intrazellulären Abbau
von Nucleinsäuren an, außerdem werden sie bei der intestinalen
Resorption von Nahrungsstoffen in den Organismus aufgenom-
men. Wiederverwertungsreaktionen gewährleisten, dass diese
Verbindungen dem Organismus nicht verloren gehen. Dies ist
besonders für die mit hohem Energieaufwand synthetisierten
Purine wichtig (7 Kap. 29.1).

Pyrimidine werden als Nucleoside wiederverwertet


Pyrimidinnucleotide kommen in den Nucleinsäuren in etwa den
gleichen Mengen vor wie Purinnucleotide. Ihre tägliche Biosyn-
theserate liegt beim Menschen mit etwa 400–700 mg in der glei-
chen Größenordnung wie die der Purinnucleotide. Im Prinzip
sind alle kernhaltigen Zellen zur de novo-Biosynthese von Pyri-
midinnucleotiden imstande. Beim Abbau von Nucleinsäuren aus
der Nahrung werden im Darm Pyrimidinnucleoside gebildet
und resorbiert. Für die Nucleoside gibt es effektive Wiederver-
wertungssysteme. Uridin und Cytidin werden mit ATP durch
Kinasen zu den entsprechenden Nucleotiden umgesetzt und
dem Zellstoffwechsel verfügbar gemacht. Auch Desoxyribo-
. Abb. 30.7 Reaktionen des Pyrimidinabbaus. (Einzelheiten s. Text)
nucleoside werden durch Kinasen phosphoryliert. Der Mensch
verfügt über cytosolische Desoxycytidinkinase und Thymidin-
kinase 1. Die mitochondriale Thymidinkinase 2 phosphoryliert
Apoptose Zellzyklus Thymidylat-Synthase Thymidylat-Synthase mRNA p53-mRNA Cytidin# Cytidin-Desaminase Uridin# Thymidin# Pyrimidinnucleosid-Phos-
phorylase Uracil# Thymin# Dihydropyrimidin-Dehydrogenase Dihydrouracil# Dihydrothymin# Dihydropyrimidinase Ureidopropionat# Ureidoisobutyrat# Ureido-
propionase β-Alanin# β-Aminoisobutyrat# Malonyl-CoA Methylmalonyl-CoA
30.5 · Abbau von Pyrimidinnucleotiden
371 30
sowohl Thymidin als auch Desoxcytidin. Die Rolle der Nucleo-
sidtransporter wird in 7 Kap. 31 betrachtet. Zusammenfassung
Pyrimidinnucleotide werden zu CO2, Ammoniak,
β-Alanin/β-Aminoisobutyrat abgebaut und weiter über
Zusammenfassung
Malonyl- und Succinyl-CoA zur Energiegewinnung ver-
Pyrimidine, die beim Abbau der Nucleinsäuren entstehen wendet.
bzw. bei der intestinalen Resorption aufgenommen werden,
können wieder verwertet werden:
4 Pyrimidine werden als Nucleoside wieder verwertet. 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Daran beteiligt sind die Enzyme Uridin-Cytidin-Kinase,
Thymidinkinase und Desoxycytidinkinase.
4 Die cytosolische Desoxycytidinkinase ist zudem an der
Wiederverwertung von Purindesoxynucleosiden betei-
ligt (7 Kap. 29.3).
4 Für die Wiederverwertung sind auch Nucleosidtranspor-
ter von Bedeutung.

30.5 Abbau von Pyrimidinnucleotiden

In Analogie zum Abbau der Purinnucleotide (7 Kap. 29, 7 Abb.


29.8) werden die Pyrimidinnucleotide zunächst durch die 5’-Py-
rimidinnucleotidase in die entsprechenden Nucleoside über-
führt. Diese können über das Blut zu Leber und Niere transpor-
tiert werden, wo im Wesentlichen der Abbau erfolgt. Cytidin
wird mit Hilfe der Cytidindesaminase zu Uridin desaminiert.
Anschließend erfolgt – ähnlich wie bei den Purinnucleosiden –
die Phosphorolyse der Nucleoside Uridin und Thymidin zu Ri-
bose-1-Phosphat bzw. Desoxyribose-1-Phosphat und den Basen
Uracil bzw. Thymin. Ribose-1-Phosphat wird über Ribose-
5-Phosphat dem Pentosephosphatweg zugeführt, wohingegen
Desoxyribose-1-Phosphat durch eine Aldolase in Acetaldehyd
und Glycerinaldehyd-3-Phosphat gespalten wird. Der weitere
Abbau der Basen Uracil bzw. Thymin ist in . Abb. 30.7 darge-
stellt. Zunächst kommt es durch Reduktion zu Dihydrouracil
bzw. Dihydrothymin. Durch Wasseranlagerung können nun die
Pyrimidinringe zwischen den Positionen 3 und 4 gespalten wer-
den. Es entstehen Ureidopropionat aus Dihydrouracil bzw. Urei-
doisobutyrat aus Dihydrothymin. Von beiden Verbindungen
können CO2 und NH3 abgespalten werden, sodass β-Alanin bzw.
β-Aminoisobutyrat entstehen. Diese werden nach Transaminie-
rung zu Malonyl-CoA bzw. Methylmalonyl-CoA abgebaut. Die
weitere Verstoffwechselung führt zu Acetyl-CoA bzw. Succinyl-
CoA, die zur Energiegewinnung verwendet werden können.
Hier besteht ein großer Unterschied zwischen Purin- und Pyri-
midinabbau. Berücksichtigt man, dass auch während der Pyri-
midinbiosynthese die ubichinonabhängige Oxidation des Dihy-
droorotats zu Orotat durch die Verknüpfung mit der Atmungs-
kette ATP liefert (7 Kap. 30.1 und 7 Kap. 19.1), stellt sich der
gesamte Pyrimidinstoffwechsel als sehr ökonomisch dar.
31 Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels
Monika Löffler

Einleitung 4 Erleichterte Diffusion entlang eines Konzentrationsgra-


dienten. Derartige Transporter finden sich in allen Zellen
Das folgende Kapitel befasst sich mit den verschiedenen Aspekten der (7 Kap. 11.5).
Pathobiochemie von Purinen und Pyrimidinen. In den vorangegange- 4 Sekundär aktiver, natriumabhängiger Transport gegen ei-
nen Kapiteln wurden die Biosynthese, Regulation, Wiederverwertung nen Konzentrationsgradienten
und Abbau der Purine (7 Kap. 29) und der Pyrimidine (7 Kap. 30) be- (7 Kap. 11). Transporter dieses Typs sind vor allem im In-
31 sprochen. In der Einführung zu 7 Kap. 29 wurde auf die verschiedenen testinaltrakt, renalen Epithelien und der Leber vorhanden.
Funktionen der Purine und Pyrimidine eingegangen. Es ist verständlich, Über den Transport von Nucleosiden und Desoxynucleosi-
dass Störungen der (normalen) Enzymaktivitäten im Purin- und Pyrimi- den durch die innere Mitochondrienmembran ist bisher
dinhaushalt Auswirkungen auf den Zellstoffwechsel haben müssen. Stö- wenig bekannt.
rungen können entweder genetisch bedingt oder eine Folge exogener
Einflüsse – wie z. B. Pharmaka oder Ernährung – sein. Nucleosidtransporter spielen demnach nicht nur für die Wie-
derverwertung von Purinen und Pyrimidinen (7 Kap. 29.3 und
Schwerpunkte 30.4), sondern auch für die Aufnahme der zur Therapie einge-
setzten zytostatisch und antiviral wirkenden Nucleosidanaloga
4 Inhibitoren der Purin- und Pyrimidinsynthese-Enzyme als
eine bedeutende Rolle. Eine weitere Voraussetzung für die
Pharmaka zur klinischen Therapie
Wirksamkeit dieser Pharmaka ist die anschließende intrazellu-
4 Auswirkungen hereditärer Enzymdefekte des Purin- und
läre Umsetzung durch die Wiederverwertungsenzyme, die nicht
Pyrimidinstoffwechsels
alle streng spezifisch für ihre physiologischen Substrate sind.
4 Primäre und sekundäre Hyperurikämien als Auslöser der
Thymidinkinase phosphoryliert z. B. das über einen Nucleo-
Gicht
sidtransporter aufgenommene antiretrovirale AZT (3ʹ-Azido-
4 Immundefekte infolge Adenosindesaminasemangel
3ʹ-Desoxythymidin) (. Abb. 31.1A ). Nach weiteren Phosphory-
4 Pyrimidinabbaustörungen als Ursache schwerer neurolo-
lierungen zum AZTTP wird dieses von der reversen Transkrip-
gischer Erkrankungen
tase der Retroviren als Substrat verwendet. Andererseits wurden
gezielt Hemmstoffe gegen Nucleosidtransporter entwickelt.
Diese Substanzen können zum Beispiel die Aufnahme von Nu-
cleosiden in die Zelle verhindern und somit ihre Verfügbarkeit
31.1 Transport und Wirkung von Hemmstoffen für die Wiederverwertungsenzyme limitieren. Die Wirkung von
der Purin- und Pyrimidinbiosynthese Cytostatika, die in die Biosynthesen eingreifen, kann somit un-
terstützt werden.
31.1.1 Transport von Hemmstoffen
über Nucleosidtransporter
31.1.2 Wirkung von Hemmstoffen
In . Abb. 31.1 sind wichtige Hemmstoffe der Purin- und Pyrimi- der Pyrimidin- und Purinbiosynthese
dinbiosynthese, die klinische Verwendung in der Tumortherapie,
der Behandlung von Viruserkrankungen oder bei der Immun- Hemmstoffe der Pyrimidinbiosynthese (. Abb. 31.1B–E) 3-De-
suppression finden, zusammengestellt. azauridin und Cyclopentenylcytosin (. Abb. 31.1B, C) werden
Oftmals handelt es sich dabei um Strukturanaloge von nach Aufnahme in die Zielzellen phosphoryliert und sind dann
Nucleosiden, die mehr oder weniger spezifisch einzelne kompetitive Hemmstoffe der OMP-Decarboxylase (7 Abb. 30.1)
enzymatische Schritte der Purin- bzw. Pyrimidinbiosyn- bzw. CTP-Synthetase (7 Abb. 30.2). Sie werden v. a. in Kombina-
these hemmen und deswegen auch als Antimetabolite bezeich- tion mit anderen Cytostatika zur Tumortherapie eingesetzt. Die
net werden. Auch diese Strukturanaloga werden wie die klinisch angewendeten Hemmstoffe der Dihydroorotatdehydro-
physiologischen Nucleoside über Nucleosidtransporter in die genase (7 Abb. 30.1) sind keine Strukturanalogen. Leflunomid
Zellen aufgenommen. Bei der Wiederverwertung von Puri- (. Abb. 31.1D) dient zur Behandlung von Autoimmunerkran-
nen und Pyrimidinen (7 Kap. 29.3 und 30.4) spielen Transport- kungen, z. B. von rheumatoider Arthritis, und Atovaquone
vorgänge eine wichtige Rolle. Die in der Plasmamembran loka- (. Abb. 31.1E) wirkt gegen den Malariaerreger Plasmodium falci-
lisierten Transporter für Nucleoside kommen in zwei Formen parum und Infektionen mit Pneumocystis carinii.
vor, Transport durch:

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
31.1 · Transport und Wirkung von Hemmstoffen der Purin- und Pyrimidinbiosynthese
373 31
A B C D

E F

H I

. Abb. 31.1 A–K Hemmstoffe der Pyrimidin- und Purinbiosynthese

Hemmstoffe der Thymidylatsynthese (. Abb. 31.1I) Diese bilden armung der Zellen an Desoxyribonucleotiden. Bei Tumorzellen
einen inaktiven Komplex mit dem Enzym Thymidylatsynthase. löst dies im Allgemeinen eine Wachstumsverlangsamung aus.
Besonders gut ist in dieser Beziehung das zur Chemotherapie
angewendete 5-Fluorouracil (. Abb. 31.1I) untersucht, welches Hemmstoffe der Purinbiosynthese (. Abb. 31.1F–H) Für die spe-
durch die in proliferierenden Zellen in hoher Aktivität vor- zifische Hemmung der Biosynthese von Purinen sind hochwirk-
kommende Orotat-Phosphoribosyltransferase (7 Abb. 30.1) zu same Antimetabolite entwickelt worden.
5-Fluoro-UMP umgesetzt wird. Zusätzlich kann 5-Fluorouridin So führen Hemmstoffe der IMP-Dehydrogenase (7 Abb.
aus 5-Fluorouracil und Ribose-1-Phosphat durch die Uridin- 29.4) zu einer Verarmung der Zellen an Guaninribo- und -des-
phosphorylase hergestellt werden, die normalerweise im Abbau- oxyribonucleotiden. Beispiele sind das Ribavirin (. Abb. 31.1F)
weg Uracil und Ribose-1-Phosphat aus Uridin und Phosphat und die Mycophenolsäure (. Abb. 31.1G). Ribavirin wirkt nach
bildet (7 Abb. 30.7). Für die Zytotoxizität ist sowohl die Bildung intrazellulärer Phosphorylierung als kompetitiver Hemmstoff
von 5-Fluoro-dUMP als Inhibitor der Thymidylatsynthase der IMP-Dehydrogenase (7 Abb. 29.4) und kann zur Therapie
(7 Abb. 30.4) als auch die Bildung von 5-Fluoro-UTP durch Ki- von Viruserkrankungen eingesetzt werden. Mycophenolsäure
nasen notwendig. Dieses wird anstelle von UTP zum Einbau in wird sowohl in der Tumortherapie als auch zur Immunsuppres-
die RNA verwendet. sion in Kombination mit anderen Wirkstoffen angewendet.
6-Mercaptopurin (. Abb. 31.1H) wird wie die Basen Adenin und
Hemmstoffe der Dihydrofolatreduktase (. Abb. 31.1J) Die Fol- Guanin wieder verwertet (7 Abb. 29.6) und in die DNA einge-
säureanaloga Aminopterin bzw. Amethopterin/Methotrexat baut. Außerdem hemmen Metabolite des 6-Mercaptopurins die
verhindern die Regeneration des THF durch die Dihydrofolatre- Synthese von GMP und AMP. Es wird direkt oder in Form eines
duktase (7 Abb. 30.4) und erzeugen dadurch einen Mangel an prodrug (Arzneimittelvorstufe, aus der erst im Körper die wirk-
Thyminnucleotiden. same Form gebildet wird) verabreicht. So wird z. B. Azathioprin,
aus dem 6-Mercaptopurin freigesetzt wird, zur Tumortherapie
Hemmstoffe der Ribonucleotidreduktase (. Abb. 31.1K) Der verwendet. Zur Behandlung von Patienten mit chronisch-end-
Hauptvertreter dieser Gruppe von Arzneimitteln ist der Hydroxy- zündlichen Darmerkrankungen und anderen Autoimmuner-
harnstoff, der in den radikalischen Mechanismus der Ribonu- krankungen wird ebenfalls Mercaptopurin bzw. Azathioprin
cleotidreduktase (7 Abb. 30.3) eingreift. Es kommt zu einer Ver- herangezogen.

Azidothymidin# 3-Deazauridin# Cyclopentenylcytosin# Leflunomid# Atovaquone# Ribavirin# Mycophenolsäure#


6-Mercaptopurin# 5-Fluorouracil# Aminopterin# Amethopterin/Methotrexat# Hydroxyharnstoff#
374 Kapitel 31 · Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels

bis zu 0,4 % der weiblichen Erwachsenen an einer häufig uner-


Zusammenfassung kannten Gicht leiden. Bezeichnenderweise sinkt, ähnlich wie
Strukturanaloga von Pyrimidinen und Purinen werden mit- beim Diabetes mellitus (7 Kap. 36.7), die Gichthäufigkeit in Not-
tels Nucleosidtransporter und Wiederverwertungsenzymen zeiten auf Werte von 0,1–0,2 % der Bevölkerung. Offenbar führt
in den Zellstoffwechsel eingeschleust. Luxuskonsum nicht nur zu einer Zunahme der Kohlenhydrat-
Hemmstoffe der Pyrimidin- und Purinsynthese sind als stoffwechselstörungen, sondern – wahrscheinlich wegen des
Pharmaka zur Krebstherapie, Behandlung von Virusinfektio- überhöhten Fleischkonsums – zu einem hohen Angebot an Pu-
nen und Immunsuppression zugelassen. rinbasen, deren Abbau bei entsprechender genetischer Konstel-
lation eine Gicht auslösen kann.
Man unterscheidet primäre (familiäre) und sekundäre Hy-
perurikämien:
31.2 Störungen im Purinstoffwechsel 4 Bei den primären Hyperurikämien handelt es sich um
hereditäre Störungen des Purinstoffwechsels (. Tab. 31.1),
Hyperurikämien können zur Gicht führen wobei sowohl die Biosynthese als auch die Ausscheidung
Infolge ihrer geringen Wasserlöslichkeit sind dem Transport der betroffen sein kann.
31 Harnsäure im Blut relativ enge Grenzen gesetzt. Schon der noch 4 Bei den sekundären Hyperurikämien liegt keine Störung
normale Serumharnsäurespiegel (ca. 0,4 mmol/l entsprechend im Bereich des Purinstoffwechsels vor. Hier ist das Krank-
7 mg/dl) ist nur möglich, weil ein Teil der Harnsäure an Proteine heitsbild die Folge von Erkrankungen, bei denen durch ver-
gebunden ist. Vermindert sich die renale Ausscheidung oder fällt mehrten Zelluntergang ein Übermaß an Purinbasen zum
Harnsäure vermehrt im Stoffwechsel an, kommt es zur Hyper- Abbau gelangt, oder aber durch erworbene Nierenerkran-
urikämie. Da ein niedriger pH-Wert und erniedrigte Temperatur kungen die Harnsäureausscheidung beeinträchtigt ist.
die Löslichkeit noch weiter herabsetzen, kann es zur Entstehung
von Natrium-Urat-Kristallen in Geweben mit einem hohen Ge- Primäre Hyperurikämie Die primäre Hyperurikämie ist durch
halt an sauren Proteoglycanen und Kollagen kommen. Uratabla- eine allmähliche Zunahme der Gesamtmenge der im Körperwas-
gerungen in Gelenkflüssigkeit, Bindegewebe, Sehnenscheiden, ser gelösten Harnsäure, also des Harnsäurepools, von normal
Ohrknorpel, peripheren Gelenken und im Nierenmark bestim- 6 mmol (entsprechend ca. 1 g) bis auf 180 mmol und mehr ge-
men die klinische Symptomatik der Gicht, die häufig von akuten kennzeichnet. Mehrere ursächliche Faktoren sind als Auslöser
Entzündungsschüben mit starken Schmerzen begleitet ist. Man dieses Krankheitsbildes bekannt. Oftmals kommt es zur Bildung
nimmt an, dass in Deutschland etwa 1–2 % der männlichen und von Ablagerungen, z. B. von Natrium-Urat oder dem ebenfalls

. Tab. 31.1 Hereditäre Störungen des Purinstoffwechsels (Auswahl)

Defektes Enzym Auswirkungen

PRPP-Synthetase Zunahme der Enzymaktivität: Hyperurikämie (7 Abb. 29.2)

Glutamin-PRPP-Amidotransferase Aufhebung der Rückkoppelungshemmung durch Purinnucleotide: Hyperurikämie (7 Abb. 29.3 1 )

Adenylosuccinatlyase Abnahme der Enzymaktivität: psychomotorische Retardierung; epileptische Anfälle (7 Abb. 29.4)

AICAR-Transformylase/IMP-Cyclohydrolase Abnahme der Enzymaktivität: AICAR-Ribosidurie; neurologisches Krankheitsbild (7 Abb. 29.3 9 )

Xanthindehydrogenase/Oxidase Zunahme der Enzymaktivität: Hyperurikämie; Abnahme der Enzymaktivität: Xanthinurie, Xanthinab-
lagerungen, Nierenkoliken, Muskelkrämpfe (7 Abb. 29.8 5 ); Abnahme der Enzymaktivität auch bei
Molybdäncofaktormangel (7 Kap. 60.9)

Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl- Abnahme der Enzymaktivität: Hyperurikämie; Fehlen der Enzymaktivität: schweres neurologisches
transferase Krankheitsbild (7 Abb. 29.6 2 )

Adenin-Phosphoribosyltransferase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Bildung von 2,8-Dihydroxyadenin; Ablagerungen mit
Nierenschädigung (7 Abb. 29.6 1 )

Adenosindesaminase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Immundefizienz (7 Abb. 29.8 2 )

AMP-Desaminase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität im Muskel: Myopathien; neuromuskuläre Erkrankungen
(7 Abb. 29.7)

Purinnucleosidphosphorylase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Hypourikämie; Immundefizienz (7 Abb. 29.8 3 )

Desoxyguanosinkinase Abnahme oder Fehlen der in den Mitochondrien lokalisierten Enzymaktivität: mt-DNA Mangel; Leber-,
Multiorganversagen (7 Kap. 29.3)
31.2 · Störungen im Purinstoffwechsel
375 31
schwer löslichen 2,8-Dihydroxyadenin, welches die Xanthinde-
hydrogenase/Oxidase aus Adenin bilden kann (. Tab. 31.1). Übrigens
Bei einem großen Teil der Betroffenen (75–80 %) handelt es Gichtfamilien
sich um eine renale Störung der Harnsäureausscheidung. Im Die primäre Hyperurikämie ist eine hereditäre Stoffwechsel-
Vordergrund steht dabei eine gesteigerte tubuläre Rückresorp- störung. Es gibt daher sog. »Gichtfamilien«, wobei die Ver-
tion von Harnsäure. Da diese im Wesentlichen von der Aktivität erbung vornehmlich vom Vater auf den Sohn erfolgt. Dazu
des Urat-Anionenaustauschers URAT 1 abhängig ist, werden gehören die Medici, englische Könige und auch die Familie
Regulationsstörungen diskutiert, die die Aktivität dieses Pro- Hohenzollern:
teins erhöhen. Eine sehr seltene Erkrankung ist die familiäre 4 Friedrich Wilhelm (1620–1688), der Große Kurfürst. Mit
juvenile hyperurikämische Nephropathie. Es handelt sich um 40 Jahren hatte er seinen ersten Gichtanfall. Seit dieser
eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung, die mit Hyper- Zeit musste er wegen quälender Gelenkschmerzen pelz-
urikämie, verminderter Uratausscheidung im Urin und einer gefütterte Juchtenstiefel tragen. Er strapazierte seinen
chronischen Nephropathie einhergeht und zum Nierenversagen Stoffwechsel durch ein Übermaß von »köstlichen Speisen
führt. und edlen Weinen« und durch »Bechergelage, des Po-
Bei dem anderen, etwa 20–25 % umfassenden Teil der Patien- dagra nicht achtend«. (Als Podagra bezeichnet man ei-
ten mit primärer Hyperurikämie beruht die Erkrankung nicht nen akuten Gichtanfall am Großzehengrundgelenk oder
auf einer Störung der renalen Ausscheidung, sondern auf einer am Großzehenendgelenk. Wörtlich: »Steigbügel«, da ein
gesteigerten Biosynthese von Purinen aufgrund verschiedener Betroffener nur schwer ein Pferd besteigen konnte).
Enzymdefekte. Eine Übersicht zu hereditären Störungen des Pu- 4 Friedrich I. (1657–1713), der erste Preußenkönig. Beim
rinstoffwechsels gibt die . Tab. 31.1: Feiern, im Essen wie im Trinken, entwickelte er dieselbe
4 Am häufigsten ist ein Gen-Defekt der Hypoxanthin-Gua- Leidenschaft wie sein Vater. Seit der Jugend hatte er
nin-Phosphoribosyltransferase (7 Abb. 29.6), der zur ver- Gichtanfälle.
minderten Aktivität des Enzyms führt. Deshalb kommt es 4 Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), der Soldatenkönig.
zu einem durch einen Minderverbrauch ausgelösten An- Die Gicht bereitete ihm derartige Qualen, dass er oft-
stieg der PRPP-Konzentration und in der Folge zu einer mals an den Rollstuhl gefesselt war und sich mit Abdan-
Aktivierung der Glutamin-PRPP-Amidotransferase mit kungsgedanken trug, denn »dieses Leiden unerträglich,
einer Steigerung der Purinbiosynthese. Insgesamt führt der aber viehisch ist.«
Enzymdefekt zu einer schon im juvenilen Alter auftreten- 4 Friedrich II. (1712–1786), der Große. Als Neunundzwan-
den Gicht, die sich dadurch auszeichnet, dass die Harn- zigjähriger bekam er den ersten Gichtanfall, die Krank-
säurekonzentration im Serum auch bei purinarmer Ernäh- heit begleitete ihn sein ganzes Leben lang.
rung nicht absinkt.
4 Vollständiges Fehlen der Hypoxanthin-Guanin-Phospho-
ribosyltransferase liegt beim Lesch-Nyhan-Syndrom vor. Sekundäre Hyperurikämien Für die Entstehung von sekundä-
Das Krankheitsbild ist durch eine schwere Gicht und Ne- ren, d. h. erworbenen Hyperurikämien gibt es verschiedene
phrolithiasis gekennzeichnet. Zusätzlich findet sich ein Ursachen:
neurologisches Krankheitsbild mit Spastik, verzögerter 4 Eine Überproduktion von Harnsäure kann die Folge
geistiger und motorischer Entwicklung und einer auffallen- eines gesteigerten Nucleinsäureumsatzes sein. Dieser tritt
den Tendenz zur Selbstverstümmelung. z. B. bei lymphatischen und myeloischen Leukämien, chro-
4 Seltener ist ein Gendefekt mit verminderter Aktivität der nisch hämolytischen Anämien und der Psoriasis auf.
Adenin-Phosphoribosyltransferase. Das anfallende Adenin 4 Eine gesteigerte de novo-Purinbiosynthese, die letztend-
kann hier durch die Xanthindehydrogenase/Oxidase zu lich zu einer Überproduktion von Harnsäure führen kann,
2,8-Dihydroxyadenin umgesetzt werden. Dieser schwer lös- findet sich beim hereditären Glucose-6-Phosphatase-Man-
liche Metabolit wird im Blut fast ausschließlich proteinge- gel (Glykogenose Typ 1 7 Kap. 17.2.1). Dieser Mangel führt
bunden transportiert, führt jedoch in der Niere zu Ablage- dazu, dass sich Glucose-6-Phosphat in der Zelle anhäuft
rungen und progressiven Nierenschäden. und deshalb vermehrt über die Glycogensynthese, den Pen-
4 Eine sehr seltene Enzymopathie ist eine Erhöhung der tosephosphatweg (Hexosemonophosphatweg) und die Gly-
Harnsäurebildung infolge einer gesteigerten Aktivität der colyse metabolisiert wird. Über den oxidativen Teil des Pen-
PRPP-Synthetase wegen eines genetischen Defekts tosephosphatweges kommt es dadurch zu einer gesteigerten
(7 Abb. 29.2). Überführung von Glucose-6-Phosphat in Ribose-5-Phos-
4 Darüber hinaus gibt es Fälle, bei denen die Rückkoppe- phat und somit auch zu einer vermehrten PRPP-Bildung
lungshemmung der Glutamin-PRPP-Amidotransferase durch die PRPP-Synthetase (7 Abb. 29.2). Die Hyperuri-
durch Endprodukte der Biosynthese – AMP, ADP, ATP und kämie wird außerdem durch eine Lactatacidose infolge der
GMP, GDP, GTP – gestört ist (7 Abb. 29.5). hohen Glykolyse verstärkt. Ursache ist die gesteigerte Reab-
sorption der Harnsäure über das URAT1-Protein in der
Niere (7 Abb. 29.9).
4 Eine Verminderung der renalen Ausscheidung als Ursa-
che für die sekundäre Hyperurikämie findet sich bei ver-
376 Kapitel 31 · Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels

Die Feststellung einer erniedrigten Harnsäurekonzentration


im Blut kann ebenfalls Störungen im Purinstoffwechsel anzei-
gen, z. B. einen Mangel an Purinnucleotidase, Purinnucleosid-
phosphorylase, Xanthindehydrogenase/Oxidase oder Molyb-
däncofaktor (7 Abb. 29.9 und . Tab. 31.1). Auch hereditäre De-
fekte im Harnsäurerücktransportsystem können eine Hypourik-
ämie bedingen.
. Abb. 31.2 Hypoxanthin, Allopurinol und Oxypurinol
Der hereditäre Adenosindesaminasemangel geht
mit einem schweren Immundefekt einher
Die Adenosindesaminase katalysiert die Desaminierung von Ade-
schiedenen Nierenerkrankungen, z. B. bei chronischen nosin und 2ʹ-Desoxyadenosin zu den entsprechenden Inosinen.
Nephropathien, bei Schwermetallvergiftungen oder der Als relativ seltener hereditärer Enzymdefekt (Häufigkeit etwa
Schwangerschaftstoxikose (Stoffwechelstörungen während 1:100.000 Geburten) kommt ein Mangel dieses Enzyms vor. Die
der Schwangerschaft). Erkrankung ist meist mit einem schweren Immundefekt verbun-
31 4 Die bei fortgeschrittenem Alkoholabusus oftmals bestehen- den, dessen Ursache auf einer Proliferationshemmung der Lym-
de metabolische Acidose wird als Mitursache für die eben- phocyten beruht. Durch den Enzymdefekt kommt es zur Akku-
falls häufig beobachteten Gichterkrankungen dieses Perso- mulierung von Adenosin und 2ʹ-Desoxyadenosin in den Lympho-
nenkreises angesehen, da hohe Lactat- und Ketosäurespie- cyten. Beide Verbindungen werden wieder verwertet und phos-
gel durch Stimulation des URAT1-Proteins die Rückresorp- phoryliert, sodass sich schließlich ATP und dATP anhäufen. dATP
tion der Harnsäure fördern und somit die Eliminierung ist der wichtigste allosterische Inhibitor der Ribonucleotidreduk-
vermindern können (7 Abb. 29.9). Auch bei nicht-behan- tase (7 Kap. 30.2), sodass in den Lymphocyten die zur Proliferation
deltem Typ-I-Diabetes ist infolge einer Acidose das Risiko benötigten Desoxyribonucleotide nicht mehr erzeugt werden
einer Gichterkrankung erhöht. können. Weltweit wird derzeit eine Reihe von Verfahren zur Gen-
therapie des Adenosindesaminasemangels erstellt (7 Kap. 55.4).
Hyperurikämien werden mit Diät und spezifischen
Arzneimitteln behandelt
Zur korrekten Diagnose von harnsäurebedingten Erkrankungen 31.3 Störungen im Pyrimidinstoffwechsel
sollte nicht nur der Harnsäurespiegel im Blut, sondern auch die
Harnsäure-Clearance geprüft werden. Konzentrationsänderun- Im gesamten Pyrimidinstoffwechsel gibt es bisher neun erkann-
gen in Plasma und Urin müssen nicht immer gleichartig verlau- te genetische Defekte (. Tab. 31.2).
fen. Folgende Maßnahmen eignen sich für die Behandlung von Die am besten beschriebene genetische Erkrankung des Py-
Hyperurikämien: rimidinstoffwechsels ist die hereditäre Orotacidurie. Es handelt
4 Diätetische Einschränkung der Purinzufuhr, die durch sich um eine relativ seltene Erkrankung, deren Ursache ein De-
Nahrungsmittel wie mageres Fleisch, Wild, Innereien, fekt der bifunktionellen UMP-Synthase ist (7 Abb. 30.1). Dabei
Krustentiere und Hülsenfrüchte besonders hoch ist. ist die Aktivität der Orotat-Phosphoribosyltransferase nur
4 Gabe von sog. Uricosurica. Diese (z. B. Probenecid) noch in Spuren nachweisbar. Dies führt zu einem beträchtlichen
hemmen die tubuläre Reabsorption von Harnsäure und Anstau von Orotsäure, die im Urin ausgeschieden werden muss,
führen auf diese Weise zu einem Anstieg der und zu einer Erniedrigung des UTP-Spiegels. Dadurch wird die
Uratausscheidung. für die Pyrimidinbiosynthese geschwindigkeitsbestimmende
4 Therapie mit Allopurinol (. Abb. 31.2). Dieses Struktur- Carbamylphosphatsynthetase 2 enthemmt (7 Abb. 30.5). Es
analoge des Hypoxanthins wird von der Aldehydoxidase zu kommt zur verstärkten Orotsäurebildung ohne nennenswerte
Oxypurinol umgesetzt. Oxypurinol hemmt ebenso wie Hemmung der Dihydroorotatdehydrogenase durch ihr Produkt.
Allopurinol die Xanthindehydrogenase/Oxidase. Es ist auf- Schwere Störungen des Zellstoffwechsels infolge des Mangels an
grund seiner sehr viel längeren Halbwertszeit für die über Pyrimidinnucleotiden sind unvermeidlich. Eine megaloblastäre
24 h anhaltende Wirkung verantwortlich. Unter therapeuti- Anämie, Leukopenie, Verlangsamung von Wachstum und geisti-
schen Dosen von Allopurinol kommt es zu einer deutlichen ger Entwicklung mit erhöhter Infektanfälligkeit führten bei be-
Verminderung der Harnsäureproduktion, gleichzeitig stei- troffenen Kindern zum frühen Tod. Bei rechtzeitiger Diagnose
gen Serumkonzentration und Urinausscheidung von Hypo- ist eine Therapie der Erkrankung jedoch dadurch möglich, dass
xanthin und Xanthin an. Durch die Verteilung der Purin- Uridin in Dosen von mehreren Gramm pro Tag lebenslang zuge-
ausscheidung auf 3 Metabolite – Harnsäure, Hypoxanthin führt wird. Das Nucleosid kann durch die Uridin-Cytidinkinase
und Xanthin – wird das Risiko einer Überschreitung des in UMP umgewandelt werden und zum Aufbau der anderen Py-
Löslichkeitsprodukts dieser Stoffe und damit der Nieren- rimidinnucleotide verwendet werden. Durch den angeborenen
schädigung vermieden. Enzymdefekt ist somit das Uridin, das sonst leicht durch Biosyn-
4 Eine Senkung akut hoher Harnsäurespiegel kann auch these hergestellt werden könnte, zu einer essentiellen Substanz
durch intravenöse Anwendung des harnsäurespaltenden geworden, die wie essentielle Aminosäuren mit der Nahrung
Enzyms Uricase erfolgen. zugeführt werden muss.
31.3 · Störungen im Pyrimidinstoffwechsel
377 31

. Tab. 31.2 Hereditäre Störungen des Pyrimidinstoffwechsels (Auswahl)

Defektes Enzym Auswirkungen

Orotat-Phosphoribosyltransferase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Orotacidurie, hämatologische Störungen; Verlangsamung
der geistigen Entwicklung; Immundefizienz; alimentäre Uridinzufuhr notwendig (7 Abb. 30.1)

Pyrimidin-5’-Nucleotidase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Akkumulation von Pyrimidinnucleotiden in Erythrocyten,
hämolytische Anämie
Zunahme der Enzymaktivität: neurologische Entwicklungsstörungen; alimentäre Uridinzufuhr not-
wendig (7 Kap. 30.5)

Dihydropyrimidindehydrogenase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von Thymin und Uracil; Neurologisches
Krankheitsbild; Epilepsie (7 Abb. 30.7)

Dihydropyrimidinase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von Dihydrouracil und Dihydrothymin;
neurologisches Krankheitsbild (7 Abb. 30.7)

Ureidopropionase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: N-Carbamyl-β-Aminoacidurie; neurologische Entwicklungs-


störungen (7 Abb. 30.7)

β-Aminoisobutyrat-Pyruvat- Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität in der Leber: Ausscheidung von β-Aminoisobutyrat;
Aminotransferase benigner Polymorphismus (7 Abb. 30.7)

Ȼ"MBOJOȺt,FUPHMVUBSBU"NJOPUSBOTGFSBTF Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Ausscheidung von β-Alanin; Hypotonie der Muskulatur mit
epileptischen Anfällen (7 Abb. 30.7)

Thymidinphosphorylase Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: Mitochondriale Neurogastrointestinale Encephalomyo-


pathie (7 Kap. 30.5)

Thymidinkinase 2, mitochondrial Abnahme oder Fehlen der Enzymaktivität: schwere Myopathien (7 Kap. 30.4)

Der häufigste Defekt des Pyrimidinstoffwechsels ist die ge- Verfeinerte Methoden der Molekulargenetik werden voraus-
steigerte Ausscheidung von β-Aminoisobutyrat, einem Zwi- sichtlich weitere Sequenzvariationen auch in den Enzymen des
schenprodukt des Thyminabbaus (7 Abb. 30.7). Zugrunde liegt Pyrimidinstoffwechsels aufdecken. So werden die kürzlich ent-
wahrscheinlich eine Störung der Transaminierung von deckten Mutationen im Gen der Dihydroorotatdehydrogenase
β-Aminoisobutyrat und Bildung des Zwischenprodukts Methyl- als Ursache für das Miller-Syndrom angesehen. Missbildungen
malonsäuresemialdehyd. 5–10 % der weißen Bevölkerung und von Gesicht und Extremitäten kennzeichnen dieses Krankheits-
bis zu 50 % der Asiaten sind Träger dieses Merkmals, das jedoch bild.
keinerlei pathologische Bedeutung hat. Ähnlich wie bei der Pathobiochemie des Purinstoffwechsels
Andere eher seltene Störungen im Abbauweg – wie der Man- gibt es auch sekundäre Störungen des Pyrimidinstoffwechsels.
gel an Dihydropyrimidindehydrogenase, Dihydropyrimidinase So kann es bei gesteigertem Nucleinsäureumsatz zu einem An-
oder Ureidopropionase (7 Abb. 30.7) – sind mit schweren kör- stieg der Orotsäureausscheidung kommen. Eine ausgeprägte
perlichen und geistigen Entwicklungsstörungen der betroffenen Orotacidurie ist bei Kindern mit Ornithintranscarbamylase-
Kinder verbunden. Der ursächliche Zusammenhang ist nicht Mangel (7 Kap. 27.2.2) beobachtet worden. Offenbar kann unter
geklärt. diesen Umständen auch das von der Carbamylphosphatsynthe-
Auch bei asymptomatischen Trägern eines Dihydropyrimi- tase 1 zum Zweck der Harnstoffbildung bereitgestellte mito-
dindehydrogenase- oder Dihydropyrimidinase-Mangels kommt chondriale Carbamylphosphat für die cytosolische Pyrimidin-
es bei Behandlung mit dem Cytostatikum 5-Fluorouracil (. Abb. biosynthese verwendet werden. Schließlich führt eine Reihe von
31.1i), welches ebenfalls über diesen Weg abgebaut wird, zu un- Pharmaka zur Orotacidurie. Es handelt sich v. a. um die oben
erwartet hohen Nebenwirkungen. besprochenen Antimetaboliten 6-Azauridin und Allopurinol.
Erst in neuerer Zeit hat man Störungen im mitochondrialen Aufgrund der Bildung von Oxypurinolribosemonophosphat aus
Desoxyribonucleotidstoffwechsel diagnostiziert. Infolge von Allopurinol kommt es zu Störungen der UMP-Synthase-Aktivi-
Mutationen im Thymidinphosphorylase-Gen (7 Abb. 30.7) tät, da PRPP für die Orotidinbildung nicht in der notwendigen
kommt es zu verheerenden Störungen der Mitochondrienfunk- Konzentration zur Verfügung steht.
tion (mitochondrial neurogastrointestinal encephalomyopathy),
die sich in Muskelatrophie, Malabsorption und einer Myopathie
der Augen- und Skelettmuskeln äußert. Eine defekte mitochon-
drienspezifische Thymidinkinase 2, die sowohl Thymidin als
auch Desoxycytidin phosphoryliert und somit die DNA-Synthe-
se in Mitochondrien ermöglicht, verursacht ebenfalls schwere
Myopathien (7 Kap. 30.4).
378 Kapitel 31 · Pathobiochemie des Purin- und Pyrimidinstoffwechsels

Zusammenfassung
Störungen im Purin- bzw. Pyrimidinstoffwechsel kommen
als primäre, genetisch verursachte bzw. erworbene Erkran-
kungen vor:
4 Die primäre Hyperurikämie ist die Folge einer vermin-
derten Ausscheidung oder Überproduktion von Harn-
säure infolge genetischer Erkrankungen. 20–25 % der
Fälle werden durch eine Überproduktion von Harnsäure
ausgelöst und beruhen auf Defekten der Hypoxanthin-
Guanin-Phosphoribosyltransferase, der PRPP-Synthetase
und der Glutamin-PRPP-Amidotransferase. 75–80 % der
Fälle primärer Hyperurikämie beruhen auf Störungen
der renalen Ausscheidung.
4 Sekundäre Hyperurikämien entstehen infolge einer
31 Harnsäureüberproduktion bzw. durch verminderte Aus-
scheidung von Harnsäure auf Grund von Störungen, die
nicht im Purinstoffwechsel, sondern im Bereich der Nie-
renphysiologie liegen.
4 Die wichtigste genetische Erkrankung des Pyrimidin-
stoffwechsels ist die hereditäre Orotacidurie. Diese kann
auch aufgrund von Störungen des Harnstoffzyklus er-
worben sein.
4 Genetisch bedingte Abbaustörungen der Pyrimidinba-
sen können die Entgiftung von Antipyrimdinpharmaka
stark verändern.
4 Das klinische Bild der Pyrimidin- und Purinstoffwechsel-
störungen ist sehr heterogen und oft von gravierenden
neurologischen Erkrankungen begleitet. Die Diagnose
ist deswegen erheblich erschwert.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


379 32

32 Porphyrine – Synthese und Abbau


Matthias Müller, Hubert E. Blum, Petro E. Petrides

Einleitung

Porphyrine bestehen aus vier jeweils unterschiedlich substituierten


Pyrrolringen, die durch Methinbrücken verknüpft sind. Das wichtigste
Porphyrin für den tierischen Organismus ist das eisenhaltige Häm, da es
Bestandteil des Hämoglobins und vieler anderer Häm-Proteine ist. Die
Häm-Synthese erfolgt in allen Zellen aus Glycin und Succinyl-CoA. Sie
wird in erythroiden und nicht-erythroiden Geweben unterschiedlich
reguliert.
Beim Abbau der Häm-Gruppe entsteht das schwer lösliche Bilirubin, das
wichtige Funktionen als Antioxidans hat. In der Leber wird Bilirubin
durch Glucuronidierung ausscheidungsfähig gemacht und als Gallen-
farbstoff in den Darm sezerniert. Die Akkumulation von Bilirubin ist ein
Charakteristikum von Leberfunktionsstörungen. Defekte der Häm-Syn-
these sind mit komplexen Krankheitsbildern vergesellschaftet.
. Abb. 32.1 Molekülstruktur von Häm. Man beachte am Ring D die um-
Schwerpunkte gekehrte Anordnung der Substituenten

4 Biosynthese von Häm aus Glycin und Succinyl-CoA


Weiterhin sind Tetrapyrrole mit einem zentralen Metallion kom-
4 Regulation der Häm-Biosynthese in erythroiden und nicht-
plexiert, und zwar Häm mit Fe2+, Chlorophyll mit Mg2+ und Co-
erythroiden Geweben
balamin mit Co3+.
4 Abbau von Häm zu Bilirubin und Metabolisierung in der
Leber
Porphyrinogene sind die ungefärbten Vorstufen
4 Porphyrien und Ikterus
der Porphyrine
Der Name »Porphyrine« verrät, dass es sich um purpurfarbene
Verbindungen handelt. Ursache hierfür ist die Lichtabsorption
durch ein zyklisches System von konjugierten Doppelbindungen,
32.1 Die Bildung von Häm das sich über die vier Pyrrolringe und die vier Methinbrücken
erstreckt (. Abb. 32.1). Dieses bildet sich erst ganz am Ende der
32.1.1 Eigenschaften von Häm Häm-Synthese (s. u.) aus, sodass mehrere nicht gefärbte Syn-
thesevorstufen entstehen, die allgemein als Porphyrinogene be-
Häm gehört zur Gruppe der Tetrapyrrole zeichnet werden. Charakteristisch für Porphyrinogene ist die
Auf den ersten Blick hat Häm eine komplizierte Struktur, in der Verknüpfung der vier Pyrrolringe über Methylenbrücken (–CH2–),
sich jedoch definierte Komponenten ausmachen lassen (. Abb. die auch nicht-enzymatisch zu Methinbrücken (=CH–) oxidiert
32.1). Grundbausteine sind die vier Pyrrolringe A-D (hellgelb). werden können, sodass Porphyrinogene in Anwesenheit von
Damit gehört Häm zur Gruppe der Tetrapyrrole. Andere Tetra- Licht und Luftsauerstoff leicht in die entsprechenden gefärbten
pyrrolverbindungen sind z. B. Cobalamin (Vitamin B12; Porphyrine übergehen (s. Porphyrien in 7 Kap. 32.3.1).
7 Kap. 59.9) oder die pflanzlichen Chlorophylle. Synthetisiert
werden diese komplexen Verbindungen aus einem gemeinsamen Häm ist ein weitgehend planares
Vorläufermolekül, der δ-Aminolävulinsäure (s. u.). und hydrophobes Molekül
Im Häm-Molekül sind die vier Pyrrolringe über Methinbrük- Häm ist ein nahezu planares Molekül, bei dem das Eisenatom
ken (grün) miteinander verbunden. Diese Verbindung wird als leicht aus der Ebene der Pyrrolringe herausragt. Im Hämoglobin
Porphin bezeichnet. Tragen die Pyrrolringe Substituenten wie in und Myoglobin ist das zentrale Fe2+-Ion, das mit einer weiteren
. Abb. 32.1, nennt man sie Porphyrine. Die Substituenten des Koordinationsstelle O2 bindet, covalent mit einem Histidinrest
Häm-Moleküls (Eisenprotoporphyrin) sind der Globinkette verknüpft (7 Kap. 5.3). Somit ist Häm die pros-
4 vier Methylgruppen (schwarz) thetische Gruppe von Hämoglobin und weiteren Häm-Protei-
4 zwei Vinylgruppen (ocker) nen. Eine Besonderheit der Cytochrome vom c-Typ (7 Kap.
4 zwei Propionylgruppen (blau) 19.1.2) ist, dass bei ihnen Häm zusätzlich über seine beiden

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
380 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

Vinylgruppen mit zwei SH-Gruppen der Apocytochrome kova-


lent verknüpft ist.
Häm ist eine überwiegend hydrophobe Verbindung, die im
Hämoglobin in eine hydrophobe Tasche eingelagert ist, aus der
die einzigen hydrophilen Anteile, nämlich die beiden Carboxyl-
reste der Propionylgruppen herausragen. Die Bedeutung der hy-
drophoben Eigenschaften des Häm für seine Ausscheidung über
Bilirubin sind in 7 Kap. 32.2.1 beschrieben.

32.1.2 Vorkommen von Häm

Häm ist nicht nur die prosthetische Gruppe von Hämoglobin


und Myoglobin, sondern auch von einer Vielzahl anderer Enzy-
me. Daraus erklärt sich die Tatsache, dass die Häm-Synthese eine
Stoffwechselleistung aller Zellen ist.
Häm-haltige Proteine werden als Häm-Proteine bezeichnet.
32 Enzymatisch gesehen erfüllen Häm-Proteine mehrere Funktio-
nen (7 Tab. 20.1):
4 Bei einigen dient das zentrale Eisenatom als Ligand für
O2 oder andere Sauerstoffverbindungen wie NO. Hierzu
gehören:
5 Hämo- und Myoglobin (7 Kap. 5.3)
5 lösliche Guanylatzyklasen (7 Kap. 35.6.1)
4 Viele Häm-haltige Enzyme sind durch Redoxwechsel des
zentralen Eisenatoms an Elektronentransferprozessen betei-
ligt:
5 Cytochrome der Atmungskette (7 Kap. 19.1.2),
5 Cytochrom b5 überträgt Elektronen auf Desaturasen von
gesättigten Fettsäuren (7 Kap. 21.2.4) . Abb. 32.2 Reaktion der ALA-Synthase. Unter Ausbildung einer Schiff-
4 Oxygenasen verknüpfen Elektronentransfer-Reaktionen mit Base mit PALP (7 Kap. 26.3.1) wird das Cα-Atom von Glycin aktiviert ( 1 )
der Bindung und Spaltung von molekularem O2. und erlaubt den anschließenden Angriff auf das mit Coenzym A veresterte
5 Cytochrom-P450-Monooxygenasen (7 Kap. 20.1.2)
Carboxyl-C-Atom des Succinyl-CoA ( 2 ). Das entstehende Zwischenpro-
dukt α-Amino-β-Ketoadipinsäure decarboxyliert wie alle β-Ketosäuren
5 Dioxygenasen (7 Kap. 27.2.5 und 20.1.1)
leicht ( 3 ), wobei δ-Aminolävulinat (Cδ jetzt bezogen auf die verbliebene,
5 NO-Synthase (7 Kap. 27.2.2) in der Abbildung schwarz gezeichnete Carboxylgruppe) entsteht. Dieses
5 Desaturasen von gesättigten Fettsäuren (7 Kap. 21.2.4) wird hydrolytisch von PALP abgespalten ( 4 )
4 Auch einige Peroxidasen, die Elektronen auf H2O2 oder or-
ganische Peroxide unter Bildung von H2O übertragen, sind
Häm-Proteine: Der Pyrrolring ensteht durch Kondensation
5 Myeloperoxidase (7 Kap. 69.2.1) von zwei Molekülen δ-Aminolävulinsäure
5 Thyreoperoxidase (7 Kap. 41.2.1) Das erste Zwischenprodukt der Häm-Synthese, das einen Pyrrol-
5 Katalase (7 Kap. 20.1.1) ring aufweist, ist das Porphobilinogen. Wie in . Abb. 32.3 ge-
zeigt entsteht es aus zwei Molekülen ALA unter Abspaltung von
zwei Molekülen Wasser. Das verantwortliche Enzym ist die
32.1.3 Syntheseweg von Häm Porphobilinogen-Synthase oder ALA-Dehydratase, ein zinkhal-
tiges Enzym, welches aufgrund einer speziellen Zn-Bindungs-
Glycin und Succinyl-CoA sind die Bausteine von Häm domäne das primäre Angriffsziel von Bleivergiftungen darstellt.
Die Häm-Synthese besteht aus 8 enzymatischen Einzelschritten. Intoxikationen mit Blei führen somit zu einem Anstau von
Im ersten Schritt reagiert Succinyl-CoA mit der Aminosäure δ-Aminolävulinsäure mit erhöhter Ausscheidung im Urin, was
Glycin unter Bildung von δ-Aminolävulinsäure (δ-Amino- einen Kardinalbefund einer Bleivergiftung darstellt.
lävulinat, δ-amino levulinic acid = (δ-)ALA). Katalysiert wird die Der Pyrrolring des Porphobilinogens trägt drei Substituen-
Reaktion von der δ-Aminolävulinatsynthase (ALA-Synthase) in ten, einen Propionylrest (. Abb. 32.3, blau), einen Acetylrest
einer Pyridoxalphosphat (PALP, Vitamin B6)-abhängigen Reak- (schwarz) und eine Aminomethylgruppe (grün), aus der die ver-
tion (. Abb. 32.2). netzenden Methylen- bzw. Methinbrücken der Tetrapyrrole ent-
Beim Menschen existieren zwei Isoenzyme der ALA-Syntha- stehen.
se (7 Kap. 32.1.5). In Pflanzen und Bakterien wird ALA aus
Glutamat gebildet.

Succinyl-CoA# δ-Aminolävulinat# Pyridoxalphosphat#


32.1 · Die Bildung von Häm
381 32
Im nächsten Schritt werden durch die Protoporphyrinogen-
Oxidase alle Methylenbrücken zu Methinbrücken oxidiert, wo-
durch ein geschlossenes System konjugierter Doppelbindungen
und damit die erste gefärbte Zwischenverbindung ensteht, die
nun als Protoporhyrin IX bezeichnet wird (. Abb. 32.4 5 ).
Schließlich baut die Ferrochelatase zweiwertiges Eisen ein,
wodurch Protoporphyrin IX in das fertige Häm (= Eisenproto-
porphyrin IX) umgewandelt wird (. Abb. 32.4 6 ).

. Abb. 32.3 Synthese von Porphobilinogen aus ALA. Die Pfeile geben die 32.1.4 Lokalisation der Häm-Synthese
nacheinander erfolgenden nucleophilen Angriffe an, die zur Quervernet-
zung der beiden ALA-Moleküle führen. Die Farbgebung der rechten Struk-
tur entspricht der von . Abb. 32.1 und 32.4 Die Hauptmenge an Häm wird von Vorläuferzellen
der Erythrocyten und von Hepatocyten gebildet
Prinzipiell sind alle Zellen in der Lage, Häm zu synthetisieren, da
Häm als Cofaktor von Cytochromen, Peroxidasen, Katalasen
Das erste Tetrapyrrol-Intermediat der Häm-Synthese ubiquitär benötigt wird. Die spezielle Ausstattung der Leber mit
ist noch gut wasserlöslich vielen P450-Cytochromen (7 Kap. 62.3.1) bedingt dort eine
Uroporphyrinogen ist die erste Zwischenstufe, bei der ein Tetra- besonders hohe Häm-Syntheseleistung. Die Hauptmenge an
pyrrolring ausgebildet ist. Es entsteht aus vier Molekülen Por- Häm (80‒90 %) wird aber in den Vorläuferzellen der Erythrocy-
phobilinogen. Hierfür sind zwei enzymatische Aktivitäten erfor- ten gebildet, und zwar in den Erythroblasten des Knochenmarks
derlich. Die erste (Porphobilinogen-Desaminase) führt unter und in den kernlosen Reticulocyten, die in den Blutstrom gelan-
4facher Desaminierung zunächst zu einem linearen Tetrapyrrol gen und noch solange Häm synthetisieren, bis sie ihre Riboso-
(. Abb. 32.4, Hydroxymethylbilan 1 ), das sich spontan zum men und Mitochondrien verlieren. Die Häm synthetisierenden
Ring schließen kann. Das dabei entstehende Produkt wäre Vorläuferzellen der Erythrocyten besitzen spezielle Isoenzyme
Uroporphyrinogen I, bei dem die Substituenten aller vier Pyrrol- der biosynthetischen Enzyme, die anders reguliert werden als
ringe symmetrisch in der Reihenfolge Acetylrest–Propionylrest diejenigen anderer Körperzellen (7 Kap. 32.1.5).
angeordnet sind. Das zweite Enzym (Uroporphyrinogen-III-
Synthase) katalysiert jedoch einen Ringschluss von Hydroxyme- Der Biosyntheseweg von Häm ist auf Mitochondrien
thylbilan, bei dem sich Ring D umdreht, sodass hier die Acetyl- und Cytosol verteilt
und Propionylseitenketten in umgekehrter Reihenfolge angeord- Intrazellulär erfolgt die Häm-Synthese in den Mitochondrien und
net sind (. Abb. 32.4 2 ). Dieses natürlich vorkommende Isomer im Cytosol (. Abb. 32.5). Die erste Reaktion, die Kondensation
wird als Uroporphyrinogen III bezeichnet. von Glycin mit dem Citratzyklus-Intermediat Succinyl-CoA läuft
Der Name Uroporphyrinogen rührt daher, dass dieses Zwi- in der Matrix der Mitochondrien ab. Das Reaktionsprodukt ALA
schenprodukt mit dem Urin ausgeschieden wird, wenn es sich verlässt das Mitochondrium und alle weiteren Syntheseschritte
bei angeborenen Störungen der Häm-Synthese (7 Kap. 32.3.1) bis zum Koproporphyrinogen finden im Cytosol statt. Kopropor-
anstaut. Aufgrund der acht Carboxylgruppen ist Uroporphy- phyrinogen wird dann in den mitochondrialen Intermembran-
rinogen demnach ausreichend wasserlöslich. Wie oben erwähnt, raum zurücktransportiert (. Abb. 32.5 1 ), wo es erst zu Proto-
kann Uroporphyrinogen durch Luftsauerstoff und Lichtexposi- porphyrinogen und dann zu Protoporphyrin oxidiert wird. Pro-
tion zum gefärbten Uroporphyrin oxidiert werden, was zur toporphyrin landet durch ein noch unbekanntes Zusammenspiel
Rotfärbung des Urins der betroffenen Patienten führt. von Protoporphyrinogen-Oxidase und Ferrochelatase schließlich
wieder in der mitochondrialen Matrix (. Abb. 32.5 2 ).
Auf dem Weg zum Häm werden die
neusynthetisierten Tetrapyrrole mehrfach
decarboxyliert und oxidiert 32.1.5 Regulierte Schritte der Häm-Synthese
Der nächste Syntheseschritt besteht in der Decarboxylierung
der vier Acetylseitenketten von Uroporphyrinogen III durch die In den nicht-erythroiden Geweben
Uroporphyrinogen-Decarboxylase (. Abb. 32.4 3 ). Das Reak- hemmt Häm die Aktivität der ALA-Synthase 1
tionsprodukt Koproporphyrinogen III ist weniger wasserlöslich auf unterschiedlichen Wegen
als Uroporphyrinogen III, wird bei pathologischem Anstau aber Die Häm-Biosynthese wird im Wesentlichen über die Aktivitäts-
mit dem Stuhl (griech. κὁπρος, kopros) ausgeschieden. kontrolle der ALA-Synthase reguliert (. Abb. 32.5). Beim Men-
Die Propionylseitenketten an Ring A und B des Kopropor- schen wird dieses Enzym von zwei Genen codiert, ALAS 1, das in
phyrinogens werden anschließend decarboxyliert und unter allen Geweben exprimiert wird, und ALAS 2 für die spezifische
Einführung von Doppelbindungen zu Vinylresten oxidiert Expression in Erythroblasten. Die beiden Isoenzyme werden
(. Abb. 32.4 4 ). Das Reaktionsprodukt dieser durch die Kopro- unterschiedlich reguliert. Die ALA-Synthase 1 wird durch einen
porphyrinogen-Oxidase katalysierten Reaktion ist Protopor- hohen Hämspiegel im Sinn einer negativen Rückkopplung
phyrinogen IX. inhibiert. Die ALA-Synthase 2 hingegen wird durch Fe2+ und

δ-Aminolävulinat (δ-ALA)# ALA-Dehydratase# Porphobilinogen-Synthase# Porphobilinogen (PBG)#


382 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

32

4 Porphobilinogen# Porphobilinogen-Desaminase Acetyl Hydroxymethylbilan# Uroporphyrinogen III-Synthase Uroporphyrinogen III#


Uroporphyrinogen-Decarboxylase Koproporphyrinogen III# Koproporphyrinogen-Oxidase Protoporphyrinogen IX# Protoporphyrinogen-
Oxidase Protoporphyrin IX# Ferrochelatase Häm# Häm-Synthese#
32.1 · Die Bildung von Häm
383 32

. Abb. 32.5 Regulation und intrazelluläre Lokalisation der Häm-Synthese in Leber (ALA-Synthase 1) und erythroiden Zellen (ALA-Synthase 2). ALA:
δ-Aminolävulinat. 1 Vermutlicher ABC-Transporter (7 Kap. 11.5) für den Transport von Koproporphyrinogen über die mitochondriale Außenmembran.
2 Komplex aus Protoporphyrinogen-Oxidase und Ferrochelatase, die beide neben ihren spezifischen katalytischen Funktionen auch für die Einschleusung
von Protoporphyrin in die mitochondriale Matrix sorgen. 3 Der Mechanismus des Häm-Exports aus den Mitochondrien ist nicht bekannt. Zum Mechanis-
mus des Imports von Proteinen, wie der ALA-Synthase, in Mitochondrien 7 Kap. 49.2.2 und zur Regulation der Globinsynthese durch Häm 7 Kap. 48.3.3.
Weitere Einzelheiten s. Text

9 . Abb. 32.4 Biosynthese von Häm. Man beachte, dass im Hydroxymethylbilan die Ringe A und D nicht-covalent miteinander verbunden sind. Modifika-
tionen bzw. Gruppen, die enzymatisch entfernt werden, sind rot hervorgehoben. (Einzelheiten s. Text)

ALA-Synthase 1 Häm-Synthese Hepatocyten Erythropoetin ALA-Synthase 2 erythroide Zellen ALA-Dehydratase Porphobilinogen


Porphobilinogen-Desaminase Uroporphyrinogen III-Synthase Uroporphyrinogen-Decarboxylase Koproporphyrinogen
384 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

Erythropoetin stimuliert. Da in Erythroblasten die Hämsynthese


überwiegend der Bildung von Hämoglobin dient, ist sie hier Zusammenfassung
v. a. an die Bereitstellung von Eisen und Globin gekoppelt Häm ist ein mit Fe2+-Ionen komplexiertes Porphyrin. Neben
(7 Kap. 48.3.3). Hämoglobin kommt es als Cofaktor in vielen anderen Häm-
Häm hemmt die ubiquitär vorkommende ALA-Synthase 1 Proteinen vor, wie Myoglobin, Cytochromen, Cyto-
auf unterschiedlichen Wegen (. Abb. 32.5A): chrom-P450-Monooxygenasen, NO-Synthase, löslichen Gua-
4 durch Repression des ALA-Synthase-1-Gens. Dieser Regu- nylatcyclasen, Katalase u. a.
lationsmechanismus ist möglich, weil die ALA-Synthase mit Die Syntheseschritte von Häm sind auf Mitochondrien
einer Halbwertszeit von 30–60 min ein relativ kurzlebiges (Synthese von ALA, Fe2+-Einbau) und Cytosol verteilt:
Enzym ist, 4 δ-Aminolävulinat (ALA) entsteht in einer PALP-abhängi-
4 über die Blockade ihres Imports in Mitochondrien. Die gen Reaktion aus Glycin und Succinyl-CoA mit Hilfe des
ALA-Synthase 1 wird zunächst im Cytosol als Präenzym Enzyms ALA-Synthase,
mit einer typischen mitochondrialen Präsequenz syntheti- 4 der Pyrrolring entsteht durch die Kondensation von zwei
siert (7 Kap. 49.2.2 und 7 Tab. 12.1), die nach dem Import Molekülen ALA zu Porphobilinogen,
in die Mitochondrien abgespalten wird. Da Häm-Bin- 4 erstes Tetrapyrrol ist Uroporphobilinogen,
dungsstellen auf der Prä-ALA-Synthase 1 identifiziert 4 durch mehrmalige Decarboxylierung und Oxidation
werden konnten, ist es möglich, dass freies cytosolisches werden die Seitenketten verkürzt und ein System konju-
32 Häm durch Bindung an das Präenzym den Transport in die
Mitochondrien blockiert.
gierter Doppelbindungen eingeführt,
4 erste gefärbte Verbindung ist Protoporphyrin, das durch
den Einbau von Fe2+ durch die Ferrochelatase in Häm
Die Expression der ALA-Synthase 1 wird auch durch übergeht.
Pharmaka und die Nahrungsaufnahme beeinflusst Alle Zellen sind zur Häm-Synthese befähigt; quantitativ am
Einige Pharmaka induzieren die Transkription des ALA-Syn- meisten synthetisieren Vorläuferzellen der Erythrocyten
thase-1-Gens (. Abb. 32.5A). Dies manifestiert sich bei Anlage- ( Hämoglobin) und die Leber ( Cytochrom-P450-Mono-
trägern einer akuten Porphyrie, bei denen die Einnahme oxygenasen). Die Hauptregulation erfolgt über die ALA-
bestimmter Pharmaka wie Barbiturate oder Steroide (Kontra- Synthase. In erythroiden Geweben wird sie durch Fe2+ auf
zeptiva) über eine Akkumulation von Hämsynthese-Vorstufen Translations- und durch Erythropoetin auf Transkriptions-
einen klinischen Schub dieses Krankheitsbildes auslösen kann ebene stimuliert. In der Leber hemmt Häm das Enzym allos-
(7 Kap. 32.3.1). Über Bindung an die (ligandenabhängigen) terisch und transkriptionell; Pharmaka induzieren die ALA-
Transkriptionsfaktoren CAR und SXR (PXR) (7 Kap. 62.3.1) Synthase 1 parallel zu den Cytochrom-P450-Monooxygenasen.
induzieren diese Pharmaka in der Leber die Expression von
Monooxygenasen der Cytochrom-P450-Familie, mithilfe derer die
Pharmaka im Rahmen der Biotransformation ausscheidungsfä-
hig gemacht werden. Da dieselben Transkriptionsfaktoren gleich- 32.2 Abbau und Ausscheidung von Häm
zeitig die Expression der ALA-Synthase 1 stimulieren, wird genü-
gend Häm für die Synthese der P450-Cytochrome bereitgestellt. 32.2.1 Die Bildung von Bilirubin aus Häm
Die Expression der ALA-Synthase 1 in der Leber ist außer-
dem von der Ernährung abhängig. Während Glucose die Expres- Da das beim Abbau von Häm-Proteinen freiwerdende Häm nicht
sion der ALA-Synthase 1 hemmt, wird sie durch Nahrungska- wiederverwendet wird, muss es in eine ausscheidungsfähige
renz stimuliert. Verantwortlich hierfür ist der Transkriptionsfak- Form überführt werden.
tor FoxO 1. Entsprechend können Hungerperioden (Diäten) bei
Porphyrieanlageträgern einen klinischen Schub auslösen. Beim Menschen werden täglich ca. 250 mg Häm
zu Bilirubin umgebaut
In Vorläuferzellen von Erythrocyten wird Die mittlere Lebensdauer von Erythrocyten beträgt ca. 120 Tage.
die Expression der ALA-Synthase 2 durch Fe2+ Danach werden die Erythrocyten von den Monocyten und Ma-
und Erythropoetin stimuliert krophagen in Knochenmark, Leber und Milz durch Phagocytose
In Erythroblasten hemmt Häm vorwiegend die Ferrochelatase aufgenommen. Die Globinketten des freiwerdenden Hämoglo-
und die Porphobilinogen-Desaminase (. Abb. 32.5B). Die ALA- bins werden durch Proteolyse abgebaut und Häm wird in Biliru-
Synthase 2 wird in ihrer Aktivität v. a. durch den intrazellulären bin überführt.
Fe2+-Pool beeinflusst. Hohe Spiegel an Fe2+ verdrängen das eisen- Gehen Erythrocyten bereits intravasal zugrunde, wird
regulatorische Protein (7 Kap. 60.2.3) aus seiner Bindung an das Hämoglobin von Haptoglobin (7 Kap. 67.3), einem Plasma-
IRE (iron responsive element) im 5’-nicht-translatierten Bereich protein der Leber, gebunden und dem reticulohistiocytären
der ALA-Synthase-2-mRNA und ermöglichen damit deren System zugeführt. Freigesetztes Häm hingegen wird von Hämo-
Translation. Die Transkription der ALA-Synthase-2-mRNA wird pexin zur Leber transportiert. Aus dem Hämoglobinumsatz und
außerdem durch Erythropoetin reguliert, das über seinen mem- dem Abbau anderer Häm-Proteine (s. o.) fallen bei einem nor-
branständigen Rezeptor und die JAK/STAT-Signalkaskade den malgewichtigen Erwachsenen täglich etwa 250 mg Bilirubin
induzierenden Transkriptionsfaktor GATA 1 aktiviert. (Häm) an.
32.2 · Abbau und Ausscheidung von Häm
385 32
Atome, und zwar zwei im geöffneten Tetrapyrrolring und eines
im CO, während die restlichen drei O-Atome mit dem Wasser-
stoff von drei NADPH-Molekülen zu H2O reduziert werden. Bei
dieser Reaktion, bei der das Eisenatom freigesetzt wird, ändert
sich das geschlossene System konjugierter Doppelbindungen vom
Häm und es entsteht das grünlich gefärbte Biliverdin.
Der Folgeschritt ist eine einfache Reduktion der Methin-
brücke zwischen den Pyrrolringen C und D, bei der eine wei-
tere, konjugiert stehende Doppelbindung entfernt wird und sich
die Farbe in das Orangerot von Bilirubin ändert. Katalysiert wird
die Reaktion durch die Biliverdin-Reduktase, die NADPH/H+
als Wasserstoffdonor benutzt.

Bilirubin ist ein schlecht wasserlösliches Molekül


Als Derivat von Häm (s. o.) ist Bilirubin ein überwiegend hydro-
phobes Molekül, das als solches im Blut an Albumin gebunden
zur Leber transportiert werden muss, um dort über die Biotrans-
formation (7 Kap. 62.3) in eine ausscheidungsfähige Form
überführt zu werden.
Wie erklärt sich trotz der zwei Carboxylgruppen der stark
hydrophobe Charakter von Bilirubin?
Ursache ist die freie Drehbarkeit der beiden Dipyrrolhälften
von Bilirubin um die in der Biliverdinreduktase-Reaktion
entstandene Methylgruppe zwischen den Ringen C und D
(. Abb. 32.7A). Dadurch können die beiden Carboxylgruppen so
positioniert werden, dass sie stabilisierende Wasserstoffbrücken
zwischen den Pyrrolringen ausbilden können (. Abb. 32.7B).
Diese Form des Bilirubins kann in einer bestimmten Farb-
reaktion (Diazoreaktion oder van den Bergh-Reaktion) erst
dann ausreichend schnell nachgewiesen werden, wenn seine
Wasserstoffbrücken durch geeignete Lösungsmittel (z. B. Metha-
nol) aufgebrochen wurden. Es wird deswegen als indirektes Bili-
rubin bezeichnet. Durch zweifache Glucuronidierung in den
Hepatocyten (s. u.), werden die beiden Carboxylgruppen mas-
kiert (. Abb. 32.7C) und Bilirubin gallengängig gemacht. Durch
diese Modifikation kann Bilirubin dann auch direkt in der Far-
breaktion nachgewiesen werden. Glucuronidiertes Bilirubin
. Abb. 32.6 Bildung von Bilirubin aus Häm. Als α-Isomere von Biliverdin stellt damit die Fraktion des direkten Bilirubins dar. Die norma-
und Bilirubin werden diejenigen Produkte der Häm-Oxygenase bezeichnet, le Konzentration an Bilirubin im Blutplasma beträgt ca.
die bei Öffnung von Häm zwischen den Pyrrolringen A und B entstehen 0‒0,9 mg/100 ml. Da direktes Bilirubin ein Produkt der Leber ist,
kommt es beim Gesunden mit nicht mehr als 0,3 mg/100 ml im
Plasma vor.
Der zweistufige Umbau von Häm zu Bilirubin
wird durch die Häm-Oxygenase Die leberspezifische Metabolisierung von Bilirubin
und die Biliverdinreduktase katalysiert kann durch Phototherapie umgangen werden
Im ersten Schritt des Häm-Abbaus entsteht zunächst eine lineare Die intramolekularen Wasserstoffbrücken von Bilirubin als Ur-
Tetrapyrrolverbindung. Bei Vertebraten wird der Tetrapyrrolring sache für seine geringe Wasserlöslichkeit sind die Grundlage für
des Häm zwischen den Pyrrolringen A und B (diejenigen, welche die Behandlung eines Neugeborenenikterus durch Photothera-
die beiden Vinylreste tragen) so gespalten, dass die Methylen- pie. Die Phototherapie mit blauem Licht (400‒500 nm) bewirkt die
gruppe als CO freigesetzt wird (. Abb. 32.6). Dies ist die einzige Photoisomerisierung von Bilirubin. Durch diese Bestrahlung wer-
Reaktion im menschlichen Körper, bei der CO entsteht. CO ist den die beiden Doppelbindungen an den Methinbrücken zwi-
allerdings nicht nur das Nebenprodukt dieser Reaktion, sondern schen den Ringen B und C bzw. D und A (. Abb. 32.7A) aus der
scheint auch physiologische Funktionen, wie die eines Neuro- üblichen cis-(Z-) in die trans-(E-)Konformation überführt. Da-
transmitters, auszuüben. durch werden die NH- und O=C-Gruppen der Ringe A und B
Das verantwortliche Enzym, die Häm-Oxygenase, von dem räumlich so verlagert, dass sie nicht mehr für Wasserstoffbrücken
mehrere Isoenzyme existieren (s. u.), ist dem Reaktionstyp nach mit den Carboxylgruppen der Propionylseitenketten zur Verfü-
eine Monooxygenase. Sie fixiert von drei Molekülen O2 drei O- gung stehen. Die entstehenden Photoisomere des Bilirubins wer-
386 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

dinreduktase wieder regeneriert wird. Eine experimentell


durchgeführte Inaktivierung der Biliverdinreduktase, die zu
einem Absinken des Bilirubinspiegels führt, ist tatsächlich mit
einem messbaren Anstieg von zellulären Sauerstoffradikalen
vergesellschaftet. Die antioxidative Schutzfunktion von Bilirubin
erklärt auch, warum eines der Isoenzyme der für die Entstehung
von Bilirubin verantwortlichen Häm-Oxygenase durch divese
cytotoxische Stimuli induziert wird. Aufgrund der Lipophilie
von Bilirubin scheinen es v. a. Lipidperoxide (7 Kap. 20.2) zu
sein, die durch Bilirubin detoxifiziert werden können.

32.2.2 Metabolisierung von Bilirubin in der Leber

Im Blut wird Bilirubin an Albumin gebunden zur Leber trans-


portiert. Da die Bindungskapazität von Serumalbumin für Bili-
rubin begrenzt ist, kann ein Überangebot an Bilirubin, wie es
32 beispielsweise bei Neugeborenen durch eine noch eingeschränk-
te Metabolisierung in der Leber auftritt, zu vermehrt freiem Bi-
lirubin führen. Dieses bindet bevorzugt an Membranlipide und
verursacht bei unreifer Blut-Hirn-Schranke so den Kernikterus
(Ablagerung in Ganglienzellen des Stammhirns).
Nach Freisetzung vom Albumin wird Bilirubin über einen
Transporter der OATP-Familie (organic anion transport protein)
(7 Kap. 62.4.1) durch die sinusoidale (basolaterale) Membran
von Hepatocyten aufgenommen (. Abb. 32.8 1 ).
Intrazellulär wird Bilirubin von einem auch als Ligandin be-
zeichneten Protein gebunden 2 . Dabei handelt es sich um die
Glutathion-S-Transferase, die eine wichtige Rolle bei der Metabo-
lisierung von hydrophoben Verbindungen im Rahmen der Bio-
transformation spielt (7 Kap. 62.3.1). Dieses Enzym besitzt
zusätzlich zur Substratbindestelle eine Bindestelle für hydrophobe
. Abb. 32.7 Indirektes und direktes Bilirubin. A Die beiden Dipyrrolhälf- Liganden wie Bilirubin, Gallensäuren u. a., die enzymatisch nicht
ten (B, C und D, A) von Bilirubin sind um die zentrale Methylengruppe frei
umgesetzt werden, sondern offensichtlich nur intrazellulär auf
drehbar (Pfeil). B Beim indirekten, weitgehend wasserunlöslichen Bilirubin
wird die räumliche Anordnung der beiden Dipyrrolhälften durch intramole- diese Weise transportiert werden. Über Ligandin gelangt Bilirubin
kulare Wasserstoffbrücken (blau gestrichelte Linien) fixiert. C Maskierung der zum endoplasmatischen Retikulum 3 , in dem es von UDP-Glu-
beiden Carboxylgruppen durch Glucuronidierung verhindert die stabile curonattransferasen (Bilirubin-UDP-Glucuronattransferase,
Faltung und erhöht die Wasserlöslichkeit (direktes Bilirubin). In . Abb. Bilirubin-UGT) in der Regel an beiden Propionylseitenketten
32.7A ist Bilirubin in seiner nicht-dissoziierten Form dargestellt, wie sie im
glucuronidiert wird (. Abb. 32.7C). Substrat ist UDP-Glucuron-
Blut überwiegend vorliegt
säure, die aus Glucose-1-Phosphat gebildet wird (7 Kap. 16.1.2).

den dann auch ohne vorherige Glucuronidierung in die Gallen-


flüssigkeit sezerniert. 32.2.3 Sekretion von Bilirubindiglucuronid
in die Gallenflüssigkeit
Bilirubin ist nicht nur ein Ausscheidungsprodukt
von Häm Die Sekretion von Bilirubindiglucuronid (BDG) erfolgt an der
Letztlich sind also die intramolekularen Wasserstoffbrücken des kanalikulären Membran der Hepatocyten in die Gallekanalikuli
indirekten Bilirubins für dessen Löslichkeits- und damit Aus- (. Abb. 32.8 4 ). Diese enthält eine Reihe von Transport-ATP-
scheidungsprobleme verantwortlich. Dagegen ist Biliverdin, das asen, unter ihnen das MRP2 (multidrug resistance-related prote-
im Gegensatz zu Bilirubin die freie Drehbarkeit zwischen den in 2), welches u. a. Bilirubin unter ATP-Verbrauch aktiv in die
zentralen Ringen (C, D) nicht besitzt (. Abb. 32.6), wesentlich Gallenflüssigkeit pumpt (7 Kap. 62.4.1). Ähnliche, ATP-
besser wasserlöslich. Somit drängt sich die Frage nach dem getriebene Pumpen (MRP3, MRP4) werden bei Überladung des
physiologischen Sinn der Umwandlung von Häm zu Bilirubin auf. Hepatocyten mit Bilirubindiglucuronid, wie z. B. bei Cholestase
Bilirubin hat nachweislich eine cytoprotektive Wirkung, in- (Verlegung der Gallenwege), auch in der sinusoidalen Membran
dem es die Funktion eines lipophilen Antioxidans ausübt. So exprimiert. Diese Transporter sind dann die Ursache für den
kann Bilirubin Peroxide (7 Kap. 20.2) reduzieren, wobei es selbst Anstieg des direkten Bilirubins (BDG) im Blut unter diesen
zurück zu Biliverdin oxidiert und dann mithilfe der Biliver- pathologischen Verhältnissen.
32.3 · Pathobiochemie des Porphyrinstoffwechsels
387 32

. Abb. 32.8 Die Funktion des Hepatocyten bei der Aufnahme, Metabolisierung und Sekretion von Bilirubin. MRP: multidrug resistance related protein;
GlcUA: Glucuronat. Weitere Einzelheiten s. Text

32.2.4 Abbau und Ausscheidung von Bilirubin


Dabei wird zunächst der Tetrapyrrolring geöffnet und das
Im Darm modifizieren bakterielle Enzyme Bilirubin C-Atom der verbindenden Methinbrücke als CO abgespalten
zu Stercobilin (Häm-Oxygenasereaktion). Anschließend wird die gegen-
Bilirubindiglucuronid wird im Darm mehrfach modifiziert überliegende Methinbrücke des Biliverdins reduziert (Bili-
(. Abb. 32.9). Hydrolasen von Darmbakterien spalten im termi- verdinreduktase), wobei Bilirubin entsteht.
nalen Ileum und Dickdarm die Glucuronatreste von den Pro- Durch diese Reaktion werden die beiden Dipyrrolhälften von
pionylseitenketten ab. Wiederholte reduktive Schritte führen zu Bilirubin frei drehbar und ordnen sich so an, dass intramole-
einem Verlust des durchgehenden Systems konjugierter Doppel- kulare H-Brücken entstehen, die Bilirubin zu einem schwer
bindungen und damit zu den farblosen Zwischenprodukten Uro- löslichen Molekül machen (indirektes Bilirubin).
bilinogen und Stercobilinogen. Letzteres wird schließlich zu An Albumin gebunden wird Bilirubin zur Leber transportiert
Stercobilin oxidiert, welches wieder orange-gelb bis bräunlich und dort im Rahmen der Biotransformation zu Bilirubin-
gefärbt ist. Stercobilin und die durch die Einwirkung bakterieller diglucuronid umgewandelt (direktes Bilirubin), das mit der
Enzyme aus Stercobilinogen gebildeten Dipyrrolverbindungen Gallenflüssigkeit in das Duodenum sezerniert wird. Im Darm
ergeben die übliche Verfärbung der Faeces. wird Bilirubin unter der Einwirkung von bakteriellen Enzy-
men über Urobilinogen zu Stercobilin umgebaut. Ein kleiner
Ein Teil der Abbauprodukte von Bilirubin Teil wird als Urobilinogen über den Urin ausgeschieden.
wird rückresorbiert und über Galle oder Niere Bilirubin ist nicht nur die Ausscheidungsform von Häm,
erneut ausgeschieden sondern hat als lipophiles Antioxidans eine cytoprotektive
Bis zu 20 % der Abbauprodukte von Bilirubin werden über einen Wirkung.
enterohepatischen Kreislauf im terminalen Ileum und Dickdarm
rückresorbiert und zur Leber transportiert, von wo sie erneut
über die Galle in den Darm sezerniert werden. Ein kleinerer Teil
gelangt in den Körperkreislauf und wird über die Niere ausge- 32.3 Pathobiochemie des
schieden. Urobilinogen (. Abb. 32.9) kann durch Luftsauerstoff Porphyrinstoffwechsels
an der zentralen Methylengruppe zwischen den Ringen C und D
zu Urobilin oxidiert werden, was für die Gelbfärbung des Urins 32.3.1 Defekte der Häm-Bildung
mit verantwortlich ist.
Störungen der Häm-Biosynthese führen zu den Krankheitsbil-
dern der sideroblastischen Anämie und der primären (genetisch
Zusammenfassung bedingten) Porphyrien. Bei sekundären Porphyrien handelt es
Beim Menschen fallen täglich ca. 250 mg Häm aus dem sich um erworbene Porphyrien.
Abbau von Hämoglobin bzw. anderen Häm-Proteinen an,
die über das Zwischenprodukt Biliverdin zu Bilirubin umge- Sideroblastische Anämie resultiert aus einem
baut werden. Defekt der ALA-Synthase 2
6 Diese Anämie ist bedingt durch einen Funktionsverlust der ALA-
Synthase 2 der erythroiden Zellen des Knochenmarks mit konse-

GlcUA-Transferase Bilirubin-Diglucuronid
388 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

kutiver Reduktion der Biosynthese von Protoporphyrin IX und


einer Eisenanreicherung in den Mitochondrien von Erythroblas-
ten. Inzwischen sind über 20 verschiedene Genmutationen iden-
tifiziert worden. Eine davon führt zu einer reduzierten Bindung
von Pyridoxalphosphat als essentiellem Cofaktor dieses Enzyms
(s. . Abb. 32.2). Therapie ist deswegen ein hohes orales Angebot
an Vitamin B6, um die reduzierte Bindung zu kompensieren.

Porphyrien entstehen, wenn sich Tetrapyrrolinter-


mediate der Häm-Synthese intrazellulär anhäufen
Mutationsbedingte Defekte sind für alle Enzyme der Häm-Bio-
synthese bekannt. Die klinisch Bedeutsamsten sind in . Tab. 32.1
zusammengestellt. Eine erste laborchemische Diagnostik beruht
auf dem Ausscheidungsmuster von ALA und Porphobilinogen
im Urin und von Uro- und Koproporphyrinogenen in Urin und
Stuhl.

32 Porphobilinogen-Desaminasemangel Der Name Akute in-


termittierende Porphyrie verrät, dass die Symptome akut
und in Schüben auftreten. Die Pathogenese und Therapie dieses
Krankheitsbildes erklärt sich aus den Merkmalen der Regula-
tion der ALA-Synthase 1 (7 Kap. 32.1.5). Da bei einer ver-
minderten Produktion von Häm dessen hemmender Effekt auf
die ALA-Synthase 1 entfällt, genügt eine auf 50 % reduzierte
Aktivität der Porphobilinogen-Desaminase offensichtlich für
eine ausreichende Häm-Synthese. Wird dagegen die ALA-Syn-
thase 1 hochreguliert, meist durch Pharmaka oder Nahrungs-
karenz (7 Kap. 32.1.5), stauen sich ALA und Porphobilinogen
vor der reduziert aktiven Porphobilinogen-Desaminase an.
Hauptsymptome sind dann akute Abdominalbeschwerden und
neurologisch-psychiatrische Störungen (periphere Neuro-
pathien, Krampfanfälle), die vermutlich durch GABAerge
Wirkungen der strukturverwandten ALA verursacht sind.
Therapeutisch wird im Akutstadium Hämarginat (infundierbares
Hämpräparat) verabreicht, das die ALA-Synthase 1 hemmt;
gleichzeitig müssen die auslösenden Pharmaka abgesetzt
werden. Interessanterweise bleiben fast 90 % der Anlageträger
asymptomatisch, sodass die Genanlage aus noch unbekannten
Gründen eine niedrige Penetranz besitzt.

Uroporphyrinogen-Decarboxylasemangel Diese häufigste Form


der Porphyrie entwickelt sich meist erst im Erwachsenenalter
(»Porphyria cutanea tarda«), z. B. durch die mehrjährige Ein-
nahme von Kontrazeptiva oder durch einen zusätzlichen Leber-
schaden wie bei Hepatitis C-Virus Infektion oder Eisenüberla-
dung. Der Emzymdefekt bewirkt einen cytosolischen Anstau von
Uroporphyrinogen III, das in Lysosomen aufgenommen wird.
. Abb. 32.9 Umbau von Bilirubin zu Stercobilin im Darm. Durch Reduktion
Nach Oxidation zu Uroporphyrin absorbiert es sichtbares Licht
der beiden Vinylseitenketten zu Ethylresten entsteht Mesobilirubin. Durch
Reduktion der beiden Methinbrücken zwischen den Pyrrolringen B/C und
(400 nm), was mit einer generellen Zellschädigung einhergeht.
D/A geht das System durchgehender konjugierter Doppelbindungen verlo- Diese manifestiert sich überwiegend durch Blasen- und Narben-
ren und es bildet sich das farblose Mesobilirubinogen (Urobilinogen). Die Re- bildung und eine leichte Verletzbarkeit lichtexponierter Haut-
duktion von zwei Doppelbindungen in den Ringen B und A führt zu Stercobi- partien.
linogen. Dieses wird an der zentralen Methylengruppe reoxidiert, wodurch
im Zentrum der Verbindung wieder ein System konjugierter Doppelbin-
dungen entsteht, sodass das Reaktionsprodukt Stercobilin wieder gefärbt ist
Ferrochelatasemangel Das bei der Erythropoetischen Proto-
porphyrie angestaute Intermediat ist das intramitochondrial
entstehende Protoporphyrin. Es führt ebenfalls zu einer Photo-
sensibilisierung mit Brennen, Jucken und Erythemen der

Bilirubin# Mesobilirubin# Mesobilirubinogen# Urobilinogen# Stercobilinogen# Stercobilin#


32.3 · Pathobiochemie des Porphyrinstoffwechsels
389 32

. Tab. 32.1 Ausgewählte primäre Porphyrien

Porphyrietyp Defektes Enzym Primär akkumulie- Symptome


rendes Häm-Interme-
diat Viszeral- Kutane Andere
neurologische

Akute intermittierende Porphobilinogen-Desaminase ALA, Porphobilinogen +


Porphyrie

Kongenitale erythropo- Uroporphyrinogen-III-Synthase Uroporphyrinogen I + Hämolytische Anämie,


etische Porphyrie rot gefärbte Zähne

Porphyria cutanea tarda Uroporphyrinogen-Decarboxylase Uroporphyrinogen III +

Erythropoetische Ferrochelatase Protoporphyrin + Leberaffektion


Protoporphyrie

Hautoberfläche nach Sonnenbestrahlung. Protoporphyrin ist cy- 4 prähepatischer Ikterus


totoxisch, weil es sich vermutlich in Membranen einlagern kann. 4 intrahepatischer Ikterus
Typisch ist ein hepatotoxischer Effekt, sodass einzelne dieser Pa- 4 posthepatischer Ikterus
tienten auch an einer Leberfunktionsstörung leiden. Ein neues 4 Kombinationen dieser Formen
Therapieprinzip ist die Anwendung von α-MSH (7 Kap. 39.2.4), 4 hereditäre Störungen des Bilirubinstoffwechsels
welches die Melanocytenproduktion in der Haut stimuliert.
Häufigste Ursache eines prähepatischen Ikterus
Uroporphyrinogen-III-Synthasemangel Diese als Kongenitale ist eine Hämolyse
erythropoetische Porphyrie bezeichnete, seltene Erkrankung Bei einer Verkürzung der Erythrocytenlebensdauer unter 50 %
wird schon im Kleinkindesalter manifest mit einer durch der Norm überschreitet die Bilirubinbildung die Aufnahmekapa-
Uroporphyrin bedingten Rotverfärbung der Windeln. zität der Leber. Die Folge ist eine Zunahme des unkonjugierten
Uroporphyrin entsteht nach Luftexposition aus dem im Urin Bilirubins im Blutplasma. Bei schweren Hämolysen nimmt auch
in großen Mengen ausgeschiedenen Uroporphyrinogen I, das der Anteil des konjugierten Bilirubins zu, da bei extremem Anfall
bei fehlender Uroporphyrinogen-III-Synthaseaktivität spon- von Bilirubin die Sekretionskapazität der Leber für konjugiertes
tan aus Hydroxymethylbilan gebildet wird (7 Kap. 32.1.3). Bilirubin überschritten wird. Konjugiertes Bilirubin gelangt
Hauptsymptom ist eine schwere Photodermatose. dann aus den Leberzellen »retrograd« in das Blut. Eine seltene
Sonderform ist der Ikterus bei dyserythropoetischer Anämie,
Bei sekundären Porphyrien ist die Ausscheidung verursacht durch hereditäre oder erworbene Störungen der Ery-
von Häm-Synthese-Intermediaten aufgrund anderer throcytenreifung bzw. eine ineffektive Erythropoese.
Krankheiten erhöht
Eine vermehrte Ausscheidung von Zwischenprodukten der Ein intrahepatischer (hepatozellulärer) Ikterus
Häm-Biosynthese tritt auf bei Hemmung einzelner Enzyme der tritt bei vielen Leberkrankheiten auf
Häm-Synthesekaskade, wie z. B. der ALA-Dehydratase bei Blei- Ein Ikterus ist zunächst kein obligates Symptom einer Leber-
Intoxikationen (7 Kap. 32.1.3) oder auch bei hepatobiliären erkrankung. Je schwerer allerdings die Parenchymschädigung
Erkrankungen, da ein gewisser Teil von Koproporphyrinogen der Leber ist, umso ausgeprägter ist in der Regel der Ikterus.
normalerweise auch immer über die Galle eliminiert wird. Auftreten und Schweregrad des Ikterus haben deshalb bei vielen
Leberkrankheiten prognostische Bedeutung. Ursache des Ikterus
ist die Störung der Ausscheidung des Bilirubins von den Hepato-
32.3.2 Ikterus cyten in die Gallenkapillaren. Die Glucuronidierung von Biliru-
bin ist eine sehr »stabile« Leberfunktion und bei Leberkrankhei-
Als Ikterus wird eine gelbliche Verfärbung von Geweben (Haut, ten in der Regel nicht oder nur wenig eingeschränkt. Das konju-
Skleren) und Körperflüssigkeiten (Serum) durch Zunahme gierte Bilirubin, das sich bei gestörter Exkretion in den Hepato-
des Bilirubins bezeichnet. Die gelbliche Verfärbung der Skle- cyten anstaut, gelangt durch passive Diffusion oder durch ein
ren tritt bei einer Serumkonzentration des Bilirubins über Transportsystem (7 Kap. 32.2.3) in der sinusoidalen Membran in
2–2,5 mg/100 ml (normal 0,3–1,0 mg/100 ml), die der Haut bei das Blut. Bei sehr schwerer Leberschädigung mit Störungen der
Konzentrationen über 3,0–4,0 mg/100 ml auf. Ein Ikterus ist kein Bilirubinaufnahme und -glucuronidierung kann auch das
spezifisches Symptom von Leberkrankheiten, gibt aber wichtige unkonjugierte Bilirubin im Blut zunehmen. Das konjugierte
Aufschlüsse über deren Schweregrad und Prognose. Bilirubin wird über die Niere ausgeschieden. Der Urin wird
Fünf Hauptformen des Ikterus können nach pathogeneti- dadurch braun verfärbt. Das Ausmaß der Stuhlentfärbung hängt
schen Gesichtspunkten unterschieden werden: vom Grad der Exkretionsstörung ab.
390 Kapitel 32 · Porphyrine – Synthese und Abbau

Ein posthepatischer Ikterus tritt Lebenstagen auftritt. Die Folge ist ein Kernikterus mit neurologi-
bei Abfluss-Störungen der Galle auf schen Symptomen. Die Galle ist farblos oder durch Übertritt von
Ein partieller oder kompletter Verschluss der Gallenwege führt unkonjugiertem Bilirubin leicht gelblich gefärbt. Alle Tests der
zu einem Rückstau von Galle und zu einer Behinderung der Gal- Leberfunktionen und die Leberhistologie sind normal. Ohne the-
lesekretion (Cholestase). Konjugiertes Bilirubin tritt aus den Le- rapeutische Maßnahmen beträgt die Lebenserwartung nicht
berzellen und Gallenkapillaren in das Blut über und wird ver- mehr als 15 Monate. Therapie der Wahl ist die Lebertransplanta-
mehrt mit dem Urin ausgeschieden, der dadurch eine braune tion. Neuerdings wurde auch die Transplantation von Leberzellen
Farbe erhält. Bei komplettem Verschluss der Gallenwege können durchgeführt. Therapeutisch wirksam ist ferner eine UV-Licht-
im Darm Urobilinogene, Urobilin und Stercobilin nicht gebildet Behandlung. Dadurch entstehen aus dem Bilirubinmolekül Kon-
werden. Der Stuhl ist deshalb entfärbt, die Urobilinogenaus- formationsisomere, zyklische Derivate und Fragmente, die ohne
scheidung im Urin fehlt. Bei partiellem und intermittierendem Konjugation biliär ausgeschieden werden können (7 Kap. 32.2.1).
Verschluss wechseln Ikterus, Stuhlfarbe und die Ausscheidung
von Urobilinogen und Bilirubin im Urin in Abhängigkeit vom Crigler-Najjar Typ II Hierbei handelt es sich um eine abge-
Grad der Obstruktion. Da ein länger bestehender posthepati- schwächte Form des Typs I. Der Ikterus ist weniger stark ausge-
scher Ikterus zu Störungen der Leberfunktion mit Beeinträchti- prägt als bei Typ I. Kernikterus und neurologische Symptome
gung der Bilirubinaufnahme und -konjugation führen kann, ist sind selten. Die Galle enthält konjugiertes Bilirubin, jedoch ist
unter diesen Bedingungen auch indirektes Bilirubin im Plasma die biliäre Exkretion von Bilirubin reduziert. Die Relation von
32 meist erhöht. Mono- zu Diglucuroniden ist zugunsten der Monoglucuronide
verlagert. Das Erwachsenenalter wird von den Betroffenen er-
Häufig entsteht ein Ikterus durch kombinierte reicht. Manchmal wird die Krankheit erst beim Erwachsenen
Störungen des Bilirubinstoffwechsels diagnostiziert. Therapeutisch ist bedeutsam, dass – im Gegensatz
Zahlreiche Fremdstoffe und Arzneimittel können einen Ikterus zu Typ I – durch Phenobarbital die Restaktivität des Enzyms sti-
verursachen. Die Pathogenese dieser Ikterusform ist komplex: muliert und der Bilirubinspiegel gesenkt werden kann.
Verdrängung des Bilirubins aus der Bindung an Albumin, ver-
minderte Bilirubinaufnahme in die Leber durch Konkurrenz Gilbert-Syndrom Synonyme Bezeichnungen für diese Krankheit
um das Transportsystem, Störungen der Bilirubinglucuronidie- sind »Morbus Meulengracht«, »familiärer, nicht-hämolytischer
rung und Störungen der Exkretion von Bilirubin in die Kanali- Ikterus« und »konstitutionelle hepatische Dysfunktion«.
kuli oder eine generell verminderte Gallesekretion (Cholestase, In der Pathogenese hat eine Verminderung der Aktivität der
s. 7 Kap. 62.6.1) können die Ursache des Ikterus sein. Häufig Bilirubin-UGT auf 30–50 % der Norm zentrale Bedeutung. Zu-
sind mehrere dieser pathogenetischen Mechanismen in unter- sätzlich zur verminderten Konjugation des Bilirubins ist wahr-
schiedlichem Ausmaß und in Abhängigkeit von der Art des scheinlich auch die Aufnahme des Bilirubins in die Leberzellen
Fremdstoffes an der Entstehung des Ikterus beteiligt. Der beeinträchtigt. In einigen Fällen wurden auch diskrete Hämoly-
Verdacht auf einen Fremdstoffikterus ergibt sich aus der sezeichen festgestellt (Abnahme des Haptoglobins, Zunahme der
Anamnese. Der Nachweis dieser Ikterusform wird durch den Reticulocyten). Die Hyperbilirubinämie wird dadurch verstärkt.
Auslassversuch erbracht. Die Hämolyse ist aber kein obligates Symptom der Krankheit.
Das Gilbert-Syndrom ist bei 2–7 % der Bevölkerung nach-
Schwangerschaft kann zur Entwicklung weisbar. Die Betroffenen, meist männliche Personen im Puber-
eines Ikterus führen tätsalter oder im 2. Dezenium, sind meist beschwerdefrei. Die
Ein Schwangerschaftsikterus kann im letzten Trimenon der Hyperbilirubinämie ist gering ausgeprägt (meist unter
Schwangerschaft auftreten und verschwindet unmittelbar nach 5 mg/100 ml) und durch Zunahme des unkonjugierten Biliru-
der Geburt. Seine Pathogenese ist nicht definitiv geklärt. Wahr- bins verursacht (indirekte Hyperbilirubinämie). Die Prognose ist
scheinlich sind mehrere Faktoren, z. B. Östrogene und cholesta- gut. Eine Therapie ist nicht erforderlich. Die meist sehr besorgten
tisch wirkende Gallensäuren, an seiner Entstehung beteiligt. Zahl- Betroffenen und Angehörigen müssen über die Harmlosigkeit
reiche Beobachtungen sprechen auch für hereditäre Faktoren. der Anomalie aufgeklärt werden.

Hereditäre Störungen des Bilirubinstoffwechsels Dubin-Johnson-Syndrom Es liegt eine Störung der biliären Ex-
manifestieren sich als Crigler-Najjar-, Gilbert-, kretion von konjugiertem Bilirubin vor, verursacht durch Muta-
Dubin-Johnson- oder als Rotor-Syndrom tionen mit Verlust der Funktion des kanalikulären Transport-
Gemeinsam ist dieser Krankheitsgruppe, dass genetische Defek- systems für Konjugate organischer Anionen mit Glucuronsäure
te einen Ikterus bei normaler Leberfunktion und fehlender und Glutathion (MRP 2) (7 Kap. 62.4.1). Klinisch wird die
Hämolyse verursachen. Störung meist als Zufallsbefund im Pubertätsalter oder in der
Schwangerschaft oder bei Einnahme oraler Antikonzeptiva
Crigler-Najjar Typ I Die Ursache ist eine Genmutation, die zum entdeckt. Die Hyperbilirubinämie ist gering ausgeprägt
vollständigen Aktivitätsverlust der Bilirubin-UDP-Glucuronat- (2–5 mg/100 ml). 50 % des Bilirubins im Serum liegen in
transferase (Bilirubin-UGT) führt. Klinisches Leitsymptom ist konjugierter Form vor. Die Bilirubinerhöhung korreliert mit der
die extreme Hyperbilirubinämie, die ausschließlich durch unkon- Dauer der Nahrungskarenz vor Blutentnahme (nüchtern
jugiertes Bilirubin verursacht wird und bereits in den ersten deutliche, nicht nüchtern geringe Erhöhung). Alle Tests der
32.3 · Pathobiochemie des Porphyrinstoffwechsels
391 32
Leberfunktionen sind normal. Die Prognose ist gut. Eine Ursache des Ikterus zu unterscheiden. Häufig sind vorwiegend
Therapie ist nicht erforderlich. konjugierte Hyperbilirubinämien auch durch z. B. Pharmaka ver-
ursacht, die mit Bilirubin um kanalikuläre Exkretionsysteme kon-
Rotor Syndrom Es besteht eine Störung der biliären Exkretion kurrieren. Sehr selten ist das Dubin-Johnson-Syndrom und noch
des konjugierten Bilirubins ähnlich wie beim Dubin-Johnson seltener das Rotor-Syndrom Ursache einer konjugierten Hyper-
Syndrom, dem auch die klinische Symptomatik entspricht. Ursa- bilirubinämie.
chen sind Mutationen in den Genen OATP1B1 und OATP1B3
(7 Kap. 62.4.1), die für die Wiederaufnahme von konjugiertem
Bilirubin sorgen, welches über MRP 3 in der sinusoidalen Hepa- 32.3.3 Cholestase
tocytenmembran (. Abb. 32.8) in die Blutbahn gelangte.
Als Cholestase bezeichnet man eine Reduktion oder ein völliges
Grundlage der Differentialdiagnose des Ikterus ist die Sistieren des Galleflusses. In Abhängigkeit vom Grad der Choles-
Bestimmung von direktem und indirektem Bilirubin tase kommt es zu einem Rückstau gallepflichtiger Substanzen in
Ausgangspunkt der Differentialdiagnose eines Ikterus ist die Be- die Leber und evtl. in das Blut und zu einem Mangel funktionell
stimmung des indirekt und direkt reagierenden Bilirubins im wichtiger Gallenbestandteile im Darm. Bei obstruktiven Choles-
Serum mit der Diazoreaktion (7 Kap. 32.2.1). Angenähert tasen ist die Ursache eine mechanische Behinderung des Galleab-
entspricht das indirekt reagierende Bilirubin dem unkonjugierten, flusses. Bei nicht-obstruktiv bedingten Cholestasen liegt ein sol-
das direkt reagierende dem konjugierten Bilirubin. Für eine ches Hindernis nicht vor. Ihre Ursache ist eine funktionelle Stö-
exakte Bestimmung des direkten und indirekten Bilirubins mit rung der Gallesekretion. Weiteres zur Cholestase s. 7 Kap. 62.6.1.
Differenzierung zwischen Bilirubinmono- und -diglucuronid
stehen chromatographische Verfahren zur Verfügung. Sie sind
aufwendig und werden klinisch nicht angewandt. Aufgrund der Zusammenfassung
Diazoreaktion können zwei Typen der Hyperbilirubinämien Angeborene Enzymdefekte in der Reaktionsabfolge der
unterschieden werden: Häm-Synthese führen zur Akkumulation von Häm-Vorstufen,
4 vorwiegend unkonjugierte Hyperbilirubinämien, wenn die zum Teil schwere und komplexe Krankheitsbilder hervor-
80–85 % des Gesamtbilirubins im Serum eine indirekte rufen (Porphyrien). Die Symptomatik reicht von akuten Ab-
Diazoreaktion ergeben, dominalbeschwerden über neuropsychiatrische Störungen
4 vorwiegend konjugierte Hyperbilirubinämien, wenn mehr bis zur Photosensibilisierung der Haut aufgrund der licht-
als 40 % des Gesamtbilirubins im Serum eine direkte Diazo- absorbierenden Eigenschaften der Porphyrin-Intermediate.
reaktion ergeben. Hyperbilirubinämien (Ikterus) können verschiedene
Ursachen haben:
Wenn eine vorwiegend indirekte Hyperbilirubinämie vorliegt, 4 prähepatisch bei verstärkter Hämolyse
muss durch Prüfung allgemeiner Hämolysezeichen (Reticulocy- 4 intrahepatisch bei Leberparenchymschäden
tenerhöhung, Haptoglobinverminderung, Erhöhung der Lactatde- 4 posthepatisch bei mechanischer Behinderung des Galle-
hydrogenase (LDH), eventuell erhöhtes Urobilinogen im Urin) flusses
eine Hämolyse ausgeschlossen werden. Der hämolytische Ikterus 4 hereditäre und erworbene Störungen der Glucuronidie-
ist in der Regel nur mäßig ausgeprägt. Eine Anämie ist nicht obli- rung und der Ausscheidung von Bilirubin in die Galle-
gat. Bei Nachweis allgemeiner Hämolysezeichen ist die Ursache kanalikuli
der Hämolyse zu klären. Fremdstoffe, z. B. Pharmaka, können
durch Verdrängung des Bilirubins aus der Albuminbindung oder
durch Konkurrenz um die hepatischen Transportsysteme für die 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Aufnahme von Bilirubin, selten auch durch Konkurrenz um die
UDP-Glucuronattransferase einen Ikterus mit vorwiegend unkon-
jugiertem Bilirubin hervorrufen. Eine häufige Ursache einer vor-
wiegend unkonjugierten Hyperbilirubinämie beim Erwachsenen
ist das Gilbert-Syndrom, dessen Diagnose im Wesentlichen eine
Ausschlussdiagnose ist. Seltene Ursachen der überwiegend unkon-
jugierten Hyperbilirubinämie sind Anämien bei verschiedenen
angeborenen oder erworbenen Störungen der Erythropoese, be-
stimmten Porphyrien oder Bleiintoxikation. Im Gegensatz zum
hämolytischen Ikterus sind dabei Reticulocytenzahl und Hapto-
globin normal. Extrem selten ist beim Erwachsenen ein Crigler-
Najjar-Syndrom Typ II.
Wenn eine Hyperbilirubinämie mit vorwiegend konjugier-
tem Bilirubin vorliegt, ist die Ursache meist eine hepatobiliäre
Erkrankung. Vordringlichste differentialdiagnostische Aufgabe ist
dann, zwischen obstruktiver und nicht obstruktiver Cholestase als
393 III

Zelluläre Kommunikation
Kapitel 33 Prinzipien zellulärer Kommunikation – 395
G. Müller-Newen, P. C. Heinrich, H. M. Hermanns, F. Schaper

Kapitel 34 Mediatoren – 407


P. C. Heinrich, S. Haan, H. M. Hermanns, G. Müller-Newen, F. Schaper

Kapitel 35 Rezeptoren und ihre Signaltransduktion – 411


P. C. Heinrich, S. Haan, H. M. Hermanns, G. Müller-Newen, F. Schaper

Kapitel 36 Insulin – das wichtigste anabole Hormon – 442


H. Staiger, N. Stefan, M. Kellerer, H.-U. Häring

Kapitel 37 Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler


des Insulins – 458
H. Staiger, N. Stefan, M. Kellerer, H.-U. Häring

Kapitel 38 Integration und hormonelle Regulation


des Energiestoffwechsels – 466
G. Löffler

Kapitel 39 Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse – 483


J. Köhrle, L. Schomburg, U. Schweizer

Kapitel 40 Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde


und Keimdrüsen – 495
U. Schweizer, L. Schomburg, J. Köhrle

Kapitel 41 Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren


von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel
und Zelldifferenzierung – 512
J. Köhrle, U. Schweizer, L. Schomburg

Kapitel 42 Wachstumshormon und Prolactin – 528


L. Schomburg,U. Schweizer, J. Köhrle
395 33

33 Prinzipien zellulärer Kommunikation


Gerhard Müller-Newen, Peter C. Heinrich, Heike M. Hermanns, Fred Schaper

Einleitung

Die Entwicklung mehrzelliger, arbeitsteilig organisierter Lebewesen von


Einzelzellen stellt einen gewaltigen Fortschritt in der Evolution dar. Eine
der wesentlichen Voraussetzungen für diese Entwicklung ist die Mög-
lichkeit der Kommunikation zwischen Zellen eines Organismus, um die
Aktivitäten von Geweben und Organen aufeinander abzustimmen und
an sich ändernde äußere Bedingungen anzupassen. In diesem Kapitel
werden die molekularen Grundlagen der zellulären Kommunikation ver-
mittelt. Auch wenn die molekularen Mechanismen vielfältig sind, so
erfolgt die Kommunikation nach einem Grundschema, das auf extra-
zellulären Mediatoren, Rezeptorproteinen und intrazellulärer Signal-
transduktion beruht. In den sich anschließenden Kapiteln werden die
extrazellulären Mediatoren, Hormone und Cytokine (7 Kap. 34) sowie
ihre Rezeptoren und die Mechanismen der Signaltransduktionen (7 Kap.
35) vertiefend besprochen.

Schwerpunkte

4 Auto-, para-, juxta-, endokrine und neuronale Signalweiter-


leitung
4 Wirkung der glandulären Hormone und der Gewebs-
hormone über nucleäre Rezeptoren, Liganden-regulierte
Ionenkanäle oder Membranrezeptoren
4 Signaltransduktion durch second messenger, posttrans-
lationale Modifikationen, Protein-Protein- oder Protein-
Lipid- Wechselwirkungen und Konformationsänderungen

33.1 Kommunikation zwischen Zellen . Abb. 33.1 Kommunikation in biologischen Systemen. Nach Stimula-
tion einer Senderzelle schüttet diese Mediatoren aus, die von Rezeptoren
der Zielzelle registriert werden und schließlich zu einer biologischen
Die interzelluläre Kommunikation beginnt mit einem Signal- Antwort führen
stoff, der von einer Senderzelle als Antwort auf einen auslösen-
den Reiz freigesetzt wird (. Abb. 33.1). Dieser extrazelluläre
Mediator ist von definierter chemischer Natur und kann nur duzierenden Zelle verankert bleibt und somit für die Wechsel-
solche Zellen ansprechen, die den passenden Rezeptor tragen. wirkung mit dem entsprechenden Rezeptor auf der Zielzelle ein
Ausgehend vom Rezeptor wird nun in der Zielzelle eine intrazel- direkter Zell-Zell-Kontakt notwendig ist. Das proinflammatori-
luläre Signalkaskade ausgelöst (Signaltransduktion), die zu ei- sche Cytokin Tumornekrosefaktor (TNF) wirkt in löslicher Form
ner Reaktion der Zelle in Form einer biologischen Antwort führt. parakrin und in membranständiger Form juxtakrin (7 Kap.
In . Abb. 33.2 sind die verschiedenen Wege dargestellt, die 35.5.3). Wird der Mediator hingegen von den sezernierenden
ein extrazellulärer Mediator nutzen kann, um eine Zielzelle zu Zellen in die Blutbahn abgegeben, um seine Wirkung auf eine oft
erreichen. Diffundiert der Mediator von der sezernierenden Zel- weit entfernte Zielzelle auszuüben, handelt es sich um eine endo-
le direkt zu einer Zelle eines anderen Zelltyps in der näheren krine Signalübertragung (. Abb. 33.2C). Dieser Weg wird von
Umgebung, spricht man von parakriner Signalweiterleitung den klassischen Hormonen eingeschlagen, die in endokrinen
(. Abb. 33.2A). Sie ist charakteristisch für Gewebshormone. Ei- Drüsen produziert werden.
nen Sonderfall stellt die juxtakrine Signalübermittlung (. Abb. Von parakriner und endokriner Signaltransduktion abzu-
33.2B) dar, bei der der Mediator in der Plasmamembran der pro- grenzen ist schließlich die autokrine Signalweiterleitung (. Abb.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
396 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

A C DD

33

. Abb. 33.2 Mechanismen der interzellulären Signalübermittlung. A Parakrine, B juxtakrine, C endokrine, D autokrine, E neuronale Signalübertragung.
(Einzelheiten s. Text)

33.2D). Sie beruht darauf, dass der von einer sezernierenden Zel-
le gebildete Mediator auf diese Zelle selbst bzw. auf Nachbarzel- Zusammenfassung
len vom gleichen Zelltyp einwirkt. Das von stimulierten T-Lym- In der Kommunikation zwischen den Zellen mehrzelliger,
phocyten sezernierte Interleukin-2 ist beispielsweise von funda- höher entwickelter Organismen unterscheidet man zwi-
mentaler Wichtigkeit für die autokrin vermittelte Proliferation schen:
der T-Lymphocyten. Die autokrine Sekretion von Wachstums- 4 autokriner
faktoren spielt auch bei manchen Tumoren eine wichtige Rolle. 4 parakriner
So geben bestimmte Mammakarzinomzellen in großer Menge 4 juxtakriner und
den insulinähnlichen Wachstumsfaktor-1 (insulin-like growth 4 endokriner
factor 1, IGF-1, 7 Kap. 42.1.2) ab, der auf die Tumorzellen selbst Signalweiterleitung
als Proliferationsfaktor rückwirkt.
Die neuronale Signalübertragung (. Abb. 33.2E) zeichnet Die neuronale Signalübertragung zwischen Nervenzellen
sich durch Zielgenauigkeit und eine hohe Geschwindigkeit erfolgt über spezielle Mechanismen.
aus. Hier steuert die Senderzelle über einen Zellausläufer (Axon)
die Zielzellen direkt an. Der extrazelluläre Mediator, in diesem
Fall ein Neurotransmitter, hat im synaptischen Spalt nur noch
eine winzige Distanz (etwa 20 nm) zu überbrücken. Wie der 33.2 Extrazelluläre Mediatoren
Name andeutet, stellt diese Form der interzellulären Kommuni-
kation die Grundlage der Signalvermittlung zwischen Nerven- 33.2.1 Einteilung extrazellulärer Mediatoren
zellen dar und wird in einem gesonderten Kapitel behandelt
(7 Kap. 74). Die extrazellulären Mediatoren gehören sehr verschiedenen che-
mischen Stoffklassen an (. Abb. 33.3). Eine Einteilung lässt sich
z. B. in lipophile (Steroide, Retinoide, Fettsäurederivate) und hy-
drophile Moleküle (Peptide, Proteine, Aminosäurederivate) vor-
nehmen. Sehr häufig werden extrazelluläre Mediatoren aber
auch in:
4 glanduläre Hormone und
4 aglanduläre Hormone = Gewebshormone
eingeteilt.
33.2 · Extrazelluläre Mediatoren
397 33
Die übrigen Gewebshormone lassen sich wie folgt einteilen:
4 Aminosäurederivate (z. B. die biogenen Amine Histamin
und Serotonin oder die Neurotransmitter Dopamin und
γ-Aminobutyrat (γ-aminobutyric acid, GABA)
4 Fettsäurederivate (z. B. Prostaglandine, Leukotriene)
4 Gase (Stickstoffmonoxid, NO, und Kohlenmonoxid, CO)

Im Einzelfall kann die Zuordnung eines extrazellulären Media-


tors zu einer der oben genannten Gruppen schwierig sein.

33.2.2 Stoffwechsel extrazellulärer Mediatoren

Hormone und Cytokine werden von stimulierten


Zellen freigesetzt
Aufgrund der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichsten chemi-
schen Stoffklassen sind die Mechanismen der Biosynthese glan-
dulärer Hormone vielfältig. Besonders die sekretorischen Pep-
tid- und Proteohormone (z. B. Insulin, Glucagon, Parathormon)
werden in Form höhermolekularer Vorstufen synthetisiert, d. h.
man unterscheidet eine Proform (precursor) von der biologisch
aktiven reifen Form des Hormons. Gelegentlich tragen derartige
Vorläufer sogar mehrere unterschiedliche Hormone, die durch
proteolytische Spaltung freigesetzt werden (z. B. Proopiomela-
nocortin, 7 Kap. 39.1.3, Glicentin, 7 Kap. 37.1.2).
Nach erfolgter Transkription und Translation werden viele
Peptid- und Proteohormone, aber auch Aminosäurederivate wie
die Katecholamine in intrazellulären Sekretvesikeln gespeichert.
. Abb. 33.3 Einteilung der Mediatoren nach Stoffklassen. Hormone las- Die Menge der gespeicherten reifen Mediatoren kann von Fall zu
sen sich entsprechend der Zugehörigkeit zu verschiedenen chemischen Fall sehr stark variieren, weshalb die Biosynthese sehr genau regu-
Stoffklassen einteilen. (Einzelheiten s. Text)
liert werden muss. Beispiele stellen zum einen die in großen Men-
gen in der Schilddrüse in Form von kolloidalen Thyreoglobulin-
Glanduläre Hormone werden in endokrinen Drüsen (lat. glan- komplexen gespeicherten Schilddrüsenhormone dar 7 Kap. 41,
dula) gebildet, von diesen sezerniert und auf dem Blutweg zu den während die Steroidhormone oder das Parathormon nur in sehr
jeweiligen Zielzellen transportiert. Dort entfalten sie ihre spezi- geringem Umfang bereitgehalten werden. Die Sekretion der Me-
fischen Wirkungen. Bis auf wenige Ausnahmen sind glanduläre diatoren erfolgt entsprechend den zellbiologischen Vorgängen des
Hormone: regulierten vesikulären Transports (7 Kap. 12.2). Ein wichtiger
4 Proteine und Peptide (z. B. Insulin, Vasopressin, Glucagon, Auslöser der Sekretion ist die Erhöhung der cytosolischen Cal-
Adrenocorticotropes Hormon) ciumkonzentration (7 Kap. 35.3.3, 36.3, Insulinsekretion).
4 Aminosäurederivate (z. B. Schilddrüsenhormone: Thyro- Anders als die glandulären Hormone sind Cytokine immer
xin, T4 und Triiodthyronin, T3; Katecholamine: Adrenalin, Polypeptide und werden meist de novo synthetisiert. Die Mehr-
Noradrenalin) zahl der Cytokine verfügt über ein N-terminales Signalpeptid,
4 Steroide (z. B. Glucocorticoide: Cortisol; Mineralocorticoi- wodurch ihre Sekretion über den vesikulären Transportweg er-
de: Aldosteron; männliche Sexualhormone: Testosteron; möglicht wird (Exocytose, 7 Kap. 12.2). Ausnahmen stellen z. B.
weibliche Sexualhormone: Östradiol) die Cytokine Interleukin-1 (IL-1) (7 Kap. 35.5.3) und ciliary neu-
rotrophic factor (CNTF) dar, die ohne eine klassische Signalse-
Die glandulären Hormone werden in 7 Kap. 39–41 besprochen. quenz über einen im Detail noch nicht verstandenen Mechanis-
Im Gegensatz zu den glandulären Hormonen werden die Ge- mus sezerniert werden (7 Kap. 35.5.1).
webshormone oder aglandulären Hormone von einzelnen Zel-
len in den verschiedensten Geweben synthetisiert. Viele Gewebs- Hormone werden im Blut transportiert
hormone sind Proteine und werden als Cytokine bezeichnet Die glandulären Hormone gelangen über den Blutkreislauf an
(7 Kap. 34.2). Hierzu zählen: ihren Wirkungsort. Im Allgemeinen sind die Serumkonzentra-
4 Wachstumsfaktoren tionen von Hormonen äußerst gering. Für Peptid- und Proteo-
4 Interleukine hormone liegen sie bei etwa 10–12 bis 10–10 mol/l, für Schilddrü-
4 Interferone sen- und Steroidhormone zwischen 10–9 und 10–6 mol/l.
4 Chemokine Die vom Cholesterin abgeleiteten Steroidhormone und die
Hormone der Schilddrüse sind besonders hydrophob und somit
Proteine Interleukine Wachstumsfaktoren Interferone Peptide Vasopressin Glucagon Insulin Gase Stickstoffmonoxid Steroide# Glucocor-
ticoide# Sexualhormone# Mineralocorticoide# Retinoide# Retinsäure# Fettsäure-Derivate# Prostaglandine# Leukotriene# Aminosäure-
Derivate# Adrenalin# Histamin# Thyroxin#
398 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

schlecht wasserlöslich. Die Löslichkeit im Blutplasma wird er- 33.3 Rezeptoren als zentrale Signalvermittler
höht, indem diese Hormone mit hoher Affinität an spezifische
Transportproteine (binding proteins) binden. Die hohe Affinität Unabhängig von Wirkort und Wirkungsspektrum muss man für
zwischen Hormon und Transportprotein erklärt, warum im alle extrazellulären Mediatoren (Liganden) annehmen, dass sie
Serum stets nur sehr geringe Mengen der betreffenden Hor- primär mit einem Rezeptor interagieren und dass der dabei ent-
mone in freier und damit biologisch aktiver Form vorkommen. stehende Ligand/Rezeptor-Komplex die intrazellulären Signal-
Insofern ist nicht nur die Konzentration des Hormons, sondern kaskaden aktiviert:
auch die seines Bindeproteins für die biologische Aktivität von
Bedeutung. Ligand + Rezeptor Ligand/Rezeptor-Komplex intra-
Im Unterschied zu den Hormonen wirken die meisten Cyto- zelluläre Signale
kine eher lokal, d. h. in para- oder autokriner Weise. Bei akuten
und chronischen Entzündungen lassen sich jedoch auch Cyto- Rezeptoren sind ausnahmslos Proteine, meist Glykoproteine. Mit
kine wie IL-1, TNF, IL-6 und IL-8 im Blut nachweisen. Die Bio- Ausnahme der nucleären Rezeptoren sind sie an der Plasma-
aktivität dieser Cytokine im Blut wird häufig durch lösliche Re- membran und den Membranen des Endomembransystems loka-
zeptoren moduliert (7 Kap. 34.2, 35.7.1). lisiert. Die Interaktion von Ligand und Rezeptor ist durch eine
hohe Spezifität gekennzeichnet, die als Schlüssel-Schloss-Prin-
Abbau und Ausscheidung tragen wesentlich zip verstanden werden kann. Die Kinetik der Bindung des Ligan-
zur Regulation der Aktivität extrazellulärer den an seinen Rezeptor lässt sich mit der Bindung eines Substrats
Mediatoren bei an das aktive Zentrum eines Enzyms vergleichen (7 Kap. 7.1). Da
Besonders unter pathologischen Bedingungen kann die Ge- die Anzahl der Rezeptoren einer Zelle begrenzt ist, erreicht die
33 schwindigkeit des Abbaus der Hormone und ihrer Ausscheidung Ligandenbindung mit steigender Ligandenkonzentration eine
über die Niere für ihre Serumkonzentration und damit für ihre Sättigung. Man kann eine Bindungskonstante bestimmen, die
biologische Aktivität wichtig sein. Cytokine, Peptid- und Proteo- Informationen über die Affinität des Liganden zum Rezeptor
hormone werden durch Endocytose von den Zielzellen aufge- liefert. Moleküle, die spezifisch an einen Rezeptor binden, die
nommen und durch anschließende Proteolyse abgebaut. Bindung des natürlichen Liganden verhindern, aber selbst keine
Für den Abbau und die Ausscheidung von Steroid- bzw. Antwort hervorrufen, werden als Antagonisten bezeichnet.
Schilddrüsenhormonen oder Katecholaminen sind wesentlich Die Reaktion einer Zelle auf einen Mediator hängt entschei-
spezifischere Mechanismen notwendig. Die Metabolisierungsre- dend davon ab, ob der entsprechende Rezeptor von dieser Zelle
aktionen für die genannten Hormone finden nach den Mecha- exprimiert wird. Manche Rezeptoren findet man auf nahezu al-
nismen der Phase I und Phase II des Biotransformationssys- len Körperzellen, sie werden ubiquitär exprimiert. Viele Rezep-
tems (7 Kap. 62.3) in der Leber statt. toren werden auf einer begrenzten Zahl von Zelltypen oder sogar
nur auf einem Zelltyp exprimiert, wie z. B. der T-Zell-Rezeptor.
Der Nachweis der Expression eines zellspezifischen Rezeptors
Zusammenfassung wird häufig zur Identifizierung eines bestimmten Zelltyps ge-
Extrazelluläre Mediatoren werden in glanduläre Hormone nutzt. In polarisierten Zellen, z. B. Epithelzellen, die über eine
und Gewebshormone unterteilt. apikale und eine basolaterale Membran verfügen, werden Rezep-
Glanduläre Hormone werden von spezialisierten Drüsen in toren oft nur auf einer der beiden Membrandomänen exprimiert.
die Blutbahn sezerniert und sind meist: In diesem Fall spricht man von einer polaren Expression (7 Kap.
4 Proteine 12.3, 35.7.1).
4 Peptide Entsprechend ihrer Lokalisierung und ihres Wirkmechanis-
4 Aminosäurederivate oder mus werden die Rezeptoren in drei Klassen eingeteilt (. Abb.
4 Steroide 33.4):
4 nucleäre Rezeptoren
Gewebshormone werden im Gewebe gebildet und wirken 4 ligandenregulierte Ionenkanäle
vor Ort. Auch sie sind chemisch heterogen und lassen sich 4 Membranrezeptoren
unterteilen in:
4 Aminosäurederivate
4 Fettsäurederivate 33.3.1 Nucleäre Rezeptoren
4 Gase
4 Proteine Einige extrazelluläre Mediatoren wie die Steroid- oder Schild-
drüsenhormone (7 Kap. 40 und 41), aber auch Retinsäure
Proteine, die als Gewebshormone wirken, werden als Cyto- (7 Kap. 58.2) oder die D-Vitamine (7 Kap. 58.3) können aufgrund
kine bezeichnet. ihrer lipophilen Eigenschaften die Plasmamembran passieren.
Die wirksame Konzentration an extrazellulären Mediatoren Im Zellinneren binden sie an intrazellulär vorliegende Rezeptor-
wird durch Biosynthese, Sekretion, Bindeproteine und Ab- proteine, sog. nucleäre Rezeptoren (. Abb. 33.4). Eine Beson-
bau bzw. Ausscheidung reguliert. derheit dieser Rezeptorklasse besteht darin, dass durch die Inter-
aktion des Hormons mit seinem Rezeptor ein Komplex entsteht,
33.3 · Rezeptoren als zentrale Signalvermittler
399 33

. Abb. 33.4 Rezeptoren für extrazelluläre Mediatoren. Rezeptoren für extrazelluläre Mediatoren lassen sich einteilen in nucleäre Rezeptoren, liganden-
regulierte Ionenkanäle und Membranrezeptoren. Die Membranrezeptoren können mit trimeren G-Proteinen gekoppelt sein, eine eigene Kinaseaktivität
aufweisen, mit Kinasen assoziiert sein, oder durch proteolytische Prozessierung aktiviert werden. α, β, γ: Untereinheiten des trimären G-Proteins; KD: Kinase
Domäne; K: Kinase. (Einzelheiten s. Text)

der durch Bindung an spezifische Promotorregionen von Zielge- Ionenkanälen von zentraler Bedeutung für die interzelluläre
nen (enhancer/silencer) deren Transkription positiv oder negativ Kommunikation im Nervensystem und werden daher ausführ-
beeinflussen kann. Nucleäre Rezeptoren sind somit ligandenge- licher in 7 Kap. 74.1.4 besprochen.
steuerte Transkriptionsfaktoren (7 Kap. 47.2.2).

33.3.3 Membranrezeptoren
33.3.2 Ligandenregulierte Ionenkanäle
Unter der bereits zuvor erwähnten Voraussetzung, dass ein Re-
Im Gegensatz zu den intrazellulären nucleären Rezeptoren sind zeptor auf der Zelloberfläche vorhanden ist, löst die Bindung
die ligandenregulierten Ionenkanäle ihrer Natur nach immer eines Liganden an den extrazellulären Teil des Rezeptors eine
Membranproteine (. Abb. 33.4). Sie kommen sowohl in der Plas- intrazelluläre Reaktionskaskade aus. In Abhängigkeit von ihrer
mamembran als auch in intrazellulären Membranen vor. Anders Struktur und den Mechanismen der Signalweiterleitung im Cy-
als bei den spannungsgesteuerten Ionenkanälen, die sich in Ab- toplasma unterscheidet man vier Arten von Membranrezeptoren
hängigkeit vom Membranpotential öffnen oder schließen, wird (. Abb. 33.4):
der Öffnungszustand der ligandenregulierten Ionenkanäle durch 4 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
die Bindung eines Liganden an den Kanal beeinflusst. 4 Rezeptorkinasen
Extrazelluläre Liganden sind beispielsweise die Neurotrans- 4 Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
mitter 4 proteolytisch prozessierte Rezeptoren
4 γ-Aminobutyrat (γ-aminobutyric acid, GABA)
4 Acetylcholin Bei den Membranrezeptoren kann es sich um ein einzelnes Pro-
4 Glutamat tein, um Multimere eines Proteins (homooligomere Rezepto-
4 Serotonin ren) oder Multimere aus mehreren unterschiedlichen Protei-
nen (heterooligomere Rezeptoren) handeln.
Intrazelluläre Ionenkanäle, die in der Membran des endoplasma-
tischen Retikulums lokalisiert sind, spielen u. a. bei der Regula- G-Protein-gekoppelte Rezeptoren bilden
tion der cytosolischen Calciumkonzentration, z. B. durch Inosi- die größte Rezeptorfamilie
tolphosphate, eine wichtige Rolle (7 Kap. 35.3.3). G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (G-protein-coupled receptors,
Ligandenregulierte Ionenkanäle vermitteln die schnellsten GPCR) durchspannen die Plasmamembran 7-mal und werden
zellulären Reaktionen auf Signalstoffe, da die Bindung des Ligan- daher auch als heptahelicale, 7-Transmembran- oder Serpentin-
den unmittelbar mit dem Öffnen oder Schließen eines Ionenka- rezeptoren bezeichnet (. Abb. 33.4). Sie bilden die weitaus größ-
nals verknüpft ist. Sie sind neben den spannungsgesteuerten te Familie der Membranrezeptoren. Es handelt sich um Proteine
400 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

aus 350–800 Aminosäuren und Molekularmassen zwischen 40 fische, nicht-kovalente Wechselwirkungen zwischen definierten
und 90 kDa. Der N-Terminus ist extrazellulär lokalisiert, der C- Regionen des Liganden und entsprechenden extrazellulären
Terminus intrazellulär. Auffallend ist bei vielen GPCR eine große Bereichen des Rezeptors. Auch im Fall der Rezeptorkinasen wird
intrazelluläre Schleife zwischen der 5. und 6. Transmembrando- eine ligandenvermittelte Konformationsänderung der Rezepto-
mäne. Sie induziert die Signaltransduktion, an der immer hete- ren diskutiert, die für deren Aktivierung erforderlich ist. Einzel-
rotrimere G-Proteine beteiligt sind (7 Kap. 35.3.1). Bei dieser heiten zum Aufbau dieser Membranrezeptoren finden sich in
Rezeptorfamilie ändert die Bindung des Liganden auf der extra- 7 Kap. 35.4.1.
zellulären Seite die Orientierung der an sich starren Trans- Die Bezeichnung Rezeptor-Tyrosinkinase leitet sich von der
membranhelices zueinander, wodurch die Signaltransduktion enzymatisch aktiven Domäne in der cytoplasmatischen Region
ausgelöst wird. G-Protein-gekoppelte Rezeptoren werden von des Rezeptors ab. Nach Aktivierung katalysiert diese Domäne
den unterschiedlichsten Mediatoren als Signalvermittler genutzt. unter ATP-Verbrauch die Phosphorylierung des Rezeptors selbst
Zu ihnen gehören glanduläre Hormone wie Adrenalin und (Autophosphorylierung) und anderer Proteine (Transphos-
Glucagon, aber auch Cytokine wie die Chemokine und die Viel- phorylierung) an Tyrosinseitenketten (7 Kap. 33.4.1).
zahl der Geschmacks- und Geruchsstoffe sowie sogar Lichtquan- Eine weitere Untergruppe der Rezeptorkinasen stellen die
ten (Rhodopsin). Rezeptoren der transforming growth factor-β (TGF-β) Familie
dar. Hier katalysiert der aktivierte Rezeptor nicht die Phospho-
rylierung von Tyrosinresten, sondern von Serin- und Threonin-
Übrigens seitenketten. Dementsprechend werden diese Rezeptoren als
Die Rezeptoren des Geruchssinns Rezeptor-Serin/Threoninkinasen bezeichnet (7 Kap. 35.4.4).
Der Mensch kann etwa 10.000 Gerüche unterscheiden. Wie
33 Duftstoffe erkannt werden wurde 1991 von Linda B. Buck Rezeptoren mit assoziierten Kinasen steuern
und Richard Axel an der Columbia Universität in New York Immunantworten und die Hämatopoese
aufgeklärt. Es wurde schon lange vermutet, dass Duftstoffe Kinaseassoziierte Rezeptoren haben prinzipielle Ähnlichkeit mit
von Rezeptoren gebunden werden. Einige Befunde deute- den Rezeptorkinasen mit dem Unterschied, dass die enzymati-
ten darauf hin, dass es sich dabei um G-Protein-gekoppelte sche Aktivität nicht innerhalb derselben Polypeptidkette vorliegt,
Rezeptoren (GPCR) handeln könnte. Mit Hilfe der Poly- sondern als separates Protein meist konstitutiv, aber nicht-cova-
merasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR lent, mit dem Membranrezeptor verbunden ist. Im Fall der Re-
7 Kap. 54.1.2) gelang es Buck, eine Vielzahl neuer GPCR in zeptoren für Interleukine und Interferone erfolgt eine Rekrutie-
den Riechsinneszellen zu identifizieren. Heute weiß man, rung von Tyrosinkinasen über zwei membrannah liegende, hoch
dass in den Sinneszellen des Riechepithels mehrere hundert konservierte Rezeptorregionen. Bis auf diese Bereiche sind die
verschiedene GPCR exprimiert werden, die jeweils bestimm- intrazellulären Regionen der Rezeptoren wenig homolog und
te Duftstoffe erkennen. Dabei exprimiert eine Riechsinnes- strukturell noch nicht näher charakterisiert. Nach Ligandenbin-
zelle nur einen bestimmten Rezeptor, ist also Spezialist für dung und Oligomerisierung der Rezeptorketten kommt es zur
einen Duftstoff oder eine Gruppe chemisch verwandter Aktivierung der gebundenen Tyrosinkinasen, die über Phospho-
Duftstoffe. Die Aktivierung des GPCR durch den Duftstoff rylierungsreaktionen die Signaltransduktion einleiten (7 Kap.
führt über den second messenger cAMP (7 Kap. 33.4.2, 33.4.1, 35.5.1).
35.3.2) zur Depolarisation der Sinneszelle und somit zur Wei- Auch die Rezeptoren der wichtigen proinflammatorischen
terleitung des Signals in den Bulbus olfactorius (Riechkol- Cytokine Interleukin-1 und Tumornekrosefaktor gehören zu den
ben) und von dort zur Hirnrinde. Durch die Kombinatorik Rezeptoren mit assoziierten Kinasen. Für die Signalweiterlei-
aus Aktivierung verschiedener Geruchsrezeptoren und neu- tung, ausgehend von diesen Rezeptoren, sind jedoch Serin/Threo-
ronaler Verarbeitung der Signale können mit einigen hun- ninkinasen von größerer Bedeutung. Diese werden meist nicht
dert Rezeptoren tausende verschiedene Gerüche differen- direkt an den Rezeptor rekrutiert, sondern benötigen zwischen-
ziert werden. Die Entdeckung der Geruchsrezeptoren wurde geschaltete Adapterproteine für ihre Aktivierung (7 Kap. 35.5.2
2004 mit dem Medizinnobelpreis gewürdigt. und 35.5.3). Wie die Rezeptorkinasen gehören auch die kinaseas-
soziierten Rezeptoren zur Familie der Typ-I-Transmembranpro-
teine, d. h. sie besitzen eine Transmembrandomäne und der
Rezeptorkinasen besitzen eine katalytische Domäne N-Terminus des Proteins ragt in den Extrazellulärraum.
Die Rezeptoren des Insulins (7 Kap. 35.4.1) und der meisten
Wachstumsfaktoren (growth factors) gehören zur Familie der Einige Rezeptoren werden nach Ligandenbindung
Rezeptor-Tyrosinkinasen. Hierbei handelt es sich um integrale durch limitierte Proteolyse gespalten
Membranproteine mit einer Transmembranhelix, die nach Akti- Die proteolytisch prozessierten Rezeptoren stellen eine Sonder-
vierung durch den Liganden meist als Dimere vorliegen (. Abb. form dar, bei denen die Ligandenbindung dazu führt, dass der
33.4). Der N-Terminus des Proteins ragt in den extrazellulären cytoplasmatische Teil des Rezeptors durch enzymatische Spal-
Raum, während der C-Terminus im Zellinnern lokalisiert ist. tung in der Transmembranregion von der Plasmamembran frei-
Rezeptor-Tyrosinkinasen sind Glykoproteine, deren extrazellu- gesetzt wird (regulated intramembrane proteolysis, RIP, . Abb.
läre Bereiche oft aus immunglobulinähnlichen Domänen modu- 33.4). Dieser Vorgang ist irreversibel. Der nun lösliche cytoplas-
lar aufgebaut sind. Die Bindung des Liganden erfolgt über spezi- matische Teil des Rezeptors wandert in den Zellkern und wirkt
33.4 · Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion
401 33
dort als Transkriptionsfaktor. Ein Beispiel für diese Klasse von
Rezeptoren ist Notch, ebenfalls ein Typ-I-Transmembranpro-
tein. Dieser Rezeptor spielt eine wichtige Rolle bei Differenzie-
rungs- und Entwicklungsprozessen.
Der RIP-Mechanismus ist nicht zu verwechseln mit den sog.
proteaseaktivierten Rezeptoren (protease activated receptors,
PAR). PAR werden v. a. auf Immunzellen und Thrombocyten ex-
primiert und durchspannen die Membran wie die G-Protein-
gekoppelten Rezeptoren siebenmal. Ihre Aktivierung erfolgt je-
doch durch eine proteolytische Spaltung im N-terminalen extra-
zellulären Bereich des Rezeptors durch Proteasen wie Thrombin
oder Cathepsin G. Der verbleibende N-Terminus des Rezeptors
agiert nun wie ein Ligand und autoaktiviert den Rezeptor, der bei
Entzündungsprozessen eine wichtige Rolle spielt.
. Abb. 33.5 Signalamplifikation bei der Signalweiterleitung. (Einzel-
heiten s. Text)

Zusammenfassung
Alle extrazellulären Mediatoren binden mit hoher Affinität langen (Protein-Protein-Interaktion, s. u.). Viele dieser Signal-
und Spezifität an Rezeptorproteine. Rezeptoren lassen proteine und ihre Interaktionen sind im Detail noch nicht cha-
sich in rakterisiert, was das Gebiet der Signaltransduktion zu einem
4 nucleäre Rezeptoren hochaktuellen Forschungsgebiet macht. Die Anzahl der erfor-
4 ligandenregulierte Ionenkanäle und derlichen Signalmoleküle kann von Ligand zu Ligand sehr stark
4 Membranrezeptoren schwanken und ihre Aktivierung kann entweder linear oder kas-
einteilen. kadenartig erfolgen. Die kaskadenartige Aktivierung verschiede-
ner Signalproteine hat den Vorteil, dass eine enorme Signalamp-
Membranrezeptoren leiten das Signal über vielfältige lifikation erzielt werden kann (. Abb. 33.5). Dies unterscheidet
molekulare Mechanismen in das Zellinnere weiter. Dabei eine komplexe Signaltransduktion von den zuvor erwähnten
kommen häufig einfachen Mechanismen, bei denen ein Ligand genau einen
4 G-Proteine Transkriptionsfaktor aktiviert.
4 Kinasen und Durch die Rekrutierung verschiedener Signalproteine an
4 Proteasen einen Membranrezeptor entsteht eine regelrechte Signalplatt-
zum Einsatz. form auf der cytoplasmatischen Seite der Plasmamembran
(7 Kap. 33.4.3). Es gibt Hinweise, dass bestimmte Bereiche der
Plasmamembran mit besonderer Lipidkomposition (lipid
rafts, 7 Kap. 11.3) für die Ausbildung solcher Plattformen be-
33.4 Prinzipien der intrazellulären vorzugt genutzt werden.
Signaltransduktion Die meisten Membranrezeptoren werden nach der Liganden-
bindung gemeinsam mit dem Liganden in Form von Vesikeln in
Nach Ausbildung des Ligand/Rezeptor-Komplexes erfolgt nun das Zellinnere aufgenommen (Endocytose, 7 Kap. 12.2). Diese
die Einleitung der intrazellulären Signaltransduktion. Dieser Vesikel werden zunächst als coated vesicles bezeichnet und bilden
Prozess kann – wie im Fall der nucleären Rezeptoren – sehr di- nach Fusion das Endosom. Der ehemals extrazelluläre Teil des
rekt sein, da der Ligand/Rezeptor-Komplex selbst die Fähigkeit Rezeptors mit gebundenem Liganden ragt ins Lumen des Vesikels/
besitzt, im Zellkern als Transkriptionsfaktor die Expression von Endosoms, der cytoplasmatische Teil des Rezeptors liegt nach wie
Zielgenen zu regulieren und damit eine biologische Antwort der vor im Cytosol. Daher können auch von diesen intrazellulären
Zelle hervorzurufen. Ähnlich direkt gestaltet sich die Signalwei- Membranen aus Signalkaskaden initiiert werden; man spricht da-
terleitung im Fall einiger proteolytisch prozessierter Rezeptoren. her von signalisierenden Endosomen (signalling endosomes).
Wie zuvor erwähnt, führt die Ligandenbindung an den Notch- Verschiedene Signalwege beeinflussen sich wechselseitig
Rezeptor zur enzymatischen Abspaltung des intrazellulären Be- (cross-talk), wodurch die Komplexität der Signaltransduktion
reichs des Rezeptors, der nun ebenfalls selbst als Transkriptions- weiter gesteigert wird. Letztlich ist die Zelle gefordert, aus der
faktor im Zellkern Zielgene anschalten kann. Vielzahl der auf sie einwirkenden Mediatoren mit Hilfe der Sig-
Diese sehr einfach verlaufenden Signaltransduktionen sind nalintegration die für den Gesamtorganismus erforderliche bio-
aber eher die Ausnahme. Für die meisten extrazellulären Media- logische Antwort hervorzurufen. Die Modellierung solcher kom-
toren verläuft der Informationstransfer von extrazellulärer Li- plexer Signalnetzwerke mit mathematischen Methoden ist eine
gandenbindung hin zur Auslösung einer biologischen Antwort wesentliche Aufgabe der Systembiologie.
über eine Vielzahl von nachgeschalteten cytoplasmatischen Sig- Die Leistung des Systems beeindruckt durch die Koordina-
nalproteinen. Voraussetzung dafür ist, dass die Signalproteine in tion einer Vielzahl von gleichzeitig ablaufenden Vorgängen, die
unmittelbare Nachbarschaft zueinander und zum Rezeptor ge- so unterschiedliche biologische Prozesse wie
402 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

4 die Genexpression A
4 den Stoffwechsel
4 die Umstrukturierung des Cytoskeletts und die Migration
4 die Proliferation oder Apoptose
4 die Differenzierung der Zelle betreffen.

Häufig vermag ein einzelner extrazellulärer Mediator je nach


Zielzelle unterschiedliche Antworten auszulösen (Pleiotropie).
Gleichzeitig können aber auch unterschiedliche Mediatoren die
gleichen biologischen Antworten hervorrufen ( Redundanz).
Letzteres rührt häufig daher, dass verschiedene Liganden ge-
meinsame Rezeptoruntereinheiten nutzen oder die gleichen Sig-
nalwege aktivieren.
Im Verlauf einer komplexen Signaltransduktion wird das ex-
trazelluläre Signal in Form eines Ligand/Rezeptor-Komplexes
intrazellulär in vielfältige Veränderungen übersetzt, die sich
wechselseitig beeinflussen. Zu den wichtigsten Veränderungen
gehören:
4 posttranslationale Modifikationen von Proteinen
4 die Erzeugung von intrazellulären Botenstoffen (second
33 messenger),
B
4 Protein-Protein- sowie Protein-Lipid-Interaktionen und
4 Proteinkonformationsänderungen

Einzelne Signalwege werden über Rückkopplungsmechanis-


men reguliert. Feedback und feedforward-Mechanismen steuern
die Dynamik der Signaltransduktion (7 Kap. 35.7.2).

33.4.1 Posttranslationale Modifikationen

Ein zentraler Mechanismus zur intrazellulären Weitergabe extra-


zellulärer Signale ist die posttranslationale Proteinmodifikation.
Von großer Bedeutung sind hierbei Phosphorylierungen, Ubiqui-
tinierungen, SUMOylierung, Acetylierungen und Methylierun-
gen sowie die jeweiligen Umkehrreaktionen. Posttranslational
modifizierte Proteine weisen Veränderungen ihres Aktivierungs-
status, ihrer zellulären Lokalisation oder ihrer Stabilität auf. Des
Weiteren ermöglichen posttranslationale Modifikationen häufig
erst die Interaktion mit anderen Proteinen (7 Kap. 33.4.3, 35.4.1).

Phosphorylierung Phosphorylierungskaskaden treten in der . Abb. 33.6 Phosphorylierung und Dephosphorylierung. A Proteine
Signaltransduktion der meisten Membranrezeptoren auf und werden durch Kinasen unter Verbrauch von ATP an Serin-, Threonin-, oder
sind von zwei Enzymklassen abhängig: den Proteinkinasen und Tyrosinseitenketten phosphoryliert. Phosphatasen entfernen die Phosphat-
den Proteinphosphatasen. Proteinkinasen gehören zu den gruppen von den Aminosäureseitenketten durch Hydrolyse. Der Phospho-
rylierungsstatus eines Proteins kann dessen Aktivierungszustand beeinflus-
Transferasen (7 Kap. 7.2, 8.5) und übertragen die γ-Phosphat-
sen. B Rezeptoren mit intrinsischer Kinaseaktivität (oben) und assoziierter
gruppe des ATP auf Tyrosyl-, Seryl- oder Threonylreste. Die Kinaseaktivität (unten). KD: Kinasedomäne; P: Phosphat
Phosphatasen gehören zu den Hydrolasen (7 Kap. 7.2, 8.5) und
sind die direkten Gegenspieler der Kinasen, indem sie die Phos-
phatreste von den entsprechenden Aminosäuren durch Hydro- noch nicht im Detail verstanden. Man vermutet, dass durch eine
lyse der Phosphorsäureesterbindung entfernen (. Abb. 33.6A). Konformationsänderung der Rezeptoren nach Ligandenbindung
Von essenzieller Bedeutung sind Phosphorylierungsprozesse zwei schwach aktive Kinasen in räumliche Nähe zueinander ge-
für die Signaltransduktion über Rezeptorkinasen (z. B. Insulinre- bracht werden und sich im Anschluss gegenseitig über Phospho-
zeptor) und Rezeptoren mit assoziierten Kinasen (z. B. Interleu- rylierungen an Tyrosyl-, Seryl- oder Threonylresten aktivieren
kinrezeptoren) (. Abb. 33.6B, 7 Kap. 35.5.1). Der erste Schritt in (Autophosphorylierung). Die so aktivierten Kinasen phospho-
der Signalweiterleitung dieser Rezeptoren ist die Aktivierung der rylieren daraufhin weitere Aminosäureseitenketten in der cyto-
Kinasen selbst. Interessanterweise ist dieser initiale Schritt immer plasmatischen Region des Rezeptors, die dann der Rekrutierung

Dephosphoprotein# Phosphoprotein# Phosphotyrosin# Phosphoserin# Phosphothreonin#


33.4 · Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion
403 33
anderer Signalmoleküle dienen. Wichtige Signalmoleküle, die an Rezeptoren über heterotrimere G-Proteine (7 Kap. 33.4.4, 35.3.2)
die phosphorylierten Rezeptoren rekrutiert werden, sind zum die membranständige Adenylatcyclase (. Abb. 33.7A). Diese
Beispiel Transkriptionsfaktoren, Adapterproteine, die weitere Ki- wandelt ATP in den second messenger cyclisches AMP (cAMP)
nasen rekrutieren, oder Phosphatasen, die die Signalkaskade wie- um. Ein aktiviertes Adenylatcyclaseenzym kann viele tausend
der abschalten können. Beispiele, in denen diese Art der Sig- cAMP-Moleküle generieren. Auf diese Weise trägt der second
naltransduktion ausführlich erklärt ist, finden sich in 7 Kap. 35. messenger zur effizienten Amplifikation des Signals bei und ver-
Neben den Rezeptor-Tyrosinkinasen und den rezeptorasso- teilt die Information ausgehend von der Plasmamembran über
ziierten Kinasen gibt es zahlreiche cytosolische Kinasen, die die gesamte Zelle (. Abb. 33.5). Dies ist z. B. für die Aufrechter-
durch second messenger, aktivierte G-Proteine (s. u.) oder durch haltung des Blutzuckerspiegels von Bedeutung. In der Leber ak-
»upstream« gelegene Kinasen aktiviert werden. Sie sind u. a. für tiviert cAMP die Proteinkinase A (PKA), die ihrerseits über eine
die Phosphorylierung von Stoffwechselenzymen, Cytoskelett- Reihe nachgeschalteter Enzyme unter anderem den Glycogen-
proteinen und wiederum Transkriptionsfaktoren verantwortlich. metabolismus steuert. Über diese amplifizierende Signalkaskade
Das menschliche Genom codiert für über 500 verschiedene Ki- führt die Aktivierung weniger Membranrezeptoren zur Freiset-
nasen und mindestens ein Drittel aller zellulären Proteine wird zung einer großen Anzahl von Glucosemolekülen aus Glycogen-
phosphoryliert. Viele Proteine werden dabei nicht nur an einem, speichern (7 Kap. 14.2.2, 15.2, 35.3.2, 37.1.4). Dieser Mechanismus
sondern mehreren Serin-, Threonin- oder Tyrosinresten modi- ermöglicht also eine schnelle Stoffwechselregulation. Das En-
fiziert, wobei die verschiedenen Phosphorylierungsstellen je- zym Phosphodiesterase überführt cAMP in AMP und schaltet
weils spezifische funktionelle Bedeutungen haben. damit das Signal wieder ab.
Viele Phosphatasen und einige Kinasen enthalten katalytisch Der second messenger cyclisches GMP (cGMP) entsteht ana-
wichtige Cysteine, deren SH-Gruppen leicht oxidiert werden log zu cAMP durch die Umsetzung von GTP durch Guanylat-
können. Daher ist deren Aktivität vom Redoxstatus der Zelle cyclasen. Die Stimulation der löslichen Guanylatcyclasen er-
abhängig. Der regulierte Anstieg von reaktiven Sauerstoffmole- folgt durch Stickstoffmonoxid (NO) (7 Kap. 35.6.1). Über die
külen (ROS, reactive oxygen species) beeinflusst damit direkt Sig- Aktivierung einer cGMP-abhängigen Proteinkinase (PKG)
nalwege, die von der Balance zwischen unphosphorylierten und wirkt NO relaxierend auf die glatte Muskulatur.
phosphorylierten Aminosäureseitenketten abhängig sind. Weitere wichtige second messenger sind Inositoltrisphosphat
(IP3), Diacylglycerin (DAG) und Calciumionen (Ca2+). Das En-
Ubiquitinierung Bei der Ubiquitinierung (7 Kap. 49.3, 50.2) wer- zym Phospholipase C (PLC) spaltet Phosphatidylinositol-4,5-
den Proteine durch das Anfügen eines kleinen, ubiquitär expri- Bisphosphat (PIP2) in IP3 und DAG (. Abb. 33.7B). Über IP3 wird
mierten Proteins mit dem Namen Ubiquitin an Lysinreste modifi- anschließend Ca2+ aus dem endoplasmatischen Retikulum frei-
ziert. Die Verknüpfung mit der ε-Aminogruppe eines Lysinrestes gesetzt (7 Kap. 35.3.3). DAG und Ca2+ aktivieren unter anderem
des Zielproteins erfolgt über den C-Terminus des Ubiquitins (Iso- die Proteinkinase C (PKC) (7 Kap. 35.4.3). Proteine können auch
peptidbindung). Interessanterweise können die Ubiquitinreste indirekt durch Calcium aktiviert werden, indem sie mit dem
ihrerseits wiederum ubiquitiniert werden. Je nach Art der Ver- calciumbeladenen Calciumsensor Calmodulin interagieren
knüpfung und Länge der Ubiquitinketten stellt die Ubiquitinie- (7 Kap. 35.3.3). Calcium steuert eine Vielzahl von zellulären Ant-
rung ein Signal zur Internalisierung, zur Proteindegradation worten, wie die Muskelkontraktion, den Umbau des Cytoskeletts
(7 Kap. 49.3, 50.2) oder zur Ausbildung von Proteinkomplexen dar. und den vesikulären Transport.

SUMOylierung Die SUMOylierung ähnelt der Ubiquitinierung,


da das angefügte kleine Protein SUMO (small ubiquitin like mo- 33.4.3 Protein-Protein- und Protein-Lipid-
difier) zur Ubiquitinfamilie gehört und ebenfalls mit Lysinresten Wechselwirkungen
des Zielproteins verknüpft wird. Im Gegensatz zur Ubiquitinie-
rung werden jedoch keine SUMO-Multimere an Zielproteine Signalproteine interagieren miteinander
angefügt. SUMOylierung und Ubiquitinierung schließen sich Die spezifische Interaktion zwischen Proteinen ist ein grundlegen-
häufig gegenseitig aus. Die SUMOylierung beeinflusst die nucle- des Prinzip der Signaltransduktion, da Signalproteine einerseits an
äre Translokation und Aktivität von Transkriptionsfaktoren. einen aktivierten Rezeptor rekrutiert werden müssen, andererseits
An Lysyl- und Arginylresten von Transkriptionsfaktoren finden aber auch in einen bereits bestehenden Signalkomplex aufgenom-
darüber hinaus auch Acetylierungen bzw. Methylierungen statt, men werden können. Dabei können Protein-Protein-Interaktio-
die häufig den Phosphorylierungsstatus und die Interaktions- nen konstitutiv, d. h. völlig unabhängig vom Stimulus, vorliegen
möglichkeiten des Proteins beeinflussen. oder erst durch eine Signalkaskade hervorgerufen werden.
Bereits angesprochene konstitutive Interaktionen findet man
bei denjenigen kinaseassoziierten Rezeptoren, die über eine pro-
33.4.2 Second messenger linreiche Region im membrannahen intrazellulären Bereich dau-
erhaft mit Janus-Tyrosinkinasen verbunden sind (7 Kap. 35.5.1).
Einige Signalwege führen zur Synthese oder Freisetzung eines Auch die heterotrimeren G-Proteine sind bereits im unstimulier-
niedermolekularen zweiten Botenstoffs (second messenger), der ten Zustand mit dem Rezeptor verbunden. Diese Interaktion
sich in der Zelle frei verteilen und selbst neue Signalkaskaden wird aber durch die Aktivierung des Rezeptors aufgehoben
einleiten kann. So aktivieren bestimmte G-Protein-gekoppelte (7 Kap. 35.3.1).
404 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

33

. Abb. 33.7 Synthese der second messenger Moleküle cAMP und IP3. A Generierung von cAMP aus ATP nach Stimulation der Adenylatcyclase durch
trimere G-Proteine. B Entstehung der second messenger Inositol-1,4,5-Trisphosphat (IP3) und Diacylglycerin (DAG) durch Phospholipase-C-vermittelte Spal-
tung von Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2). Während G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) über trimere G-Proteine die Phospholipase Cβ
(PLCβ) aktivieren, können Rezeptortyrosinkinasen (RTK) Phospholipase Cγ (PLCγ) rekrutieren und aktivieren. Die Bildung von IP3 und DAG führt zur Ca2+-
Freisetzung

Im Verlauf der Evolution haben sich spezifische Interaktions- nosäuresequenz und erlauben damit z. B. die Bindung von cyto-
domänen herausgebildet, die stets auf eine Art der Protein-Pro- plasmatischen und membranassoziierten Proteinen an phospho-
tein-Interaktion spezialisiert sind. Zu den zuerst beschriebenen rylierte Cytokin- oder Wachstumsfaktorrezeptoren (7 Kap.
Proteininteraktionsdomänen gehören die sog. Src-Homologie- 35.5.1, 35.4.3). SH3-Domänen wiederum binden an prolinreiche
domänen 2 (SH2) und 3 (SH3). Diese beiden Domänen beziehen Regionen anderer Proteine. Da diese Interaktion unabhängig von
ihren Namen von der Src-Tyrosinkinase, einem Protoonkogen. einer posttranslationalen Modifikation erfolgt, ist sie meist von
Zahlreiche zelluläre Signalproteine und Adaptoren verfügen längerer Dauer als die Interaktion einer SH2-Domäne mit einer
über derartige SH2- und SH3-Domänen, die charakteristische tyrosinphosphorylierten Peptidsequenz.
dreidimensionale Strukturen aufweisen. SH2-Domänen erken- Bei Protein-Protein-Interaktionen handelt es sich um eine
nen spezifisch Phosphotyrosinreste innerhalb einer kurzen Ami- 1:1-Signalübertragung. Damit ist diese Art der Signalweiterlei-

Adenosintriphosphat (ATP)# Adenylatcyclase cyclisches AMP (cAMP)# Acetylcholin Angiotensin II Vasopressin Noradrenalin
33.4 · Prinzipien der intrazellulären Signaltransduktion
405 33
tung zu unterscheiden von der Signalverstärkung über second
messenger, bei der wie zuvor erwähnt ein einzelnes aktiviertes
Enzym unzählige neue intrazelluläre Signalmoleküle erzeugen
kann. Proteine, die in der Signaltransduktion als Adapter fungie-
ren, besitzen mehrere Interaktionsdomänen und können so un-
terschiedliche Signalproteine zusammenführen.

Signalproteine werden an Membranen rekrutiert


Um eine effiziente Aktivierung eines cytoplasmatischen Signal-
moleküls zu ermöglichen, kann es notwendig sein, das Protein
an die Zellmembran zu binden. Dies kann durch die Modifizie-
rung von Membranlipiden erreicht werden. Bestimmte Lipid-
kinasen wie die Phosphatidylinositid-3-Kinase (PI3K) phospho-
rylieren Phosphatidylinositolphosphate, an die daraufhin Prote- . Abb. 33.8 Aktivierung der Tyrosinkinase Src durch Phosphorylierung
ine mit lipidbindenden Domänen binden können. Eine wichtige und Dephosphorylierung. Im autoinhibierten Zustand ist Src an Tyro-
lipidbindende Domäne ist die Pleckstrin-Homologie-Domäne, sin 530 phosphoryliert. Die phosphorylierte Seitenkette des Tyrosins und
kurz PH-Domäne, die mit Phosphatidylinositol-(3,4,5)-Tris- die benachbarten Aminosäuren werden durch die SH2-Domäne von Src er-
kannt. Weitere intramolekulare Wechselwirkungen werden durch die SH3-
phosphaten assoziiert. Zu Proteinen mit PH-Domänen gehören
Domäne vermittelt. In diesem kompakten Zustand ist das Enzym inaktiv.
z. B. Enzyme wie die Proteinkinase B, die an der Plasmamem- Durch Dephosphorylierung von Phosphotyrosin 530 lösen sich die intramo-
bran ihre ebenfalls dorthin rekrutierten Substrate umsetzt lekularen Wechselwirkungen. Nach Autophosphorylierung des Tyrosins 419
(7 Kap. 35.4.3) oder Adapterproteine, die nach Rekrutierung an besitzt das Enzym die volle Kinaseaktivität. Die Nummerierung der Tyrosin-
die Plasmamembran eine neue Signalplattform ausbilden. reste im humanen Src-Protein ist angegeben
Proteine können aber auch über angefügte Lipide in der in-
neren Lipidschicht der Plasmamembran verankert werden. Wird
der N-Terminus eines Proteins mit Myristinsäure (eine gesättig- sondern auch inaktivieren können. Umgekehrt sind Phosphata-
te Fettsäure aus 14 C-Atomen) acyliert, so spricht man von sen nicht nur für das Abschalten von Signalwegen zuständig,
Myristylierung. Bei der Palmitylierung wird die Palmitinsäure sondern können auch für das Anschalten von Signalwegen von
(C16) über einen Thioester an eine Cysteinseitenkette des Prote- großer Bedeutung sein.
ins gebunden. Am C-terminalen Ende einiger Proteine findet
man Modifikationen von Cysteinresten durch Isoprenderivate G-Proteine Guaninnucleotidbindende Proteine ( G-Proteine)
z. B. bei der Farnesylierung (C15) oder der Geranylgeranylie- stellen eine weitere Klasse von Proteinen dar, deren Aktivität
rung (C20), die ebenfalls als Membrananker dienen (7 Kap. über Proteinkonformationsänderungen beeinflusst wird. Sie
49.3.4). sind als molekulare Schalter nicht nur für hormonelle, sondern
auch für sensorische Signaltransduktionsmechanismen von gro-
ßer Bedeutung. Wie aus . Abb. 33.9 hervorgeht, kommen G-
33.4.4 Proteinkonformationsänderungen Proteine in zwei unterschiedlichen Zuständen vor, die sich nur
durch das jeweils gebundene Guaninnucleotid unterscheiden. In
Induzierte Veränderungen der Proteinkonformation Ein weite- aktiver Form sind sie mit GTP beladen und imstande, eine Reihe
res grundlegendes Prinzip der intrazellulären Kommunikation unterschiedlicher Proteine (z. B. die Adenylatcyclase, die Phos-
ist die induzierte Veränderung der Proteinkonformation. Viele
Enzyme (z. B. Kinasen oder Phosphatasen) liegen vor ihrer Ak-
tivierung in einer Konformation vor, in der ihre enzymatische
Aktivität inhibiert ist. Ein klassisches und sehr gut untersuchtes
Beispiel stellt die Tyrosinkinase Src dar. Src ist über einen Myris-
tylanker mit der Plasmamembran verbunden und an der Regu-
lation von Zellproliferation und Migration beteiligt. In ihrer in-
aktiven Form ist diese Kinase bereits an einem C-terminalen
Tyrosylrest phosphoryliert. Durch die intramolekulare Interak-
tion des phosphorylierten Tyrosinmotivs mit der SH2-Domäne
(7 Kap. 33.4.1) ist die Kinasedomäne inaktiv (Autoinhibition).
Das Enzym liegt quasi in einem »zugeklappten« Zustand vor
(. Abb. 33.8). Im Verlauf der Aktivierung wird nun der inhibito-
rische Phosphotyrosinrest dephosphoryliert und damit die Inter-
. Abb. 33.9 Der Aktivierungszyklus der G-Proteine. G-Proteine werden
aktion mit der eigenen SH2-Domäne aufgehoben. Eine Tyrosin-
durch den Austausch von GDP durch GTP aktiviert und wirken als »moleku-
phosphorylierung in der Kinasedomäne führt zur vollständigen lare Schalter«. Die Inaktivierung erfolgt durch Hydrolyse des GTP zu GDP.
Aktivierung des nun aufgeklappten Enzyms. Dieses Beispiel GEF: guanine nucleotide-exchange factor; GAP: GTPase aktivierendes Protein.
zeigt, dass Phosphorylierungen Proteine nicht nur aktivieren, (Einzelheiten s. Text)
406 Kapitel 33 · Prinzipien zellulärer Kommunikation

pholipase Cβ oder die Proteinkinase Raf) zu aktivieren. Für die


Überführung der aktiven in die inaktive Form des G-Proteins ist
die intrinsische GTPase-Aktivität des G-Proteins verantwortlich,
die meist durch einen Hilfsfaktor, ein sog. GTPase-aktivierendes
Protein (GAP) stimuliert wird. Soll das inaktive, GDP-beladene
G-Protein wieder aktiviert werden, so ist zunächst die Dissozia-
tion des GDP notwendig. Hierfür werden unterschiedlichste
Proteine benötigt, die allgemein als guanine nucleotide-ex-
change factors (GEF) bezeichnet werden. Das guaninnucleotid-
freie G-Protein besitzt eine Konformation, die eine hohe Affini-
tät zu GTP aufweist und dieses daher rasch bindet, womit es
wieder in den aktiven Zustand überführt wird.
Bis heute sind mehr als 50 unterschiedliche Isoformen von
G-Proteinen isoliert und charakterisiert worden, die für die Sig-
nalweiterleitung nahezu aller Membranrezeptoren von Bedeu-
tung sind. Darüberhinaus kontrollieren G-Proteine auch wesent-
liche Schritte der Translation (Initiation, Elongation, Erkennung
der Signalsequenz) und des vesikulären Transports (7 Kap. 12.2).
Die Funktionen verschiedener G-Proteine in der Signaltrans-
duktion werden in 7 Kap. 35.3 näher erläutert.
33
Zusammenfassung
Die interzelluläre Kommunikation beruht auf der Triade:
4 extrazellulärer Mediator,
4 spezifischer Rezeptor,
4 intrazelluläre Signaltransduktion.

Der Komplex aus Ligand und Rezeptor löst die intrazelluläre


Signaltransduktion aus. Die molekularen Mechanismen der
Signaltransduktion hängen weitgehend von der Natur des
Rezeptorproteins ab. Die intrazelluläre Signaltransduktion
beruht auf:
4 der posttranslationalen Modifikation und Konforma-
tionsänderung von Proteinen,
4 konstitutiven oder induzierten Protein-Protein-Wechsel-
wirkungen,
4 der Rekrutierung von Proteinen an die Plasmamembran
oder an intrazelluläre Membranen,
4 der Generierung von niedermolekularen second
messenger.

Da eine Zelle zu einem gegebenen Zeitpunkt einer Vielzahl


von extrazellulären Mediatoren ausgesetzt ist, entsteht ein
Netzwerk von sich wechselseitig beeinflussenden Signal-
wegen (cross-talk).

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


407 34

34 Mediatoren
Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper

Einleitung grenzung der Hormone von Neurotransmittern einerseits und


Cytokinen andererseits ist manchmal schwierig und die Über-
Im vorangegangenen 7 Kap. 33 wurden die Prinzipien zellulärer Kom- gänge sind fließend. . Tab. 34.1 gibt einen Überblick über wich-
munikation beschrieben. In diesem und im folgenden Kapitel werden tige Hormone und ihre Bildungsorte.
die extrazellulären Mediatoren (7 Kap. 34) sowie Rezeptoren und ihre Hormone wirken auf Zielzellen über die Bindung an spezifi-
Signaltransduktion (7 Kap. 35) im Detail besprochen. Extrazelluläre sche Rezeptoren, die je nach chemischer Eigenschaft des Media-
Signalmoleküle spielen eine entscheidende Rolle bei der Kommunika- tors an der Plasmamembran oder intrazellulär lokalisiert sind.
tion zwischen Zellen und Organen. Störungen dieser Kommunikation Die Signaltransduktion von Hormonen läuft nach denselben
führen zu klinisch oft gut definierten Krankheitsbildern. In verstärktem Grundprinzipien wie die der Cytokine (s. u.) ab und wird in
Maße werden vor allem akute und chronisch-entzündliche Erkrankun- 7 Kap. 35 beschrieben.
gen als Konsequenzen einer gestörten Regulation durch Cytokine
verstanden, sodass speziell diesen Signalmolekülen eine zunehmende
klinische Bedeutung zukommt. . Tab. 34.1 Die wichtigsten Hormone, ihre chemische Struktur-
klasse und ihre Hauptbildungsorte
Schwerpunkte
Hypothalamus
4 Übersicht über Hormone und Cytokine
Corticotropin releasing hormone (CRH) P
4 Einteilung der Cytokine in Wachstumsfaktoren, Interleukine,
Thyrotropin releasing hormone (TRH) P
Interferone und Chemokine Gonadotropin releasing hormone (GnRH) P
4 Biologische Funktionen der Cytokine Growth-hormone releasing hormone (GHRH) P
Somatostatin (SSt) P
Dopamin (DA) A
Vasopressin P
Oxytocin P
Kisspeptin P
34.1 Hormone
Endorphine P
Enkephaline P
Die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit den Hormonen, ihrer Dynorphine P
Wirkung und ihrer Pathophysiologie beschäftigt, ist die Endokri- Neuropeptid Y P
nologie. Der Hormonbegriff (griech. horman: antreiben, erre- Neurotensin P
Agouti-related peptide (AGRP) P
gen) wurde 1905 vom englischen Physiologen Ernest Starling
Galanin P
geprägt. Im klassischen Sinne sind Hormone biochemische Bo- Galanin-like peptide (GALP) P
tenstoffe, die von spezialisierten Zellen (Hormondrüsen, glandu- Neuromedin U P
lae) gebildet und sezerniert werden und nach Transport durch Calcitonin gene-related peptide (CGRP) P
die Blutbahn auf Zielorgane regulierend einwirken (endokrine Melanocyten stimulierendes Hormon (α, β, γ-MSH) P
Wirkung, s. 7 Abb. 33.1). Die klassischen Hormone bezeichnet Hypophyse
man deshalb auch als glanduläre Hormone. Aglanduläre Hormo-
Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) P
ne werden von Gewebszellen produziert, die nicht in Drüsenge- β-Lipotropin P
webe organisiert sind. Sie wirken meist lokal (auto- oder para- Thyroid-stimulierendes Hormon (TSH) P
krin). Hauptaufgaben der glandulären Hormone sind die Regu- Luteinisierendes Hormon (LH) P
lation des Stoffwechsels (z. B. Glucose- und Lipidstoffwechsel), Follikelstimulierendes Hormon (FSH) P
Wachstumshormon (GH) P
die Anpassung des Organismus an veränderte Umweltparameter
Prolactin (PRL) P
(Kälte, Sauerstoffpartialdruck) und die Steuerung des Reproduk-
tionsprozesses (Oogenese- und Spermatogenese, Schwanger- Schilddrüse
schaft). Wie in 7 Kap. 33.2 ausgeführt sind Hormone verschiede- Thyroxin (T4) A
nen biochemischen Stoffklassen zuzuordnen. Sie leiten sich von Triiodthyronin (T3) A
Aminosäuren, Fettsäuren, Cholesterin (Steroide) oder Peptiden Calcitonin P
ab. Dennoch wirken Hormone unterschiedlicher Substanzklas- Nebenschilddrüse
sen oft über vergleichbare Signalketten (z. B. Adrenalin und Glu- Parathormon P
cagon über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren). Eine scharfe Ab-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
408 Kapitel 34 · Mediatoren

(wenige Micrometer) entweder parakrin oder autokrin. Einige


. Tab. 34.1 (Fortsetzung) Cytokine wirken bei entsprechend hoher Ausschüttung aber
auch systemisch.
Pankreas
Cytokine sind Polypeptide mit Molekularmassen von ca.
Glucagon P 15–25 kDa, die nach auslösenden Reizen/Noxen schnell von ver-
Insulin P
schiedenen Zelltypen synthetisiert und sezerniert werden. Sie
Somatostatin P
Pankreatisches Polypeptid (PP) P werden selten als präformierte Moleküle gespeichert und entfal-
ten ihre Wirkung bereits im pico- bis nanomolaren Bereich. Ihre
Niere
Aktivität initiieren die Cytokine über die Bindung an spezifische
Calcitriol (1,25-(OH)2-Vitamin D3) S Rezeptoren auf der Oberfläche ihrer Zielzellen, die daraufhin
Nebennierenrinde über eine intrazelluläre Signalkaskade die Zielzelle zur Änderung
ihrer Genexpression, zur Differenzierung, Proliferation, Migra-
Aldosteron S
Cortisol S tion oder Apoptose veranlassen. Da Cytokine Zellen unter-
Corticosteron S schiedlichen Zelltyps ansprechen und dort unterschiedliche Ant-
Nebennierenmark
worten auslösen können, bezeichnet man sie als pleiotrop wirk-
sam. Umgekehrt können aber auch Cytokine unterschiedlicher
Adrenalin A
Art auf ihren Zielzellen Gleiches bewirken, d. h. sie haben re-
Noradrenalin A
dundante Eigenschaften. Viele biologische Prozesse erfordern
Gonaden eine additive, synergistische oder antagonistische Wirkung der
Östrogene S Cytokine.
Gestagene S Eine Dysregulation der Cytokinsignaltransduktion kann zu
Androgene S
schwerwiegenden akuten und chronischen Entzündungen, Au-
34 Magen-Darm-Trakt toimmunerkrankungen und Neoplasien führen. Daher ist das
Cholecystokinin (CCK) P Verständnis ihrer molekularen Mechanismen für therapeutische
Gastrin P Ansätze von großer Bedeutung.
Ghrelin P
Sekretin P
Vasoactive intestinal peptide (VIP) P
Übrigens
Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid/Gastrin- P
inhibitorisches Peptid (GIP) Lösliche Rezeptoren als Cytokininhibitoren
Glucagon-like peptide-1 and -2 (GLP-1, -2) P Im Blutplasma, häufig auch im Urin, kann man lösliche
Herz Formen von Cytokinrezeptoren nachweisen. Die löslichen
Rezeptoren bestehen aus der Extrazellulärregion des Rezep-
Atrialer natriuretischer Faktor (ANF) P
tors, während die Transmembrandomäne und der cytoplas-
Fettgewebe matische Teil fehlen. Lösliche Rezeptoren entstehen durch
Leptin P Translation einer alternativ gespleißten mRNA oder durch
Adiponektin P limitierte proteolytische Spaltung membranständiger Re-
Leber zeptoren (shedding). Sie binden ihren Liganden mit ver-
gleichbarer Affinität und Spezifität wie der membranständi-
Hepcidin P
ge Rezeptor. Cytokine, die an den löslichen Rezeptor gebun-
Gewebshormone (ohne Cytokine) den sind, können oft nicht mehr an den membranständigen
Prostaglandine F Rezeptor binden und sind daher in den meisten Fällen un-
Leukotriene F wirksam. Lösliche Rezeptoren wirken deswegen mit weni-
Thromboxane F
gen Ausnahmen als Cytokininhibitoren. Man nimmt an, dass
Histamin A
Serotonin A sie bei der Modulation von Cytokinsignalen eine wichtige
Kinine P Rolle spielen (7 Kap. 35.7.1).
Gase mit Signaleigenschaften Chronische Entzündungen werden durch eine Überproduk-
tion von proinflammatorischen Cytokinen wie Interleu-
NO, CO G
kin-1 (IL-1), Tumornekrosefaktor (TNF) und Interleukin-6
A: Aminosäurederivat, F: Fettsäurederivat, G: gasförmig, P: Peptid- (IL-6) aufrechterhalten. Daher ist die gezielte Hemmung pro-
hormon, S: Steroidhormon.
inflammatorischer Cytokine ein vielversprechender Thera-
pieansatz. Der lösliche TNF-Rezeptor wird in dimerer Form in
großen Mengen biotechnologisch produziert und als TNF-
34.2 Cytokine Inhibitor mit Erfolg zur Behandlung rheumatischer Erkran-
kungen und von Morbus Crohn eingesetzt (Etanercept/Enb-
Cytokine entfalten im Unterschied zu den Hormonen, die endo- rel). Weitere Cytokininhibitoren auf der Basis löslicher Rezep-
krin über den Blutstrom weit entfernte Zielzellen/-gewebe errei- toren befinden sich im Entwicklungsstadium.
chen, ihre Wirkung meist über sehr viel kürzere Distanzen
34.2 · Cytokine
409 34

. Tab. 34.2 Einteilung der Cytokine (Auswahl) und ihre biologischen Funktionen

Wachstumsfaktoren Interleukine Interferone Chemokine

Signaltransduktion über Proinflammatorische Cytokine Typ-1-Interferone CC-Chemokine (CCL1 bis CCL28)


Rezeptor-Tyrosinkinasen Interleukin-1 (IL-1) Interferon-α (IFN-α1,-2,-4,-5,-6,-7, Eotaxine
brain-derived neurotrophic factor Tumornekrosefaktor (TNF) -8,-10,-13,-14,-16,-17,-21) Eotaxin 1 (CCL11)
(BDNF) Interferon-β (IFN-β) Eotaxin 2 (CCL24)
colony-stimulating factor (CSF) Signaltransduktion über die Interferon-ε (IFN-ε) Eotaxin 3 (CCL26)
epidermal growth factor (EGF) common-β-Kette Interferon-κ (IFN-κ) macrophage inflammatory proteins
fibroblast growth factor (FGF) Interleukin-3 (IL-3) Interferon-ω (IFN-ω1, IFN-ω2) MIP1α (CCL3)
insulin-like growth factor (IGF) Interleukin-5 (IL-5) MIP1β (CCL4)
keratinocyte growth factor (KGF) granulocyte macrophage colony- Typ-2-Interferon MIP1δ (CCL15)
macrophage colony-stimulating stimulating factor (GM-CSF) Interferon-γ (IFN-γ) MIP3α (CCL20)
factor (MCSF) MIP3β (CCL19)
nerve growth factor (NGF) Signaltransduktion über die Typ-3-Interferone regulated on activation, normal
platelet-derived growth factor common-γ-Kette Interleukin-10 (IL-10) T-cell expressed and secreted
(PDGF) Interleukin-2 (IL-2) Interleukin-19 (IL-19) (RANTES) (CCL5)
stem cell factor (SCF) Interleukin-4 (IL-4) Interleukin-20 (IL-20) monocyte chemoattractant proteins
vascular endothelial growth Interleukin-7 (IL-7) Interleukin-22 (IL-22) MCP1 (CCL2)
factor (VEGF) Interleukin-9 (IL-9) Interleukin-24 (IL-24) MCP2 (CCL8)
Interleukin-15 (IL-15) Interleukin-28A (IL-28A) auch IFN λ 2 MCP3 (CCL7)
Signaltransduktion über Re- Interleukin-21 (IL-21) Interleukin-28B (IL-28B) auch IFN λ 3 MCP4 (CCL13)
zeptor-Serin/Threoninkinasen Interleukin-29 (IL-29) auch IFN λ 1
transforming growth factor β IL-6-Typ-Cytokine (Signaltrans- CXC-Chemokine (CXCL1 bis
(TGF-β) duktion über gp130) CXCL15)
bone morphogenetic protein Interleukin-6 (IL-6) Interleukin-8 (IL-8, CXCL8)
(BMP) Interleukin-11 (IL-11) stromal derived factor 1
Aktivine Interleukin-27 (IL-27) (SDF1, CXCL12)
Oncostatin M (OSM) growth-related oncogenes
leukemia inhibitory factor (LIF) GROα (CXCL1)
ciliary neurotrophic factor (CNTF) GROβ (CXCL2)
Cardiotrophin-1 (CT-1) GROγ (CXCL3)
cardiotrophin-like cytokine (CLC)
Neuropoetin (NP) XC-Chemokine
Lymphotactin (XCL1)
Sonstige SCM-1β (XCL2)
Erythropoetin (EPO)
growth hormone (GH) CX3C-Chemokine
granulocyte colony-stimulating Fractalkin (CX3CL1)
factor (GCSF)
Thrombopoetin (TPO)

Biologische Funktion

Proliferation, Differenzierung Immunabwehr, Entzündung, Virusabwehr, Proliferations- Migration, Chemotaxis


Hämatopoese, Apoptose hemmung, Apoptose

Cytokine lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten klas- 34.2.1 Wachstumsfaktoren


sifizieren: entsprechend ihrer biologischen Antwort, nach struk-
turellen Gesichtspunkten der Cytokine selbst oder anhand der Wachstumsfaktoren regulieren die Entwicklung
gemeinsam genutzten Rezeptorkomponenten. von Vorläuferzellen zu differenzierten Zelltypen
In . Tab. 34.2 findet sich ein Überblick über die verschiede- und stimulieren die Zellproliferation
nen Cytokine, die sich nach ihren biologischen Funktionen und Innerhalb der Wachstumsfaktoren ist eine Einteilung nach funk-
der Natur ihrer Rezeptoren in Wachstumsfaktoren, Interleu- tionellen Eigenschaften schwierig. Die meisten Wachstumsfak-
kine, Interferone und Chemokine einteilen lassen. toren signalisieren über Rezeptoren mit intrinsischer Kinaseak-
tivität (Rezeptor-Tyrosinkinasen oder Rezeptor-Serin/Threo-
ninkinasen). Ein gemeinsamer zentraler Mechanismus in den
Signalwegen aller Wachstumsfaktoren, die über Rezeptor-Tyro-
sinkinasen signalisieren, besteht in der Aktivierung der Ras/Raf/
MAPK-Kaskade (7 Kap. 35.4.2).
410 Kapitel 34 · Mediatoren

34.2.2 Interleukine diese Cysteine direkt benachbart sind. Entsprechend ihrer Ligan-
den werden auch die Chemokinrezeptoren in CXC- und CC-
Interleukine besitzen vielfältige Aufgaben in Rezeptoren unterteilt. Einzelne Chemokine sind in der Lage,
der Regulation der Immunabwehr, der Entzün- verschiedene Rezeptoren der gleichen Klasse zu binden. Inter-
dungsreaktion, der Hämatopoese und der Apoptose leukin-8 ist trotz seines Namens bei den CXC-Chemokinen ein-
Bisher sind über 30 Interleukine bekannt. Andere Cytokine wie zuordnen.
z. B. Tumornekrosefaktor (TNF), Leptin, Erythropoetin (EPO),
Thrombopoetin (TPO) werden ebenfalls zur Gruppe der Inter-
leukine gezählt. Die meisten Interleukine signalisieren über Re- Zusammenfassung
zeptoren mit assoziierten Kinasen und nutzen als gemeinsamen Cytokine werden nach ihrer biologischen Funktion eingeteilt in:
zentralen Signalweg die Janus-Kinase/signal transducer and acti- 4 Wachstumsfaktoren
vator of transcription (JAK/STAT)-Kaskade (7 Kap. 35.5.1). TNF 4 Interleukine
und IL-1 nehmen innerhalb der Interleukinfamilie im Hinblick 4 Interferone
auf ihre Rezeptoren und Effektorproteine (NF-κB) eine Sonder- 4 Chemokine
stellung ein (7 Kap. 35.5.2 und 35.5.3).
Die meisten Wachstumsfaktoren signalisieren über Rezep-
tor-Tyrosinkinasen. Interleukine und Interferone signalisie-
34.2.3 Interferone ren über Rezeptoren mit assoziierten (Tyrosin)kinasen. Che-
mokine benutzen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren.
Die mit den Interleukinen nahe verwandten Inter-
ferone spielen eine wesentliche Rolle bei der Immun-
abwehr (besonders nach Virusinfektionen) und der 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
34 Apoptose, sie wirken stark wachstumshemmend
Von den Interleukinen werden die sehr nahe verwandten Inter-
ferone abgegrenzt. Auch die Interferone signalisieren über Re-
zeptoren mit assoziierten Kinasen und nutzen die JAK/STAT-
Signalkaskade (7 Kap. 35.5.1).
Die Interferone selbst werden in drei Klassen eingeteilt
(. Tab. 34.2). α-Interferone (IFN-α), β-Interferon (IFN-β),
ε-Interferon (IFN-ε), κ-Interferon (IFN-κ), und ω-Interferone
(IFN-ω) gehören zu den Typ-1-Interferonen. Sie signalisieren
über die gleichen Rezeptorheterodimere. Von den α-Interferonen
sind derzeit 13, von den ω-Interferonen zwei Subtypen und von
den β-, ε-, κ-Interferonen nur jeweils eine Form bekannt. IFN-γ
ist das einzige derzeit bekannte Typ-2-Interferon. Es bindet als
Dimer an IFN-γ-spezifische Rezeptorheterodimere. Die
λ-Interferone, auch als IL-28A und B sowie IL-29 bezeichnet,
und die Cytokine der Interleukin-10-Familie gehören trotz ihrer
anders lautenden Bezeichnung strukturell gesehen zu den Typ-
3-Interferonen.

34.2.4 Chemokine

Chemokine koordinieren die Immun-


antwort durch ihre chemotaktische Wirkung
auf verschiedene Leukocyten
Der Name Chemokine (chemotactic cytokine) hebt die Funktion
dieser Cytokine als migrationauslösende Faktoren hervor. Che-
mokine sind für die Immunantwort von großer Bedeutung. Im
Unterschied zu den Wachstumsfaktoren, Interleukinen und In-
terferonen signalisieren die Chemokine über G-Protein-gekop-
pelte Rezeptoren.
Chemokine werden in zwei Hauptklassen unterteilt: CC- und
CXC-Chemokine (. Tab. 34.2): CXC-Chemokine enthalten zwi-
schen zwei konservierten, N-terminal lokalisierten Cysteinen
(C) eine weitere Aminosäure, während bei CC-Chemokinen
411 35

35 Rezeptoren und ihre Signaltransduktion


Peter C. Heinrich, Serge Haan, Heike M. Hermanns, Gerhard Müller-Newen, Fred Schaper

Einleitung über integrale Membranproteine der Plasmamembran. Nur die


lipophilen Hormone können die Membran passieren und an Re-
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Prinzipien der Signal- zeptoren im Zellinneren (nucleäre Rezeptoren) binden.
transduktion (7 Kap. 33) und extrazelluläre Mediatoren, Hormone und Die Mitglieder der Superfamilie der nucleären Rezeptoren
Cytokine (7 Kap. 34) besprochen. In diesem Kapitel werden die verschie- weisen untereinander eine große Ähnlichkeit auf. Ihre Struktur
denen Rezeptoren und deren Signaltransduktion vorgestellt. ist modular, d. h. aus verschiedenen Domänen aufgebaut. Begin-
Die meisten Rezeptoren extrazellulärer Signalmoleküle durchspannen nend vom N-Terminus besitzen nucleäre Rezeptoren eine varia-
die Plasmamembran. An die Aktivierung dieser membranverankerten ble Region, die essentielle Bereiche zur Regulation der Genex-
Rezeptoren schließen sich auf deren cytoplasmatischer Seite Signal- pression enthält, eine DNA-Bindungsdomäne, eine Kernlokali-
transduktionskaskaden an, bei denen aufeinander folgend verschiede- sationssequenz und die Ligandenbindungsdomäne, die immer
ne Proteine aktiviert werden. C-terminal zu finden ist (. Abb. 35.1A). Die Homologie der Re-
Im Gegensatz dazu liegen nucleäre Rezeptoren im Zellinneren vor und zeptoren ist besonders im Bereich der DNA-Bindungsdomäne
binden ihre lipophilen Liganden nach deren Transport durch die Plasma- sehr hoch.
membran. Diese ligandenbeladenen Rezeptoren können selbst als mobile Soweit bisher bekannt, binden alle nucleären Rezeptoren die
Signalweiterleiter angesehen werden, die nach Ligandenbindung die DNA als Dimere. Sie erkennen zwei konservierte DNA-Sequen-
Information bis in den Zellkern und an die DNA tragen können. zen aus je sechs Basen, die entweder auf dem gleichen DNA-
Sowohl für nucleäre als auch für membranverankerte Rezeptoren führt Strang als sog. direct repeats oder auf entgegengesetzten Strän-
die Signaltransduktion zu Veränderungen im Stoffwechsel, zur Differen- gen, d. h. als inverted repeats vorliegen (. Abb. 35.1B). Während
zierung, Proliferation, Apoptose, Migration oder zu einer gesteigerten die in homodimerer Form bindenden Steroidhormonrezeptoren,
oder verminderten Transkription von Zielgenen. z. B. Glucocorticoidrezeptor und Östrogenrezeptor, an inverted
Wegen ihrer grundsätzlich unterschiedlichen Wirkungsweise werden im repeats binden, erkennen die in heterodimerer Form bindenden
Folgenden die Signaltransduktion über nucleäre Rezeptoren und über Rezeptoren für Vitamin D3, Retinsäure und Schilddrüsenhor-
membranständige Rezeptoren getrennt beschrieben. mone direct repeats. Inzwischen gibt es gute Kenntnisse über die
Raumstruktur der DNA-Bindungsdomäne der Hormonrezepto-
Schwerpunkte ren. Sie enthalten häufig cysteinreiche Sequenzen, die Zinkionen
koordinativ binden und daher »Zinkfinger-Motive« genannt
4 Nucleäre Rezeptoren als ligandenaktivierte Transkriptions-
werden (7 Kap. 47.2.2).
faktoren
Die Spezifität der Bindung wird im Fall der Steroidhormon-
4 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren als größte Rezeptorfamilie
rezeptoren über feine Unterschiede in der DNA-Erkennungsse-
4 Zwei Klassen von Rezeptorkinasen: Tyrosin- und Serin-/
quenz, z. B. AGAACA (Glucocorticoid) im Vergleich zu AGGT-
Threonin-Rezeptorkinasen
CA (Östrogen) und im Fall der heterodimeren nucleären Rezep-
4 Rezeptoren mit assoziierten Janus-Kinasen
toren auch durch den Abstand der beiden Sequenzen zueinander
4 Rezeptoren mit TIR- und Todesdomänen: Interleukin-1
bestimmt (. Abb. 35.1B).
und Tumornekrosefaktor-Signaltransduktion
Der Aktivierungsmechanismus der nucleären Rezeptoren
4 Desensitisierung und Internalisierung (Endocytose) von
unterscheidet die in homodimerer Form an die DNA bindenden
Membranrezeptoren
Steroidhormonrezeptoren von den in heterodimerer Form bin-
4 Septischer Schock und Multiorganversagen
denden Rezeptoren für Vitamin D3, Retinsäure und Schilddrü-
senhormone (7 Kap. 40, 41, 58.2, 58.3). Die Rezeptoren für die
D-Vitamine, Retinsäure und Schilddrüsenhormone sind aus-
schließlich nucleär lokalisiert. In Abwesenheit der Hormone
35.1 Nucleäre Rezeptoren (= Liganden) reprimieren sie in Kooperation mit Corepressoren
die Transkription bestimmter Gene. Nach Ligandenbindung er-
Durch die Bindung des Signalmoleküls folgt eine drastische Konformationsänderung und nach Rekru-
an intrazelluläre Rezeptoren entsteht ein Komplex, tierung des zweiten Rezeptors und verschiedener Coaktivatoren
der als Transkriptionsfaktor wirkt die Aktivierung der Gentranskription (7 Kap. 47.2, 7 Abb. 46.6).
Die Plasmamembran einer Zelle stellt in vielerlei Hinsicht eine Im Gegensatz dazu sind die Rezeptoren für Steroidhormone
Barriere dar, nicht zuletzt auch für die meisten Hormone und alle in Abwesenheit ihrer Liganden cytoplasmatisch lokalisiert, meist
Cytokine. Daher signalisieren diese hydrophilen Mediatoren gebunden an Proteine, die ihre DNA-Bindungsdomäne und die

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
412 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

35
. Abb. 35.1 Aufbau und enhancer-Sequenzen nucleärer Rezeptoren. A Domänenstruktur einiger nucleärer Rezeptoren. AS: Aminosäuren. B enhancer-
Sequenzen, die durch aktivierte, dimere Hormon-Rezeptor-Komplexe erkannt werden. GRE: glucocorticoid response element; ERE: estrogen response element;
VDRE: vitamin D response element; TRE: thyroid hormone response element; RARE: retinoic acid response element; N: beliebige Base (A, G, C oder T) (die Sequen-
zen können in einzelnen Genen leicht von den oben dargestellten enhancer-Sequenzen abweichen)

Kernlokalisierungssequenz (NLS) blockieren. Als solches ist u. a. zeptoren muss die Ligandenbindung an der extrazellulären Re-
das Hitzeschockprotein (7 Kap. 49.1.4, 49.1.2) Hsp90 identifi- gion der Rezeptoren über die Transmembranhelices in ein cyto-
ziert worden. Die Bindung des Hormons an den Rezeptor führt plasmatisches Signal übersetzt werden. Auf der cytoplasmati-
zur Dissoziation der Hitzeschockproteine und anschließend zur schen Seite sind unterschiedliche Signalproteine in die Signal-
Bildung von homodimeren Formen der jeweiligen Hormonre- weiterleitung eingebunden.
zeptoren. . Abb. 35.2 gibt die heutigen Vorstellungen über die Die Bindung des Liganden an den Membranrezeptor ist der
Aktivierung derartiger intrazellulärer Hormonrezeptoren durch erste Schritt jeder Signaltransduktionskaskade. Die Ligand-Re-
ihre jeweiligen Liganden wieder. zeptor-Wechselwirkung ist durch Spezifität und hohe Affinität
charakterisiert. Die Bindung eines Liganden an den extrazellulä-
ren Bereich eines Rezeptormoleküls wird über mehrere nicht-
Zusammenfassung covalente Wechselwirkungen vermittelt.
Die Interaktion mit einem spezifischen Rezeptor ist der erste Die Rezeptorkinasen (7 Kap. 35.4) und die Rezeptoren mit
Schritt in der Wirkung von Hormonen und Cytokinen. Intra- assoziierten Kinasen (7 Kap. 35.5) werden erst nach ihrer Dime-
zellulär lokalisierte Hormonrezeptoren gehören zur Gruppe risierung oder Oligomerisierung aktiviert. Eine einzelne, starre
der ligandenaktivierten Transkriptionsfaktoren. Diese treten Transmembranhelix könnte extrazelluläre Konformationsände-
mit enhancer-Sequenzen der entsprechenden Gene in Wech- rungen nur schlecht ins Zellinnere weitergeben. Die Oligomeri-
selwirkung und kontrollieren so die Genexpression. sierung wird durch multivalente Liganden erreicht, die mit meh-
reren Rezeptorproteinen gleichzeitig interagieren. Bei der Bin-
dung von Cytokinen an Rezeptorkomplexe, die aus mehr als ei-
ner Proteinspezies aufgebaut sind (Heterooligomere), kann
35.2 Aktivierung membranständiger häufig eine definierte Reihenfolge der Bindungsereignisse festge-
Rezeptoren stellt werden. Das Cytokin bindet zunächst an eine der beteilig-
ten Rezeptoruntereinheiten. Erst nach Bindung einer oder meh-
Ein großer Teil von Rezeptoren ist in zellulären Membranen und rerer weiterer Rezeptoruntereinheiten entsteht ein signalisieren-
in die Plasmamembran integriert. Im Vergleich zur Signalweiter- der Komplex auf der Zellmembran.
leitung mittels nucleärer Rezeptoren ist die Signaltransduktion G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (7 Kap. 35.3) enthalten
über Membranrezeptoren eher indirekt. Bei allen Membranre- keine Kinasedomänen und sind nicht mit Kinasen assoziiert.
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
413 35
35.3 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren

Mit etwa 800 identifizierten Genen stellen die G-Protein-gekop-


pelten Rezeptoren (G-protein-coupled receptors; GPCR) die größ-
te Rezeptorklasse dar. Die Rezeptoren dieser Familie weisen ty-
pischerweise sieben Transmembrandomänen auf (heptahelical).
Sie vermitteln die Effekte vieler unterschiedlicher Liganden von
Aminosäurederivaten wie Adrenalin bis zu den Chemokinen wie
Interleukin-8. Die Struktur von GPCRs ist in . Abb. 35.3 am Bei-
spiel des β2-adrenergen Rezeptors (β2-AR) verdeutlicht.
Während die extrazellulären Schleifen des Rezeptors für die
Ligandenbindung verantwortlich sind, vermitteln die intrazel-
lulären Schleifen die Rekrutierung der heterotrimeren G-Pro-
teine. . Tab. 35.1 gibt einen Überblick über die Großfamilie der
G-Proteine und deren Funktionen.
Die heterotrimeren G-Proteine bilden eine Unterfamilie. Sie
bestehen aus einer 36–52 kDa schweren α-Untereinheit, einer
35–36 kDa β-Untereinheit und einer 8–10 kDa γ-Untereinheit.
Die erste Ebene der Diversität und Komplexizität wird durch eine
HRE RNA-Polymerase II Vielfalt verschiedener Subtypen der einzelnen G-Proteinunter-
einheiten erreicht. Man kennt inzwischen mindestens 35 Gene
. Abb. 35.2 Signaltransduktion nucleärer Rezeptoren. Die Abbildung für die verschiedenen G-Proteinuntereinheiten in Säugetieren.
zeigt den bei Glucocorticoiden aufgeklärten Mechanismus. Glucocorticoide
Die heterotrimeren G-Proteine werden aufgrund der Eigen-
diffundieren durch die Zellmembran und binden an den intrazellulären
Glucocorticoidrezeptor. Das zuvor an diesen gebundene Hitzeschockprote-
schaften ihrer α-Untereinheit in weitere Untergruppen eingeteilt
in Hsp90 löst sich ab und gibt die DNA-Bindungsdomäne und die Kernloka- (. Tab. 35.2).
lisierungssequenz (NLS) des Rezeptors frei. Dieser wird in dimerer Form in
den Zellkern transportiert, bindet dort an enhancer-Sequenzen responsiver
Gene und führt zur Aktivierung des basalen Transkriptionsapparats
35.3.1 G-Protein-gekoppelte Rezeptoren signali-
sieren über heterotrimere G-Proteine
Stattdessen binden heterotrimere G-Proteine an die dritte intra-
zelluläre Schleife der Rezeptoren. Die Ligandenbindung indu- In . Abb. 35.4 ist das Prinzip der Signaltransduktion von G-Pro-
ziert den Austausch von GDP zu GTP an der α-Untereinheit und tein-gekoppelten Rezeptoren dargestellt. Der allen Rezeptoren
vermittelt so die Dissoziation der α- und β/γ-Untereinheit des gemeinsame Aktivierungs-/Inaktivierungszyklus der heterotri-
trimeren G-Proteins. meren G-Proteine lässt sich in folgende Schritte unterteilen:
Unter den Cytokinen findet man sowohl Liganden, die über 4 Das inaktive, an den Rezeptor gebundene heterotrimere
Rezeptorkinasen oder kinaseassoziierte Rezeptoren als auch sol- G-Protein besteht aus den drei Untereinheiten α, β und γ,
che, die über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren signalisieren. wobei die α-Untereinheit mit GDP beladen ist.

. Tab. 35.1 Die Großfamilie der G-Proteine

Familie Bezeichnung Funktion

Heterotrimere G-Proteine Gs-Familie Aktivierung der Adenylatcyclase

Gi-Familie Hemmung der Adenylatcyclase bzw. Aktivierung der cGMP-Phosphodiesterase

Gq-Familie Aktivierung der PLC β

G12/13-Familie Aktivierung der Rho-Kinase

Kleine G-Proteine Ras-Proteine Wachstum, Differenzierung, Genexpression

Rho/Rac/Cdc42-Proteine Organisation des Cytoskeletts, Genexpression

Rab-Proteine Vesikulärer Transport (vesicle trafficking)

Sar1/Arf-Proteine Vesikelknospung (vesicle budding)

Ran-Proteine Nucleocytoplasmatischer Transport, Organisation von Mikrotubuli

Translationsfaktoren eIF-2 Initiation der Translation

EF-Tu; eEF-1; eEF-2 Elongation


414 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

4 Das aktivierte G-Protein zerfällt in seine α- und


βγ-Untereinheiten und löst sich vom Rezeptor.
4 Die mit GTP beladene α-Untereinheit oder die
βγ-Untereinheiten des G-Proteins assoziieren mit den
für die biologische Antwort verantwortlichen Effektor-
proteinen. Diese werden dadurch aktiviert oder inak-
tiviert.
4 Eine intrinsische GTPase-Aktivität der α-Untereinheit sorgt
für die Spaltung des gebundenen GTP zu GDP und anorga-
nischem Phosphat (Pi). Diese Hydrolyse wird durch
GTPase-aktivierende Proteine (RGS, regulator of G-pro-
tein signalling – entspricht dem GTPase activating pro-
tein (GAP) bei kleinen G-Proteinen) beschleunigt. Damit
ist die α-Untereinheit inaktiviert und das Signal abge-
schaltet.
4 Die GDP-beladene α-Untereinheit assoziiert mit den
βγ-Untereinheiten und dem Rezeptor, womit der Ausgangs-
zustand wieder hergestellt ist.

35.3.2 Rezeptoren, die an das Adenylatcyclase-


system gekoppelt sind
. Abb. 35.3 Kristallstruktur des aktivierten Komplexes aus Ligand (rot),
β2-adrenergem Rezeptor (gelb) und seinem trimeren GS-Protein beste- Das Adenylatcyclasesystem katalysiert die Synthese
des zweiten Botenstoffs (second messenger)
35 hend aus den Untereinheiten Gα (grün und hellgrün), Gβ (hellblau) und
Gγ (magenta). Der extrazelluläre N-Terminus und der intrazelluläre C-Ter- cyclisches AMP
minus des β2-AR sind verkürzt. Einige Helix-verbindende Schleifen sind in
Eine große Zahl von Signalstoffen bedient sich des Adenylatcycla-
der Struktur nicht sichtbar. β2-AR, β2-adrenerger Rezeptor; GS, Adenylat-
cyclase stimulierendes G-Protein; GαS, α-Untereinheit von GS; Gβ, Gγ, Unter- sesystems zur Signaltransduktion. Wichtige Beispiele sind neben
einheiten von GS. GαS besteht aus zwei Domänen, der Ras-like GTPase Geruchsstoffen die Botenstoffe Glucagon, Adrenalin und Serotonin.
Domäne GαS Ras und der α-helicalen Domäne GαS AH. Erstere interagiert Der extrazelluläre Ligand wird auch als erster Botenstoff oder first
mit dem β2-AR und der Gβ-Untereinheit (hellblau). (Erstellt anhand PDB ID: messenger bezeichnet. Er bindet an seinen spezifischen GPCR und
3SN6. Adaptiert nach Rasmussen SG et al. 2011, © mit freundlicher Geneh-
migung von Macmillan Publishers, Ltd)
aktiviert über ein heterotrimeres G-Protein die auf der Innenseite
der Zellmembran lokalisierte katalytische Domäne der Adenylat-
4 Der durch den entsprechenden Liganden aktivierte Rezep- cyclase (Übrigens »Adenylatcyclasen«). Diese katalysiert die
tor dient als GEF (guanine nucleotide exchange factor) und Reaktion:
bewirkt den Austausch des an die α-Untereinheit gebunde-
nen GDP gegen GTP. ATP 3’,5’-cyclo-AMP + Pyrophosphat

. Tab. 35.2 Einteilung der trimeren G-Proteine

G-Proteinfamilie Untergruppen Liganden, die zur Aktivierung des G-Proteins Wirkung auf Effektorenzyme Weitere Effekte
(Auswahl) führen (Beispiele) (Auswahl) (Auswahl)

Gs-Familie Gs Katecholamine, Histamin, Glucagon, LSH, FSH, Aktivierung der Adenylatcyclase cAMP
TSH, Vasopressin, Prostaglandin E2
Golf Geruchsstoffe Aktivierung der Adenylatcyclase cAMP
Gi-Familie Gi/Go Angiotensin, Somatostatin, Glutamat, Opiate, Hemmung der Adenylatcyclase cAMP
Chemokine, Histamin, Katecholamine
Gt Photonen, Opsin, Rhodopsin Aktivierung der cGMP-Phospho- cGMP
diesterase
Ggust Geschmacksstoffe Aktivierung der cGMP-Phospho- cGMP
diesterase
Gq-Familie Gq Bradykinin, Bombesin, Angiotensin, Katechol- Aktivierung der PLCβ IP3 , DAG
amine Ca2+-Influx
G12/13-Familie G13 Bradykinin, Bombesin, TSH Aktivierung der Rho-Kinase Wirkung auf das
Cytoskelett
FSH, Follikelstimulierendes H.; LSH, Luteinisierendes H.; TSH, Thyroideastimulierendes H.
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
415 35

. Abb. 35.4 Prinzip der Signaltransduktion von trimeren G-Proteinen. Nach der Aktivierung des trimeren G-Proteins zerfällt dieses in eine α- und eine
βγ-Untereinheit, die dann auf verschiedene Effektorproteine wirken. GPCR: G-Protein-gekoppelter Rezeptor

Der amerikanische Biochemiker Earl Sutherland entdeckte als


Erster, dass das Nucleotid 3’,5’-cyclo-AMP (cAMP, 7 Kap. 33.4.2) Übrigens
als intrazellulärer Vermittler der Wirkung vieler Hormone eine Adenylatcyclasen
einzigartige Rolle spielt. Aus diesem Grund wird diese Verbin- Alle Mitglieder der Adenylatcyclasefamilie weisen einen
dung zu den zweiten Botenstoffen (second messenger) gezählt. charakteristischen Aufbau mit insgesamt 12 Transmembran-
In . Abb. 35.5 ist das in die Plasmamembran integrierte domänen auf. Zwischen der 6. und 7. Transmembranhelix
Adenylatcyclasesystem dargestellt. Zu diesem System gehören sowie am C-terminalen Ende existiert jeweils ein großer
Adenylatcyclase-stimulierende und -hemmende Rezeptoren cytoplasmatischer Bereich (. Abb. 35.6). Beide Regionen
(Rs bzw. Ri), über die die zelluläre cAMP-Konzentration gestei- besitzen eine Tertiärstruktur und bilden zusammen die kata-
gert oder gesenkt werden kann. Durch die Bindung des Ligan- lytische Domäne der Adenylatcyclase, die in ihrer Struktur
den an den Rezeptor wird das entsprechende heterotrimere G- der DNA-Polymerase ähnelt. Dies ist verständlich, da beide
Protein aktiviert. Während die stimulatorischen G-Proteine Enzyme eine ähnliche Reaktion katalysieren: Während die
(Gs-Proteine) über ihre α-Untereinheit Gαs die Adenylatcyclase Adenylatcyclase die Bildung einer intramolekularen
aktivieren können, führen die inhibitorischen G-Proteine (Gi- 3’,5’-Diesterbindung vermittelt, katalysiert die DNA-Polyme-
Proteine) zu einer Hemmung der Adenylatcyclase durch die rase die Bildung einer intermolekularen 3’,5’-Diesterbindung.
Gαi-Untereinheit.

Die Rolle der βγ-Untereinheiten trimerer G-Proteine Folgende Bis heute sind neun Isoformen der membrangebundenen Ade-
Funktionen können durch die βγ-Untereinheiten ausgeübt werden: nylatcyclase nachgewiesen worden, die eine unterschiedliche
4 Die βγ-Untereinheiten sind von Bedeutung für die Interak- Gewebsverteilung aufweisen. So werden Adenylatcyclasen des
tion des trimeren G-Proteins mit dem GPCR. Typs IV und IX in vielen Geweben exprimiert und solche des
4 Sie inhibieren die spontane Dissoziation des an die α-Unter- Typs I, II und VIII kommen vorwiegend in neuronalem Gewebe
einheit gebundenen GDPs und erfüllen so die Funktion vor. Adenylatcyclasen des Typs III finden sich in olfaktorischem
eines guanine nucleotide dissociation inhibitors (GDI). Gewebe und die des Typs V und VI werden verstärkt in Leber,
4 Sie aktivieren bzw. hemmen verschiedene Isoformen der Lunge, Nieren und Herzmuskel exprimiert. Unterschiede zwi-
Adenylatcyclase. schen den einzelnen Subtypen liegen in ihrer Aktivierung und
4 Sie aktivieren weitere Effektorenzyme wie z. B. die Phos- Inaktivierung durch die verschiedenen α- und βγ-Untereinheiten
pholipase Cβ (PLCβ; 7 Kap. 35.3.3) oder die der trimeren G-Proteine, aber auch in der unterschiedlichen Re-
Phosphatidylinositid-3-Kinase-γ (PI3K-γ, 7 Kap. 35.4.3). gulation durch second messenger-aktivierte Kinasen wie Protein-
4 Sie steuern die Aktivität von Ionenkanälen. kinase C (PKC) und Proteinkinase A (PKA).
4 Sie regulieren die an der Signalabschaltung beteiligten
G-Protein-gekoppelten Rezeptorkinasen (GRK) (7 Kap.
35.7.2).
416 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

. Abb. 35.5 Das Adenylatcyclasesystem. Die katalytische Domäne der Adenylatcyclase kann durch stimulierende Gαs-Untereinheiten oder inhibierende
Gαi-Untereinheiten reguliert werden. Auf die Darstellung der Regulation der Adenylatcyclasen durch die βγ-Untereinheiten wurde verzichtet. Rs: stimulie-
render Rezeptor; Ri: inhibierender Rezeptor; Gs: stimulierendes G-Protein; Gi: inhibierendes G-Protein; PPi: Pyrophosphat

Ionenkanäle und begründet so die intestinale Symptomatik bei


der Cholera.
Das Toxin des Keuchhustenerregers Bordetella pertussis
ADP-ribosyliert dagegen die Gαi-Untereinheit und hält diese in
einer inaktiven Form. Wie beim Choleratoxin wird also die Ade-
nylatcyclase in einen permanent aktiven Zustand überführt,
allerdings über einen anderen Mechanismus.

cAMP aktiviert die Proteinkinase A und löst damit


spezifische Phosphorylierungskaskaden aus
35 cAMP übt mehrere intrazelluläre Funktionen aus; es aktiviert:
4 die Proteinkinase A (PKA)
4 einige cyclic nucleotide gated (CNG) Kationenkanäle
4 bestimmte guanine nucleotide exchange factors (GEF), die
. Abb. 35.6 Schematische Darstellung der Adenylatcyclase. Die meisten kleine G-Proteine aktivieren
Adenylatcyclasen sind integrale Membranproteine mit 12 Transmembran-
domänen. Sie enthalten eine große cytoplasmatische Schleife zwischen
den 6. und 7. membrandurchspannenden Helices und einen längeren cyto-
Die am besten verstandene Funktion von cAMP ist die Aktivie-
plasmatischen C-terminalen Bereich. Diese beiden Bereiche bilden zusam- rung der Proteinkinase A. . Abb. 35.7 stellt den Aufbau der PKA
men die katalytische Domäne der Adenylatcyclase. In ihrem katalytischen dar. Es handelt sich um ein tetrameres Enzym, welches aus
Zentrum binden Mg2+-Ionen und das Substrat ATP zwei regulatorischen (regulatory) R-Untereinheiten und zwei
katalytischen (catalytic) C-Untereinheiten besteht. In Abwe-
senheit von cAMP werden durch die R-Untereinheiten die
Übrigens Substratbindungsstellen der C-Untereinheiten blockiert. Die
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren Bindung von jeweils zwei cAMP-Molekülen an jede R-Unterein-
Wegen der Vielzahl an G-Protein-gekoppelten Rezeptoren heit führt zu einer Konformationsänderung, die eine Dissozia-
und ihrer großen Bedeutung bei nahezu allen physiologi- tion der beiden katalytischen C-Untereinheiten auslöst. Dadurch
schen Prozessen wurde diese Rezeptorklasse zum wichtigs- werden die Substratbindungsstellen der PKA freigelegt und diese
ten Ziel für therapeutische Interventionen. Über die Hälfte somit in die Lage versetzt, ihre Substrate an Serylresten zu phos-
der verschreibungspflichtigen Medikamente beeinflussen phorylieren.
GPCR-vermittelte Signale. Erhöhte zelluläre cAMP-Spiegel aktivieren bzw. inaktivie-
Es ist von besonderem medizinischem Interesse, dass die ren nicht nur Stoffwechselenzyme, sondern lösen auch die
Effekte einiger Bakterientoxine offensichtlich über Wechsel- Transkription spezifischer Gene aus. Derartige cAMP-abhän-
wirkungen mit den G-Proteinen vermittelt werden. gige Gene enthalten in ihrer Promotorregion die spezifische
Sequenz

Pathobiochemie: 5’-TGACGTCA-3’
Choleratoxin und Keuchhustenerreger
Das Choleratoxin des Choleraerregers Vibrio cholerae führt zu die als cAMP-response-element (CRE) bezeichnet wird. Die Ak-
einer ADP-Ribosylierung (7 Kap. 49.3.6) der Gαs-Untereinheit, tivierung von Genen, die CRE als enhancer-Element enthalten,
die dadurch irreversibel aktiviert wird und das Adenylatcyclase- erfolgt nach Bindung eines spezifischen Transkriptionsfaktors,
system in einen permanent aktiven Zustand überführt. Der er- des CREB (cAMP response-element binding protein), dessen Dime-
höhte cAMP-Spiegel führt zur Fehlsteuerung cAMP-regulierter risierung durch eine im Protein enthaltene leucine-zipper-Struk-
35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
417 35
Insgesamt bilden vier derartige Rezeptormoleküle ein Homotetra-
mer, das einen durch den Liganden IP3 aktivierten Calciumkanal
darstellt.

Eine Vielzahl zellulärer Prozesse wird über die


cytosolische Calciumionenkonzentration gesteuert
Jede Erhöhung der cytosolischen Calciumkonzentration führt zu
. Abb. 35.7 Mechanismus der PKA-Aktivierung. Die Bindung von cAMP markanten Änderungen des Zellstoffwechsels. So kommt es u. a.
an die regulatorischen Untereinheiten der PKA führt zur Freisetzung der zu einer Stimulierung des Glycogenabbaus in Leber und Mus-
enzymatisch aktiven C-Untereinheiten kulatur (7 Kap. 14.2.2), zu einer Stimulierung sekretorischer
Prozesse (7 Kap. 36.3) und zur Verstärkung einer Reihe von
cAMP-vermittelten Effekten.
tur hervorgerufen wird. Das dimere CREB wird durch die in den Die cytosolische Calciumkonzentration wird durch verschie-
Zellkern translozierte PKA phosphoryliert und kann danach mit dene Transportsysteme sehr genau reguliert.
dem Transkriptionsfaktor TFIID und der RNA-Polymerase II as- Mechanismen für die schnelle Bereitstellung von Ca2+ im
soziieren und die Transkription von Zielgenen induzieren, z. B. Cytoplasma:
Schlüsselenzyme der Gluconeogenese (7 Kap. 14.3) und die Gene 4 Calciumeinstrom aus intrazellulären Calciumspeichern
für Somatostatin, Parathormon und das vasoaktive intestinale durch die IP3-aktivierten Calciumkanäle (. Abb. 35.9, 1 )
Peptid (VIP). des endoplasmatischen Retikulums. In vielen Geweben, be-
sonders in der Skelettmuskulatur, finden sich zusätzlich als
ligandenaktivierte Calciumkanäle des sarkoplasmatischen
35.3.3 Rezeptoren, die an die Phospholipase Cβ Retikulums sog. Ryanodinrezeptoren. Sie werden durch
gekoppelt sind und spannungs- oder ligandenregulierte Calciumkanäle in der
zur Ca2+-Freisetzung führen Plasmamembran aktiviert. Möglicherweise ist das aus
NAD+ gebildete cyclo-ADP-Ribosemolekül der natürliche
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren für Katecholamine (7 Kap. Ligand dieses Rezeptors.
35.3.1), Acetylcholin, Histamin, Angiotensin, Vasopressin, Pan- 4 Calciumeinstrom aus dem extrazellulären Raum durch span-
kreozymin, Serotonin, Thyreotropin-releasing-Hormon (TRH) nungsregulierte Calciumkanäle (. Abb. 35.9, 2 ). Die Öff-
und für Chemokine und Geruchsstoffe führen nach Bindung des nung derartiger Kanäle, die in einer Reihe unterschiedlicher
jeweiligen Liganden und Aktivierung des heterotrimeren G- Isoformen vorkommen, erfolgt nach Depolarisierung von
Proteins zur Aktivierung der Phospholipase Cβ, welche in meh- Zellen. Interessanterweise kann die Öffnungswahrscheinlich-
reren Isoformen vorkommt. Im Gegensatz zu den GPCR binden keit des spannungsregulierten Calciumkanals, z. B. im Herz-
Rezeptor-Tyrosinkinasen (7 Kap. 35.4.1) nach Aktivierung das muskel, dadurch vergrößert werden, dass das Kanalprotein
verwandte Enzym Phospholipase Cγ, das ebenfalls in verschie- durch die cAMP-abhängige Proteinkinase A phosphoryliert
denen Isoformen auftritt. Beide Enzymfamilien katalysieren die wird. Dies ist eine der Möglichkeiten, die intrazelluläre Cal-
Hydrolyse von PIP2 (. Abb. 35.8). ciumkonzentration durch Hormone zu regulieren.
Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2) wird durch 4 Calciumeinstrom aus dem extrazellulären Raum durch ligan-
zweimalige ATP-abhängige Phosphorylierung von Phosphati- denregulierte Calciumkanäle (. Abb. 35.9, 3 ). Derartige
dylinositol gebildet (. Abb. 35.8). Die genannten Phospholipa- Kanäle öffnen sich, wenn entsprechende Liganden, meist
sen spalten PIP2 in Inositol-(1,4,5)-Trisphosphat (IP3) und Di- Hormone, gebunden werden. Hierzu gehören Vasopressin,
acylglycerin (DAG). IP3 löst im weiteren Verlauf der Signaltrans- Leukotriene oder extrazelluläres ATP (Purinrezeptoren).
duktion einen Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration
aus, was Ca2+-spezifische Kinasen aktiviert und zu Änderungen Mechanismen für den Export von Ca2+ aus dem Cytoplasma:
des Stoffwechsels der Zielzellen führt (s. u.). Neben den Ca2+- 4 Export durch eine in der Plasmamembran aller Zellen
spezifischen Kinasen wird das in der Membran zurückbleibende nachweisbare Ca2+-ATPase (. Abb. 35.9, 4 ).
Diacylglycerin benötigt, um Proteinkinase C (PKC) zu aktivie- 4 Ca2+-Ausstrom durch einen Ca2+/Na+-Antiporter
ren (7 Kap. 35.4.3 und 7 Übrigens »Proteinkinase C«). (. Abb. 35.9, 5 ), welcher den mit Hilfe der Na+/K+-ATPase
erzeugten Natriumgradienten über der Zellmembran zum
IP3 vermittelt die calciumabhängige Zellaktivierung sekundär aktiven Calciumexport nutzt.
IP3 ist imstande, die cytoplasmatische Calciumkonzentration zu 4 Reduktion der cytoplasmatischen Ca2+ Konzentration
erhöhen. Die Calciummobilisierung erfolgt hierbei im Wesentli- durch Sequestrierung von Calcium im endoplasmatischen
chen aus intrazellulären Calciumspeichern, welche im endoplas- Retikulum, welches durch eine dort lokalisierte Ca2+-
matischen Retikulum lokalisiert sind. Dort finden sich die IP3- ATPase (. Abb. 35.9, 6 ) ermöglicht wird.
Rezeptoren, von denen drei Subtypen bekannt sind. Es handelt 4 Bei Calciumüberladung von Zellen wird ein System be-
sich um ligandenaktivierte Ionenkanäle mit zwei Membrando- nutzt, das die Akkumulierung von Calcium als Calcium-
mänen und einer großen cytoplasmatischen N-terminalen phosphat in den Mitochondrien ermöglicht (in . Abb. 35.9
Schleife. Man nimmt an, dass hier die Bindungsstelle für IP3 liegt. nicht dargestellt).
418 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

35

. Abb. 35.8 Biosynthese und Spaltung von Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2) in die second messenger IP3/DAG durch Phospholipasen und
nachfolgende PKC-Aktivierung. ER: endoplasmatisches Retikulum; PKC: Proteinkinase C; PLC: Phospholipase C

Die genannten Exportsysteme sind dafür verantwortlich, dass im Calcium wirkt meist nicht direkt, sondern über calciumbin-
Ruhezustand im Cytoplasma eine niedrige Calciumkonzentra- dende Proteine auf verschiedene enzymatische Systeme ein. Das
tion (10–7 mol/l) aufrechterhalten wird. Vorkommen calciumbindender Proteine war schon aus Untersu-
chungen über die Skelettmuskelkontraktion bekannt. Hier ist
Calciumbindende Proteine vermitteln Troponin das calciumbindende Protein (7 Kap. 64). Weiterhin
die Calciumwirkung auf zelluläre Systeme wurde als calciumbindendes Protein das Calmodulin (s. 7 Übri-
Die cytosolische Ca2+-Konzentration tierischer Zellen liegt im gens »Calmodulin«) nachgewiesen, ein aus einer einzelnen Peptid-
Ruhezustand bei etwa 10–7 mol/l und kann nach voller kette mit 148 Aminosäuren bestehendes Protein, das große Ähn-
hormoneller Aktivierung auf etwa 10–5 mol/l ansteigen. Jede lichkeit mit Troponin C hat. Nach Bindung von Calcium ändert
Wechselwirkung enzymatischer Systeme mit intrazellulärem Calmodulin seine Konformation und kann dann an weitere
Ca2+ kann aufgrund dieser Tatsache nur dann erfolgen, wenn sie Effektorproteine wie z. B. calmodulinabhängige Kinasen oder
über hochaffine Bindungsstellen für Calcium verfügen. Darüber Phosphatasen binden. So spielt beispielsweise die calciumre-
hinaus müssen solche Bindungsstellen sehr spezifisch für Cal- gulierte Phosphatase Calcineurin bei der T-Zell-Rezeptor-
cium sein, da intrazellulär andere zweiwertige Kationen, v. a. Signaltransduktion eine wichtige Rolle.
Magnesium, in einer Konzentration von etwa 10–3 mol/l
vorkommen.

Phosphatidylinositol# Phosphatidylinositol-4-Phosphat (PIP)# Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP_2)#


35.3 · G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
419 35

. Abb. 35.9 Regulation des zellulären Calciumstoffwechsels. AC: Adenylatcyclase; CaM: Calmodulin; ER: endoplasmatisches Retikulum; G: trimeres G-Pro-
tein; L: Ligand; MLCK: myosin light chain kinase; PKA: Proteinkinase A; PLC: Phospholipase C

50 % des zellulären ATPs zu cAMP umgesetzt, die Membranper-


Übrigens meabilität verändert sich und es kommt zu einem Flüssigkeits-
Calmodulin ausstrom aus den infizierten Zellen und damit extrazellulär zur
Viele der zellulären Funktionen von Calcium werden von Ödembildung. Somit stellt die Adenylatcyclase die ödemauslö-
Ca2+-beladenem Calmodulin vermittelt. Etwa 1 % des ge- sende Komponente von Anthrax dar. Die Nutzung des Calmo-
samten zellulären Proteins tierischer Zellen besteht aus Cal- dulins ist für das Bakterium sinnvoll, da es ubiquitär exprimiert
modulin, welches nicht nur im Cytosol vorkommt, sondern wird und die Aminosäuresequenz des Calmodulins in allen Ver-
auch mit verschiedenen zellulären Strukturen wie den Mito- tebraten hoch konserviert ist.
sespindeln, Actinfilamenten und Intermediärfilamenten as-
soziiert ist.
Calmodulin verfügt über vier hochaffine Bindungsstellen für 35.3.4 Die GPCR-vermittelte Signaltransduktion
Calcium. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass das Calcium am Beispiel von Interleukin-8 (CXCL-8)
über eine Reihe von Carboxylaten sowie Carbonylgruppen
von Peptidbindungen fixiert wird. Das mit Ca2+ beladene Interleukin-8 (auch CXCL-8 genannt) ist ein proinflammatori-
Calmodulin kann unterschiedliche Konformationen anneh- sches, chemotaktisch wirkendes Cytokin, das zur Gruppe der
men und auf diese Weise mit vielen Proteinen interagieren. CXC-Chemokine gehört (7 Kap. 34.2). Es wird im Zuge einer
In . Tab. 35.3 sind einige durch Calmodulin regulierte Pro- proinflammatorischen Cytokinkaskade produziert. So stimuliert
teine aufgeführt. z. B. Tumornekrosefaktor (TNF) die Freisetzung von Interleukin-
1β (IL-1β), das seinerseits die Bildung von Interleukin-8 indu-
ziert. IL-8 ist einer der potentesten chemotaktischen Faktoren für
Pathobiochemie: Aktivierung der Anthrax- neutrophile Granulocyten, spielt aber auch eine Rolle bei Angio-
Adenylatcyclase durch Calmodulin genese und Zellteilung.
Das Milzbrand (Anthrax) auslösende Bakterium Bacillus anthra-
cis, das selbst kein Calmodulin exprimiert, nutzt das wirtseigene Die Produktion von Interleukin-8 im Entzündungs-
Calmodulin, um auf die Zellen eines infizierten Organismus zu herd ist von zentraler Bedeutung für die Rekrutie-
wirken. Hierbei wird die Aktivität eines der bakteriellen Toxine, rung neutrophiler Granulocyten
einer löslichen Adenylatcyclase, durch die Bindung von Calmo- Das sezernierte IL-8 bildet im Gewebe einen Konzentrationsgra-
dulin bis zu 1.000fach verstärkt. Als Konsequenz werden 20– dienten aus und wird an der Innenseite der Blutgefäßwand prä-

Calciumkanal ligandenregulierter spannungsregulierter CaM-Kinase III CaM-Kinase IV Rezeptor-Tyrosinkinase


420 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

. Tab. 35.3 Beispiele für calmodulinbindende Proteine

Calmodulinbindendes Protein Effekt der Calmodulinbindung Funktion des Proteins Siehe Kapitel

CaM-Kinase II Freigabe der autoinhibierenden Pleiotrope Funktionen 64.3.4


Domäne (AID)

Myosin light-chain kinase Freigabe der AID Beeinflusst den Kontraktionszyklus der glatten 64.3.3
(MLCK) Muskulatur

Phosphorylase-Kinase Regulation der Glykogenolyse Bedeutung für die Glycogenolyse 15.2

Anthrax-Adenylatcyclase Konformationsänderung im Ödemischer Faktor beim Milzbrand 35.3.3


aktiven Zentrum

Ca2+-aktivierter K+-Kanal Dimerisierung von Kanalunter- Regulation der neuronalen Erregung 74


einheiten

sentiert. Zusätzlich bewirken die ebenfalls ausgeschütteten Cyto-


kine TNF und IL-1 die Expression von Adhäsionsmolekülen auf anderem die Proteinkinase A aktiviert und dadurch in den
Endothelzellen. Die im Blut zirkulierenden Neutrophilen heften Stoffwechsel vieler Zellen und Gewebe eingreift.
sich an die Endothelzellen an und rollen durch wiederholtes Bin- Ein weiteres durch G-Proteine reguliertes Enzym ist die
den und Lösen an diesen entlang. Das präsentierte IL-8 aktiviert Phospholipase Cβ. Sie spaltet das Membranphospholipid
die heranrollenden Leukocyten, bewirkt eine vermehrte Integrin- PIP2, wobei Diacylglycerin und IP3 gebildet werden. IP3 löst
expression an deren Oberfläche und führt somit zu einer stabilen eine Calciumfreisetzung aus dem endoplasmatischen
Anheftung an die Endothelzellen und zur Passage der Leukocy-
35 ten durch die Gefäßwand in das Gewebe (Diapedese). Im Gewe-
Retikulum aus, die zur Zellaktivierung und zusammen mit
Diacylglycerin zur Aktivierung der Proteinkinase C führt.
be bewegen sich die Neutrophilen entlang des IL-8-Konzentra-
tionsgradienten sowie mit Hilfe weiterer chemotaktischer Fakto-
ren zum Entzündungsherd. Die Bekämpfung der Pathogene
durch die Neutrophilen erfolgt dann durch reaktive Sauer- 35.4 Rezeptoren mit intrinsischer Kinase
stoffspezies und freigesetzte Proteasen (u. a. Cathepsin G). (Rezeptorkinasen)
Auf molekularer Ebene werden die beschriebenen Prozesse
folgendermaßen vermittelt: Alle Rezeptorkinasen bestehen aus einer ligandenbindenden Ex-
Die Interleukin-8-Rezeptoren – CXCR1 und CXCR2 – sind trazellulärregion, einer einzelnen Transmembrandomäne und
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (. Abb. 35.10). Nach IL-8-Sti- einem cytoplasmatischen Teil, der die Kinasedomäne enthält.
mulus werden G-Protein-vermittelt die PI3-Kinase, die Phos- Die Rezeptorkinasen lassen sich in die großen Familien der Re-
pholipase Cβ2 und Rho A aktiviert. Rho A gehört zur Gruppe der zeptor-Tyrosinkinasen und der Rezeptor-Serin/Threoninkina-
kleinen G-Proteine. Es beeinflusst die Actinpolymerisation und sen unterteilen. In beiden Fällen führt die Ligandenbindung am
damit die Organisation des Cytoskeletts und die Zellmigration. extrazellulären Teil des Rezeptors zur Aktivierung der cytoplas-
Die PI3-Kinase katalysiert die Phosphorylierung verschiedener matischen Kinasedomäne.
Phosphatidylinositole an Position 3 des Inositolringes. Wie in
7 Kap. 35.3.3 besprochen, führt die Phospholipase Cβ2 zur Frei-
setzung der second messenger IP3, DAG und Ca2+. 35.4.1 Rezeptor-Tyrosinkinasen

Seit der vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms


Zusammenfassung weiß man, dass der Mensch Gene für 58 verschiedene Rezeptor-
G-Protein-gekoppelte Rezeptoren sind mit sieben Trans- Tyrosinkinasen besitzt. Rezeptor-Tyrosinkinasen sind modulartig
membrandomänen in der Plasmamembran verankert. Sie aufgebaut. Sie enthalten alle eine cytoplasmatische Tyrosinkinase-
können durch eine Vielzahl von extrazellulären Signalen sehr domäne, während sich die extrazellulären Bereiche von Rezeptor
unterschiedlicher chemischer Natur aktiviert werden und zu Rezeptor beträchtlich unterscheiden können (. Abb. 35.11).
signalisieren über heterotrimere G-Proteine. Die Familie der Rezeptor-Tyrosinkinasen umfasst eine Reihe
Die Adenylatcyclase ist ein integrales Membranenzym, das medizinisch relevanter Proteine (s. 7 Übrigens: »ErbB2 und Brust-
durch verschiedene G-Proteine aktiviert (Gs-Proteine) bzw. krebs«), die fundamentale biologische Prozesse steuern. So ist der
inhibiert (Gi-Proteine) wird. Sie ist für die Synthese des intra- Rezeptor für den vascular endothelial growth factor (VEGFR) für
zellulären second messengers cAMP verantwortlich, das unter die Bildung neuer Blutgefäße von Bedeutung (Angiogenese).
6 Durch Inhibition der VEGFR-Signaltransduktion versucht man,
die Vaskularisierung von Tumoren zu verhindern und dadurch
35.4 · Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen)
421 35

. Abb. 35.10 Interleukin-8-Signaltransduktion. IL-8 bindet an die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren CXCR1 oder CXCR2. Diese aktivieren ein hetero-
trimeres G-Protein, welches neben dem MAPK-Weg (7 Kap. 35.4.2) und der Erhöhung des cytoplasmatischen Ca2+-Spiegels die Aktivierung des membran-
gebundenen kleinen G-Proteins Rho A induziert. ER: Endoplasmatisches Retikulum; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; TF: Transkriptionsfaktor

ihr Wachstum zu bremsen. Auch der Insulinrezeptor ist eine


Rezeptor-Tyrosinkinase. Wegen der herausragenden Bedeutung
der Insulinrezeptor-Signaltransduktion für die Glucosehomöos-
tase und den Diabetes mellitus ist ihm ein gesondertes Kapitel
gewidmet (7 Kap. 36.7).

Übrigens
ErbB2 und Brustkrebs
Rezeptor-Tyrosinkinasen aktivieren häufig mitogene und
antiapoptotische Signalwege, die gemeinsam zur Zellproli-
feration führen. Eine Dysregulation solcher Signalwege trägt
zur Krebsentstehung bei. In der Tat ist in einer Vielzahl von
Brustkrebstumoren die Rezeptor-Tyrosinkinase ErbB2 (auch
Her2 genannt), die zur Familie der epidermal growth factor-
Rezeptoren (EGFR) gehört, vermehrt auf der Zelloberfläche
zu finden. Zudem ist der Rezeptor in diesen Krebszellen
dauerhaft aktiviert und trägt damit zum unkontrollierten
Zellwachstum bei.
Die Blockierung von ErbB2 ist eine vielversprechende Strate-
gie bei der Brustkrebstherapie. Man hat daher gegen die
extrazelluläre Domäne des humanen Rezeptors eine Reihe
monoklonaler Antikörper produziert und in Zellkulturexpe-
rimenten ihr inhibitorisches Potential analysiert. Dabei wur-
. Abb. 35.11 Aufbau von Rezeptor-Tyrosinkinasen. Während sich die de ein besonders wirksamer neutralisierender Antikörper
extrazellulären Bereiche der verschiedenen Rezeptor-Tyrosinkinasefamilien
identifiziert. In humanisierter Form wird dieser Antikörper
unterscheiden, sind alle Rezeptoren durch eine konservierte intrazelluläre
Tyrosinkinasedomäne charakterisiert. EGFR: epidermal growth factor recep-
(Herceptin) nun mit Erfolg in der Brustkrebstherapie einge-
tor; PDGFR: platelet-derived growth factor receptor; INSR: insulin receptor; setzt, wobei etwa 30 % der Patientinnen auf diese Behand-
FGFR: fibroblast growth factor receptor lung ansprechen (7 Kap. 53.1.2).

Die Bindung des Liganden an eine Rezeptor-Tyrosinkinase führt


zur Aktivierung der cytoplasmatischen Tyrosinkinasedomäne
mit der Konsequenz der Phosphorylierung cytoplasmatischer
Tyrosylreste des Rezeptors.

Rezeptor-Tyrosinkinase katalytische Domäne Immunglobulindomäne cysteinreiche Domäne Fibronektin-III-Domäne


422 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

SH2-Domänen und PTB-Domänen


binden spezifisch an Phosphotyrosinmotive
Die Phosphotyrosinseitenketten im cytoplasmatischen Teil ei-
ner aktivierten Rezeptor-Tyrosinkinase, aber auch eines akti-
vierten Interleukinrezeptors, dienen als Rekrutierungsstellen
für weitere Signalmoleküle. Proteine mit SH2-Domänen-(src-
homology 2 domains) oder PTB-Domänen (phosphotyrosine bin-
ding domains) binden spezifisch an Phosphotyrosinmotive. Die
spezifische Interaktion zwischen Proteinen ist ein grundlegen-
des Prinzip der Signaltransduktion (7 Kap. 33.4.3). Die Erken-
nung von Phosphotyrosinmotiven durch SH2-Domänen ist in
. Abb. 35.12 verdeutlicht. Obwohl Proteine mit SH2-Domänen
prinzipiell Phosphotyrosinmotive erkennen, ist es von grundle-
gender Bedeutung für eine gerichtete, spezifische Signaltrans-
duktion, dass nur ausgewählte SH2-Domänen enthaltende Pro-
teine (z. B. Protein 1 in . Abb. 35.12) mit bestimmten phospho-
rylierten Proteinen (Protein 3) interagieren. Deshalb enthalten
SH2-Domänen eine konservierte Region mit einem essentiellen
Argininrest, die die Erkennung von Phosphotyrosinen gewähr-
leistet (rot) und eine variable Region (blau bzw. grün), die für die
spezifische Erkennung der C-terminal zum Phosphotyrosin lie-
genden Aminosäuren (orange bzw. oliv) zuständig ist. Diese du-
ale Erkennung gewährleistet, dass nur Proteine mit einer festge-
legten Aminosäuresequenz in phosphorylierter Form gebunden
werden.
35 SH2- und PTB-Domänen arbeiten in sehr vergleichbarer
Weise. Jedoch erkennen SH2-Domänen C-terminal zum Phos- . Abb. 35.12 Prinzip der spezifischen Erkennung von Phosphotyrosin-
photyrosin und PTB-Domänen N-terminal zum Phosphotyrosin motiven durch SH2-Domänen enthaltende Proteine. Dargestellt sind zwei
Proteine mit SH2-Domänen, die jeweils nur spezifische Tyrosinmotive in der
gelegene Aminosäuren. phosphorylierten Form erkennen. Diese spezifische Erkennung ist die
Grundlage für die Spezifität der Signalweiterleitung

35.4.2 Rezeptor-Tyrosinkinasen aktivieren


organisierte Kinasekaskaden kaskade aus drei einzelnen Kinasen mit unterschiedlichen Kina-
seaktivitäten:
Ein weit verbreiteter Signalweg, der von Rezeptor-Tyrosinkina- 4 MAP-Kinase Kinase Kinase (MAP3K)
sen aber auch von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren und Re- 4 MAP-Kinase Kinase (MAP2K)
zeptoren mit assoziierten Kinasen genutzt wird, ist die sog. Mito- 4 MAP-Kinase (MAPK)
gen-aktivierte Proteinkinase (MAPK)-Kaskade. Seit der Entde-
ckung der ersten Kinase dieser Familie im Jahre 1987 wurden Dieses Modul ist für alle drei MAPK-Familien ähnlich organi-
große Fortschritte in der Entschlüsselung ihrer Aktivierungs- siert (. Abb. 35.13A). Die MAP3K ist immer eine Serin/Threo-
und Wirkungsweise gemacht. Heute weiß man, dass es drei ninkinase, d. h. sie aktiviert die unter ihr stehende MAP2K über
Hauptfamilien von MAP-Kinasen gibt (. Abb. 35.13A), die auf- eine Phosphorylierung spezifischer Seryl- und/oder Threonyl-
grund ihrer aktivierenden Faktoren in zwei Gruppen eingeteilt reste. Die MAP2K hingegen ist eine dualspezifische Kinase, d. h.
werden können: sie besitzt sowohl eine Serin/Threoninkinase- als auch eine Ty-
4 die hauptsächlich bei wachstumsfördernden Prozessen akti- rosinkinaseaktivität, eine Fähigkeit, die sehr wenige Kinasen auf-
vierten Kinasen ERK1 und ERK2 (extracellular signal-regula- weisen. Diese duale Kinaseaktivität ist erforderlich, da die hier-
ted kinases) und archisch unter ihr stehende MAPK durch die Phosphorylierung
4 die durch extrazellulären Stress (wie z. B. UV-Licht, oxidati- eines, in allen MAPK konservierten, Tyrosin-X-Threoninmotivs
ven Stress, Hungersignale, osmotische Veränderungen) und aktiviert wird (wobei »X« im Fall der ERKs Glutamat, im Fall der
proinflammatorische Cytokine aktivierte Familie der p38- JNKs Prolin und im Fall der p38 Glycin ist). Die MAPK selbst
Kinasen (p38α, β, γ, δ; benannt nach ihrer Molekülmasse sind wieder reine Serin/Threoninkinasen, d.h. sie aktivieren ihre
von 38 kDa) und die JNK-Familie (c-Jun N-terminale Substrate über eine Phosphorylierung von Seryl- und/oder
Kinase) (JNK1, -2 und -3). Threonylresten (. Abb. 35.13B).
Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Abfolge von Phos-
Die erwähnten Kinasen können nicht direkt von den Membran- phorylierungsreaktionen eine räumliche Nähe der drei MAPK
rezeptoren aktiviert werden, sondern stehen als ausführende zueinander erfordert. In der Tat ist in den letzten Jahren klar
(executive) Kinasen am Ende einer wohlorganisierten Kinasen- geworden, dass es sog. Gerüst (scaffold)-Proteine gibt, die alle

Phospho-Protein 3 Phospho-Protein 4
35.4 · Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen)
423 35
A des Prostatakarzinoms liegt die Mutationsrate sogar bei nahezu
100 %, bei Kolonkarzinomen bei 50 % (7 Kap. 53.1.1).
Die Verbindung zwischen Ras/Raf/MAPK-Aktivierung und
aktivierten Rezeptor-Tyrosinkinasen wird von Adapterproteinen
mit SH2- oder PTB-Domänen, die an die phosphorylierten Ty-
rosylreste im intrazellulären Bereich der Rezeptoren binden,
übernommen.

35.4.3 Signaltransduktion der Rezeptor-Tyrosin-


kinasen am Beispiel des PDGF-Rezeptors

Platelet-derived growth factor (PDGF) (. Abb. 35.14) ist ein


B
Wachstumsfaktor, der auch chemotaktische Aktivitäten besitzt.
PDGF liegt in seiner biologisch aktiven Form als Homo- oder
Heterodimer vor. Die beiden PDGF-A- und PDGF-B-Polypepti-
de sind im Dimer über Disulfidbrücken verknüpft. Die Zusam-
mensetzung des Dimers aus zwei A-Polypeptiden, zwei B-Poly-
peptiden oder jeweils eines A- und eines B-Polypeptids ist für die
Rezeptorbindung von Bedeutung. PDGF-C entsteht im Unter-
schied zu PDGF-A und PDGF-B nach proteolytischer Spaltung
aus einer Prä-PDGF-C-Form. PDGF-C enthaltende Heterodi-
mere sind noch nicht beschrieben. Ebenfalls durch limitierte
Proteolyse entsteht aus dem vor kurzem identifizierten Prä-
PDGF-D das aktive PDGF-D. Bisher ist nur das PDGF-D-Ho-
modimer bekannt.
. Abb. 35.13 MAP-Kinasekaskaden. A Die drei Familien der MAP-Kinasen.
MEK: mitogen-activated/extracellular signal-activated kinase kinase; MKK:
mitogen-activated protein kinase kinase; ERK: extracellular signal-regulated PDGF/PDGF-Rezeptorinteraktion Die Bindung von PDGF an sei-
kinase; MEKK: mitogen-activated/extracellular signal-activated kinase kinase nen Rezeptor führt zur Dimerisierung zweier PDGF-Rezeptor-
kinase; MLK: mixed-lineage kinase; ASK: apoptosis signalling kinase; Tyrosinkinasen. Der entstehende PDGF-Rezeptorkomplex kann
TAK: TGF-β-activated kinase; JNK: c-Jun N-terminal kinase. B Aktivierung der dabei aus zwei α-Rezeptoren, zwei β-Rezeptoren oder aus je ei-
MAP-Kinasen am Gerüstprotein (scaffold)
nem α- und β-Rezeptor zusammengesetzt sein. Die PDGF-Typen
AA, AB, BB und CC binden α-Rezeptordimere (. Abb. 35.14A).
drei Kinasen gleichzeitig binden können und somit in unmittel- PDGF-Dimere, die PDGF-B enthalten, und das PDGF-C-Homo-
bare räumliche Nähe zueinander bringen (. Abb. 35.13B). dimer binden α/β-Rezeptorheterodimere. PDGF-B- und PDGF-
Während die Anzahl verschiedener MAPK und MAP2K re- D-Homodimere binden β/β-Rezeptorhomodimere.
lativ gering zu sein scheint, werden immer wieder neue Kinasen PDGF-A und -B haben eine unterschiedliche Bedeutung in
beschrieben, die den MAP3K zuzuordnen sind. Sie stellen mit der Embryonalentwicklung. In Knockout-Mäusen wurde ge-
Sicherheit die sowohl strukturell als auch funktionell variabelste zeigt, dass PDGF-B bzw. der PDGF-β-Rezeptor essentiell für die
Gruppe dar. Nierenentwicklung, PDGF-A jedoch wichtig für die Lungenent-
Zusätzlich erlaubt ein solcher kaskadenartiger Ablauf einer wicklung ist. Der Verlust des α-Rezeptors führt zu weiterreichen-
Aktivierung eine enorme Signalamplifikation. So besitzt eine den Fehlentwicklungen als der Verlust des PDGF-A-Gens. Dies
normale Säugerzelle ca. 10.000 Moleküle der MAP3K Raf-1, aber lässt sich dadurch erklären, dass über den PDGF-α-Rezeptor
schon 36–80.000 Moleküle der MAP2K MEK1 und ca. 1.000.000 sowohl PDGF-A als auch PDGF-B und PDGF-C signalisieren.
Moleküle der MAPK ERK1 und ERK2. Die hier für das PDGF-System exemplarisch beschriebenen
Bevor die MAP3K die Kaskade auslösen kann, muss sie ihrer- Kombinationsmöglichkeiten bei der Zusammensetzung der Li-
seits aktiviert werden. Hierzu sind die kleinen G-Proteine der Ras- ganden und der Rezeptorkomplexe ermöglichen verschiedenen
und der Rho-Familie notwendig. Die kleinen G-Proteine liegen in Zellen – bedingt durch eine zelltypspezifische Expression der
monomerer Form vor und dienen als molekulare Schalter bei der Liganden- und Rezeptoruntereinheiten – jeweils individuell zu
Regulation von Wachstum und Differenzierung. Wie die eng ver- reagieren. Dieses Prinzip ist von genereller Bedeutung innerhalb
wandten heterotrimeren G-Proteine werden auch die kleinen G- der Familie der Rezeptor-Tyrosinkinasen, aber auch für die Wir-
Proteine durch den Austausch von GDP gegen GTP aktiviert. Ras kung anderer Cytokine und wird in 7 Kap. 35.5.1 im Zusammen-
kommt in drei Isoformen vor (H-Ras, N-Ras, K-Ras), die alle C- hang mit der Signaltransduktion von Interleukin-6 skizziert.
terminal über einen Lipidanker membranlokalisiert vorliegen.
Große pathobiologische Bedeutung erlangte dieses Protein auf- PDGF-induzierte Rezeptoraktivierung Die ligandeninduzierte
grund der Tatsache, dass es in 30 % aller menschlichen Krebsfor- Rezeptordimerisierung führt zur Autophosphorylierung und
men in einer mutierten, konstitutiv aktiven Form vorliegt. Im Fall damit zur Aktivierung der Rezeptor-Tyrosinkinasen. Die akti-
424 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

35

. Abb. 35.14 PDGF-Signaltransduktion. A Aktivierung der PDGF-Rezeptoren durch die verschiedenen PDGF-Isoformen A, B, C und D. PDGF-Isoformen
binden als Dimere an den PDGF-Rezeptor. Der gestrichelte Pfeil verdeutlicht eine niedrig-affine Bindung. B Vom aktivierten Rezeptor können verschiedene
Signaltransduktionswege ausgehen: Grb2/SOS-Assoziation löst die Aktivierung der MAPK-Kaskade aus (rechts); Bindung der PI3-Kinase resultiert in der
PKB-Aktivierung (links). C Assoziation der PLCγ führt zur Erhöhung der cytoplasmatischen Ca2+-Konzentration und zur Aktivierung der Proteinkinase C
(PKC). ER: endoplasmatisches Retikulum; KD: Kinasedomäne; PDK: phospholipid-dependent kinase; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; PKB: Proteinkinase B;
PLC: Phospholipase C

vierten Kinasen phosphorylieren daraufhin Tyrosylreste im cy- beginnt mit der Rekrutierung eines Grb2/SOS-Proteinkomple-
toplasmatischen Teil der Rezeptorkette. Diese Phosphotyrosin- xes an den Rezeptor (. Abb. 35.14B). Hierbei kann Grb2/SOS
reste dienen weiteren Signalmolekülen als Rekrutierungsstellen. entweder direkt oder über die Adapter Shc oder SHP2 an den
Für die in . Tab. 35.4 beschriebenen Proteine sind die Interak- PDGF-Rezeptor gebunden werden. Der Guaninnucleotidaus-
tionsstellen am PDGF-Rezeptor bekannt. tauschfaktor SOS (son of sevenless) gelangt hierdurch in die Nähe
Häufig besitzen die an den Rezeptor rekrutierten Proteine des in der Membran verankerten G-Proteins Ras und bewirkt
mehrere Interaktionsdomänen und können darüber mit weite- dessen Übergang in die aktivierte, GTP-bindende Form. Die nun
ren Proteinen assoziieren. Viele dieser Proteine dienen aus- mögliche Interaktion von Ras-GTP mit der Serin/Threoninkina-
schließlich als Adaptermoleküle, andere stellen Enzyme oder se Raf-1 führt zur Raf-1-Aktivierung. Die MAP3K Raf-1 ist wie-
Transkriptionsfaktoren dar. derum der Aktivator der MAP2K MEK (mitogen-activated/
extracellular signal-activated kinase kinase). Diese dualspezifi-
PDGF-induzierte Signalkaskaden Im Wesentlichen werden nach sche Kinase phosphoryliert schließlich die Mitogen-aktivierten-
PDGF-Stimulation drei Signalkaskaden aktiviert (s. . Abb. Proteinkinasen ERK1 und ERK2, deren Substrate unter anderem
35.14B und C): Transkriptionsfaktoren sind (. Abb. 35.13).
4 die Mitogen-aktivierte-Proteinkinase-(MAPK)-Kaskade
4 die Phosphatidylinositid-3-Kinase-(PI3K)-Kaskade Phosphatidylinositid-3-Kinase Die Phosphatidylinositid-3-Ki-
4 die Phospholipase Cγ (PLCγ)-Kaskade nase (PI3K), die aus einer regulatorischen und einer katalyti-
schen Untereinheit besteht, bindet über die regulatorische Unter-
Mitogen-aktivierte-Proteinkinase (MAPK)-Kaskade Die Mito- einheit SH2-domänenvermittelt ebenfalls an den aktivierten
gen-aktivierte-Proteinkinase (MAPK)-Kaskade (7 Kap. 35.4.2) PDGF-Rezeptor (. Abb. 35.14B). Dies führt zur Aktivierung der
35.4 · Rezeptoren mit intrinsischer Kinase (Rezeptorkinasen)
425 35

. Tab. 35.4 Signaltransduktionsmoleküle, die an den PDGF-Rezeptor binden

Signaltransduktionsmolekül Funktion Interaktionsdomänena

Phosphatidylinositid-3-Kinase (PI3K) Lipidkinase SH2, SH3

Phospholipase Cγ (PLCγ) Lipase SH2, SH3, PH

Src Tyrosinkinase SH2, SH3

SH2-containing tyrosine phosphatase (SHP2) Tyrosinphosphatase, Adapterprotein SH2

Signal transducer and activator of transcription (STAT1, 3 und 5) Transkriptionsfaktor SH2

Shc Adapterprotein SH2, PTB

Grb2 Adapterprotein SH2, SH3

Crk Adapterprotein SH2, SH3


a SH2- und PTB-Domänen binden Phosphotyrosinmotive; SH3-Domänen binden prolinreiche Sequenzen; PH-Domänen binden Phosphatidylinosi-
tolphosphate.

katalytischen Untereinheit der PI3K und somit zur Phosphory-


lierung von Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2). Das Übrigens
entstehende Phosphatidylinositol-3,4,5-Trisphosphat (PIP3) Proteinkinase C
wird von der Pleckstrin-Homologiedomäne (PH-Domäne) der Die Proteinkinasen C (PKC) wurden ursprünglich als eine
Proteinkinase B (PKB, auch Akt-Kinase genannt) gebunden. Die Familie von durch Calciumionen aktivierbaren Kinasen be-
Rekrutierung der PKB an die Zellmembran ist ein essentieller schrieben (daher PKC). Heute versteht man darunter eine
Schritt für die Phosphorylierung und Aktivierung der PKB aus mindestens 12 Mitgliedern bestehende Familie von Pro-
durch die Serin/Threoninkinase PDK1 (phospholipid-dependent teinkinasen, die in konventionelle PKC (cPKC), neue PKC
kinase), die ebenfalls über ihre PH-Domäne an PIP3 gebunden (nPKC) und atypische PKC (aPKC) unterteilt wird. Nur die
wird. Die aktivierte PKB wirkt ihrerseits über Phosphorylierun- cPKC zeigen die charakteristische Aktivierbarkeit durch Di-
gen spezifischer Serin- und Threoninseitenketten von bestimm- acylglycerin (DAG) und Calciumionen. Die PKC spielen eine
ten apoptoseregulierenden Proteinen stark antiapoptotisch. Sie wichtige Rolle bei der Signaltransduktion, der Regulation
kann auch in den Zellkern translozieren und reguliert dort Tran- von Wachstum und Differenzierung sowie der Krebsentste-
skriptionsfaktoren, die für die Zellproliferation wichtig sind und hung.
trägt somit zur proliferationsfördernden Wirkung des Wachs- Die PKC-Proteine lassen sich in eine durch eine Art Schar-
tumsfaktors PDGF bei. Im Rahmen der Insulinsignaltransduk- nierregion verbundene N-terminale regulatorische und
tion sorgt der PI3K/PKB-Signalweg u. a. für eine verstärkte C-terminale katalytische Region unterteilen (. Abb. 35.15).
Glycogensynthese (7 Kap. 15.2, 15.3, 38). In der N-terminalen Region finden sich zwei Domänen, die
die Regulierbarkeit des Enzyms durch Diacylglycerin bzw.
Phospholipase Cγ (PLCγ) Dieses Enzym wird ebenfalls am Calcium vermitteln. Am weitesten N-terminal liegt eine
PDGF-Rezeptor durch Tyrosinphosphorylierung aktiviert Pseudosubstratregion (PSR), die für die Regulation des En-
(. Abb. 35.14C). PIP2 ist sowohl Substrat der PI3K als auch der zyms von großer Bedeutung ist. Die katalytische Domäne
PLCγ. Nach Aktivierung am PDGF-Rezeptor bindet PLCγ mit enthält eine gut konservierte ATP-Bindungsregion und eine
ihrer PH-Domäne an das durch die PI3K-generierte PIP3. Sie Substratbindungsstelle mit relativ breiter Substratspezifität.
hydrolysiert PIP2 zu Inositol-(1,4,5)-Trisphosphat (IP3) und Dia- Die Aktivierung der verschiedenen PKC-Isoformen erfordert
cylglycerin (DAG). Cytoplasmatisches IP3 führt zur Freisetzung ein komplexes Zusammenspiel von Membranlipiden und
des second messengers Ca2+ aus dem endoplasmatischen Retiku- Proteinkinasen. Pflanzliche Phorbolester können die
lum. Der zweite second messenger Diacylglycerin aktiviert zu- aktivierende Rolle von DAG nachahmen. Da sie nur langsam
sammen mit dem freigesetzten Ca2+ die Serin/Threonin-Prote- abgebaut werden, können sie die PKC über längere Zeit
inkinase C (PKC) (s. 7 Übrigens, »Proteinkinase C«). Diese ist aktivieren und wirken daher als Tumorpromotoren.
wiederum ein Regulator für Transkriptionsfaktoren und beein-
flusst somit auch die Genexpression.
Auch STAT-Faktoren können durch Rezeptor-Tyrosinkina-
sen aktiviert werden (in . Abb. 35.14 nicht dargestellt). Da dieser
Signalweg jedoch bei der Signaltransduktion der meisten Inter-
leukine und der Interferone eine deutlich zentralere Rolle spielt,
wird er erst in 7 Kap. 35.5.1 und 35.5.2 genauer beschrieben.
426 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

A cyteninfiltration. TGF-β1 spielt daher zusätzlich eine bedeutende


Rolle in der Modulation von Immunantworten. Ihrem Namen
entsprechend induzieren die BMP die Bildung von Knochen-
und Knorpelgewebe. Aktivine beeinflussen dagegen die Erythro-
poese und die Neuralentwicklung im Stadium der Gastrulation.

Signaltransduktion der Rezeptor-Serin/Threonin-


kinasen am Beispiel von TGF-β-Rezeptoren
TGF-β-Moleküle binden als Dimere an ihre Rezeptoren (. Abb.
35.16). Die Bindung des Ligandendimers an den dimeren TGF-β-
Typ-II-Rezeptor ist Voraussetzung dafür, dass ein Dimer aus
TGF-β-Typ-I-Rezeptoren rekrutiert wird. Bei beiden Rezeptorty-
pen handelt es sich um Serin/Threoninkinasen. Der Typ-II-Re-
zeptor ist konstitutiv aktiv. Er phosphoryliert den dimeren Typ-
I-Rezeptor nach der ligandenvermittelten Interaktion beider
B
Rezeptordimere. Das Typ-I-Rezeptordimer leitet das Signal des
Liganden an cytoplasmatische Effektorproteine/Transkriptions-
faktoren weiter, die als Smad-Proteine bezeichnet werden. Die
R-Smad-Proteine (receptor activated Smads) Smad 2 und Smad 3
werden über das membranverankerte Adapterprotein SARA
(Smad anchor for receptor activation) an den Typ-I-Rezeptor re-
krutiert. Die Kinasedomäne des Typ-I-Rezeptors phosphoryliert
das R-Smad-Protein an bestimmten Serinresten. Dies führt zur
Dimerisierung und zur nachfolgenden Assoziation mit einem
. Abb. 35.15 Schematische Darstellung des Aufbaus der Proteinkinase C.
Co-Smad (common partner Smad), dem Smad 4. Die Anlagerung
35 A Aktivierung der Proteinkinase C durch Diacylglycerin (DAG), Phosphati-
des Co-Smad-Proteins ist für die Translokation des entstehenden
dylserin (PS) und Calciumionen. PSR: Pseudosubstratregion. B Aufbau ver-
schiedener Isoformen der Proteinkinase C. (Einzelheiten s. 7 Übrigens Heterotrimers in den Zellkern notwendig. Dort assoziieren wei-
»Proteinkinase C«) tere Transkriptionsfaktoren oder Cofaktoren mit den Smad-He-
terotrimeren und die Transkription von TGF-β-Zielgenen wird
35.4.4 Rezeptor-Serin/Threoninkinasen induziert.
Die Rekrutierung der Smad-Proteine erfolgt in Analogie zu
Im Unterschied zu Rezeptor-Tyrosinkinasen folgt nach Ligan- den Proteinen, die mittels SH2- oder PTB-Domänen an aktivier-
denbindung an eine Rezeptor-Serin/Threoninkinase die Phos- te Rezeptor-Tyrosinkinasen binden, über MH–Domänen (MAD
phorylierung von Serin- und Threoninseitenketten von Signal- homology domains), die spezifisch mit Phosphoserinmotiven in
proteinen. der TGF-β-Rezeptorkette interagieren.
Alle Cytokine, die über Rezeptor-Serin/Threoninkinasen Eine feedback-Inhibition der TGF-β-Signaltransduktion er-
signalisieren, gehören zur transforming growth factor β-Fa- folgt u. a. über das TGF-β-induzierte I-Smad-Protein (inhibitory
milie (TGF-β), die sich in drei Gruppen einteilen lässt: Smad) Smad 7, das die Phosphorylierung und Dimerisierung der
4 TGF-β-Isoformen TGF-β1 bis TGF-β3 R-Smad-Moleküle blockiert.
4 die Gruppe der bone morphogenetic proteins (BMP)
4 Aktivine
Zusammenfassung
Die Moleküle der TGF-β-Familie spielen eine wichti- Rezeptor-Tyrosinkinasen aktivieren nach ligandeninduzier-
ge Rolle in der Regulation der Gewebehomöostase ter Phosphorylierung von Tyrosylresten eine Reihe von Sig-
und bei der Entwicklung mehrzelliger Organismen nalproteinen. Zu diesen gehören die MAP-Kinasen, die Phos-
Entsprechend ihrer Heterogenität vermitteln die Mitglieder der pholipase Cγ und die PI3-Kinase.
TGF-β-Familie vielfältige biologische Antworten: Die TGF-β- Rezeptor-Serin/Threoninkinasen signalisieren über den
Isoformen kontrollieren die Proliferation epithelialer und mes- Smad-Signalweg.
enchymaler Zellen (wachstumsinhibierende Wirkung), stimulie-
ren die Bildung der extrazellulären Matrix (profibrotische Wir-
kung) und können Immunantworten unterdrücken (antiin-
flammatorische Wirkung). Diese Eigenschaften sind mit Hilfe 35.5 Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
von Knockout-Mäusen belegt worden, bei denen das Fehlen der
jeweiligen TGF-β-Isoformen gravierende Fehlentwicklungen in Neben Rezeptor-Tyrosinkinasen und Rezeptor-Serin/Threonin-
verschiedenen Organen und Geweben zur Folge hat. Darüber kinasen existiert eine große Familie von Rezeptoren ohne intrin-
hinaus weisen TGF-β1-Knockout-Mäuse multifokale Entzün- sische Kinasedomänen. Sie sind mit Kinasen assoziiert, die nicht-
dungsherde auf und sterben infolge unkontrollierter Lympho- covalent entweder direkt oder über Adapterproteine an den
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
427 35

. Abb. 35.16 TGF-β-Signaltransduktion. TGF-β-Isoformen binden als Di-


mere an TGF-β-Rezeptoren vom Typ II. Nachfolgend werden Typ-I-TGF-β- . Abb. 35.17 Erkennung eines Liganden durch seinen Rezeptor. Kristall-
Rezeptoren rekrutiert, welche das Signal an R-Smad-Proteine weitergeben. struktur des Komplexes aus Wachstumshormon (blau) und den extrazellu-
Aktivierte R-Smad-Proteine müssen ein Co-Smad-Protein binden, um in den lären Regionen zweier Wachstumshormonrezeptoren (grün und rot). Das
Zellkern zu gelangen. Die Aktivierung von R-Smads wird durch I-Smad-Pro- Prinzip der Erkennung des Liganden durch den Rezeptor ist vergrößert dar-
teine inhibiert. SARA: Smad anchor for receptor activation; Smad: Kunstwort gestellt. (Einzelheiten s. 7 Ȇbrigens: Bindung von Cytokinen an Rezep-
aus Sma (ein Protein des Fadenwurms Caenorhabditis elegans) und dem toren«). (Adaptiert nach De Vos et al. 1992)
verwandten Protein Mad (mothers against decapentaplegic) aus der Frucht-
fliege Drosophila melanogaster

Rezeptor binden. An diese Rezeptoren binden die meisten Inter-


leukine, alle Interferone und weitere wichtige Cytokine wie bestehen aus einem hydrophoben Zentrum (gelb), das von
Erythropoetin, Thrombopoetin oder das Wachstumshormon. einem Rand aus polaren Aminosäuren umgeben ist. Die Spe-
Sie sind für die angeborene und erworbene Immunität, das heißt zifität der Wechselwirkung wird dabei durch die polaren In-
für das Gleichgewicht der Produktion und des Abbaus von Blut- teraktionen vermittelt, während die van-der-Waals-Wechsel-
zellen von entscheidender Bedeutung. wirkungen im Zentrum der Interaktionsflächen den ent-
scheidenden Beitrag zur Bindungsenergie liefern.

Übrigens
Bindung von Cytokinen an Rezeptoren
Für eine Reihe von Cytokinen konnten die Bereiche, mit de- 35.5.1 Rezeptoren mit assoziierten
nen sie in Kontakt zu ihren Rezeptoren treten, definiert wer- Janus-Kinasen
den. Ebenso ließen sich die an der Bindung beteiligten
Regionen auf den entsprechenden Rezeptoren identifizie- Die meisten Interleukine leiten ihre
ren. Beispielhaft lässt sich diese Wechselwirkung am Kom- Signaltransduktion über die Aktivierung
plex aus Wachstumshormon (growth hormone, GH, welches des JAK/STAT-Signalwegs ein
aufgrund struktureller Merkmale der Familie der helicalen Eine Besonderheit der Cytokinwirkung ist ihre Redundanz, d. h.
Cytokine zugeordnet wird) und seinem Rezeptor in . Abb. verschiedene Cytokine können gleiche zelluläre Antworten her-
35.17 veranschaulichen. Dargestellt ist ein Komplex aus zwei vorrufen. Dieses Phänomen beruht auf der Tatsache, dass ver-
Untereinheiten des Wachstumshormonrezeptors (rot und schiedene Cytokine über gemeinsame Rezeptoruntereinheiten
grün) und dem gebundenen Wachstumshormon (blau). Von signalisieren (. Abb. 35.18).
den beiden Rezeptoren sind nur die Extrazellulärdomänen Die wichtigsten gemeinsam genutzten Rezeptoruntereinhei-
gezeigt. Hierbei handelt es sich um zwei je etwa 100 Amino- ten sind
säuren lange Fibronektin-Typ-III-Domänen. Jede Fibronek- 4 die common β(βc)-Kette für die Cytokine IL-3, IL-5 und
tin-Typ-III-Domäne ist aus sieben β-Strängen aufgebaut. den granulocyte macrophage colony-stimulating factor
Die Interaktionsflächen zwischen Ligand und Rezeptoren (GM-CSF),
6 4 die common γ(γc)-Kette für die Cytokine IL-2, IL-4, IL-7,
IL-9, IL-15 und IL-21,
428 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

. Abb. 35.18 Cytokinfamilien nutzen gemeinsame Rezeptorketten. Die Cytokinrezeptoren common β-Kette (βc), common γ-Kette (γc) und gp130 die-
nen unterschiedlichen Cytokinfamilien als gemeinsame signaltransduzierende Rezeptoruntereinheit. Die Cytokine können nur dann ihre Wirkung entfal-
ten, wenn neben der gemeinsamen Rezeptorkette auch eine cytokinspezifische Rezeptorkette exprimiert wird. (Abkürzungen s. Text)

4 das Glykoprotein 130 (gp130) für die Mitglieder der Inter- Ligandenbindung führt zur Dimerisierung/
35 leukin-6 Typ Cytokinfamilie (. Abb. 35.19A, 7 Tab. 34.2). Multimerisierung der Rezeptorketten und zur
Aktivierung von konstitutiv Rezeptor-assoziierten
Die Mechanismen der Signaltransduktion über gemeinsam ge- Janus-Tyrosinkinasen
nutzte Rezeptoruntereinheiten sind ähnlich und sollen hier am Die Rezeptor-assoziierten Janus-Kinasen Jak1, Jak2 und Tyk2
Beispiel der IL-6-Typ-Cytokine erläutert werden. sind zentrale Bestandteile der Signaltransduktion von IL-6-Typ-
Die Mitglieder dieser Familie, der neben IL-6 auch IL-11, Cytokinen. Nach Ligandenbindung aktivieren sich die Janus-
IL-27, leukemia inhibitory factor (LIF), oncostatin M (OSM), Kinasen durch Tyrosinphosphorylierung (. Abb. 35.19B 1 ) und
ciliary neurotrophic factor (CNTF), cardiotrophin-1 (CT-1), car- phosphorylieren anschließend Tyrosinreste im cytoplasmati-
diotrophin-like cytokine (CLC) und Neuropoetin (NP) angehö- schen Bereich der Cytokinrezeptoren (. Abb. 35.19B 2 ). Diese
ren, weisen eine gemeinsame dreidimensionale Struktur auf: sie Phosphotyrosinreste fungieren dann als Rekrutierungsstellen für
gehören zu den sog. langkettigen 4-α-Helix-Bündel-Cytokinen Proteine mit SH2 (src homology 2)-Domänen wie STAT (signal
und üben vielfältige physiologische Funktionen aus. Die IL- transducer and activator of transcription) Transkriptionsfaktoren,
6-Typ-Cytokine sind an der Akutphase-Reaktion des Körpers, an die Tyrosinphosphatase SHP2, oder feedback-Inhibitorproteine
der Hämatopoese, der Differenzierung und dem Wachstum von der SOCS-Familie (suppressors of cytokine signaling) (7 Kap. 35.7.2).
B- und T-Zellen und an der neuronalen Differenzierung betei- Im Fall der IL-6-Signaltransduktion assoziieren STAT3 und
ligt. Die Familie ist durch die Nutzung einer gemeinsamen Re- STAT1 an Rezeptoruntereinheiten (. Abb. 35.19B 3 ) und wer-
zeptoruntereinheit, dem Glykoprotein 130 (gp130), charakteri- den ihrerseits an Tyrosinresten phosphoryliert ( 4 ), verlassen
siert (. Abb. 35.18). Als zweite signalweiterleitende Untereinheit den Rezeptorkomplex, homo- bzw. heterodimerisieren ( 5 ), wer-
kann je nach Cytokin ein LIF-Rezeptor, ein OSM-Rezeptor, ein den an Serin phosphoryliert ( 6 ) und translozieren in den Zell-
IL-27-Rezeptor oder ein zweites gp130 beteiligt sein. kern. Hier binden die STAT-Dimere an enhancer-Elemente ver-
Während die Mehrzahl dieser Cytokine direkt an die sig- schiedener Zielgene ( 7 ) und beeinflussen deren Transkription.
naltransduzierenden Rezeptoruntereinheiten binden kann, be- Der aktivierte Signaltransduktor gp130 bindet außerdem die
nötigen IL-6, IL-11 und CNTF spezifische, nicht-signalisierende Tyrosinphosphatase SHP2 und aktiviert – wie für PDGF
α-Rezeptoren. Die α-Rezeptoren für IL-6, IL-11 und CNTF kom- (7 Kap. 35.4.3) beschrieben – die Ras/Raf/MAP-Kinasekaskade
men außer in membranständiger auch in löslicher Form vor. Im (. Abb. 35.19C).
Gegensatz zu vielen anderen löslichen Rezeptoren, die eine anta-
gonistische Wirkung zeigen, können die löslichen α-Rezeptoren
für IL-6, IL-11 und CNTF nach Bindung ihrer Liganden die Di-
merisierung der signaltransduzierenden Ketten induzieren und
somit agonistisch wirken.
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
429 35
A

. Abb. 35.19 Interleukin-6-Signaltransduktion. A Schematische Darstel-


lung (links) und Kristallstruktur (rechts) des signalkompetenten IL-6-Rezep-
torkomplexes bestehend aus zwei IL-6-Molekülen (grün), zwei IL-6Rα (oran-
ge) und zwei gp130 Signaltransduktoruntereinheiten (blau). Die extrazellu-
lären Domänen D1, D2 und D3 von gp130 und IL-6Rα sind gekennzeichnet.
B Ablauf der IL-6-induzierten Jak/STAT-Signaltransduktion (Einzelheiten s.
Text). C Neben dem Jak/STAT-Weg kann ausgehend von aktiviertem gp130
auch die MAPK-Kaskade initiiert werden. Die Protein-Tyrosin-Phosphatase
SHP2 fungiert hierbei als Adapterprotein. APRE: acute phase responsive
element; Jak: Janus-Kinase; STAT: signal transducer and activator of trans-
cription
430 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

Übrigens
Janus-Kinasen
Janus – Römischer Gott mit einem Kopf und zwei Gesich-
tern. Janus-Tyrosinkinasen besitzen zwei Kinase-Domänen,
von denen aber nur eine Tyrosinkinase-Aktivität besitzt.

Interferone sind Cytokine,


die die Virusvermehrung hemmen
Die Biosynthese von Interferonen wird durch Viren, Bakterien,
Antigene und Cytokine wie Interleukin-1, Interleukin-2 und
Tumornekrosefaktor stimuliert. Zu den Typ-1-Interferonen wer-
den die Interferon-α-Mitglieder (IFN-α), das Interferon-β
(IFN-β), -ε (IFN-ε), -κ (IFN-κ) und Interferon-ω (IFN-ω) ge-
zählt (7 Tab. 34.2). IFN-α wird hauptsächlich von Lymphocyten,
Monocyten und Makrophagen, IFN-β von nahezu allen differen-
zierten Zellen produziert. Das Typ-2-Interferon Interferon-γ
(IFN-γ) wird von T-Zellen und natürlichen Killerzellen sezer-
niert.
Die antivirale Wirkung der Interferone greift auf allen Ebe-
nen der Virusreplikation: Virusaufnahme, Transkription, Trans-
lation, Reifung und Freisetzung. Zellzykluskomponenten wie c-
myc, Retinoblastomprotein (Rb), oder Cyclin D3 (7 Kap. 43)
sind Ziele der antiproliferativen und apoptotischen Wirkung der
35 Interferone. Die immunoregulatorische Wirkung insbesondere
von Interferon-γ auf das angeborene Immunsystem besteht in
der Induktion der Expression von antigenpräsentierenden MHC-
Proteinen der Klasse I und II und der Modulation der Antigen- . Abb. 35.20 Interferon-α/β-Signaltransduktion. IFN-α/β bindet an einen
prozessierung durch das Proteasom (7 Kap. 70.5). Rezeptorkomplex aus IFNAR1 und IFNAR2. Nach Tyrosinphosphorylierung
des IFNAR1 durch assoziierte Janus-Kinasen werden STAT1/STAT2-Dimere
Typ-1- und Typ-2-Interferone signalisieren über unter-
phosphoryliert. Diese induzieren nach Bindung eines weiteren Proteins
schiedliche Oberflächenrezeptoren. Der Rezeptor für Interferon- (IRF9: interferon regulatory factor 9) die Transkription spezifischer Gene.
α/β besteht aus zwei Untereinheiten: Interferon-α/β-Rezeptor-1 Die STAT-Faktoren liegen wahrscheinlich in prä-assoziierter Form an den
(IFNAR1) und Interferon-α/β-Rezeptor-2 (IFNAR2) (. Abb. IFNAR2 gebunden vor (gestrichelter Doppelpfeil). IFNAR: Interferon-α/β-
35.20). IFNAR1 bindet die Janus-Kinase Tyk2, IFNAR2 die Ja- Rezeptor; ISGF: interferon-α-stimulated gene factor; ISRE: interferon-stimulat-
ed response element
nus-Kinase Jak1. Nach Ligandenbindung dimerisieren die Re-
zeptoren, die Janus-Kinasen werden durch Tyrosinphosphory-
lierung aktiviert und phosphorylieren Tyrosinreste im cytoplas- die Proteinsynthese initiieren und hemmt somit auch die Bil-
matischen Teil des IFNAR1. Die am IFNAR2 wahrscheinlich dung viraler Proteine.
prä-assoziierten dimerisierten STAT-Faktoren STAT1 und Neben der Hemmung der Proteinbiosynthese induziert
STAT2 werden anschließend am IFNAR1 rekrutiert und an Interferon-α/β auch die Expression der 2’,5’-Oligo-A-Synthetase
einem Tyrosinrest phosphoryliert. Die aktivierten STAT1/ (2’,5’-OASE) (. Abb. 35.22). Die 2’,5’-OASE wird über doppel-
STAT2-Heterodimere binden nach Ablösung vom Rezeptor den strängige RNA aktiviert. Die aktive 2’,5’-OASE homopolymeri-
Transkriptionsfaktor IRF9, der zur interferon regulatory fac- siert ATP zu 2’,5’-Oligoadenylat. Im Unterschied zu den üblichen
tor (IRF)-Familie gehört. Der Komplex aus STAT1, STAT2 und 3’,5’-Phosphodiesterbindungen handelt es sich hier um eine
IRF9 wird auch als interferon-stimulated gene factor-3 (ISGF3) 2’,5’-Phosphodiesterbindung. 2’,5’-Oligo-A bindet inaktive
bezeichnet. Dieser Komplex transloziert in den Zellkern und RNase L und aktiviert dieses Enzym, welches virale mRNA zu
bindet hier an interferon-stimulated regulatory elements (ISRE) Nucleotiden abbaut.
von Interferon-α/β-Zielgenen. Im Unterschied zu Interferon-α/β wirkt Interferon-γ (IFN-γ)
Ein wichtiges Zielgen der IFN-α/β-Signaltransduktion ist die als Dimer (. Abb. 35.23). Es bindet an einen Rezeptorkomplex, der
Proteinkinase R (PKR). Nach seiner verstärkten Biosynthese aus zwei α- und zwei β-Ketten besteht. An die α-Ketten bindet
liegt dieses Enzym zunächst in inaktiver Form vor, wird aber konstitutiv die Janus-Kinase Jak1, an die β-Ketten die Janus-Kina-
durch Bindung an doppelsträngige RNA, die nach Virusreplika- se Jak2. Nach Ligandenbindung und Rezeptoraktivierung werden
tion gebildet wird, durch Autophosphorylierung an Serin/Threo- die Janus-Kinasen durch Transphosphorylierung aktiviert und
nin-Resten aktiviert (. Abb. 35.21). Die aktivierte PKR phospho- können Tyrosinreste im cytoplasmatischen Teil der α-Rezeptor-
ryliert den eukaryontischen Proteinsynthese-Initiationsfaktor 2α untereinheit phosphorylieren. Nach Rekrutierung von STAT1 an
(eIF2α, 7 Kap. 48.2.1). Der modifizierte eIF2α kann nicht mehr die Phosphotyrosinreste der α-Rezeptorketten und dessen folgen-
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
431 35

. Abb. 35.22 Antivirale Wirkung von IFN-α/β durch mRNA-Abbau nach


Aktivierung von RNase L. Die Signaltransduktion von IFN-α/β führt zur
Expression inaktiver 2’,5’-Oligo-A-Synthetase (OASE). Nach Bindung doppel-
strängiger RNA während der Virusreplikation wird das Enzym aktiviert.
. Abb. 35.21 Antivirale Wirkung von IFN-α/β durch Blockade der Pro-
Es synthetisiert daraufhin 2’,5’-Oligo-A, welches nach Bindung die RNase L
teinsynthese. Die Signaltransduktion von IFN-α/β führt zur Expression von
aktiviert. Diese hydrolysiert mRNA, weshalb keine Proteinsynthese in der
inaktiver Proteinkinase R (PKR). Nach Bindung doppelsträngiger RNA
Zelle mehr stattfinden kann. PDE: Phosphodiesterase
(dsRNA) während der Virusreplikation wird das Enzym aktiviert. Dies führt
zur Hemmung der Initiation der Proteinsynthese

der Tyrosinphosphorylierung löst sich der Transkriptionsfak- bindet MyD88 (myeloid differentiation) über seine TIR-Domäne
tor STAT1 vom Rezeptor, homodimerisiert und transloziert in den an die TIR-Domäne des IL-1-Rezeptors I. MyD88 verfügt neben
Zellkern. Das Dimer bindet hier an sog. interferon-γ-activated seiner TIR-Domäne noch über eine death domain (DD), die der
sequences (GAS-Elemente) von IFN-γ-Zielgenen, wie die für die Rekrutierung der IL-1 Rezeptor-assoziierten Kinasen (IRAK) 1
Antigenpräsentation wichtigen MHC-I- und MHC-II-Gene, de- und 4 dient. Death domains wurden ursprünglich im Rahmen
ren Expression hierdurch stimuliert wird. apoptotischer Signalwege beschrieben (7 Kap. 51), finden aber
auch als Proteininteraktionsdomänen in anderen Signalwegen
Verwendung. Nach Phosphorylierung von IRAK1 wird der
35.5.2 Rezeptoren mit TIR-Domäne TNF-receptor associating factor TRAF6 an den Rezeptorkomplex
rekrutiert und aktiviert. Nach Ubiquitinierung dissoziiert
Die proinflammatorischen Cytokine der Interleukin-1-Familie TRAF6 vom Rezeptorkomplex und bindet an einen Komplex
signalisieren über Rezeptoren, die den Toll-like-Rezeptoren sehr aus der Serin/Threonin-Kinase TAK1 (TGF-β activated kinase)
nah verwandt sind. Diese Rezeptorfamilie spielt eine wichtige und den TAB (TAK-binding protein)-Proteinen TAB1 und
Rolle für die angeborene Immunität, da sie pathogen-assoziierte TAB2. In diesem Komplex wird TAK1 durch Phosphorylierung
molekulare Signaturen erkennen (PAMP: pathogen-associated aktiviert. In der Folge wird der IκB (inhibitor of NF-κB)-Kinase
molecular pattern). Die den beiden Rezeptorgruppen gemeinsa- (IKK)-Komplex, der aus den drei Untereinheiten IKKα, IKKβ
me konservierte intrazelluläre Domäne wird daher TIR(Toll- und IKKγ aufgebaut ist, durch Phosphorylierung aktiviert. Der
like/Interleukin-1-Rezeptor)-Domäne genannt. Kinasekomplex phosphoryliert IκB, welches in einem inaktiven
Interleukin-1 wird als 31-kDa-Präkursor ohne Signalpeptid cytoplasmatischen Komplex mit NF-κB vorliegt. IκB wird nach-
synthetisiert und zunächst im Cytoplasma zurückgehalten. Erst folgend an Lysinresten ubiquitiniert und über das Proteasom
durch Aktivierung der Cysteinprotease ICE (interleukin-1-con- abgebaut. Das freigesetzte NF-κB – meist bestehend aus den
verting enzyme = Caspase 1) entsteht durch limitierte Proteolyse beiden Untereinheiten p50 und p65 – wird in den Zellkern
das reife 17,5 kDa IL-1, welches über einen nicht-klassischen transloziert und bindet hier an enhancer-Elemente von Zielge-
Sekretionsweg die Zelle verlässt. Der Mechanismus dieser Sekre- nen. Wichtige Zielgene, die in der proinflammatorischen Phase
tion ist noch nicht im Detail geklärt. von Entzündungsreaktionen durch NF-κB induziert werden,
Das proinflammatorische Cytokin Interleukin-1 kommt in sind die Chemokine Interleukin-8 und RANTES. Diese Cytoki-
zwei Isoformen (IL-1α und IL-1β) vor, die sich in ihren biologi- ne wirken chemotaktisch auf Granulocyten. Monocyten/Mak-
schen Wirkungen kaum unterscheiden. Sie signalisieren über rophagen produzieren IL-6 als Antwort auf eine IL-1-Stimula-
einen Rezeptorkomplex, der aus zwei Polypeptidketten besteht: tion. Über die ebenfalls beobachtete Induktion der Phospholi-
dem Interleukin-1-Rezeptor-I (IL-1RI) und dem Interleukin- pase A2 und der Cyclooxygenase 2 (COX2) werden andere Ent-
1-receptor accessory protein (IL-1RAcP) (. Abb. 35.24). zündungsmediatoren, wie die fieberauslösenden Prostaglandine
Nach Ligandenbindung und Oligomerisierung des Rezep- und andere Eicosanoide generiert (7 Kap. 22.3.2). Auch die
tors werden verschiedene Signalmoleküle rekrutiert. Zunächst Gene von IL-1 und TNF werden durch NF-κB induziert, wo-
432 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

. Abb. 35.23 Interferon-γ-Signaltransduktion. IFN-γ bindet als Dimer an


35 einen Komplex aus zwei α- und zwei β-Rezeptorketten. Der aktivierte Re-
zeptor initiiert die Jak/STAT-Signaltransduktionskaskade, die u. a. in der
Ausbildung von STAT1-Homodimeren endet (GAF: γ-interferon activated fac-
tor). STAT1-Homodimere translozieren in den Zellkern und binden dort an
GAS-Elemente (GAS: γ-interferon activated site)

durch es in der frühen Phase der Entzündung zu einer Auto-


amplifikation kommt.
Neben dem Interleukin-1-Rezeptor-I (IL-1RI) existiert auch
eine cytoplasmatisch verkürzte Form des Rezeptors, der IL-1RII.
Dieser Rezeptor bindet die Liganden IL-1α/β, transduziert aber
kein Signal und wirkt deshalb antagonistisch. . Abb. 35.24 Interleukin-1-Signaltransduktion. Nach Bindung des IL-1
an den IL-1-Rezeptorkomplex wird der NF-κB-Signaltransduktionsweg akti-
viert. Dies resultiert in der Induktion proinflammatorischer Zielgene.
(Abkürzungen s. Text)
35.5.3 Rezeptoren mit Todesdomäne

Viele Cytokine der TNF-Superfamilie signalisieren über Rezepto-


ren mit Todesdomänen (death domains, DD). Der Name Tumor- a disintegrin and metalloproteinase 17, ADAM17) überführt den
nekrosefaktor (TNF) geht auf Experimente zurück, in denen Tu- membrangebundenen Tumornekrosefaktor in die lösliche Form.
more in Mäusen nach Behandlung mit TNF absterben. In der Tat Beide liegen in oligomerisierter Form – bevorzugt als Trimere –
kann über den TNF-Rezeptor eine Apoptose ausgelöst werden vor. Es existieren zwei TNF-Rezeptoren, die ebenfalls als trimere
(7 Kap. 51.1). Eine Behandlung humaner Tumore mit TNF ist Komplexe signalisieren: TNF-Rezeptor-1 und TNF-Rezeptor-2.
aber nicht möglich, da es starke Nebenwirkungen zeigt. TNF ist Während löslicher TNF ausschließlich über den TNF-Rezeptor-1
ein sehr wirksames proinflammatorisches Cytokin, welches wie wirkt, kann membrangebundener TNF über beide Rezeptor-
Interleukin-1 und Interleukin-6 Fieber hervorruft (Pyrogene). Es komplexe signalisieren. Zu der Familie der Rezeptoren mit To-
wird nach Endotoxineinwirkung von Monocyten/Makrophagen desdomäne gehört auch der Fas-Rezeptor (CD95), ein wichtiger
in beträchtlichen Mengen freigesetzt und kann so zum septischen Auslöser der Apoptose (7 Kap. 51.1).
Schock führen. TNF ist darüber hinaus ein bedeutender Mediator
chronisch entzündlicher Erkrankungen (7 Kap. 35.5.4). Eine Besonderheit des TNFR1 ist die death domain
Der Tumornekrosefaktor existiert in einer membrange- (DD) im intrazellulären Teil des Rezeptors
bundenen und in einer löslichen Form (. Abb. 35.25A). Das Der TNFR1 ist in der Lage, sowohl NF-κB zu aktivieren
Enzym TNF-alpha converting enzyme (TACE, auch bekannt als (. Abb. 35.25B) – ähnlich der IL-1-Signaltransduktion – und da-
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
433 35
A B

. Abb. 35.25 TNF-α-Signaltransduktion. A Löslicher TNF (sTNFα) ent-


steht aus membrangebundenem TNF durch Einwirkung des Enzyms TACE
(=ADAM17). Sowohl löslicher als auch membrangebundener TNF kann den
TNFR1 aktivieren. Der TNFR2 kann nur durch membrangebundenen TNF
aktiviert werden. B Die Aktivierung des NF-κB-Signaltransduktionsweges
durch TNF erfolgt über ähnliche Mechanismen wie beim IL-1-Rezeptor.
C Der TNFR1 ist im Gegensatz zum TNFR2 in der Lage, Caspasen zu aktivie-
ren. Diese leiten den programmierten Zelltod (Apoptose) ein. FADD: Fas
associated protein with a death domain; RIP: receptor interacting protein;
TAK1: TGF-β activated kinase 1; TRADD: TNF-receptor associated protein with
a death domain; Ub: Ubiquitin

mit proinflammatorische Prozesse zu induzieren als auch den tung eines Propeptids autokatalytisch aktiviert und vermag
programmierten Zelltod (Apoptose) hervorzurufen (7 Kap. 51.1). ihrerseits verschiedene cytoplasmatisch lokalisierte Procaspa-
Die Auslösung der Apoptose erfolgt nach Ligandenbin- sen (3, 6 und 7) durch limitierte Proteolyse zu aktivieren. Die
dung und Aktivierung des TNFR1-Rezeptorkomplexes durch aktivierten Caspasen (effector or executioner caspases) leiten den
Rekrutierung verschiedener cytoplasmatischer Effektorproteine Zelltod auf verschiedenen Ebenen ein: Sie spalten wichtige
(TRADD, FADD, RIP) (. Abb. 35.25C). Diese Effektormole- Strukturproteine der Zelle wie z. B. Proteine der Kernmembran
küle enthalten ebenfalls death domains, die sie in die Lage ver- und das Actincytoskelett oder sie aktivieren eine DNase
setzen, mit den Rezeptoren und untereinander zu interagieren. und lösen damit die Fragmentierung der nucleären DNA aus.
Der für die Apoptose wichtige Signaltransduktionsschritt ist Auch DNA-Reparatur und Zellzyklus werden außer Kraft ge-
die Rekrutierung der Procaspase 8, die am Anfang einer Caspa- setzt (7 Kap. 51.2).
sekaskade steht (initiator caspase). Caspasen gehören zur Fami- Um eine permanente Interaktion von death domain enthal-
lie der Cysteinproteasen, die ihre Substrate C-terminal der Ami- tenden Proteinen zu verhindern, werden sie durch die Bindung
nosäure Aspartat spalten. Die Procaspase 8 wird durch Abspal- an SODD (silencer of death domains)-Proteine blockiert.
434 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

Bei Aktivierung des TNFR2-Rezeptorkomplexes wird keine Granulocyten. Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte dafür,
Apoptose ausgelöst, sondern es werden im Gegenteil antiapop- dass LPS auch direkt Endothelzellen der Blutgefäße aktivie-
totische Proteine induziert. In diesem Fall steht – wie bei Inter- ren kann.
leukin-1 – die proinflammatorische Signalkaskade über NF-κB 4 CD14 ist ein GPI-verankertes Protein (7 Kap. 49.3.5) ohne
im Vordergrund. cytoplasmatische Domäne, kann also keine Signalweiterlei-
tung ins Cytosol auslösen.
4 Der LPS/CD14-Komplex bindet an den TLR-4 (Toll-like-Re-
35.5.4 Pathobiochemie: Septischer Schock zeptor 4). Dieser gehört zu einer aus 10 Mitgliedern beste-
und multiples Organversagen henden Familie von Rezeptoren, die wegen ihrer Ähnlich-
keit mit dem bei Drosophila vorkommenden Membranre-
Für die Abwehr lokaler bakterieller Infekte ist die unspezifische zeptor Toll als Toll-like bezeichnet werden und für die Er-
Immunantwort von großer Bedeutung (7 Kap. 70.2). Ihre frühen kennung von bakteriellen Strukturen verantwortlich sind.
Ereignisse sind die Freisetzung proinflammatorischer Cytokine 4 Die durch LPS induzierte Aktivierung von TLR-4 führt über
(TNF-α, IL-1, IL-6, IL-12 und IL-18) und die Bildung von che- eine noch nicht ganz geklärte Signalkaskade zur Aktivierung
motaktischen Faktoren (Chemokine, Komplementfaktoren C3a, von NF-κB und folgend zur Freisetzung der proinflammato-
C5a), Prostaglandinen, Thromboxanen und Prostacyclinen, die rischen Cytokine TNF-α, IL-1β, IL-6, IL-8 und Interferon-γ.
auf die Gefäße im Sinne einer Vasodilatation und Permeabilitäts- 4 Diese lösen über verschiedene Mechanismen die massive
zunahme wirken. Diese Vorgänge sind lokal und leiten die spe- und generalisierte Freisetzung von reaktiven Sauerstoffspe-
zifische Immunantwort u. a. durch Bildung von IL-12 und IL-18 zies (ROS, reactive oxygen species) aus, z. B. Superoxidanion
sowie IL-4 und IL-10 ein. (O2–), Stickstoffmonoxid (NO), und von Prostaglandinen,
Hypochlorit und dem Plättchenaktivierungsfaktor (platelet
Der Übertritt bakterieller Infektionen activating factor, PAF, 7 Kap. 70.13.2).
in die Zirkulation führt zu einer systemischen
generalisierten Entzündungsreaktion Die überschießende Produktion von proinflammatori-
Die Reaktionen der unspezifischen Immunantwort sind norma- schen Cytokinen und niedermolekularen Mediatoren
35 lerweise streng lokalisiert und haben den Sinn, die bakterielle löst Hypotension und multiples Organversagen aus
Infektion auf den Ort ihrer Entstehung zu beschränken und zu Beim SIRS kommt es zu einer generalisierten Freisetzung von
beenden (7 Kap. 70.2). inflammatorischen Cytokinen (. Abb. 35.27) und der oben ge-
Kommt es jedoch zu einem Übertritt von Bakterien, z. B. nannten Mediatoren, die in den verschiedensten Zellen cytokin-
Gram-negativen Pathogenen und bakteriellen Endotoxinen, in vermittelt gebildet werden. Die . Tab. 35.5 zeigt eine Auswahl
die Blutbahn, entwickelt sich eine Sepsis. Diese verläuft mit einer klinischer Symptome, die nach intravenöser Gabe hoher Kon-
Symptomatik, die auch nach schweren Traumen oder Verbren- zentrationen proinflammatorischer Cytokine beobachtet wur-
nungen vorkommt und als systemische Entzündungsreaktion den. Wird eine Freisetzung dieser Cytokine durch LPS ausgelöst,
oder SIRS (systemic inflammatory response syndrome) bezeichnet ergibt sich ein kompliziertes Netzwerk von Reaktionen, die für
wird. Unter dem Begriff Sepsis versteht man heute ein durch den Abfall des Blutdrucks, die Verminderung der Herzleistung,
bakterielle Infektion ausgelöstes SIRS. Es handelt sich hierbei um das Auftreten von Mikrothrombosen, die Hypoperfusion von
eine akut lebensbedrohliche Situation. Man schätzt, dass z. B. in Geweben, die Gewebszerstörung und schließlich das Multior-
den USA jährlich 300.000–500.000 Sepsisfälle vorkommen, wo- ganversagen verantwortlich sind. Einen Überblick über die dabei
bei die Mortalität zwischen 20 und 40 % liegt. In den frühen auftretenden Zusammenhänge gibt . Abb. 35.28.
Stadien der Sepsis ist ein nicht beherrschbares Absinken des Obwohl man also einigermaßen klare Vorstellungen über das
Blutdrucks, ein septischer Schock, die häufigste Todesursache. In Zustandekommen des SIRS hat, ist die Umsetzung dieser Er-
späteren Stadien der Sepsis kommt es zum Multiorganversagen kenntnisse in therapeutische Maßnahmen bisher enttäuschend
oder MOF (multi organ failure). Dieser Zustand ist mit einer verlaufen. Antikörper gegen TNF-α, Gabe von IL-1-Rezeptor-
Mortalität von 60–70 % verknüpft. antagonisten und Hemmstoffe der Prostaglandin- oder NO-
Die bakteriellen Toxine haben eine direkte toxische Wirkung. Biosynthese vermögen die Mortalitätsrate bestenfalls um 10% zu
Daneben ist die generalisierte Aktivierung von Mediatorzellen verringern.
wie Makrophagen und Granulocyten durch die bakteriellen To-
xine eine Hauptursache für den lebensbedrohlichen Verlauf des Beim SIRS ist das Gleichgewicht zwischen
SIRS. Besonders gut ist dies für das sog. Lipopolysaccharid proinflammatorischen und antiinflammatorischen
(LPS) – auch Endotoxin genannt – gezeigt, einem wichtigen Be- Cytokinen gestört
standteil der Zellwand Gram-negativer Bakterien. In . Abb. 35.26 Bei der Immunantwort besteht in der Regel ein Gleichgewicht zwi-
sind wichtige Schritte beim Zustandekommen des SIRS zusam- schen pro- und antiinflammatorischen Cytokinen. SIRS ist da-
mengestellt. Die einzelnen Stufen sind: durch gekennzeichnet, dass dieses Gleichgewicht zugunsten der
4 Von Gram-negativen Bakterien erzeugtes LPS wird im Blut proinflammatorischen Cytokine gestört ist. Überwiegen dagegen
gebunden an das LPS-Bindeprotein transportiert. Dieser die antiinflammatorischen Cytokine, kommt es zu einer Hem-
Komplex ist ein Ligand für einen als CD14 bezeichneten Re- mung der Immunantwort. Nur wenn das Gleichgewicht erhalten
zeptor auf Makrophagen/Monocyten und neutrophilen bleibt, haben die Patienten eine einigermaßen gute Prognose.
35.5 · Rezeptoren mit assoziierten Kinasen
435 35

. Abb. 35.26 Aktivierung von Zellen durch das bakterielle Lipopolysaccharid. LPS: bakterielles Lipopolysaccharid; LBP: LPS-Bindeprotein; TLR-4: Toll-
like-Rezeptor 4; IL: Interleukin; TRAF: TNF receptor-associated factor; MyD88: myeloid differentiation (88 kDa), IRAK: IL-1 receptor-associated kinase; TAK: TGF-β
activated kinase; TAB: TAK binding protein; NF-κB: nuclear factor κB; IκB: inhibitor of NF-κB; IKK: IκB Kinase, PLA2: Phospholipase A2, ACT: Acetyltransferase,
COX2: Cyclooxygenase 2; PAF: platelet activating factor; NO: Stickstoffmonoxid; iNOS: induzierbare NO-Synthase

Zusammenfassung
4 Mitglieder der Familie der IL-6-Typ-Cytokine führen zur
Aktivierung Rezeptor-assoziierter Janus-Tyrosinkinasen.
Diese aktivieren Transkriptionsfaktoren der STAT-Familie
und die MAP-Kinasen. Interleukin-6 spielt eine wichtige
Rolle für die Akutphase-Reaktion in der Entzündungs-
antwort.
4 Interferone hemmen die Virusvermehrung in nahezu
allen Zellen. Über Änderung der Bildung von Zellzyklus-
komponenten, Induktion der Antigenpräsentation sowie
durch Hemmung der Translation und Abbau der mRNA
wird die Virusreplikation inhibiert. Interferone signalisie-
ren über den Jak/STAT-Weg.
4 Interleukin-1 bindet an Rezeptoren mit TIR-Domänen
und führt über verschiedene, an den Rezeptor assoziier-
. Abb. 35.27 Serumspiegel von TNF-α, IL-6, IL-8 und IL-10 nach intra- te Proteine zur Translokation von NF-κB in den Zellkern.
venöser Gabe von LPS-Endotoxin. Gesunde Versuchspersonen erhielten
Nach Bindung an die enhancer-Elemente verschiedener
LPS-Endotoxin in einer Menge von 2 ng/kg Körpergewicht. Die Serum-
konzentrationen der Cytokine wurden zu den angegebenen Zeitpunkten Zielgene wird u. a. die Expression von Chemokinen und
bestimmt. (Adaptiert nach Lin et al. 2000) IL-6 induziert.
6
436 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

. Tab. 35.5 Symptomatik der generalisierten Freisetzung pro-


inflammatorischer Cytokine (die Angaben basieren auf Versuchen,
bei denen Versuchspersonen die angegebenen Cytokine intravenös
in relativ hohen Konzentrationen erhalten haben; vgl. auch . Abb.
35.27). (Nach Slifka u. Whitton 2000)

Symptome Ausgelöst durch

Akute respiratorische Insuffizienz TNF-α, IL-2, IL-12


(respiratory distress syndrom)

Hypotension TNF-α, IL-2, IL-12

Schädigung des Gastrointestinaltraktes TNF-α, IL-2, IL-12


(Nekrose, Durchfälle, Hämorrhagie)

Arrhythmie TNF-α, IL-2, IL-12

Mikrothrombosen TNF-α, IL-2, IL-12


. Abb. 35.28 Multiorganversagen als Folge einer bakteriell verursach-
Thrombocytopenie TNF-α, IL-2, IL-12
ten Sepsis. (Einzelheiten s. Text)
Gesteigerte Kapillarpermeabilität TNF-α, IL-2

Fieber TNF-α, IL-1, IL-6, IL-12,


IL-18, IFN-γ eine Verminderung der Organperfusion und Mikro-
thromben verantwortlich, weil die Fibrinbildung gegen-
Renale Tubulusnekrose TNF-α
über der Fibrinolyse überwiegt.
Veränderte Serum-Akutphase-Protein- IL-6, IL-1
Spiegel (z. B. Anstieg von CRP)

35 35.6 Spezielle Aktivierungsmechanismen

4 TNF führt sowohl zur NF-κB-Aktivierung als auch zur 35.6.1 Stickstoffmonoxid (NO)
Apoptose. Hierfür sind Effektormoleküle mit sog. death und lösliche Guanylatcyclasen
domains verantwortlich. Die Apoptose wird durch Cas-
pasen ausgelöst. Stickstoffmonoxid nimmt als Gas eine besondere Rolle als Aus-
4 Die dramatische Symptomatik der Sepsis – des septi- löser einer Signalkaskade ein. Als Anerkennung für die Entde-
schen Schocks und des multiplen Organversagens – ckung von Stickstoffmonoxid (NO) als wichtigem Signalmolekül
wird dadurch verursacht, dass die Vorgänge, die bei der wurde 1988 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin an die
lokalisierten, unspezifischen Immunantwort auftreten, Amerikaner Robert Furchgott, Ferid Murad und Louis J. Ignarro
durch den Übertritt von bakteriellen Pathogenen ins verliehen.
Blut in generalisierter Form ablaufen und dabei die ver- NO kann als Gas frei durch die Zellmembran diffundieren
schiedensten Organsysteme und Gewebe schwer schä- und ist daher ein intra- und interzelluläres Signalmolekül. Auf-
digen. Im Einzelnen beruht dies darauf, dass die Sepsis grund seiner extrem kurzen Halblebenszeit (2–30 Sekunden)
eine systemische Entzündungsreaktion oder SIRS (syste- kann es vom Ort seiner Synthese nur in die umliegenden Gewe-
mic inflammatory response syndrome) auslöst. Diese führt be und Zellen einwandern. Zu seinen wichtigsten physiologi-
zunächst zu: schen Funktionen gehören die Relaxation der glatten Gefäßmus-
– einer gesteigerten und generalisierten Freisetzung kulatur (. Abb. 35.29) und die Hemmung der Thrombocytenag-
proinflammatorischer Cytokine durch Makrophagen/ gregation. Die NO-Synthasen (NOS) katalysieren die Bildung
Monocyten und Granulocyten sowie Endothelzellen von NO aus Arginin (7 Kap. 27.2.3). Drei Isoformen dieser Enzy-
und me sind gut charakterisiert: die endotheliale (eNOS), die neuro-
– einer dadurch ausgelösten Freisetzung von Mediato- nale (nNOS) und die induzierbare (iNOS) NO-Synthase. Die
ren wie reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), NO, Prosta- konstitutiv exprimierten eNOS und nNOS werden durch eine
glandinen und dem Plättchenaktivierungsfaktor (PAF). Erhöhung der Ca2+/Calmodulin-Konzentration aktiviert. Im
Die gesteigerte NO-Bildung löst eine allgemeine Ge- Gegensatz dazu wird die iNOS, die hauptsächlich in Makropha-
fäßrelaxation mit Blutdruckabfall, am Myokard darü- gen und anderen Zellen des Immunsystems vorkommt, nicht
ber hinaus eine Verminderung der Kontraktilität und Ca2+-abhängig reguliert, sondern durch eine Reihe von Cyto-
der Herzleistung aus. kinen induziert.
4 Am Zustandekommen des sich anschließenden Organ- Seine physiologische Wirkung entfaltet NO hauptsächlich
versagens sind außer den genannten Mediatoren u. a. über die Aktivierung der NO-sensitiven, löslichen Guanylatcy-
6 clasen (GC) (. Abb. 35.30A). Diese werden in nahezu allen Säu-
getierzellen exprimiert und bestehen aus zwei verschiedenen
35.6 · Spezielle Aktivierungsmechanismen
437 35
A

. Abb. 35.29 Wirkungsweise des Stickstoffmonoxids (NO). Das in Endo-


thelzellen aus Arginin unter Sauerstoffeinwirkung erzeugte Stickstoffmon-
oxid (NO-Synthasereaktion 7 Kap. 27.2) diffundiert in die umliegenden
glatten Muskelzellen. Dort aktiviert es die lösliche Guanylatcyclase (GC) und
führt somit zur Vasodilatation

Untereinheiten (α und β). Nur die gemeinsame Expression bei- B


der Untereinheiten führt zu einer katalytisch aktiven GC. In den
C-Termini beider Untereinheiten befinden sich die Cyclaseho-
mologiedomänen, die die katalytische Aktivität besitzen und
stark den entsprechenden Domänen der Adenylatcyclasen äh-
neln. Die Aktivität dieser Enzyme verhält sich proportional zur
vorhandenen NO-Konzentration. Im N-terminalen Bereich ist
an konservierte Histidinreste eine prosthetische Hämgruppe ge-
bunden, die essentiell für die Bindung von NO an die GC ist.
Die Guanylatcyclase katalysiert die folgende Reaktion:

GTP 3’,5’-cyclo-GMP + Pyrophosphat

cGMP ist eine dem cAMP analoge Verbindung.


Außer seiner Funktion als Stimulator der löslichen Guanylat-
cyclase dient NO im Nervensystem als Neurotransmitter (nitri-
nerge Neuronen) bzw. im Immunsystem als Bestandteil des Ver- . Abb. 35.30 Guanylatcyclasen. A Lösliche Guanylatcyclasen. Diese
bestehen aus zwei verschiedenen Untereinheiten (α und β), die im N-termi-
teidigungssystems gegen Bakterien.
nalen Bereich ein als prosthetische Gruppe gebundenes Häm enthalten,
welches die Bindung mit NO eingeht. Im C-terminalen Bereich befinden
sich die Guanylatcyclasedomänen (rot). B Membrangebundene Guanyl-
35.6.2 Membrangebundene Guanylatcyclasen atcyclasen. Diese bilden Homodimere und binden über die extrazelluläre
Region ihre Liganden. Intrazellulär findet sich die Kinasehomologiedo-
mäne, die Gelenkregion und im C-Terminus die Guanylatcyclasedomäne
Membranständige Guanylatcyclasen unterscheiden sich von
den Adenylatcyclasen dadurch, dass sie nur eine einzige Trans-
membrandomäne enthalten und direkt durch extrazelluläre Li-
gandenbindung aktiviert werden (. Abb. 35.30B). Im Gegensatz Übrigens
zu den heterodimer vorliegenden löslichen Guanylatcyclasen Pathobiochemie: Reisediarrhö
bilden die membrangebundenen Guanylatcyclasen Homodimere. Das hitzestabile Enterotoxin von Enterobakterien bindet
Im Menschen kommen fünf Isoformen der membranständi- ebenfalls an die membranständige GC-C-Isoform und kann
gen Guanylatcyclasen vor: GC-A, GC-B, GC-C, GC-E und GC-F. diese aktivieren. Der Anstieg der intrazellulären cGMP-Spie-
Physiologische Peptidliganden sind bislang nur für GC-A, GC-B gel führt in der Folge zu einer Verschiebung des Elektrolyt-
und GC-C bekannt: gleichgewichts. Pathophysiologische Folge dieser Verände-
4 GC-A bindet das atriale natriuretische Peptid (ANP) und rung der Elektrolythomöostase ist die bekannte Durchfall-
das B-Typ natriuretische Peptid (BNP) (7 Kap. 65.5), erkrankung.
4 GC-B bindet das C-Typ natriuretische Peptid,
4 GC-C bindet Guanylin und Uroguanylin, die im Intestinal-
trakt, den Nieren und im lymphatischen Gewebe gebildet Die membranständige Guanylatcyclase besteht aus einer extra-
werden. zellulären Ligandenbindungsregion, einer Transmembrandomä-
438 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

ne und einer Intrazellulärregion. Der cytoplasmatische Bereich 35.6.3 cGMP-Effektormoleküle


enthält eine Kinasehomologiedomäne, eine amphipathische Ge-
lenkregion und die Cyclasehomologiedomäne (. Abb. 35.30B). cGMP aktiviert cGMP-abhängige Kinasen
Es wird angenommen, dass die Kinasehomologiedomäne ihre und cGMP-regulierte Ionenkanäle
katalytische Aktivität verloren hat, da katalytisch wichtige Ami- Wie für cAMP sind eine Reihe von intrazellulären cGMP-bin-
nosäuren mutiert sind. Sie scheint jedoch einen negativ-regula- denden Proteinen beschrieben worden (. Tab. 35.6).
torischen Einfluss auf die Cyclaseaktivität zu haben. Die Gelenk-
region vermittelt bei der Dimerisierung den Kontakt der beiden cGMP-abhängige Proteinkinasen Diese zur Familie der Serin/
Untereinheiten. Threonin-Kinasen gehörenden Enzyme finden sich in besonders
Kristallographische Studien zeigen, dass die Liganden eine hoher Konzentration in glatten Muskelzellen, Thrombocyten und
Veränderung der Konformation der Extrazellulärdomäne indu- im Kleinhirn. Die wichtigste Funktion der cGMP-abhängigen
zieren. Dadurch rotiert der intrazelluläre Bereich, die Cyclase- Proteinkinase der glatten Muskulatur beruht auf ihrer relaxieren-
domänen eines Dimers bewegen sich aneinander heran und das den Wirkung. Dies ist übrigens auch das therapeutische Prinzip
Enzym wird aktiv. aller NO-freisetzenden Vasodilatatoren wie Nitroprussit oder
cGMP-abbauende Phosphodiesterasen hydrolysieren dem zur Behandlung der akuten koronaren Herzkrankheit einge-
cGMP zu GMP und sind in Säugergeweben weit verbreitet. So- setzten Nitroglycerin. Ähnlich der Proteinkinase C (. Abb. 35.15)
wohl die Dauer als auch die Intensität eines cGMP-vermittelten enthält der N-terminale Bereich der cGMP-abhängigen Protein-
Signals werden durch Phosphodiesterasen (PDE) reguliert. Bis- kinasen eine autoinhibitorisch wirksame Pseudosubstrat-Region.
lang sind elf PDE-Familien bekannt, wobei PDE5, PDE6 und Durch die Bindung von cGMP an die Kinase wird die negativ-
PDE9 eine hohe Spezifität für cGMP aufweisen. regulatorische Wirkung der Pseudosubstratregion aufgehoben.
Substrate der cGMP-abhängigen Proteinkinasen sind z. B.
Proteine, die an der Regulation der intrazellulären Calciumkon-
Übrigens zentration beteiligt sind wie die IP3-Rezeptoren (7 Kap. 35.3.3).
Sildenafil (Viagra)
cGMP-abhängige Ionenkanäle Sie finden sich in den Photore-
35 Sowohl die Dauer als auch das Ausmaß einer Erektion hängt
vom Blutfluss in das Corpus cavernosum penis ab. Dieses ist zeptorzellen, einzelnen olfaktorischen sensorischen Neuronen
ein arterieller Schwellkörper, der im nicht-erigierten Zustand und dem Epithel der renalen Sammelrohre (. Tab. 35.6). In den
aufgrund der angespannten ringförmigen Muskulatur in der ersten beiden Systemen spielt der cGMP-abhängige Natriumka-
Arterienwand blutleer gehalten wird. Im Verlauf der Erektion nal eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des im unsti-
wird Stickstoffmonoxid (NO) produziert, welches in den be- mulierten Zustand niedrigen Membranpotentials dieser Zelle.
treffenden Muskelzellen die Bildung von cGMP induziert. Die Erst durch Aktivierung einer cGMP-spezifischen Phosphodies-
Muskeln entspannen sich und arterielles Blut kann in den terase kommt es zur Hyperpolarisierung dieser Sinneszellen und
Schwellkörper fließen und damit die Erektion auslösen. damit zur Reizweiterleitung (7 Kap. 74.1.3). In den Sammel-
Viagra wird zur Behandlung erektiler Dysfunktionen einge- rohrepithelien ist der cGMP-abhängige Natriumkanal mögli-
setzt und stellt einen potenten selektiven Inhibitor der cherweise verantwortlich für die Stimulierung der Natriurese
cGMP-spezifischen PDE5 dar, die das im Corpus cavernosum durch das atriale natriuretische Peptid (7 Kap. 65.4.3).
gebildete cGMP wieder zu GMP abbaut. Somit kommt es cGMP-abhängige Proteinkinasen und Ionenkanäle enthalten
beim Einsatz von Viagra im Verlaufe einer normalen sexuel- ein sog. cNMP (cyclic nucleotide monophosphate)-Motiv als
len Stimulation durch Verhinderung des Abbaus von cGMP cGMP-bindende Sequenz.
zu einem erhöhten intrazellulären Spiegel und damit zu ei-
ner verstärkten Erektion. Ohne die sexuelle Erregung löst . Tab. 35.6 Intrazelluläre cGMP-Bindungsproteine
Viagra keine Erektion aus.
Fatale Folgen können eintreten, wenn Viagra gleichzeitig mit Bindungsprotein Vorkommen Effekt
nitrat-/nitrithaltigen Medikamenten oder NO-Donatoren
cGMP-abhängige Glatte Muskulatur Relaxation
eingenommen wird. Zu diesen gehören auch die als Rausch-
Proteinkinasen Thrombocyten Hemmung der
mittel verwendeten und unter dem slang-Namen Poppers Aggregation
bekannten Drogen. Sie bestehen aus den leicht flüchtigen
cGMP-abhängige Retina (Zapfen Photorezeption
Substanzen Amylnitrit, Butylnitrit oder Isobutylnitrit und Na+-Kanäle und Stäbchen) Aufrechterhaltung des
werden direkt aus Glasampullen inhaliert. Durch die kombi- Membranpotentials
nierte Wirkung von NO-Donatoren und Viagra, welches die
Olfaktorisches Olfaktorische Rezeption
Wirkung von NO verlängert, droht ein akuter lebensbedroh- Epithel Aufrechterhaltung des
licher Blutdruckabfall. Membranpotentials

Renales Natriurese
Sammelrohr

cGMP-abhängige Viele Zellen cGMP-Abbau


Phosphodiesterasen
35.7 · Regulation der Rezeptoraktivierung und -inaktivierung
439 35

Zusammenfassung Bindung eines fluoreszenzmarkierten Antikörpers nachge-


Stickstoffmonoxid (NO) ist ein wichtiger intra- bzw. interzel- wiesen. Diese Methode ermöglicht auch die Trennung le-
lulär wirkender Signalmetabolit. Es aktiviert lösliche Gua- bender Zellen nach der Oberflächenexpression bestimmter
nylatcyclasen. Das dabei entstehende cGMP wirkt relaxie- Markerproteine. Alternativ lässt sich die Zahl der Oberflä-
rend auf glatte Muskelzellen, ist ein Ligand für Ionenkanäle chenrezeptoren auch mit Hilfe von Bindungsstudien mit ra-
und aktiviert Phosphodiesterasen. Außer durch lösliche Gua- dioaktiv markierten Liganden ermitteln. Hierbei wird die
nylatcyclasen kann cGMP auch durch membrangebundene spezifische radioaktive Bindung als Differenz der gesamten
Guanylatcyclasen gebildet werden. Diese stellen Rezeptoren Bindung und der unspezifischen Bindung errechnet. Durch
für die natriuretischen Peptide und Guanyline dar. die Wahl geeigneter Auswertungsverfahren (Scatchard plots)
kann die Anzahl der Bindungsstellen (Rezeptoren) und de-
ren Bindungsaffinitäten zum Liganden (Cytokin) ermittelt
werden.
35.7 Regulation der Rezeptoraktivierung
und -inaktivierung
Einige Cytokine signalisieren über Rezeptorkomplexe, in denen
Die Termination einer Signalkaskade muss ebenso genau kon- ligandenbindende Untereinheiten mit signaltransduzierenden
trolliert werden wie ihre Initiation. Rückkopplungsmechanis- Untereinheiten assoziiert sind. Häufig ist die Stimulierbarkeit
men sind daher von großer pathophysiologischer Bedeutung. einzelner Zellen über die Expression der ligandenbindenden Re-
Ein Ausfall dieser Mechanismen innerhalb einer Signaltrans- zeptoruntereinheit reguliert. Das Fehlen dieser Untereinheit
duktionskaskade führt zu ähnlichen Erscheinungen wie eine kann in einigen wenigen Fällen durch das Vorhandensein ihrer
Hyperstimulation. So verursacht z. B. die Dysregulation der löslichen Form kompensiert werden. In diesen Fällen assoziieren
Signaltransduktion eines proinflammatorischen Cytokins den Ligand und lösliche Rezeptoruntereinheit, binden an die sig-
Übergang von akuter zu chronischer Entzündung, die im Falle naltransduzierenden Rezeptorketten und lösen dort die Signal-
der Leber zur Zirrhose führen und schließlich in der Manifesta- kaskade aus.
tion eines hepatozellulären Karzinoms enden kann. In der Regel hemmen aber lösliche Rezeptoren die Sig-
naltransduktion, indem sie den Liganden binden und dadurch
seine Assoziation mit membranständigen Rezeptoren verhin-
35.7.1 Rezeptorexpression dern (7 Kap. 34.2). Lösliche Rezeptoren entstehen entweder
durch alternatives Spleißen der Prä-mRNA des Transmembran-
Die primäre Voraussetzung, damit eine Zelle auf Cytokine re- rezeptors oder werden durch eine proteasevermittelte Abspal-
agieren kann, ist das Vorhandensein spezifischer Rezeptoren auf tung des extrazellulären Teils des membranständigen Rezeptors
der Zelloberfläche. Zusätzlich ist die Zugänglichkeit des Rezep- (receptor shedding) generiert (. Abb. 35.31).
tors für das Hormon/Cytokin von Bedeutung: Eine polarisierte
Epithelzelle, die auf endokrine Botenstoffe reagieren soll, muss
die notwendigen Rezeptoren auf ihrer basolateralen, dem Blut 35.7.2 Rückkopplungsmechanismen
zugewandten Seite exprimieren. In den cytoplasmatischen Berei-
chen einer Reihe von Transmembranrezeptoren sind Signalse- Zellen reagieren häufig nur transient auf eine Stimulation. Es
quenzen für die polare Expression identifiziert worden, die den existieren mehrere Rückkopplungsmechanismen, um die Sig-
Transport des Rezeptors an die basolaterale oder apikale Seite naltransduktion bei andauernder Hormonpräsenz zu dämpfen
einer polaren Zelle vermitteln. Somit ist nicht nur die Anzahl der oder sogar ganz zu hemmen. Eine Überstimulation wird somit
Rezeptoren, sondern auch ihre Lokalisation von zentraler Bedeu- verhindert.
tung für die Stimulierbarkeit einer Zelle. Rezeptoren können ligandenabhängig durch Endocytose
internalisiert werden (. Abb. 35.32 1 ). Sie stehen dann für eine
weitere Stimulation nicht mehr zur Verfügung. Die Zelle ist de-
Übrigens sensitisiert. Internalisierte Rezeptorkomplexe können nach Ab-
Methoden zur Bestimmung der Rezeptorexpression lösung des Liganden zurück zur Zellmembran transportiert (re-
Die Anzahl der Cytokinrezeptoren auf Zelloberflächen ist im cycling) oder abgebaut werden. Degradierte Rezeptoren werden
Unterschied zu nutritiven Rezeptoren (z. B. dem LDL-Rezep- durch Neusynthese ersetzt.
tor) sehr gering. Man findet zwischen 100 und 5.000 Cyto-
kinrezeptoren im Vergleich zu 500.000 LDL-Rezeptoren pro
Zelle. Dennoch lassen sich diese relativ niedrigen Rezeptor- Die Desensitisierung und Internalisierung
zahlen mit Hilfe der sog. FACS-(fluorescence-activated cell von G-Protein-gekoppelten Rezeptoren wird über
sorting)-Analyse im Durchflusszytometer bestimmen. Die Re- Phosphorylierungen eingeleitet
zeptoren werden auf der Zelloberfläche über die spezifische Die Phosphorylierung der GPCR erfolgt an Serin- oder Threo-
6 ninseitenketten und kann durch second messenger-aktivierte Ki-
nasen (z. B. PKA oder PKC) oder über die sog. G-Protein-gekop-
440 Kapitel 35 · Rezeptoren und ihre Signaltransduktion

35

. Abb. 35.31 Biosynthese löslicher Rezeptoren. Alternatives Spleißen (links) einer Rezeptor-Prä-mRNA resultiert in der Expression unterschiedlicher Pro-
teine. Während der membrangebundene Rezeptor transmembranäre und cytoplasmatische Bereiche enthält (D, E), besteht der lösliche Rezeptor nur aus
den extrazellulären Domänen und einem durch ein anderes Exon codierten alternativen Carboxyterminus (C). Bei der limitierten proteolytischen Spaltung
(rechts) im Extrazellulärteil eines membranständigen Rezeptors durch eine spezifische Protease entsteht ein löslicher Rezeptor, der nur eine verkürzte
Variante darstellt, jedoch keine alternativen Aminosäuren enthält (shedding)

pelten Rezeptorkinasen (GRK) erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist ren werden Transkriptionsfaktoren häufig durch das Proteasom
die Kinase für den β-adrenergen Rezeptor (β-ARK bzw. GRK2). abgebaut (. Abb. 35.32 2 ). Es ist jedoch zu beachten, dass der
Die Phosphorylierung des Rezeptors erlaubt die Rekrutierung proteasomvermittelte Abbau von Proteinen nicht immer der Sig-
von Proteinen der Arrestinfamilie. Eine Funktion der Arrestine nalabschaltung dient. Die Degradation von Inhibitoren kann
besteht in der Verhinderung der erneuten Bindung von trimeren auch essentiell für die Signalweiterleitung sein (IκB-Degradation
G-Proteinen und führt somit zu einer Desensitisierung des Re- 7 Kap. 35.5.2).
zeptors. Sie bewirken zudem die Internalisierung des Rezeptors. Die Bindung inhibitorischer Proteine an aktivierte Signal-
Beide Mechanismen resultieren in einer länger anhaltenden De- moleküle ist auf allen Ebenen der Signaltransduktion zu finden:
sensitisierung. Die Internalisierung der phosphorylierten Rezep- Liganden können durch lösliche Rezeptoren abgefangen
toren ist oft Voraussetzung für deren Dephosphorylierung und (. Abb. 35.32 3 ), Kinasen durch spezifische Inhibitoren ge-
die erneute Präsentation an der Plasmamembran. hemmt ( 4 ), Transkriptionsfaktoren durch Bindung an Inhibi-
Sofern Rezeptoren nicht an die Plasmamembran zurück torproteine an der Kerntranslokation und/oder der DNA-Bin-
transportiert werden (recycling), kann nach ihrer Internalisie- dung gehindert werden ( 5 ).
rung ein weiterer Transport über Endosomen hin zu Lysosomen
erfolgen, wo sie abgebaut werden. Ein weiteres Signal für den Die reversible Phosphorylierung von Signal-
Abbau eines Rezeptors kann dessen Ubiquitinierung sein molekülen ist bei der Modulation der Cytokinsignal-
(7 Kap. 33.4.1, 49.3.2, 50). transduktionswege von zentraler Bedeutung
Prinzipiell können alle Signalmoleküle durch Abbau elimi- Stimulation mit Wachstumsfaktoren, Interleukinen oder Interfe-
niert werden: So werden nach Cytokinstimulation Proteasen ronen löst Phosphorylierungskaskaden aus. Aktivierte Kinasen
sezerniert, die das stimulierende Cytokin abbauen. Im Zellinne- können durch Kinaseinhibitoren in ihrer enzymatischen Aktivi-
35.7 · Regulation der Rezeptoraktivierung und -inaktivierung
441 35

. Abb. 35.32 Negative Regulation der Signaltransduktion. Die Modulation und Termination eines cytokininduzierten Signals kann auf verschiedenen
Ebenen der Signaltransduktion erfolgen: neben der Verfügbarkeit von Rezeptorkomponenten entscheidet das Vorhandensein von cytoplasmatischen Inhi-
bitoren über die Signalintensität. (Einzelheiten s. Text)

tät gehemmt und so an der Signalweiterleitung gehindert wer- Sie greifen daher nur kurzfristig in die Signalweiterleitung ein
den. Der Phosphorylierungsstatus der Signalmoleküle wird und erlauben somit eine schnelle Anpassung der Signalstärke.
durch Serin/Threonin-Kinasen oder Tyrosinkinasen und deren Die im Verlauf der TGF-β-Signalkaskade induzierten feedback-
Gegenspielern, den Phosphatasen bestimmt (. Abb. 35.32 6 , Inhibitoren Smad 6 und Smad 7 agieren in analoger Weise wie
7 ). Für viele Wachstumsfaktor-, Interleukin- und Interferonre- die SOCS-Proteine.
zeptoren ist bekannt, dass sich neben Kinasen auch Phosphatasen
im aktivierten Rezeptorkomplex befinden. Andere Phosphatasen
wirken im Zellkern. Für einige Cytokine ist beschrieben, dass die Zusammenfassung
effiziente Aktivierung einer Signalkaskade zunächst die Inakti- Die Stärke und Dauer der Signaltransduktion wird reguliert
vierung basal aktiver Phosphatasen erfordert. durch:
Die bei der Signaltransduktion über G-Protein-gekoppelte Re- 4 die Anzahl und Lokalisation von Rezeptoren auf der
zeptoren aktivierten trimeren G-Proteine werden durch eine in- Plasmamembran
trinsische GTPase-Aktivität nach Interaktion mit GTPase-aktivie- 4 lösliche Rezeptoren
renden Proteinen (GAP) inaktiviert. Die second messenger cAMP 4 Endocytose von Rezeptoren
und cGMP werden durch Phosphodiesterasen hydrolysiert, IP3 zu 4 proteolytischen Abbau von Cytokinen, Rezeptoren und
Inositol dephosphoryliert, DAG nach Phosphorylierung wieder zu Transkriptionsfaktoren
Phospholipiden umgebaut oder die Ca2+-Konzentration in der 4 Phosphorylierung/Dephosphorylierung von Signal-
Zelle durch aktiven Export aus dem Cytosol reduziert. molekülen
4 Bindung inhibitorischer Proteine an aktivierte Signal-
Die Expression von feedback-Inhibitoren gehört zu moleküle
den zentralen Mechanismen der Abschaltung einer 4 Expression von feedback-Inhibitoren
cytokinvermittelten Signaltransduktion
Zu den frühesten Zielgenen vieler Mitglieder der Interleukinfa-
milie gehören die Gene der so genannten suppressors of cytokine 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
signalling (SOCS)-Proteine. Diese sehr früh nach Cytokinstimu-
lation nachweisbaren Proteine binden und hemmen aktivierte
Janus-Kinasen oder konkurrieren mit STAT-Faktoren um die
Bindung am Rezeptor. Sie sind daher sehr effiziente Inhibitoren
und verhindern eine lang andauernde Cytokinsignaltransduk-
tion. Die Halblebenszeit der meisten SOCS-Proteine ist jedoch
sehr gering, da sie schnell durch das Proteasom abgebaut werden.
36 Insulin – das wichtigste anabole Hormon
Harald Staiger, Norbert Stefan, Monika Kellerer, Hans-Ulrich Häring

Einleitung 36.1 Aufbau

Während in den vorausgehenden 7 Kap. 33–35 die Prinzipien der hor- Insulin ist ein 5,8 kDa großes Protein aus
monellen Signalübermittlung zusammenfassend und vergleichend dar- zwei Peptidketten, der A-Kette (21 Aminosäuren)
gestellt werden, folgen nun die Besprechungen einzelner Hormone bzw. und der B-Kette (30 Aminosäuren)
Hormonklassen. Bestimmte Hormone steuern die Anpassung von ener- Insulin wurde 1921 erstmalig von Frederick Banting und Charles
gieliefernden und energieverbrauchenden Stoffwechselprozessen an Best aus Rinderpankreas isoliert. Seither steht es für die Therapie
akute Änderungen des Aktivitäts- und Ernährungszustandes des Orga- der Zuckerkrankheit zur Verfügung. Erst nach dem 2. Weltkrieg
nismus. Dabei ist Insulin das wichtigste anabole Hormon. Es fördert die gelang Frederick Sanger die Strukturaufklärung des Insulins. A-
zelluläre Aufnahme von Energiesubstraten, wie Glucose und Aminosäu- und B-Kette sind über zwei Disulfidbrücken miteinander ver-
ren, und das Anlegen von Energiespeichern, wie Glycogen, Triacylglyce- knüpft, eine dritte Disulfidbrücke innerhalb der A-Kette trägt zur
rine und Proteine. Zielzellen von Insulin sind hauptsächlich Leber, Ske- Stabilisierung der Raumstruktur des Insulins bei (. Abb. 36.1).
lettmuskel und Fettgewebe. Ein Mangel an Insulin löst die Zuckerkrank-
heit Diabetes mellitus aus. Tierische Insuline Heute ist die Primärstruktur der Insuline von
mehr als 20 Arten bekannt. Ihr Bauplan ist weitgehend identisch,
Schwerpunkte wenn auch eine Reihe von Aminosäuren variiert. Die größte
Ähnlichkeit mit dem Humaninsulin hat das Schweineinsulin,
4 Struktur von Insulin sowie seine Biosynthese und Sekretion
bei dem nur das C-terminale Threonin der B-Kette gegen ein
36 aus den -Zellen des Pankreas
Alanin ausgetauscht ist. Die Insuline des Schafes, des Pferdes und
4 Wirkungen von Insulin auf den Stoffwechsel von Glucose,
des Rindes weisen im Vergleich zum Humaninsulin ebenfalls
Glycogen und Triacylglycerinen in Leber, Muskel und Fett-
diesen Aminosäureaustausch und zusätzliche Veränderungen
gewebe
der drei Aminosäuren unter der Disulfidbrücke der A-Kette auf.
4 Molekularer Wirkungsmechanismus von Insulin
Da sich die bekannten tierischen Insuline kaum in ihrer biologi-
4 Diabetes mellitus
schen Aktivität vom Humaninsulin unterscheiden, wurden Insu-
line von Schlachttieren bis in die 1980er Jahre zur Therapie des
Diabetes mellitus eingesetzt.

Oligomerisierung Während Insulin im Blut sehr wahrscheinlich


nur in monomerer Form zirkuliert, liegt es in den Insulinspei-

. Abb. 36.1 Primärstruktur des Humaninsulins

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
36.2 · Synthese in den β-Zellen des Pankreas
443 36
chergranula der β-Zellen der Langerhans-Inseln (s. u.) stark kon- 4 die PP-Zellen (max. 2 % der Inselzellen), die das pankrea-
densiert in Form von Zinkkomplexen vor. Diese Komplexe kön- tische Polypeptid, einen wichtigen Hemmstoff der pankrea-
nen in vitro simuliert werden: Bei hoher Insulinkonzentration tischen Bicarbonat- und Enzymsekretion sowie des Gallen-
und in Anwesenheit von Zinkionen bilden sich hexamere Insu- flusses, sezernieren.
line, die leicht kristallisieren. Die Röntgenstrukturanalyse dieser
Kristalle hat gezeigt, dass jeweils drei B-Ketten über ihre Histi- Die vier Zellarten sind in der Langerhans-Insel in typischer
dinreste an der Position 10 ein Zinkion komplexieren. So kom- Weise verteilt. Die β-Zellen befinden sich im Zentrum der Insel,
men im Hexamer alle sechs B-Ketten gruppiert um zwei Zink- umgeben von den α-, δ- und PP-Zellen. Die arterielle Blutversor-
ionen im Inneren zu liegen, während große Teile der A-Ketten gung der Langerhans-Insel gestaltet sich derart, dass die β-Zellen
nach außen exponiert sind. im Zentrum zuerst erreicht werden und dann erst die anderen
Zelltypen. Hierdurch wird eine rasche Antwort auf Änderungen
der Blutglucosekonzentration ermöglicht. Im elektronenmikro-
Übrigens skopischen Bild lassen sich die Zellarten aufgrund ihrer unter-
Die bedeutendste Entdeckung im Rahmen der Erfor- schiedlichen Sekretgranula differenzieren.
schung der Zuckerkrankheit endete mit einem Eklat
1921 war es Dr. Frederick Banting (1891–1941) und dem Insulin entsteht aus einer einkettigen Vorstufe
Studenten Charles Best gelungen, im Labor von Professor (Proinsulin)
John J.R. McLeod in Toronto das Hormon Insulin aus Pank- An einem menschlichen Inselzelltumor (Insulinom) konnte der
reasextrakten von Versuchstieren zu gewinnen (Banting Mechanismus der Insulinbiosynthese von Donald Steiner auf-
et al. 1922). geklärt werden. Er zeigte, dass die beiden Insulinketten Teile ei-
Damit stand das entscheidende Heilmittel zur Verfügung, nes einkettigen Vorläufermoleküls sind. Inzwischen ist auch die
die bislang unheilbare Krankheit Diabetes mellitus zu be- Struktur des auf dem kurzen Arm von Chromosom 11 gelegenen
handeln. Bereits zwei Jahre später, also 1923, erhielten Ban- Insulin-Gens bekannt, sodass der in . Abb. 36.2 dargestellte Syn-
ting und McLeod, Letzterer war während der entscheiden- theseweg gesichert ist. Das Insulin-Gen enthält zwei Introns. Die
den Experimente gar nicht im Labor, den Nobelpreis für nach Transkription und Spleißen entstehende mRNA kodiert für
Medizin. Charles Best aber wurde als zu jung befunden und ein Protein, das vom N- zum C-Terminus aus einer Signal-
ging leer aus – zu Unrecht. sequenz (24 Aminosäuren), der B-Kette, einem 33 Aminosäuren
Die Ausgezeichneten bewiesen jedoch Fairness. Banting teilte langen C-Peptid und der A-Kette besteht. Dieses 11,5 kDa große
seine Preishälfte demonstrativ mit Best, McLeod die seine mit Translationsprodukt ist das Prä-Proinsulin. Wie andere Export-
James B. Collip, der bei der erstmaligen Insulinreinigung aus proteine wird auch Prä-Proinsulin an den Ribosomen des rauen
Bauchspeicheldrüsen einen wichtigen Beitrag geleistet hatte. endoplasmatischen Retikulums synthetisiert. Beim kotranslatio-
Übrigens: Banting und Best verzichteten auf die Reichtümer, nalen Transport in das endoplasmatische Retikulum erfolgt die
die sie mit der Insulinentdeckung hätten verdienen können. Abtrennung des Signalpeptids, sodass das ca. 9 kDa große Proin-
Für einen symbolischen Betrag von einem Dollar vergaben sulin entsteht. Das einkettige Proinsulin gehört zu einer Familie
sie die Lizenz zur Insulinherstellung an alle Firmen, die sich von Proteinen mit ähnlicher Tertiärstruktur, welche auch die
der Einhaltung von Qualitätsstandards bei der Herstellung insulin-like growth factors und die Relaxine umfasst.
verpflichteten. Deshalb konnten sehr schnell nach der Ent-
deckung viele sonst dem Tod geweihte Zuckerkranke zu ei- Reifung des Insulins Insulin wird mithilfe von spezifischen Pro-
nem vertretbaren Preis behandelt werden. teasen aus der Familie der Proprotein-(bzw. Prohormon-)Kon-
vertasen durch Entfernung des C-Peptids gebildet (. Abb. 36.2).
Proproteinkonvertasen spalten Prohormone typischerweise
nach einem Paar basischer Aminosäuren. Diese werden anschlie-
36.2 Synthese in den β-Zellen des Pankreas ßend durch Carboxypeptidase E entfernt (. Abb. 36.2). Diese
Vorgänge beginnen im Golgi-Apparat und setzen sich in den
Biosynthese und Sekretion von Insulin finden in den β-Granula fort. Ein kleiner Teil des Proinsulins entgeht diesem
β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas statt Reifungsprozess und gelangt mit dem reifen Insulin in den Blut-
Für die Insulinbiosynthese, -speicherung und -sekretion ist der strom. Plasmaproinsulin weist nur etwa 8 % der biologischen
endokrine Teil des Pankreas verantwortlich. Er besteht aus den Aktivität des reifen Insulins auf. Das C-Peptid (3 kDa) wird zwar
Langerhans-Inseln, kleinen homogen über das Pankreas verteil- wie die B-Kette durch Carboxypeptidase E am C-Terminus um
ten und in das exokrine Drüsengewebe eingebetteten Zellaggre- zwei basische Aminosäuren verkürzt (. Abb. 36.2), danach aber
gaten, in denen verschiedene Zelltypen nachzuweisen sind: nicht weiter proteolytisch abgebaut, sodass in den Sekretgranula
4 Die α-Zellen (ca. 20 % der Inselzellen), die für die Gluca- Insulin und C-Peptid in äquimolarem Verhältnis vorliegen. Bei
gonbiosynthese (7 Kap. 37.1.2) verantwortlich sind, der Insulinsekretion wird C-Peptid in gleichen Mengen freige-
4 die insulinproduzierenden β-Zellen (70–80 % der Insel- setzt. Diese Tatsache ist von klinischer Bedeutung, da bei insu-
zellen), linpflichtigen Diabetikern durch spezifische immunologische
4 die δ-Zellen (max. 5 % der Inselzellen), die Somatostatin Bestimmung der C-Peptid-Konzentration im Plasma ein Rück-
produzieren, schluss auf die noch vorhandene körpereigene Restsekretion von
444 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

36

. Abb. 36.2 Biosynthese des Insulins. Das Insulin-Gen enthält zwei große Introns (grau, mit Aussparungen). Diese werden posttranskriptional entfernt.
Nach Translation der dabei synthetisierten mRNA entsteht Prä-Proinsulin, welches posttranslational prozessiert werden muss, damit natives Insulin entsteht.
A: A-Kette; B: B-Kette; C: C-Peptid; S: Signalsequenz; PC1: Proproteinconvertase 1; PC2: Proproteinconvertase 2; CPE: Carboxypeptidase E. (Einzelheiten s. Text)

Disulfidbrücken Insulin Proinsulin


36.3 · Sekretionsmechanismus
445 36
Insulin möglich ist. Eine biologische Aktivität des C-Peptids ist
bislang nicht zweifelsfrei belegt.

Das Insulin-Gen zählt zu den sehr schnell


regulierten Genen, den sog. immediate early genes
Der wichtigste Faktor für die Expression des Insulin-Gens
ist Glucose. Jede Erhöhung der extrazellulären Glucosekonzen-
tration löst eine Zunahme der Prä-Proinsulinsynthese aus.
Die Transkription des Insulin-Gens wird rasch initiiert und er-
reicht ihr Maximum bereits 30 min nach dem Glucosereiz.
Dies dient dem zügigen Wiederauffüllen der intrazellulären
Insulinvorräte, die sich infolge der glucosestimulierten Insulin-
sekretion teilweise erschöpfen. Auch wenn die molekularen
Signalwege noch unbekannt sind, konnten doch inzwischen mit
Pdx-1, MafA und B2/E47 Transkriptionsfaktoren beschrieben
werden, welche glucoseabhängig an den Promotor des Insulin-
Gens binden und synergistisch die Transkription initiieren. Ei-
nen weiteren Mechanismus zur raschen Bildung neuer Prä-Pro-
. Abb. 36.3 Zusammenhang zwischen Blutglucose- und Plasmainsulin-
insulinmoleküle stellt die Stabilisierung der Insulin-mRNA dar. konzentration. 24-h-Profil einer normalgewichtigen Versuchsperson.
Dies wird durch eine glucosestimulierte Bindung des Polypyri- F: Frühstück; M: Mittagessen; Z: Zwischenmahlzeit; A: Abendessen; S: Spät-
midintraktbindeproteins PTBP an pyrimidinreiche Sequenzen mahlzeit; G: 1 h gehen. (Adaptiert nach Molnar et al. 1972)
in der 3’-nicht-translatierten Region der Insulin-mRNA be-
werkstelligt.
dafür, dass die Glycolyserate direkt proportional der Blutgluco-
sekonzentration ist.
36.3 Sekretionsmechanismus

Die Insulinsekretion hängt von der extrazellulären Übrigens


Glucosekonzentration ab GLUT1 versus GLUT2
Der physiologische Reiz zur Auslösung der Insulinsekretion der GLUT2 ist derjenige Glucosetransporter, der aufgrund seines
β-Zelle besteht in einer Erhöhung der Glucosekonzentration in besonders hohen KM-Wertes für Glucose für die zelluläre
der extrazellulären Flüssigkeit, wie man sie nach einer Mahlzeit Glucoseaufnahme bei hohen Blutglucosespiegeln prädesti-
beobachten kann. Die Insulinsekretion beginnt bei einer Gluco- niert ist. Als solcher steuert er die postprandiale Glucoseauf-
sekonzentration von 2–3 mmol/l und nimmt danach bis zu einer nahme in den Hepatocyten und bildet dort zusammen mit
Glucosekonzentration von 15 mmol/l zu. Diese Tatsache ge- der Glucokinase ein Glucosesensorsystem (7 Kap. 15.1.1).
währleistet, dass im gesunden Zustand jede Erhöhung der Blut- Generationen von Lehrbüchern der Biochemie und Physio-
glucosekonzentration dosisabhängig von einer Insulinfreiset- logie haben uns wissen lassen, dass auch die β-Zellen des
zung und einem Anstieg der Insulinkonzentration im peripheren Pankreas denselben Glucosesensor (GLUT2 plus Gluco-
Blut begleitet wird (. Abb. 36.3). Die Blutglucosekonzentration kinase) benutzen, um auf hohe Blutglucosespiegel mit einer
fällt bei Gesunden nie unter 4 mmol/l, sodass immer eine basale adäquaten Insulinsekretion reagieren zu können. Schon
Insulinsekretion vorhanden ist, welche für die grundlegende seit über 10 Jahren ist aber bekannt, dass dies zwar für Maus
Glucoseversorgung der Gewebe unabdingbar ist. und Ratte gilt, die menschlichen β-Zellen aber tatsächlich
mit GLUT1 ausgestattet sind.
Molekulare Natur des Glucosesensors Die molekulare Ursache
für die Abhängigkeit der Insulinsekretion der β-Zellen von der
extrazellulären Glucosekonzentration und vom Glucoseumsatz ATP ist das intrazelluläre Signal für die
beruht auf einem gewebstypischen Zusammenspiel von Gluco- Insulinsekretion der β-Zelle
seaufnahme und Glucosephosphorylierung. In der Zellmembran Wie das Signal einer erhöhten extrazellulären Glucosekonzent-
humaner β-Zellen liegt das Glucosetransportprotein GLUT1 in ration in die Exocytose der insulinenthaltenden β-Granula um-
besonders hoher Zahl vor (s. 7 »Übrigens: GLUT1 versus GLUT2«), gesetzt wird, ist in . Abb. 36.4 dargestellt. Glucose wird von den
sodass die Glucoseaufnahme dieser Zellen stets proportional zur β-Zellen in Abhängigkeit von ihrer Konzentration aufgenom-
Blutglucosekonzentration ist. Ähnlich wie die Leber verfügen men und über Glycolyse und oxidativen Abbau in den Mito-
β-Zellen auch über eine hohe Glucokinase-Aktivität. Diese hat chondrien verstoffwechselt. Jede Steigerung des Glucoseumsat-
eine hohe KM (etwa 8 mmol/l), sodass die Glucosephosphorylie- zes in der β-Zelle resultiert in einem Anstieg des zellulären ATP/
rung und damit die Glycolyserate direkt von der intrazellulären ADP-Verhältnisses. ATP bindet an den Sulfonylharnstoffrezep-
Glucosekonzentration abhängen. Die Ausstattung der β-Zelle tor (SUR), welcher eine Untereinheit des in der Plasmamembran
mit großen Mengen an GLUT1 und der Glucokinase sorgt also verankerten ATP-sensitiven K+-Kanals darstellt (s. u.), bewirkt
446 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

Form gespeichert. Jeder zur Sekretion führende Reiz bewirkt


eine Fusion der β-Granula mit der Plasmamembran mit Freiset-
zung des Granulainhaltes in den perikapillären Raum (klassi-
scher Ablauf der regulierten Exocytose). Colchicin und Vinca-
Alkaloide sind wirkungsvolle Hemmstoffe der Insulinsekretion,
was eine Beteiligung des mikrotubulären Systems an der Insul-
insekretion belegt.

Hormone und Metaboliten üben eine regulierende


Wirkung auf die Insulinfreisetzung aus
Verschiedene Verbindungen modulieren die Antwort der
β-Zelle auf den Glucosereiz. Außer einigen Monosacchariden
können Aminosäuren (v. a. Arginin), Fettsäuren und Ketonkör-
per die glucosestimulierte Insulinfreisetzung verstärken. Nor-
adrenalin und besonders Adrenalin hemmen die Insulinsekre-
tion. Dieser Effekt wird durch α2-Antagonisten wieder aufgeho-
ben, was darauf hinweist, dass die inhibitorische Wirkung der
Katecholamine über α2-adrenerge Rezeptoren vermittelt ist.
Somatostatin, welches u. a. in den δ-Zellen der Langerhans-
Inseln gebildet wird, unterdrückt ebenfalls die Insulinsekretion.
Die physiologische Bedeutung dieses Befundes ist jedoch noch
weitgehend unklar.

Inkretine Seit langem ist bekannt, dass die gleiche Menge Glucose
oral verabreicht zu höheren Plasmainsulinkonzentrationen führt
als bei intravenöser Gabe. Dies ist die Folge einer durch bestimm-
te gastrointestinale Hormone (Enterohormone) gesteigerten In-
36 sulinsekretion. Enterohormone, die glucoseabhängig sezerniert
werden und die Insulinsekretion steigern, werden als Inkretine
bezeichnet. Von besonderer Bedeutung ist hier das gastroinhibi-
torische Peptid (GIP), dessen Plasmakonzentration besonders
nach kohlenhydratreichen Mahlzeiten auf Werte ansteigt, die die
Insulinsekretion deutlich stimulieren. Ähnlich verhält sich das
aus dem Prä-Proglucagon der intestinalen Mukosazellen entste-
hende Glucagon-like peptide-1 (GLP-1) (7 Kap. 37.1.2). Beide
Inkretine binden an spezifische heptahelicale Transmembranre-
zeptoren der β-Zelle und stimulieren die Insulinfreisetzung über
eine Aktivierung des Adenylatcyclasesystems.

. Abb. 36.4 Mechanismus der glucosestimulierten Insulinsekretion. Der Insulinsekretionsstimulierende Pharmaka Von besonderer Be-
Glucosestoffwechsel der β-Zellen der Langerhans-Inseln führt in Abhängig-
keit von der extrazellulären Glucosekonzentration zu einer Steigerung des
deutung sind hierbei die von den Sulfonamiden abgeleiteten Sul-
ATP/ADP-Quotienten, der das metabolische Signal für das Schließen eines fonylharnstoffe (. Abb. 36.5), welche als sog. orale Antidiabeti-
ATP-sensitiven K+-Kanals darstellt. Die sich dadurch ergebende Depolarisie- ka zur Therapie des Typ-2-Diabetes eingesetzt werden. Sulfonyl-
rung bewirkt die Öffnung eines spannungsabhängigen Ca2+-Kanals und eine
Zunahme der cytosolischen Calciumkonzentration. Dies ist letztlich der Aus-
A
löser für die gesteigerte Insulinsekretion durch Exocytose der β-Granula.
Kir6.2 und SUR stellen Untereinheiten des ATP-sensitiven K+-Kanals dar.
(Einzelheiten s. Text)

die Schließung des Kanals und löst damit eine Depolarisierung


der β-Zelle aus. Infolgedessen öffnet sich ein spannungsregulier-
ter Ca2+-Kanal. Dies führt zu einem Anstieg der cytosolischen
B
Calciumkonzentration, was der Auslöser für die gesteigerte Exo-
cytose der β-Granula ist.

Degranulation der β-Zelle Nach seiner Biosynthese und Rei-


fung wird Insulin zusammen mit dem C-Peptid in den vom . Abb. 36.5 Struktur der Sulfonylharnstoffe. A Allgemeine Struktur.
Golgi-Komplex abgeschnürten Sekretgranula in konzentrierter B Glibenclamid als Beispiel für einen häufig verwendeten Sulfonylharnstoff
36.5 · Wirkspektrum
447 36
harnstoffe führen direkt zu einer Depolarisierung der β-Zelle. tor-Komplex (7 Kap. 36.6) internalisiert und Insulin durch lyso-
Der Sulfonylharnstoffrezeptor SUR der β-Zelle ist ein Mitglied somale Enzyme abgebaut.
der ABC-Membrantransporterfamilie und ist identisch mit der
ATP-bindenden Untereinheit des ATP-sensitiven K+-Kanals.
Während die ATP-Bindungsstelle intrazellulär liegt, befindet 36.5 Wirkspektrum
sich die Bindungsstelle für Sulfonylharnstoffe auf der extrazellu-
lären Seite. Sowohl ATP als auch Sulfonylharnstoffe können un- Insulin wirkt nicht auf alle Zellen und Gewebe des Organismus.
abhängig voneinander binden, den K+-Kanal schließen und da- So sind Nieren, intestinale Mukosa und Erythrocyten insulinun-
mit Zelldepolarisierung und Insulinsekretion auslösen. empfindlich. Zu den insulinempfindlichen Geweben zählen
Skelett- und Herzmuskel, Leber, Fettgewebe, Gehirn, laktierende
Brustdrüse, Samenblasen, Knorpel, Knochen, Haut und Leuko-
36.4 Konzentration und Halbwertszeit zyten. Von diesen fallen aufgrund ihrer Masse und Stoffwechsel-
im Serum bedeutung die Muskulatur, das Fettgewebe und die Leber be-
sonders ins Gewicht. Deshalb werden an ihnen die biochemi-
Plasmakonzentration In der Zirkulation kommt Insulin im We- schen Funktionen des Insulins im Folgenden dargestellt (. Tab.
sentlichen als freies Monomer vor, ein Bindungsprotein ist nicht 36.1). Die Wirkungen von Insulin auf das Gehirn beginnt man
bekannt. Die Insulinkonzentration im Blut beträgt – in Abhän- gerade erst zu verstehen.
gigkeit von der Glucosekonzentration – beim Stoffwechselgesun-
den 0,4–4 ng/ml (69–690 pmol/l). Therapeutisch applizierte In-
sulinmengen werden nach ihrer glucosesenkenden Wirkung in Insulin stimuliert die Glucoseaufnahme
internationalen Einheiten (IE) angegeben: Eine IE senkt den in Muskel und Fettgewebe
Blutzuckerspiegel um 40 mg/dl (2,2 mmol/l) und entspricht Die wichtigste Wirkung des Insulins wurde in den 1940er Jahren
41,67 µg hochreinem Humaninsulin. von Rachmiel Levine entdeckt. Er konnte zeigen, dass Insulin die
Glucoseaufnahme der Skelettmuskulatur stimuliert. Später
Die Halbwertszeit des Insulins im Serum konnte eine gleichartige Insulinwirkung auch im Fettgewebe
beträgt nur etwa 7–15 min nachgewiesen werden. Die hierdurch gesteigerte Glucoseverwer-
Eine Reihe von sehr aktiven enzymatischen Systemen in Leber tung führt im Gesamtorganismus zu einem raschen Blutgluco-
und Niere sorgen für den raschen Abbau von zirkulierendem seabfall. Für die Glucoseaufnahme sowohl der Muskel- als auch
Insulin, sodass dessen Halbwertszeit im Serum nur etwa der Fettzelle ist der Glucosetransporter GLUT4 verantwortlich,
7–15 min beträgt. Eine spezifische Glutathion-Insulin-Transhy- welcher die Glucoseaufnahme durch erleichterte Diffusion kata-
drogenase katalysiert die reduktive Spaltung der die A- und B- lysiert. GLUT4-Transporter sind nicht nur in der Plasmamemb-
Kette verbindenden Disulfidbrücken. Die nun isolierten Ketten ran lokalisiert, sondern befinden sich auch in intrazellulären
werden rasch proteolytisch abgebaut. In den Zellen insulinemp- Membranvesikeln, wo sie zur schnellen Mobilisierung bereitste-
findlicher Gewebe (7 Kap. 36.5) wird der Insulin-Insulinrezep- hen. Insulin bewirkt eine Translokation dieser Vesikel in die

. Tab. 36.1 Übersicht über die Stoffwechselwirkungen von Insulin

Stoffwechselweg Wirkungsort Angriffspunkt

Leber Muskel Fettgewebe

Glucoseaufnahme GLUT4-Translokation in die Plasmamembran

Glycogensynthese Aktivierung der Glycogensynthase

Glycogenolyse Hemmung der Glycogenphosphorylase (cAMP )

Glycolyse Fructose-2,6-Bisphosphatbildung (cAMP ), transkriptionelle Induktion


von Schlüsselenzymen der Glycolyse (7 Kap. 15.3.1)

Gluconeogenese Fructose-2,6-Bisphosphatbildung (cAMP ), transkriptionelle Repression


von Schlüsselenzymen der Gluconeogenese (7 Kap. 15.3.1)

Lipogenese Aktivierung der Pyruvatdehydrogenase, transkriptionelle Induktion von


Acetyl-CoA-Carboxylase und Fettsäuresynthase sowie der Lipoproteinli-
pase des Fettgewebes

Lipolyse Hemmung der hormonsensitiven Lipase (cAMP )

Aminosäureaufnahme Transkriptionelle Induktion von Aminosäuretransportern

Proteinbiosynthese Phosphorylierung ribosomaler Proteine


448 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

Plasmamembran. Eine Erhöhung der GLUT4-Konzentration in über transkriptionelle Regulation lipogene Wirkungen aus. So
der Plasmamembran erklärt auch die Ergebnisse kinetischer Un- induziert Insulin im Fettgewebe die Expression der Lipoprotein-
tersuchungen, wonach Insulin die Maximalgeschwindigkeit lipase. Dieses für die Spaltung der Triacylglycerine der VLDL
vMAX, nicht aber die KM des Glucosetransportsystems verändert. und Chylomikronen und damit für die zelluläre Fettsäureauf-
Im Gegensatz zur Fett- und Muskelzelle verfügt die Leberzelle nahme notwendige Enzym fehlt bei Insulinmangel im Fettgewe-
nicht über ein derartiges insulinabhängiges Glucosetransport- be fast vollständig, seine Aktivität lässt sich jedoch durch Zugabe
system. Sie besitzt den Glucosetransporter GLUT2, welcher auf- von Insulin normalisieren. Schließlich induziert Insulin sowohl
grund seiner hohen KM von etwa 40 mmol/l eine Glucoseaufnah- im Fettgewebe als auch in der Leber die Expression der lipogenen
me proportional zur extrazellulären Glucosekonzentration ge- Schlüsselenzyme Acetyl-CoA-Carboxylase und Fettsäuresyntha-
währleistet. se (7 Kap. 21.3.2). Über die genannten Mechanismen stimuliert
Insulin die Fettsäure- und Triacylglycerinbiosynthese.
Insulin stimuliert den Glucosestoffwechsel
in Leber, Muskel und Fettgewebe Insulin hemmt die Fettgewebslipolyse
In Leber und Skelettmuskel bewirkt Insulin eine Zunahme der Eine der wichtigsten Lipasen des Fettgewebes ist die hormon-
Glycogenbiosynthese. Dies beruht v. a. auf einer raschen Akti- sensitive Lipase, welche durch cAMP-abhängige Phosphorylie-
vierung der Glycogensynthase durch Dephosphorylierung rung aktiviert wird. In der Fettzelle erzielt Insulin eine ähnliche
(7 Kap. 15.2). In der Leber, nicht aber im Muskel, wird zudem die inhibitorische Wirkung auf die cAMP-Bildung wie in der Leber.
durch insulinantagonistische Hormone hervorgerufene intrazel- Der durch Insulin ausgelöste Abfall der cAMP-Spiegel begünstigt
luläre cAMP-Bildung durch Insulin blockiert (7 Kap. 36.6). Der die Dephosphorylierung und Inaktivierung des Enzyms. Darauf
hierdurch ausgelöste Abfall der cAMP-Konzentration inaktiviert beruht der lange bekannte antilipolytische Effekt des Insulins.
die Glycogenphosphorylase und hemmt somit die Glycogenoly-
se. Eine niedrige cAMP-Konzentration verursacht außerdem Insulin fördert die Aufnahme von Aminosäuren
eine Dephosphorylierung des Tandemenzyms PFK2/FBPase2 in die Gewebe und die Proteinbiosynthese
und somit eine gesteigerte Bildung des allosterischen Regulators Im Skelettmuskel stimuliert Insulin die Aufnahme von Amino-
Fructose-2,6-Bisphosphat (7 Kap. 15.3.2). Fructose-2,6-Bis- säuren. Dieser Insulineffekt lässt sich durch Hemmstoffe der Pro-
phosphat aktiviert die Phosphofructokinase 1 und steigert so die teinbiosynthese blockieren und beruht möglicherweise auf einer
Glycolyserate, gleichzeitig hemmt es die Fructose-1,6-Bisphos- insulinabhängigen Induktion der benötigten Transportsysteme.
36 phatase und damit die Gluconeogenese. Unterstützt wird diese Aus Untersuchungen an isolierten Geweben und Zellen weiß
rasche Regulation von Glycolyse und Gluconeogenese durch man, dass Insulin auch die Proteinbiosynthese stimuliert. Diese
eine insulinabhängige transkriptionelle Induktion der Glyco- Wirkung beruht dabei nicht nur auf einem gesteigerten Amino-
lyseenzyme Glucokinase, Phosphofructokinase 1 und Pyruvat- säuretransport, sondern auch auf einer insulinabhängigen Akti-
kinase und eine Repression der Gluconeogeneseenzyme Pyru- vierung von Komponenten der Translationsmaschinerie.
vatcarboxylase, PEP-Carboxykinase, Fructose-1,6-Bisphospha-
tase und Glucose-6-Phosphatase. Ein durch cAMP-Senkung Weitere wichtige Insulinwirkungen
verursachter Anstieg von Fructose-2,6-Bisphosphat, eine tran- Stimulierung der K+-Aufnahme Besonders in Fettgewebe und
skriptionelle Induktion der Enzyme Phosphofructokinase 1 und Muskulatur, aber auch in anderen Geweben, kommt es nach In-
Pyruvatkinase und eine Steigerung der Glycolyserate sind auch sulingabe sehr schnell zu einer Steigerung der K+-Aufnahme.
im insulinstimulierten Fettgewebe zu beobachten. Dies hat v. a. Dieser Effekt kommt dadurch zustande, dass das Hormon – ähn-
Auswirkungen auf den Lipidstoffwechsel. lich wie bei der Steigerung der Glucoseaufnahme – eine schnelle
Translokation von intrazellulär vesikulär gebundenen Na+/K+-
Insulin fördert die Lipogenese ATPase-Molekülen in die Plasmamembran stimuliert. Um einer
in Fettgewebe und Leber lebensbedrohlichen Hypokaliämie vorzubeugen, muss daher bei
In Leber und Fettgewebe führt die durch Insulin gesteigerte Gly- der Gabe hoher Insulindosen (besonders bei intravenöser Gabe
colyserate zur vermehrten Bildung von Dihydroxyacetonphos- zur raschen Behandlung schwerer Ketoacidosen) die Plasmaka-
phat, welches mit Hilfe der Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase liumkonzentration sorgfältig überwacht werden.
in Glycerin-3-Phosphat umgewandelt wird und als solches ein
wichtiges Substrat für die Triacylglycerinbiosynthese darstellt. Insulinwirkung im Gehirn Ähnlich wie Leptin inhibiert Insulin
Von besonderer Bedeutung für das Fettgewebe ist die durch In- im hypothalamischen Appetitzentrum die Ausschüttung appetit-
sulin ausgelöste Dephosphorylierung des in den Mitochondrien stimulierender und bewirkt gleichzeitig die Freisetzung appetit-
lokalisierten Pyruvatdehydrogenasekomplexes (7 Kap. 18.2). zügelnder Neuropeptide. Insulin stellt somit ein rasch wirkendes
Das auf diese Weise aktivierte Enzym stellt aus Pyruvat Acetyl- postprandiales Sättigungssignal dar.
CoA her, welches Ausgangspunkt für die Fettsäurebiosynthese
ist. Außerdem wird in der Fettzelle ein beträchtlicher Teil der Insulin ist das wichtigste anabole Hormon
aufgenommenen Glucose im Pentosephosphatweg unter Bil- des Organismus
dung von NADPH/H+ metabolisiert. NADPH/H+ ist für die Fett- Fasst man die geschilderten Insulinwirkungen auf den Stoff-
säurebiosynthese unverzichtbar (7 Kap. 21.2.3). Neben diesen wechsel von Leber, Muskulatur und Fettgewebe zusammen, stellt
das Substratangebot beeinflussenden Effekten übt Insulin auch sich Insulin als ein anabol wirksames Hormon dar. Seine Sekre-
36.6 · Signaltransduktion
449 36
tion wird durch ein erhöhtes Substratangebot im Blut, vornehm-
lich durch Glucose ausgelöst. Es sorgt durch seine Wirkung auf
die Glucosetransportsysteme von Muskulatur und Fettzelle mit
nachgeschalteten Effekten auf verschiedene Enzymsysteme für
die effiziente Speicherung dieses Substratangebotes in Form von
Glycogen und Triacylglycerinen. Unterstützt wird diese Insulin-
wirkung durch die gleichzeitig erfolgende Blockade der Stoff-
wechseleffekte kataboler Hormone (Glucagon, Katecholamine).
Insulin fördert die Aufnahme von Aminosäuren in die Gewebe
und die Proteinbiosynthese.

36.6 Signaltransduktion

Während das physiologische Wirkungsspektrum des Insulins ein


klares Bild seiner biologischen Funktionen ergibt, kann die Frage
nach seinem molekularen Wirkungsmechanismus auch heute
noch nicht in allen Einzelheiten befriedigend beantwortet wer- . Abb. 36.6 Struktur des Insulinrezeptors. Die beiden etwa 135 kDa
den. Fest steht, dass die primäre Insulinwirkung auf molekularer großen α-Untereinheiten des Insulinrezeptors bestehen aus je 731 Amino-
Ebene auf der Bindung von Insulin an einen spezifischen Trans- säuren und sind über Disulfidbrücken miteinander verknüpft. Sie bilden die
membranrezeptor, den Insulinrezeptor, beruht. insulinbindende Domäne des Rezeptors. Die beiden 95 kDa großen
β-Untereinheiten bestehen aus je 620 Aminosäuren mit einer extrazellu-
lären, einer transmembranen und einer cytosolischen Domäne. Letztere
Der Insulinrezeptor ist ein tetrameres enthält die Tyrosinkinase-Aktivität, die Bindungsstelle für IRS-Proteine (Jux-
integrales Membranprotein tamembrandomäne) und eine C-terminale regulatorische Sequenz. Nur ein
In . Abb. 36.6 sind der Aufbau und die Membranintegration des Teil der Phosphorylierungsstellen ist dargestellt
Insulinrezeptors dargestellt. Er ist ein tetrameres Membranpro-
tein der Struktur α2β2 und einer Molekülmasse von ca. 460 kDa.
Die einzelnen Untereinheiten sind durch Disulfidbrücken mitei- phorylierung des Tyrosins 960 nahe der Plasmamembran wird
nander verknüpft. Ein tetrameres Rezeptormolekül bindet je- eine Bindungsstelle für Insulinrezeptorsubstrate (s. u.) geschaf-
weils ein Insulinmolekül. Für die Insulinbindung sind die beiden fen. Die zusätzliche Phosphorylierung dreier Tyrosinreste inner-
nicht in die Plasmamembran integrierten α-Untereinheiten ver- halb der Tyrosinkinasedomäne bewirkt eine maximale Aktivie-
antwortlich. Jede β-Untereinheit stellt eine typische Rezeptor- rung der Tyrosinkinase.
Tyrosinkinase dar (7 Kap. 35.4.1).
Modulation der Rezeptor-Tyrosinkinase-Aktivität Der Insulinre-
Biosynthese des Insulinrezeptors Das Insulinrezeptor-Gen liegt zeptor kann neben der Phosphorylierung an Tyrosinresten auch
auf Chromosom 19. Es umfasst 22 Exons; je 11 dieser Exons co- an Serin- und Threoninresten phosphoryliert werden. Obwohl
dieren für eine α- und eine β-Untereinheit. Das primäre Transla- man die Serin-/Threoninphosphorylierung des Insulinrezeptors
tionsprodukt des Insulinrezeptor-Gens ist zunächst ein einketti- insgesamt noch nicht vollständig versteht, scheint hierdurch eine
ger Prorezeptor. Die im endoplasmatischen Retikulum erfolgen- Hemmung des Insulinsignals durch Inhibierung der Rezeptor-
de Dimerisierung von zwei Prorezeptoren wird durch die Ausbil- Tyrosinkinase-Aktivität ausgelöst zu werden. Als Kandidatenki-
dung von Disulfidbrücken stabilisiert. Begleitet wird dies von der nasen für eine derartige direkte Blockade der Insulinrezeptorak-
N-Glycosylierung der Prorezeptoren. Im Golgi-Apparat erfolgt tivität wurden in Zellstudien diacylglycerinsensitive Isoformen
dann die proteolytische Spaltung der dimerisierten Prorezepto- der Proteinkinase C (PKC) und die Proteinkinase A (PKA) iden-
ren durch eine Proproteinkonvertase an den α-Untereinheiten, tifiziert. Dies könnte erklären, warum einerseits hohe Fettsäure-
sodass der fertige Rezeptor in die Plasmamembran eingebaut konzentrationen (über eine vermehrte intrazelluläre Diacylgly-
werden kann. cerinbildung und Stimulation der PKC) und andererseits insu-
linantagonistische Hormone (über eine Aktivierung des cAMP-
Die Phosphorylierung definierter Tyrosinreste PKA-Weges) das Insulinsignal hemmen.
in der β-Untereinheit des Insulinrezeptors ist eine
unabdingbare Voraussetzung für die Weiterleitung Weiterleitung des Insulinsignals
des Insulinsignals in die Zelle Nach Aktivierung der Tyrosinkinase und Autophosphorylierung
Die Bindung des Insulinmoleküls an die extrazellulär gelegenen der β-Untereinheit kommt es zur Bindung sog. docking-Proteine
α-Untereinheiten des Insulinrezeptors löst eine Konformations- an definierte Phosphotyrosine des Insulinrezeptors (s. o.). Die
änderung im Rezeptormolekül aus, welche die Tyrosinkinase im wichtigsten docking-Proteine sind die Insulinrezeptorsubstra-
cytosolischen Abschnitt der β-Untereinheit aktiviert. So kann die te (IRS). Von diesen sind inzwischen drei hoch homologe Formen
ATP-abhängige Autophosphorylierung der β-Untereinheiten (IRS1, 2 und 4) mit Molekülmassen von 130–190 kDa beim Men-
an mehreren Tyrosinresten in Gang gesetzt werden. Durch Phos- schen beschrieben worden (IRS3 kommt nur in Nagergenomen
450 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

36
. Abb. 36.7 Intrazelluläre Signalübertragung des Insulins. Nach Phosphorylierung von IRS-Proteinen durch den Insulinrezeptor bestehen zwei Möglich-
keiten der Signalweiterleitung: Bindung und Aktivierung der PI3K führt zu den metabolischen Insulineffekten (rechts), Bindung von GRB2 und die anschlie-
ßende Aktivierung der MAPK-Kaskade zu PI3K-unabhängigen nicht-metabolischen Zellantworten (links). Die vereinfacht dargestellten Molekülstrukturen
oberhalb der PI3K repräsentieren die Phospholipide PIP2 und PIP3. AP: Autophosphorylierung; TP: Transphosphorylierung. (Einzelheiten s. Text)

vor). Zu den bevorzugten Substraten des Insulinrezeptors gehö- Domänen zwei Enzyme: Die Phosphoinosit-abhängige Kinase
ren IRS1 und IRS2. Sie werden von der Insulinrezeptor-Tyrosin- (PDK), welche durch die PIP3-Bindung aktiviert wird und die
kinase an zahlreichen Tyrosinresten phosphoryliert (Transphos- ebenfalls zur Plasmamembran translozierte und an PIP3 gebunde-
phorylierung). Diese Phosphotyrosinreste bilden wiederum ne Proteinkinase B (PKB) durch Transphosphorylierung aktiviert.
Bindungsstellen für weitere Proteine, v. a. die Phosphatidylinosi- In Muskel und Fettgewebe sind die PI3K-abhängige Aktivie-
tol-3-Kinase (PI3K) und das Protein GRB2. Auch auf Ebene der rung der PKB und die darauf folgende Aktivierung des Rab-
IRS-Proteine kann das Insulinsignal abgeschaltet werden. Durch GTPase-aktivierenden Proteins AS160 notwendige Vorausset-
Phosphorylierung bestimmter Serin- und Threoninreste wird das zungen für die insulinstimulierte Translokation von GLUT4 in
IRS-Molekül in eine Konformation überführt, welche die Insulin- die Plasmamembran. Außerdem ist für den Insulineffekt auf die
rezeptor-Tyrosinkinase inhibiert. Derartige hemmende Phospho- GLUT4-Translokation eine PDK-abhängige Aktivierung der
rylierungen können von einer Reihe von Kinasen, darunter IκB- PKC-Isoform λ (PKCλ) essentiell. Neben der Rolle der PKB für die
Kinase, cJun-N-terminal kinase und bestimmte PKC-Isoformen, Aktivierung des Glucosetransportsystems wurde inzwischen
katalysiert werden, welche beispielsweise durch Tumornekrose- auch gezeigt, dass PKB ein zentrales Signalelement für die insu-
faktor-α (TNF-α) oder – im Sinne einer negativen Rückkoppe- linstimulierte Glycogensynthese darstellt. Sie phosphoryliert
lung – von Insulin selbst aktiviert werden. und inaktiviert die Glycogensynthasekinase 3 (GSK3), wodurch
die Glycogensynthase in der aktiven, dephosphorylierten Form
Für die Vermittlung der metabolischen Insulin- bleibt. In Leber und Fettgewebe aktiviert Insulin über PI3K und
effekte sind Phosphatidylinositol-3-Kinase und PKB außerdem die Phosphodiesterase 3B (PDE3B), welche
Proteinkinase B von zentraler Bedeutung cAMP zu 5’-AMP hydrolysiert und so die intrazellulären cAMP-
Die PI3K bindet mit ihrer regulatorischen Untereinheit p85 an Spiegel sinken lässt. Dies hat unweigerlich eine Hemmung der
IRS, wodurch die katalytische Untereinheit des Enzyms (p110) Glycogenolyse, der Gluconeogenese und der Lipolyse und eine
aktiviert wird (. Abb. 36.7). Hierdurch wird Phosphatidylinosi- Zunahme der Glycolyserate zur Folge. PI3K und PKB werden
tol-4,5-Bisphosphat (PIP2) zu Phosphatidylinositol-3,4,5-Tris- zudem für die insulinvermittelte Hemmung der hepatischen
phosphat (PIP3) phosphoryliert. An das so modifizierte Memb- Gluconeogenese benötigt. Hierbei wird der Transkriptionsfaktor
ranphospholipid binden mittels sog. Pleckstrin-Homologie (PH)- FoxO1, welcher nach Transport in den Zellkern ein zentraler
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
451 36
Aktivator der Expression von Gluconeogenesegenen ist, durch gelöste Krankheitsbild wird als Typ-1-Diabetes bezeichnet. Ein
PKB phosphoryliert und dadurch vom Zellkern ausgeschlossen. relativer Insulinmangel liegt dann vor, wenn trotz normaler
Über PKCλ aktiviert Insulin den Transkriptionsfaktor SREBP1c. oder sogar leicht erhöhter Insulinkonzentrationen im Blut die
Dieser ist an der Induktion der Glucokinase, der Acetyl-CoA- metabolische Antwort des Organismus auf Insulin nicht aus-
Carboxylase und der Fettsäuresynthase beteiligt (7 Kap. 21.3.2). reicht (sog. Insulinresistenz). Dies kann u. a. die Folge eines
Auf der Ebene der IRS-Proteine führt eine weitere, PI3K- und Rezeptordefektes sein, wird jedoch in den meisten Fällen durch
PKB-unabhängige Reaktionsfolge zu nicht-metabolischen Zell- eine Störung auf Postrezeptorebene verursacht. Hierdurch aus-
antworten, wie Zelldifferenzierung und Proliferation. Dabei wird gelöste Diabetesformen werden als Typ-2-Diabetes bezeichnet.
das Signal, wie in . Abb. 36.7 dargestellt, über die Proteine GRB2,
SOS und Ras hin zur mitogenaktivierten Proteinkinase
(MAPK)-Kaskade (7 Kap. 35.4.2) geleitet. 36.7.1 Insulinmangel (Typ-1-Diabetes mellitus)

Das durch absoluten Insulinmangel ausgelöste


Zusammenfassung Krankheitsbild wird als Typ-1-Diabetes bezeichnet
Insulin wird in den β-Zellen der Langerhans-Inseln des Pan- Das klassische Krankheitsbild des Diabetes mellitus findet sich
kreas gebildet. Es besteht aus zwei kovalent miteinander beim meist im juvenilen Alter auftretenden insulinabhängigen
verknüpften Peptidketten, der A- und der B-Kette, die durch Typ-1-Diabetes. Eine durch Autoimmunreaktionen ausgelöste
proteolytische Spaltung aus dem einkettigen Vorläufer Pro- Zerstörung der β-Zellen führt häufig sehr rasch zu einem akuten
insulin hervorgehen. Den wichtigsten Reiz für die Insulinse- Insulinmangel. Die Auslösung dieser autoimmunen Destruktion
kretion stellen erhöhte Blutglucosespiegel dar. Die Insulin- der β-Zellen beim Typ-1-Diabetes ist noch nicht vollkommen
sekretion wird durch einen Anstieg der intrazellulären ATP- verstanden. Es werden jedoch genetische und ernährungsabhän-
Konzentration infolge des Glucosemetabolismus in der gige Faktoren sowie Stress und Virusinfekte diskutiert. Ein Gen-
β-Zelle ausgelöst. Im Plasma ist Insulin sehr kurzlebig und locus, welcher mit der β-zellzerstörenden Autoimmunreaktion
wird rasch in Leber und Niere enzymatisch abgebaut. Insulin beim Typ-1-Diabetes assoziiert ist, codiert für das humane Leu-
ist das wichtigste anabole Hormon des Organismus. Es hat kocytenantigen (HLA oder MHC), das eine wichtige Rolle bei der
folgende Wirkungen: Antigenpräsentation spielt. So hat man die HLA-Haplotypen DR3
4 Insulin stimuliert den Glucosetransport in Fettgewebe und DR4 als sog. Suszeptibilitätsgene für die Entstehung des Typ-
und Muskulatur. 1-Diabetes identifiziert. In der Zwischenzeit sind weitere Genorte
4 Insulin beeinflusst den Glucosemetabolismus: In Muskel auf verschiedenen Chromosomen identifiziert worden, die an den
und Leber erhöht Insulin die Glycogensynthese, in der Autoimmunreaktionen, die zum Typ-1-Diabetes führen, offen-
Leber wird gleichzeitig die Glycogenolyse gehemmt. In- sichtlich auch mitbeteiligt sind. Durch eine cytotoxische T-Zell-
sulin erhöht die Glycolyserate in Leber und Fettgewebe, reaktion wird eine entzündliche Reaktion der β-Zellen ausgelöst.
außerdem inhibiert es die hepatische Gluconeogenese. Diese Insulinitis führt im Folgenden zur Zerstörung der Inselzel-
4 In Fettgewebe und Leber stimuliert Insulin die Lipoge- len. Häufig sind hierbei auch Antikörper gegen Insulin und Be-
nese, in der Fettzelle hemmt es gleichzeitig die Lipolyse. standteile der Inselzelle nachweisbar. Die Messung dieser Anti-
4 Darüber hinaus hat Insulin v. a. in der Muskulatur einen körpertiter nutzt man heute auch zur diagnostischen Einordnung
stimulierenden Einfluss auf Aminosäuretransport und des Diabetes mellitus und zur Einschätzung des Diabetesrisikos
Proteinbiosynthese. bei Kindern von Eltern mit Typ-1-Diabetes.
Für den Stoffwechsel des Organismus hat der absolute Insu-
Alle Wirkungen des Insulins beruhen auf seiner Bindung an linmangel eine Reihe von Konsequenzen (. Abb. 36.8):
einen membranständigen Insulinrezeptor, der zur Familie
der Rezeptor-Tyrosinkinasen gehört. Die Insulinbindung an Fettgewebe Es kommt es zu einer Verminderung der Glucose-
den Rezeptor löst eine Rekrutierung von Insulinrezeptorsub- aufnahme und -oxidation und zu einer Hemmung von Fettsäure-
strat an den Rezeptor aus, von dem aus die verschiedenen und Triacylglycerinbiosynthese. Durch das Überwiegen insulin-
Insulineffekte ihren molekularen Ursprung nehmen. antagonistischer Hormone wird eine gesteigerte Lipolyse mit
Freisetzung von Glycerin und nicht-veresterten Fettsäuren in die
Blutbahn ausgelöst. Das Überangebot an freien Fettsäuren führt
zu gesteigerter β-Oxidation in der Leber. Der daraus resultieren-
36.7 Pathobiochemie: Diabetes mellitus de Anstieg des NADH/NAD+-Quotienten und der Abfluss von
Oxalacetat in die Gluconeogenese bewirken im Hepatocyten eine
Diabetes mellitus ist eine Stoffwechselerkrankung, welche auf Hemmung des Acetyl-CoA-Durchsatzes durch den Citratzyklus.
einem relativen oder absoluten Insulinmangel beruht. Können Das Ergebnis ist eine überschießende Produktion von Ketonkör-
infolge einer pathologischen Veränderung der β-Zellen der Lan- pern, die sich in Ketonämie und Ketonurie äußert.
gerhans-Inseln oder sehr viel seltener durch Bildung eines mu-
tierten Insulins mit fehlerhafter Aminosäuresequenz physiologi- Muskulatur Die Glucoseaufnahme und die Glucoseoxidation
sche Insulinkonzentrationen nicht aufrecht erhalten werden, sind verlangsamt. Die Glycogenbiosynthese ist vermindert, die
spricht man von absolutem Insulinmangel. Das durch ihn aus- Proteolyse gesteigert.
452 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

. Abb. 36.8 Brennstoffmobilisierung und -verwertung beim schweren Diabetes mellitus. Die angegebenen Mengen sind auf einen Energieumsatz von
36 10.080 kJ (2.400 kcal) pro 24 h bezogen. (Adaptiert nach Cahill 1970). (Einzelheiten s. Text)

Leber Trotz Hyperglykämie ist die Gluconeogenese gesteigert. Insulinmangel vermehrt Kalium in den Extrazellulärraum verlie-
Glucose wird dabei aus Glycerin synthetisiert, das aus der ver- ren. Anhaltende Hyperglykämie und zunehmender Flüssigkeits-
mehrten Lipolyse im Fettgewebe stammt, und aus den Amino- verlust setzen die Osmolalität des Blutes weiter hinauf. Das zir-
säuren, die v. a. durch extrahepatische Proteolyse anfallen. Letz- kulierende Blutvolumen nimmt ab, es kommt zur Kollapsnei-
tere verursachen eine gesteigerte Harnstoffbiosynthese in der gung mit cerebraler und renaler Minderdurchblutung und ent-
Leber. Vermehrte Proteolyse und Harnstoffbiosynthese sind die sprechenden erheblichen Funktionsstörungen. Die Anhäufung
Ursache der negativen Stickstoffbilanz. von Ketonkörpern im Blut führt zur Acidose (diabetische Keto-
acidose). Für die Hirnfunktionsstörungen im diabetischen
Elektrolytstoffwechsel Gestörte Glucoseaufnahme in den extra- Koma sind im Wesentlichen die Elektrolytverschiebungen, intra-
hepatischen Geweben und erhöhte Gluconeogenese in der Leber zelluläre Dehydratation und ein Sauerstoffmangel durch Min-
führen zu Hyperglykämie und Glucosurie. Mit dem Anstieg der derdurchblutung verantwortlich zu machen. Für die Behandlung
Glucose im Extrazellulärraum wird Wasser aus dem Intrazellu- des Coma diabeticum ist neben der Insulinsubstitution v. a. eine
lärraum abgezogen, um die Osmolalität aufrecht zu erhalten. ausreichende Flüssigkeitszufuhr und die Korrektur der Elektro-
Es kommt zur intrazellulären Dehydratation. Infolge der Glu- lytstörungen erforderlich.
cosurie und Ketonurie stellt sich, bedingt durch osmotische
Diurese mit verminderter Wasserreabsorption im proximalen
Tubulus, eine Zwangspolyurie ein. Die gesteigerte Ausscheidung 36.7.2 Insulinresistenz (Typ-2-Diabetes mellitus)
der Ketonkörper Acetacetat und β-Hydroxybutyrat bringt die
gleichzeitige Ausscheidung von Kationen mit sich. Der Typ-2-Diabetes beruht auf einer Insulinresistenz
verschiedener Gewebe und einer Verzögerung
Coma diabeticum der Insulinsekretion der β-Zelle
Unter akutem Insulinmangel erreichen die beschriebenen Fehl- Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes findet beim Typ-2-Diabetes
regulationen in kürzester Zeit ein bedrohliches Ausmaß. Es kein durch eine Autoimmunreaktion bedingter Untergang von
kommt zum Coma diabeticum. Im schweren diabetischen Koma β-Zellen statt. Die Erstmanifestation der Krankheit trat in den
können täglich 4–8 l Flüssigkeit, etwa 400 mmol Natrium- und vergangenen Jahrzehnten beim Typ-2-Diabetes typischerweise
300–400 mmol Kaliumionen durch Diurese verloren gehen. im höheren Lebensalter (über dem 40. Lebensjahr) auf. In neue-
Trotz des ausgeprägten Kaliumverlustes kann im Blutplasma ein rer Zeit erkranken allerdings auch zunehmend junge Menschen.
normaler Kaliumspiegel gefunden werden, da die Gewebe bei Die epidemieartige Ausbreitung dieser Erkrankung weltweit
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
453 36
stellt somit ein gesundheitspolitisches Problem ersten Ranges A
dar. Der klinische Verlauf ist nicht abrupt wie beim Typ-1-Dia-
betes sondern eher schleichend. Die Hyperglykämie kann an-
fangs nur milde ausgeprägt sein bei gleichzeitig erhöhten Insu-
linspiegeln. Ungeachtet der hohen Insulinspiegel kommt es zur
Hyperglykämie, da eine Insulinresistenz in den Zielgeweben
Skelettmuskel, Fettgewebe, Leber und auch Gehirn besteht, de-
ren Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind. Es hat sich je-
doch gezeigt, dass in fast allen Fällen kein defektes Insulin- oder
Insulinrezeptormolekül vorliegt und dass die Störung v. a. auf
Postrezeptorebene liegt. Für die Entstehung der gestörten Insu-
linsekretion und der Insulinresistenz sind sowohl eine geneti-
sche Prädisposition als auch Umweltfaktoren wie Überernäh-
rung und Bewegungsmangel, die zu Übergewicht führen, verant-
wortlich. Ca. 70 % der Typ-2-Diabetiker sind zumindest in der
B
Anfangsphase der Erkrankung übergewichtig. Daneben weist
eine ebenso hohe Zahl auch eine Dyslipidämie und arterielle Hy-
pertonie auf. Diese Kombination wird als Metabolisches Syn-
drom bezeichnet und bessert sich meist nach Gewichtsreduk-
tion. Der Adipositas und der abnormen Fettverteilung kommt
eine Schlüsselrolle bei der Entstehung der Insulinresistenz und
des Typ-2-Diabetes zu.

Erhöhte Plasmakonzentrationen nicht-veresterter


Fettsäuren tragen zur Insulinresistenz bei
Vor allem die Zunahme viszeraler Fettdepots löst Insulinresis-
tenz aus. Viszerale Adipocyten sind aufgrund ihres hohen Ge-
halts an β2- und ihres niedrigen Gehalts an α2-adrenergen Rezep-
toren besonders empfindlich für die lipolytisch wirksamen Kate-
. Abb. 36.9 Rolle des Fettgewebes in der Pathogenese des Typ-2-Diabe-
cholamine (7 Kap. 37.2.4), weswegen bei viszeraler Adipositas die
tes. A Rolle des Fettgewebes bei der Glucosehomöostase des Normalge-
Plasmakonzentration nicht-veresterter Fettsäuren erhöht ist. wichtigen. Adiponectin hat in Leber und Muskel insulinsensitivierende Ei-
Diese vermindern die Glucoseaufnahme in die Skelettmuskula- genschaften. B Adipositas-induzierte Störungen der Glucosehomöostase.
tur, erhöhen die hepatische Glucosefreisetzung und führen da- Die Produktion von Adiponectin ist vermindert und die von freien Fettsäu-
neben auch zu einer gestörten Insulinsekretion der β-Zelle ren erhöht. Diese vermindern die Insulinsekretion und die Glucoseverwer-
tung im Muskel und erhöhen die Glucoseproduktion in der Leber
(. Abb. 36.9).

Adipokine spielen eine wichtige Rolle bei sensitivierende Eigenschaften im Muskel und in der Leber
der Entstehung der Insulinresistenz (. Abb. 36.9A). Seine Wirkung beruht auf einer Aktivierung
Seitdem die Rolle des Fettgewebes als endokrines Organ und die der AMP-aktivierten Proteinkinase (AMPK), die den oxida-
Produktion sog. Adipokine entdeckt wurde, hat man Proteine tiven Abbau von Glucose und Fettsäuren stimuliert. Auf
identifiziert, die sowohl Insulinresistenz (z. B. IL-6, TNF-α Re- den ersten Blick scheint es paradox, dass die Adiponectin-
tinolbindeprotein 4) als auch Insulinempfindlichkeit (Adiponec- spiegel mit steigender Fettgewebsmasse im Blut abfallen. Es
tin) vermitteln: wird allerdings vermutet, dass seine direkten Antagonisten
4 TNF-α. Dieses Cytokin hemmt die Weiterleitung des Insu- TNF-α und Interleukin-6 (IL-6), deren Produktion mit zu-
linsignals auf Ebene der IRS-Proteine (7 Kap. 36.6). Sein nehmender Fettgewebsmasse ansteigt, hierfür verantwort-
Hauptproduktionsort ist neben dem Fettgewebe auch das lich sind (. Abb. 36.9B).
Immunsystem. Aktivierte Makrophagen, welche v. a. in das
viszerale Fettgewebe einwandern, produzieren sogar den Die Speicherung von Fett im Skelettmuskel und in
größten Anteil des im Gewebe und im Blut vorkommenden der Leber induziert Insulinresistenz
TNF-α Obwohl bei zunehmender Fettgewebsmasse die zir- Eine besondere Bedeutung für die Entstehung der Insulinresis-
kulierenden Spiegel von TNF-α im Blut nur wenig erhöht tenz hat die Speicherung von Fett außerhalb von Adipocyten
sind, findet man eine deutliche Erhöhung von TNF-α im (ektope Fettspeicherung) im Skelettmuskel und in der Leber.
Fettgewebe. Vor allem die Fettmenge in der Leber hat dabei wahrscheinlich
4 Adiponectin. Einer der wichtigsten TNF-α-Antagonisten eine wichtigere Bedeutung als die Gesamkörper- und viszerale
ist das Hormon Adiponectin. Es gehört zu den im mensch- Fettmasse. Obwohl die genauen Mechanismen (u. a. Anhäufung
lichen Blut höchst konzentrierten Hormonen und wird fast von langkettigen Fettsäuren, Diacylglycerin, Ceramide) der
ausschließlich im Fettgewebe produziert. Es hat insulin- durch ektopes Fett vermittelten Insulinresistenz nicht vollständig
454 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

geklärt sind, haben die vermehrt anfallenden Fettsäuren in die-


sen Organen toxische Effekte auf die metabolisch aktiven Myo- Übrigens
und Hepatocyten (sog. Lipotoxizität). Typ-2-Diabetes (Fallvorstellung)
Nach diesen neuesten Erkenntnissen hat sich folgende Hypo- Am 4.6.2001
these für die adipositasinduzierte Insulinresistenz und Insulin- wurde ein Patient im Coma diabeticum mit einem Blutzu-
sekretionsstörung entwickelt (. Abb. 36.9A und B): Mit der Zu- cker von 1.405 mg/dl (78,7 mmol/l) und einem HbA1C-Wert
nahme der Fettgewebsmasse kommt es zu einem Anstieg der von 17,1 % vom Notarzt in die Klinik gebracht. Es handelte
Freisetzung nicht-veresterter Fettsäuren und der Expression und sich um einen 68-jährigen ehemaligen Busfahrer, bei dem
Sekretion von Adipokinen wie TNF-α und IL-6. Gleichzeitig ver- seit Jahrzehnten Übergewicht (110 kg bei einer Körpergröße
mindert sich die Expression und Sekretion von Adiponectin. von 176 cm) vorlag und der ansonsten bis dato weitgehend
Dies hat zur Folge, dass die insulininduzierte Glucoseverwertung gesund war. Seine Mutter fiel im Alter von 70 Jahren eben-
im Muskel und die insulininduzierte Hemmung der hepatischen falls ins Coma diabeticum und musste anschließend mit In-
Glucoseproduktion abnehmen (. Abb. 36.9B). Folglich kommt sulin behandelt werden. Bei dem Patienten wurde ein Dia-
es zu einem Anstieg der Blutglucose. Die im Frühstadium der betes mellitus Typ 2 diagnostiziert. Unter Insulintherapie
Insulinresistenz bestehende Hyperinsulinämie mit ihren anabo- besserte sich der Allgemeinzustand des Patienten rasch wie-
len Effekten und eine vermehrte Nahrungsaufnahme führen zu- der.
nächst zu einer weiteren Zunahme des Fettgewebes, was diesen Am 15.6.2001
Prozess noch verstärkt. Im weiteren Verlauf kommt es durch erhielt der Patient, der inzwischen erlernt hatte, sich selbst
glucoseinduzierten metabolischen Stress (sog. Glucotoxizität) Insulin zu spritzen, eine Ernährungsberatung. In den folgen-
und Lipotoxizität zu einem Abfall der Insulinsekretion. Durch den 7 Wochen konnte er durch die Umsetzung der Ernäh-
diesen relativen Insulinmangel fällt der hemmende Effekt von rungsempfehlungen Gewicht abnehmen. Die Insulindosis
Insulin auf die Glucoseproduktion der Leber weg und es tritt ein konnte durch Verbesserung der Blutzuckerwerte schrittwei-
Ungleichgewicht zwischen Insulin- und Glucagonproduktion se reduziert werden.
auf (. Abb. 36.9B). Bestehen gleichzeitig endogene Defekte in der Am 6.8.2001
Insulinsignalkaskade im Muskel und/oder in der Leber, wird die- wurde eine Gewichtsabnahme von 7 kg (auf 103 kg) festge-
ser Prozess weiter forciert. stellt. Der Patient hatte jetzt ohne exogenes Insulin bereits
wieder normale Blutzuckerwerte.
36 Typ-2-Diabetes ist eine polygenetisch Dieses Beispiel zeigt eindrücklich die starke Abhängigkeit
determinierte Krankheit des Glucosestoffwechsels vom Körpergewicht bei einem
Zwillingsstudien und Untersuchungen an Populationen mit be- neu manifestierten Typ-2-Diabetiker. Bereits eine Abnahme
sonders niedriger ethnischer Durchmischung haben deutliche von 7 kg hat hier wieder zu einer Stoffwechselnormalisie-
Hinweise dafür erbracht, dass bei der Entstehung des Typ-2-Di- rung geführt. Somit sind Gewichtsabnahme und vermehrte
abetes eine genetische Komponente eine große Rolle spielt. Da körperliche Bewegung ein primäres therapeutisches Ziel zur
der Erbgang des Typ-2-Diabetes nicht streng den Mendel-Regeln Verbesserung der Insulinsensitivität beim übergewichtigen
folgt, wird Typ-2-Diabetes als eine polygenetisch determinierte Typ-2-Diabetiker.
Krankheit angesehen. Durch die Kombination großer Fall-Kon-
troll-Kohorten und neuer, hoch effizienter genetischer Metho-
den konnten kürzlich mehr als 40 polymorphe Genvarianten
identifiziert werden, die in ihrer Summe das Typ-2-Diabetesrisi- 36.7.3 Folgen chronischer Hyperglykämie
ko deutlich erhöhen. Es bleibt jedoch anzumerken, dass die An-
wesenheit solcher Genvarianten nicht zwangsläufig zu Typ-2- Als Spätkomplikationen chronischer Hyperglykämie
Diabetes führt, sondern lediglich die Suszeptibilität für die un- treten Retino-, Nephro- und Neuropathien auf
günstigen Umwelteinflüsse erhöht, welche Überernährung und Obgleich die akute diabetische Stoffwechselentgleisung heute in
Bewegungsmangel zur Folge haben. Dies bedeutet, dass für die der Regel gut zu beherrschen ist, hängt das Schicksal diabetischer
Entstehung von Typ-2-Diabetes wahrscheinlich Gen-Umwelt- Patienten zu einem beträchtlichen Ausmaß von Spätkomplika-
Interaktionen ausschlaggebend sind. tionen an:
4 Augen (Katarakt, Retinopathie)
4 Nieren (Nephropathie)
4 Nerven (Neuropathie) und
4 dem Gefäßsystem (Angiopathie) ab.

Durch groß angelegte Studien konnte inzwischen belegt werden,


dass eine normoglykämische Einstellung von Diabetikern und
eine Korrektur der Hyperlipidämie und der arteriellen Hyperto-
nie zu einer fast vollständigen Unterdrückung der diabetesspezi-
fischen Folgeerkrankungen wie auch der kardiovaskulären Er-
krankungen führt. Die meisten der diabetischen Spätkomplika-
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
455 36
tionen sind auf Schäden im Bereich der kleinen Gefäße (Mikro- Störgröße darstellt. Folgende vier Mechanismen spielen dabei
angiopathie) zurückzuführen. eine Rolle:

Retinopathie Bei schlechter diabetischer Stoffwechseleinstel- 1. Gesteigerter Polyolstoffwechsel Die Grundlage dieses Mecha-
lung kann es zu einer diabetischen Retinopathie kommen. Die nismus ist die in manchen Geweben realisierte Möglichkeit,
intrazelluläre Hyperglykämie führt zu einem gestörten Blutfluss durch die Aldosereduktase und Sorbitoldehydrogenase aus Glu-
in den Gefäßen und zu einer vermehrten vaskulären Permeabi- cose Sorbitol und Fructose zu bilden (7 Kap. 14.1.1). Ein hohes
lität. Ursächlich dafür sind eine verminderte Aktivität von Vaso- Glucoseangebot induziert die Genexpression des Enzyms Aldo-
dilatatoren (z. B. NO), eine vermehrte Aktivität von Vasokonst- sereduktase, welches eine hohe KM für Glucose hat und ge-
riktoren (z. B. Angiotensin II und Endothelin 1) und eine ver- schwindigkeitsbestimmend für den Polyolstoffwechsel ist. Die
mehrte Bildung von Faktoren, welche die Permeabilität erhöhen beiden Zucker Sorbitol und Fructose werden nicht weiter ver-
(z. B. vascular endothelial growth factor) (s. u.). Eine quantitative stoffwechselt und diffundieren zudem nicht in den Extrazellulär-
und qualitative Änderung der extrazellulären Matrix führt raum zurück. Eines der betroffenen Organe ist die Augenlinse,
schließlich zu einer irreversiblen Veränderung der Gefäßperme- in deren Epithelzellen die Akkumulation der osmotisch aktiven
abilität. Zusammen mit einer durch die Hyperglykämie verur- Fructose und Sorbitol den Nachstrom von Wasser und damit
sachten verminderten Produktion von trophischen Faktoren, eine Zellschwellung bewirkt. Mit dem Wasser dringt Natrium in
welche für das Überleben von Endothel- und Nervenzellen be- die Epithelzelle, was von einem gleichzeitigen Efflux von Kalium
deutsam sind, kommt es schließlich zu Veränderungen der zur Erhaltung der Elektroneutralität begleitet ist. Diese Elektro-
Netzhautgefäße mit Neovaskularisation, Aneurysmabildung lytverschiebung stört die Membranfunktionen, sodass das Zell-
und Retinablutungen. Unbehandelt würde dies in vielen Fällen innere an Aminosäuren und Proteinen, an Glutathion und ATP
zur Erblindung führen. verarmt. Die Konsequenz dieser pathobiochemischen Verände-
rung ist der Zusammenbruch der Osmoregulation der Zelle, der
Nephropathie Eine weitere häufig auftretende Komplikation sich klinisch als Trübung und Quellung der Linsenfasern, also als
stellt die diabetische Nephropathie dar. Sie ist ebenfalls mit einer Katarakt, äußert. Die Verteilung des Polyolstoffwechselwegs im
Mikroangiopathie vergesellschaftet. Weiterhin ist sie durch Ver- Nervengewebe zeigt interessante Aspekte für die Entwicklung
änderungen der glomerulären Basalmembran mit ihrem speziel- der diabetischen Neuropathie. Die Aldosereduktase ist vorwie-
len Typ-IV-Kollagen gekennzeichnet. Basalmembranen von gend in den Schwann-Zellen lokalisiert, in denen auch die ersten
Diabetikern weisen einen höheren Gehalt an Hydroxylysin und diabetischen Schäden auftreten. Auch an der Pathogenese der
an Hydroxylysin gebundenen Disacchariden auf. Durch Vermin- Angiopathie und Retinopathie soll eine Fehlregulation des
derung der Heparansulfatproteoglycane im Bereich der Basal- Polyolstoffwechsels beteiligt sein.
membran des Glomerulus kommt es zu einer Reduktion der
negativen Ladung, die wahrscheinlich zusammen mit Hyper- 2. Vermehrte Bildung von advanced glycation end products
filtration, Kollagenveränderungen und anderen Faktoren zu ei- (AGEs) In den letzten Jahren sind viele Hinweise dafür gefunden
nem veränderten Aufbau der Basalmembran und der glomeru- worden, dass eine Reihe von Proteinen nichtenzymatisch gly-
lären Porengröße führt. Weiterhin führt eine vermehrte Entzün- kiert wird (7 Kap. 17.1.2). Als Konsequenz ergeben sich sehr
dungsreaktion zu einer Glomerulosklerose. Durch diese und komplexe chemische Umlagerungsreaktionen der im Zug der
tubuläre Veränderungen kommt es zu einem anfangs selektiv auf Glykierung angehängten Gruppen, die den aus der Lebensmit-
Albumin begrenzten Proteinverlust der Niere. Die Albuminurie, telchemie bekannten Bräunungsreaktionen entsprechen. Die
die im Bereich zwischen 30 und 300 mg/Tag als Mikroalbumin- Produkte dieser Reaktionen, die sog. AGEs, rufen sowohl Struk-
urie definiert wird, benützt man als frühen Marker der Nieren- tur- als auch Funktionsänderungen in Proteinen hervor. Sie tre-
schädigung bei Diabetes mellitus. Dieses Stadium der diabeti- ten beim Diabetiker weitaus häufiger auf als beim Nichtdiabeti-
schen Nephropathie ist vielfach durch eine normoglykämische ker, betreffen u. a. Endothelien und könnten so für das verfrühte
Einstellung und durch eine Blutdrucksenkung in den normoto- Auftreten von Gefäßveränderungen bei Diabetes verantwortlich
nen Bereich reversibel. sein. Pathologische Mechanismen, welche durch Bildung von
AGEs hervorgerufen werden, beinhalten u. a. eine vermehrte
Neuropathie Die Mikroangiopathie spielt außer bei der Retino- Permeabilität der Kapillarwand, Induktion von Entzündungs-
pathie und Nephropathie auch eine Rolle bei der diabetischen prozessen vermittelt durch Makrophagen und Mesangialzellen
Neuropathie, deren Verteilungsmuster typischerweise distal und die Expression von prokoagulatorischen und proinflam-
symmetrisch ist. matorischen Molekülen durch die Endothelzellen. Große Stu-
dien an Patienten mit Typ-1-Diabetes haben gezeigt, dass der
Chronische Hyperglykämie beeinflusst den AGE-Inhibitor Aminoguanidin das Fortschreiten sowohl der
Polyolstoffwechsel, führt zur Bildung von advanced Nephropathie als auch der Retinopathie verlangsamt. Als wich-
glycation end products und aktiviert bestimmte tiger Parameter zur Beurteilung der Stoffwechselqualität eines
PKC-Isoformen Diabetikers hat sich die Bestimmung der Glykohämoglobine
Die derzeitige Auffassung von der Entstehung der Spätkomplika- (z. B. HbA1C) (7 Kap. 17.1.2) erwiesen. Normalerweise machen
tionen ist, dass neben einer genetischen Prädisposition die zeit- diese nur bis zu 6 % des gesamten Erwachsenenhämoglobins aus.
weise erhöhte Glucosekonzentration im Blut die entscheidende Dabei korreliert ihr Anteil nicht mit der aktuellen Blutglucose-
456 Kapitel 36 · Insulin – das wichtigste anabole Hormon

36
. Abb. 36.10 Primärstruktur gängiger Insulinanaloga. Die Zick-Zack-Linie am C-terminalen Lysin der B-Kette von Insulin Detemir stellt Myristinsäure dar

konzentration, sondern – was entscheidend für die Frage ist, ob cosamin (UDP-GlcNAc). Dieses ist das obligatorische Substrat
ein Diabetiker nicht nur zum Zeitpunkt der Untersuchung son- der O-GlcNAc-Transferase, welche eine reversible, posttransla-
dern langfristig gut eingestellt ist – mit der über einen längeren tionale Proteinmodifikation (Übertragung von O-GlcNAc auf
Zeitraum erhöhten Blutglucosekonzentration. spezifische Serin/Threoninreste) katalysiert. Über eine O-
GlcNAc-Modifikation des Transkriptionsfaktors Sp1 erfolgt eine
3. PKC-Aktivierung Aktivierung der PKCβ-Isoform durch ver- vermehrte Transkription von TGF-α TGF-β und PAI-1. Das
mehrte glucoseinduzierte Diacylglycerinsynthese aus Fettsäuren resultiert u. a. in einer Hemmung der endothelialen NO-Syntha-
führt zu einer Störung des Blutflusses in der Retina und in der se und in einer Aktivierung verschiedener PKC-Isoformen.
Niere. Dies ist wahrscheinlich durch eine Hemmung der NO-
Produktion und/oder eine Erhöhung der Aktivität der Endothe-
lin-1-Aktivität vermittelt. Weiterhin hat man gefunden, dass die 36.7.4 Insulinpräparate und Insulinanaloga
durch Glucose induzierte erhöhte Permeabilität der Endothelzel- in der Therapie des Diabetes mellitus
len durch Aktivierung der PKCα-Isoform vermittelt wird. Au-
ßerdem führt PKC-Aktivierung über eine Induktion von TGF-β1 Entwicklung kommerzieller Insuline In der Therapie des insulin-
zu einer vermehrten Bildung von mikrovaskulären Matrixpro- pflichtigen Diabetes mellitus (Typ 1 und fortgeschrittener Typ 2)
teinen. Dieser Mechanismus wurde bislang v. a. hinsichtlich der ist die subkutane Injektion von Insulin immer noch obligat. Lan-
Pathogenese der Nephropathie untersucht. Im Tierversuch hat ge Zeit wurden Insulinpräparationen aus Rinder- und Schweine-
man durch spezifische Hemmung der PKCβ-Isoform eine Nor- pankreas eingesetzt, bis in den 1980er Jahren moderne gentech-
malisierung der durch den Diabetes induzierten erhöhten glo- nische Methoden es ermöglichten, hochreines rekombinantes
merulären Filtrationsrate und einen Rückgang der Urinalbumin- Humaninsulin herzustellen, welches deutlich weniger immuno-
ausscheidung erreicht. Weiterhin wurde die glomeruläre mesan- gen und allergen war. Dennoch bilden etwa 40 % der Patienten
giale Proliferation verhindert. nach Injektion Antikörper gegen rekombinantes Humaninsulin.
Diese sind jedoch klinisch weitgehend bedeutungslos. Nur in
4. Vermehrter Glucosedurchsatz durch den Hexosaminweg Ein sehr seltenen Fällen werden neutralisierende Antikörper gebil-
vermehrter Durchsatz der Glucose durch diesen Stoffwechsel- det, die eine Dosiserhöhung erforderlich machen. Gentechnische
weg führt zu einer vermehrten Bildung von UDP-N-Acetylglu- und chemische Methoden erlaubten es schließlich, Insulinmole-

Humaninsulin Insulin Lispro Insulin Aspart Insulin Glulisin Insulin Glargin Insulin Detemir
36.7 · Pathobiochemie: Diabetes mellitus
457 36
küle zu erzeugen, die sich in ihrer Primärstruktur geringfügig
vom normalen Humaninsulin unterscheiden, aber verbesserte Zusammenfassung
pharmakokinetische Eigenschaften aufweisen. Diese Insulin- Der Diabetes mellitus ist die häufigste Störung im Bereich
varianten, die in jüngerer Zeit vermehrt zum klinischen Einsatz der rasch wirksamen Stoffwechselhormone.
kommen, werden als Insulinanaloga (oder Analoginsuline) be- Als Typ-1-Diabetes beruht er auf einem absoluten Insulin-
zeichnet (. Abb. 36.10). Die Immunogenität der Insulinanaloga, mangel durch weitgehende Zerstörung der insulinproduzie-
gemessen an der Antikörperbildung, entspricht der des Human- renden β-Zellen.
insulins, ist aber im Vergleich zu den tierischen Insulinen ver- Als Typ-2-Diabetes spiegelt er eher eine gestörte Regulati-
nachlässigbar. onskette wider, die durch eine Insulinresistenz v. a. der Leber
und der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist und häufig
Subkutan injizierte Insuline treten nur in Form mit Übergewicht, Hypertonie und Hyperlipidämie einher-
von Dimeren und Monomeren in die Zirkulation ein geht. Sie wird dann als Metabolisches Syndrom bezeichnet.
In den konzentrierten Injektionslösungen des Humaninsulins Neben Insulinpräparaten stehen für die Therapie des Insu-
liegen die Insulinmoleküle als Hexamere vor, welche im subku- linmangels auch Insulinanaloga zur Verfügung. Schon ge-
tanen Gewebe relativ langsam in Dimere und Monomere zerfal- ringfügige Änderungen an der Primärstruktur des Insulins
len und ins Blut übertreten. können sehr vorteilhafte pharmakokinetische Eigenschaften
zur Folge haben.
Schnell wirkende Insuline Durch einzelne Aminosäureaustau-
sche in der B-Kette des Humaninsulins wurden die schnell wir-
kenden Insuline Lispro, Aspart und Glulisin (. Abb. 36.10) ent- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
wickelt, welche im Vergleich zum Humaninsulin doppelt so
schnell in die Zirkulation eintreten, einen doppelt so hohen An-
stieg der Plasmainsulinkonzentration zur Folge haben und damit
die physiologische glucosestimulierte Insulinsekretion besser
imitieren. Der Grund hierfür ist, dass die Aminosäureaustausche
in diesen Insulinanaloga die Stabilität der Hexamere deutlich
herabsetzen. Dementsprechend hält die Wirkung dieser Insulin-
analoga auch nur 2–5 h an (Humaninsulin: 5–8 h).

Lang wirkende Insuline Diabetiker benötigen zur Deckung des


basalen Insulinbedarfs der Gewebe zudem lang wirkende Insu-
line. Hierbei kommt mit Protamin oder Zink versetztes Insulin
(NPH- bzw. Zink-Insulin) zum Einsatz, dessen Hexamere durch
die Zusätze deutlich stabilisiert sind (Wirkungsdauer: 12‒24 h je
nach Präparat). Zunehmend werden aber auch die Insulinanalo-
ga Glargin und Detemir (. Abb. 36.10) appliziert. Insulin Glargin
weist nicht nur eine um zwei Argininreste C-terminal verlänger-
te B-Kette, sondern auch einen Austausch des C-terminalen As-
paragins der A-Kette durch Glycin auf. Diese Modifikationen
bewirken eine Änderung des isoelektrischen Punktes des Mole-
küls und damit die Bildung relativ unlöslicher Präzipitate am
Injektionsort. Von diesem Depot wird Insulin Glargin langsam
aber kontinuierlich über 20–24 h hinweg freigesetzt. Ein anderes
Prinzip zur Verzögerung der Insulinabgabe liegt beim Insulin
Detemir vor. Hier wurde die B-Kette um das C-terminale Threo-
nin verkürzt und an das nun endständige Lysin die Fettsäure
Myristinsäure (7 Tab. 3.8) kondensiert. Über den Myristinsäure-
rest bindet Insulin Detemir reversibel an Serumalbumin. Nur
etwa 1 % dieses Insulinanalogs zirkuliert dann in freier Form
im Blut.
37 Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins
Harald Staiger, Norbert Stefan, Monika Kellerer, Hans-Ulrich Häring

Einleitung N-terminal trägt es eine Signalsequenz, die für die Einschleusung


des entstehenden Peptids in das Lumen des endoplasmatischen
Direkte Gegenspieler von Insulin sind Glucagon und die Katecholamine. Retikulums verantwortlich ist. Nach der Abtrennung der Signal-
Glucagon ist verantwortlich für die Anpassung des Stoffwechsels an feh- sequenz liegt das etwa 12 kDa große Proglucagon (160 Amino-
lende Nahrungszufuhr und wirkt überwiegend auf die Leber, wo es die säuren) vor. . Abb. 37.1 zeigt seinen Aufbau und seine weitere
Bereitstellung von Glucose durch Glycogenabbau und Gluconeogenese proteolytische Prozessierung.
stimuliert. Die Katecholamine sind die wichtigsten Hormone für die Die jeweiligen Peptide sind durch Paare basischer Amino-
rasche Mobilisierung gespeicherter Energiesubstrate. Sie spielen eine säuren voneinander getrennt, welche Spaltstellen für Proprote-
wesentliche Rolle bei der Antwort des Organismus auf Stresssituationen inkonvertasen darstellen. In den α-Zellen der Langerhans-In-
und haben ein außerordentlich breites Wirkungsspektrum, das von der seln entsteht durch Proproteinkonvertase 2 zunächst ein N-ter-
Regulation der Durchblutung verschiedener Gewebe bis zur Steuerung minales, als Glicentin bezeichnetes Protein und ein C-terminales
des Stoffwechsels reicht. Fragment, das major-Proglucagonfragment. Das Letztere wird
jedoch in den -Zellen vollständig abgebaut. Glicentin wird
Schwerpunkte durch Proproteinkonvertase 2 weiter proteolytisch gespalten,
wobei je nach Spaltstelle das 9K-Glucagon oder das Oxyntomo-
4 Struktur, Biosynthese und Sekretion von Glucagon
dulin als Zwischenprodukte entstehen, die jedoch rasch zu ferti-
4 Intra- und extrahepatische Wirkungen von Glucagon
gem Glucagon prozessiert werden.
4 Weiterleitung des Glucagonsignals über G-Protein-gekop-
pelte heptahelicale Rezeptoren
GLPs In der intestinalen Mukosa und im Gehirn wird Proglu-
4 Struktur, Biosynthese, Sekretion und Abbau von Katechola-
cagon durch ein Zusammenspiel der Proproteinkonvertasen 1
minen
37 4 Biologische Wirkungen von Katecholaminen
und 2 prozessiert. Hier sind die wichtigsten aus der proteolyti-
schen Spaltung hervorgehenden Produkte GLP-1 (37 Aminosäu-
4 Adrenerge Rezeptoren
ren) und GLP-2 (33 Aminosäuren). Von beiden weiß man, dass
sie nach Nahrungsaufnahme von den L-Zellen des Intestinal-
trakts freigesetzt werden. GLP-1 ist ein Inkretin und stimuliert als
37.1 Glucagon solches die Insulinsekretion der β-Zellen der Langerhans-Inseln
(7 Kap. 36.3). Daneben deuten neuere Daten darauf hin, dass
37.1.1 Aufbau GLP-1 auch auf das hypothalamische Appetitzentrum Einfluss
nehmen und als Sättigungsfaktor wirken kann (7 Kap. 38.3.2).
Glucagon ist ein Peptidhormon aus 29 Aminosäuren mit einer GLP-2 reguliert die Motilität und Nährstoffresorption des Dünn-
Molekülmasse von 3,5 kDa. Es wird in den α-Zellen der Langer- darms und das Wachstum der gastrointestinalen Epithelzellen.
hans-Inseln des Pankreas, also in unmittelbarer Nachbarschaft Die Rezeptoren für GLP-1 und GLP-2 sind eng mit dem Gluca-
zum Produktionsort des Insulins, gebildet. gonrezeptor (7 Kap. 37.1.4) verwandt.

Die Glucagonsekretion wird durch einen Abfall


37.1.2 Synthese in den α-Zellen des Pankreas der Blutglucosekonzentration ausgelöst
und Auslösung der Sekretion Anders als beim Insulin ist ein Abfall der Glucosekonzentration
der auslösende Stimulus für die Glucagonabgabe. So lässt sich
Neben dem Glucagon enthält das Proglucagon- nach mehrstündiger Nahrungskarenz ein Abfall der Insulin- und
molekül die Aminosäuresequenz für zwei weitere, ein Anstieg der Glucagonkonzentration im Blut beobachten, der
dem Glucagon homologe Peptide, Glucagon-like zeitlich genau dem Abfall der Blutglucosekonzentration ent-
peptide-1 (GLP-1) und GLP-2 spricht (. Abb. 37.2). An isolierten Langerhans-Inseln führt je-
Glucagon, dessen Gen auf dem humanen Chromosom 2 zu fin- der Anstieg der Glucosekonzentration im Medium zu einem
den ist, wird wie viele Peptidhormone in Form eines wesentlich Abfall der Glucagonsekretion. Außer durch Glucose kann die
größeren Präkursormoleküls synthetisiert. Es handelt sich um Glucagonsekretion auch durch die Nahrungszusammensetzung
das etwa 18 kDa große Prä-Proglucagon, welches außer in den beeinflusst werden. Während nach einer kohlenhydratreichen
α-Zellen der Langerhans-Inseln auch in der intestinalen Mukosa Mahlzeit die Insulinkonzentration im Blut ansteigt und diejenige
(Enteroglucagon) und im Zentralnervensystem gebildet wird. des Glucagons abfällt, findet sich nach einer proteinreichen

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
37.1 · Glucagon
459 37

. Abb. 37.1 Aufbau und proteolytische Prozessierung des Proglucagons. Proglucagon enthält die Sequenzen von Glucagon, GLP-1 und GLP-2. In den
α-Zellen der Langerhans-Inseln des Pankreas erfolgt eine schrittweise Spaltung dieses Präkursors an basischen Aminosäuren (K und R), sodass als wich-
tigstes Spaltprodukt Glucagon entsteht. Die verschiedenen Zwischenprodukte der Spaltungsreaktion konnten ebenfalls in den α-Zellen nachgewiesen
werden. Oxyntomodulin: 7 Kap. 38.3.2. (Einzelheiten s. Text)

Plasmakonzentration Die Plasmakonzentration des Glucagons


variiert nach 12- bis 16-stündigem Fasten individuell zwischen
25 und 150 pg/ml.

37.1.3 Wirkspektrum

Glucagon ist wesentlich an der Aufrechterhaltung


normaler Blutglucosespiegel und der Korrektur von
Hypoglykämien beteiligt, wozu es auch therapeu-
tisch eingesetzt wird
Der Hauptwirkort des Glucagons ist die Leber, an die das Hor-
mon nach seiner Sekretion zunächst und in höchster Konzentra-
tion gelangt. Am Hepatocyten stimuliert Glucagon die Adenylat-
. Abb. 37.2 Zusammenhang zwischen Blutglucose-, Plasmainsulin- und cyclase, sodass sich seine raschen Effekte auf den Leberstoff-
Plasmaglucagonkonzentrationen. Mittlere Glucagon-, Insulin- und Gluco- wechsel auf die dadurch erhöhten cAMP-Konzentrationen zu-
sekonzentrationen vor und während 3 bis 4-tägigem totalen Fasten. Die Be-
rückführen lassen. So kommt es zu gesteigerter Glycogenolyse
stimmungen wurden jeweils um 9 Uhr morgens durchgeführt
durch Aktivierung der Glycogenphosphorylase bei gleichzeitig
gehemmter Glycogenbiosynthese. Darüber hinaus führt cAMP
Mahlzeit ein Anstieg sowohl der Insulin- als auch der Glucagon- zu einer Hemmung der hepatischen Glycolyse und Stimulierung
konzentration (. Abb. 37.3). Der biologische Sinn dieses Effektes der Gluconeogenese (7 Kap. 15.3). Damit ist Glucagon an der
liegt wohl darin, dass die nach einer proteinreichen Mahlzeit Leber ein insulinantagonistisch wirkendes Hormon, dessen
vermehrt resorbierten Aminosäuren die Insulinsekretion über- Aktivität bei kataboler Stoffwechsellage notwendig ist. Es wird
mäßig stimulieren und dadurch eine Hypoglykämie auslösen bei Substratmangel (Glucosemangel) freigesetzt und stimuliert
könnten. Diese wird durch die gesteigerte Glucagonsekretion die Mobilisierung von Glucosespeichern wie auch die Gluconeo-
verhindert. Verbindungen, die die vermehrte Glucagonsekretion genese. Unterstützt wird die rasche Glucagonwirkung durch eine
auslösen, sind sowohl die resorbierten Aminosäuren selbst wie langfristige cAMP-Wirkung auf die Genexpression. cAMP dient
auch das bei proteinreichen Mahlzeiten gesteigert produzierte als Repressor von Schlüsselenzymen der Glycolyse und als In-
Cholecystokinin-Pankreozymin. duktor von solchen der Gluconeogenese.

Modulation der Glucagonsekretion β-adrenerge Stimulation Extrahepatische Wirkungen Inzwischen ist klar, dass Glucagon-
führt zur Glucagonfreisetzung. Erhöhte Spiegel von Fettsäuren, rezeptoren auf unterschiedlichen Zellarten vorkommen. So fin-
Insulin, Somatostatin und dem Inkretin GLP-1 hemmen die Glu- den sich Glucagonrezeptoren im Bereich der Nebennierenrin-
cagonfreisetzung. denzellen. Beim Menschen ruft eine kurzzeitige intravenöse
Glucagongabe eine deutliche Zunahme der Blutcortisolspiegel
460 Kapitel 37 · Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins

. Abb. 37.3 Insulin- und Glucagonsekretion nach verschiedenen Mahlzeiten. Links: Nach einer proteinreichen Mahlzeit (Mittelwerte ±-Standardabwei-
chung). Rechts: Nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit (Mittelwerte ±-Standardabweichung)

hervor, sodass man eine stimulatorische Wirkung von Glucagon Rezeptorprotein, welche nun die intrazelluläre Bindung und Ak-
auf die Glucocorticoidsynthese der Nebennierenrinde anneh- tivierung des heterotrimeren stimulatorischen G-Proteins (Gs)
men kann. Die physiologische Bedeutung dieser nicht-klassi- verursacht. Die Aktivierung des Gs-Proteins beruht auf einem
37 schen Wirkung von Glucagon könnte in der Stressantwort bei Austausch von GDP gegen GTP. Schließlich dissoziiert die
Hypoglykämie liegen. So könnte die vermehrte Glucagonfreiset- α-Untereinheit des aktiven Gs-Proteins ab und stimuliert die
zung im Rahmen einer akuten Hypoglykämie auch die Freiset- Adenylatcyclase, welche eine Erhöhung der intrazellulären
zung des Stresshormons Cortisol direkt beeinflussen. Da beide cAMP-Spiegel hervorruft. Hierdurch wird die PKA aktiviert
Hormone synergistisch die hepatische Glucosefreisetzung sti- (. Abb. 37.4). Außerdem initiiert der aktivierte Rezeptor einen
mulieren, wäre auf diese Weise eine adäquate kompensatorische GDP-GTP-Austausch im heterotrimeren G-Protein Gq, welches
Reaktion auf die lebensbedrohliche Unterzuckerung gewährleis- die Phospolipase Cβ aktiviert und so die IP3-Kaskade auslöst.
tet. Glucagon ist schließlich imstande, auch im Fettgewebe in Dies wiederum löst die Erhöhung der cytosolischen Ca2+-Kon-
physiologischen Konzentrationen die Adenylatcyclase zu akti- zentration aus. Weitere intrazelluläre Signalschritte bis zur Aus-
vieren. Dadurch wirkt es lipolytisch und insulinantagonistisch. lösung der biologischen Effekte des Glucagons folgen. Diese sind
jedoch noch nicht alle im Detail aufgeklärt.

37.1.4 Signaltransduktion
Zusammenfassung
Der 55 kDa große Glucagonrezeptor ist ein Glucagon wird von den α-Zellen der Langerhans-Inseln des
klassischer Vertreter der heptahelicalen Trans- Pankreas gebildet und sezerniert. Es ist an der Leber ein be-
membranrezeptoren und ist über heterotrimere deutender Insulinantagonist. Es wird beim Absinken der Blut-
stimulatorische G-Proteine an das Adenylat- glucosekonzentration, z. B. bei Nahrungskarenz, freigesetzt
cyclasesystem gekoppelt und dient der Bereitstellung des Brennstoffs Glucose für alle
Dies macht verständlich, warum viele Glucagonwirkungen durch obligat auf Glucose angewiesenen Gewebe. Dies wird durch
cAMP imitiert werden können. Außerdem geht die Rezeptorakti- eine cAMP-vermittelte Stimulation der hepatischen Glycoge-
vierung mit einer Erhöhung der cytosolischen Ca2+-Konzentration nolyse und Gluconeogenese bewerkstelligt. Außer in den
einher. Ob der Ca2+-Anstieg für die metabolischen Effekte von Glu- α-Zellen der Langerhans-Inseln wird der Glucagonpräkursor
cagon essentiell ist, bleibt allerdings noch zu zeigen (. Abb. 37.4). auch im Intestinaltrakt synthetisiert. Hier wird er jedoch prote-
Die extrazelluläre Bindungsstelle von Glucagon wird von der olytisch im Wesentlichen zu GLP-1 und GLP-2 prozessiert. GLP-
N-terminalen Domäne und extrazellulären Schleifen der trans- 1 und GLP-2 werden bei Nahrungszufuhr freigesetzt. GLP-1 ist
membranen Regionen des Rezeptors gebildet. Infolge der Ligan- ein wichtiger Stimulator der Insulinsekretion.
denbindung kommt es zu einer Konformationsänderung im
37.2 · Katecholamine
461 37

. Abb. 37.4 Signalweiterleitung über den Glucagonrezeptor. Nach der Glucagonbindung an den Glucagonrezeptor sind zwei Signalwege für die meta-
bolischen Wirkungen des Glucagons erforderlich: Zum einen löst die Aktivierung eines stimulatorischen G-Proteins (GS) eine Erhöhung der intrazellulären
cAMP-Spiegel aus (rechts), zum anderen bewirkt die Aktivierung des G-Proteins Gq eine Erhöhung der intrazellulären Calciumspiegel (links). AC: Adenylat-
cyclase; IP3: Inositol-(1,4,5)-Trisphosphat; PIP2: Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat. (Einzelheiten s. Text)

37.2 Katecholamine sind in . Abb. 37.5 dargestellt. Bis zum Noradrenalin hin ist der
Syntheseweg im Nebennierenmark und in postganglionären
37.2.1 Aufbau Nervenzellen identisch. Da sich die beteiligten Enzyme in ver-
schiedenen Zellkompartimenten befinden, müssen die Biosyn-
Das Nebennierenmark ist entwicklungsgeschichtlich ein Ab- thesezwischenprodukte zusätzlich Transportschritte durchlau-
kömmling eines sympathischen Ganglions, in welchem die post- fen. Das erste Enzym der Katecholaminbiosynthese ist die Tyro-
ganglionären Zellen ihre Axone verloren haben und die von ih- sinhydroxylase, eine Monooxygenase, die das Coenzym
nen synthetisierten Transmitter als Hormone direkt in die Blut- 5,6,7,8-Tetrahydrobiopterin, zweiwertiges Eisen und molekula-
bahn abgeben. Dementsprechend ist auch bei einigen Species ren Sauerstoff benötigt. Das bei der Reaktion entstehende
Noradrenalin (früher: Norepinephrin) das im Nebennierenmark α-Hydroxybiopterin muss zuerst zu 6,7-Dihydrobiopterin dehy-
synthetisierte Hormon. Bei anderen Arten, z. B. dem Menschen dratisiert und anschließend mit NADPH/H+ oder NADH/H+
oder dem Hund, wird dagegen im Wesentlichen Adrenalin (frü- wieder zu 5,6,7,8-Tetrahydrobiopterin reduziert werden, um ei-
her: Epinephrin) synthetisiert, das durch Methylierung von Nor- nem erneuten Reaktionszyklus zur Verfügung stehen zu können.
adrenalin entsteht (. Abb. 37.5). Adrenalin und Noradrenalin Das aus Tyrosin gebildete Dihydroxyphenylalanin (Dopa) wird
werden auch als Katecholamine bezeichnet, da sie chemisch im nächsten Schritt mit Pyridoxalphosphat zum biogenen Amin
gesehen Derivate des Katechols (1,2-Dihydroxybenzol) sind. Dihydroxyphenylamin (Dopamin) decarboxyliert. Die aromati-
Noradrenalin wird auch in den synaptischen Endigungen der sche L-Aminosäuredecarboxylase zeigt eine breite Spezifität für
adrenergen Neuronen gebildet und gespeichert. Es fungiert hier aromatische L-Aminosäuren und ist auch an der Bildung der
als Neurotransmitter. biogenen Amine Tyramin, Serotonin und Histamin beteiligt.
Diese ersten Reaktionsschritte laufen im Cytosol ab. Durch einen
spezifischen Carrier wird Dopamin in die chromaffinen Granu-
37.2.2 Synthese in sympathischen Nerven- la des Nebennierenmarks bzw. der postganglionären Neuronen
endigungen und Nebennierenmark und aufgenommen. Hier erfolgt als weiterer Schritt die Bildung von
Sekretionsmechanismus Noradrenalin aus Dopamin. Das hierfür benötigte Enzym, die
Dopamin-β-Hydroxylase, ist eine Monooxygenase, welche zwei-
Ausgangspunkt für die Katecholaminbiosynthese wertiges Kupfer und Ascorbinsäure (Vitamin C) als Elektronen-
ist die Aminosäure Tyrosin, welche aus donor benötigt. Die Frage, ob Pyrrolochinolinchinon als weiterer
der Nahrung stammt oder in der Leber aus Cofaktor von der menschlichen Dopamin-β-Hydroxylase be-
Phenylalanin synthetisiert wird nutzt wird, ist nicht geklärt. Mit Hilfe der Phenylethanolamin-
Die Enzyme der Katecholaminbiosynthese finden sich sowohl in N-Methyltransferase erfolgt als letzte Reaktion die N-Methylie-
den adrenergen, postganglionären Nervenendigungen als auch rung von Noradrenalin zu Adrenalin. Die hierfür benötigte
in den Zellen des Nebennierenmarks. Die Biosyntheseschritte Methylgruppe stammt vom S-Adenosylmethionin. Da dieses
462 Kapitel 37 · Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins

. Abb. 37.5 Biosynthese der Katecholamine. Die namengebende Katecholstruktur ist hellblau unterlegt. PALP: Pyridoxalphosphat (7 Kap. 26.3). (Einzel-
heiten s. Text)

37
Enzym im Cytosol vorliegt, wird hierzu Noradrenalin aus den
Granula ins Cytosol transportiert und das Reaktionsprodukt
Adrenalin wieder von den Granula aufgenommen.

Die Katecholaminbiosynthese wird nerval


und durch Glucocorticoide reguliert
Angesichts der Bedeutung der Katecholamine für Stressreaktio-
nen aller Art einschließlich körperlicher Aktivität, Kälteadapta-
tion u. a. ist klar, dass die Katecholaminsynthese sehr genau re-
guliert sein muss. Dabei spielen sowohl nervale als auch hormo-
nelle Faktoren eine wichtige Rolle (. Abb. 37.6).
Nervale, über nicotinische Acetylcholinrezeptoren vermit-
telte Impulse sind für die Aktivierung der Katecholaminbiosyn-
these auf der Stufe der Tyrosinhydroxylase und der Dopamin-β- . Abb. 37.6 Regulation der Katecholaminbiosynthese. (Einzelheiten
Hydroxylase verantwortlich, wobei der Effekt auf einer Induk- s. Text)
tion beider Enzyme beruht. Glucocorticoide sind schwache
Induktoren der Tyrosinhydroxylase und starke der Phenyletha-
nolamin-N-Methyltransferase. Da Katecholamine die CRH- und Speicherung und Sekretion der Katecholamine
ACTH-Sekretion in Hypothalamus bzw. Hypophyse stimulieren, Sowohl in den sympathischen Nervenendigungen als auch im
ergeben sich hiermit Verstärkersysteme, die die Produktion gro- Nebennierenmark werden Katecholamine in spezifischen, mem-
ßer Mengen an Katecholaminen gewährleisten. Vermindert wird branumhüllten (sog. chromaffinen) Granula gespeichert, wo sie
die Katecholaminbiosynthese in Form einer negativen Rück- einen Komplex mit ATP im Verhältnis von 4:1 bilden. Außer ATP
kopplung durch Adrenalin und Noradrenalin, welche die Tyro- und Katecholamine enthalten die Sekretgranula die Dopamin-β-
sinhydroxylase und Phenylethanolamin-N-Methyltransferase Hydroxylase und verschiedene als Chromogranine bezeichnete
allosterisch hemmen. Proteine. Die Katecholaminsekretion der sympathischen Ner-
venendigungen wird durch eine Erregung der präganglionären
Neuronen ausgelöst, die den Neurotransmitter Acetylcholin frei-
Katecholaminbiosynthese Phenylalaninhydroxylase Tetrahydrobiopterin α-Hydroxybiopterin Tyrosinhydroxylase Phenylethanolamin-N-Methyltransferase Dopamin-β
Hydroxylase L-Aminosäuredecarboxylase (PALP) aromatische S-Adenosylmethionin 5-Adenosylhomocystein Dehydroascorbat Phenylalanin# Adrenalin# Tyrosin
Dopa# Noradrenalin# Dopamin#
37.2 · Katecholamine
463 37

. Tab. 37.1 Funktion und Mechanismus von Katecholaminrezeptoren

Rezeptor Signaltransduktion Intrazelluläre Signale Effekte

α1 Gq/11-Protein-vermittelte Aktivie- Inositoltrisphosphat; Diacylglycerin; Kontraktion glatter Muskulatur (Vasokonstriktion);


rung der Phospholipase Cβ Ca2+-Freisetzung Steigerung der hepatischen Glycogenolyse und
Gluconeogenese

α2 Gi-Protein-vermittelte Hemmung Senkung des cAMP-Gehaltes Hemmung der Lipolyse; Hemmung der Insulinsekretion
der Adenylatcyclase

β1 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung der Kontraktionskraft des Herzens
rung der Adenylatcyclase

β2 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung der Glycogenolyse in Leber und Muskel;
rung der Adenylatcyclase Steigerung der hepatischen Gluconeogenese;
Steigerung der Lipolyse; Relaxation glatter Muskulatur
(Broncho-, Vasodilatation)

β3 Gs-Protein-vermittelte Stimulie- Steigerung des cAMP-Gehaltes Steigerung von Lipolyse und Thermogenese im braunen
rung der Adenylatcyclase Fettgewebe

setzen. Aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen bewirken funden haben, sind α-Methyldopa und die β-Blocker zu nennen
ähnliche Mechanismen auch die Adrenalin- und Noradrenalin- (s. Lehrbücher der Pharmakologie).
ausschüttung aus dem Nebennierenmark. Auch hier wird Acetyl-
cholin von den die sekretorischen Zellen innervierenden prägan-
glionären Neuronen freigesetzt. Acetylcholin löst über eine De- 37.2.4 Signaltransduktion
polarisation der postsynaptischen Membran einen Ca2+-Ein-
strom in die sekretorischen Zellen aus. Auf das Ca2+-Signal hin Die pleiotropen Effekte der Katecholamine sind nur möglich,
wandern die Sekretgranula zur Zellmembran und fusionieren weil ihre Wirkungen über mehrere unterschiedliche Rezeptorty-
mit ihr. Durch diesen Exocytoseprozess treten alle löslichen In- pen vermittelt werden, deren Expression in verschiedenen Ge-
haltsstoffe der Sekretgranula (Katecholamine, ATP, Chromogra- weben variiert, sodass sich eine große Zahl unterschiedlicher
nine) in die extrazelluläre Flüssigkeit aus. Reaktionsmöglichkeiten auf den Katecholaminstimulus ergibt.

Alle adrenergen Rezeptoren gehören


37.2.3 Wirkspektrum zur Familie der G-Protein-gekoppelten
heptahelicalen Transmembranrezeptoren
Katecholamine gewährleisten mit einem Anstieg Die Fortschritte der modernen Molekularbiologie haben die
der Glucose- und Fettsäurekonzentrationen im Blut schon aufgrund pharmakologischer Untersuchungen postulierte
die Energieversorgung in Stresssituationen Unterscheidung zwischen α- und β-adrenergen Rezeptoren da-
Katecholaminausschüttung führt zur Mobilisierung zellulärer hingehend erweitert, dass heute zwei Typen von α-Rezeptoren,
Energiespeicher. Dabei wird die Glycogenolyse und Lipolyse sti- α1- und α2-adrenerge Rezeptoren, und drei Typen von
muliert, ein gleichzeitiges Wiederauffüllen der Energiespeicher β-Rezeptoren, β1-, β2- und β3-adrenerge Rezeptoren, bekannt
wird zu einem beträchtlichen Anteil durch eine Hemmung der und charakterisiert sind (. Tab. 37.1). Sämtliche bis jetzt klonier-
Insulinsekretion (7 Kap. 36.3) verhindert. te adrenerge Rezeptoren werden durch eigene, auf verschiedene
Chromosomen verteilte Gene codiert.
Katecholaminwirkung auf das Herz-Kreislauf-System Das Ne-
bennierenmark bildet zusammen mit den adrenergen Nerven- Signalweiterleitung über α-adrenerge Rezeptoren Entsprechend
endigungen das adrenerge System. Dieses wird bei körperli- ihrem jeweiligen Wirkungsmechanismus erfolgt die G-Protein-
cher und psychischer Belastung aktiviert. Katecholamine erhö- Kopplung über unterschiedliche heterotrimere G-Proteine.
hen die Kontraktionskraft und Frequenz des Herzens und er- 4 α1-adrenerge Rezeptoren aktivieren Gq/11-Proteine, die zu
weitern die koronaren Blutgefäße. Gleichzeitig verursachen einer Stimulierung der Phospholipase Cβ und damit zu ei-
Katecholamine in den peripheren Geweben außer der Skelett- ner IP3-vermittelten intrazellulären Calciumfreisetzung
muskulatur eine Vasokonstriktion, was einen Blutdruckanstieg führen. Dieser Effekt spielt bei der katecholamininduzierten
zur Folge hat. Vasokonstriktion eine besondere Rolle. Die Zunahme der
hepatischen Glycogenolyse ist durch eine Calciumbindung
Pharmakologische Beeinflussung der Katecholaminwirkung Als an die Calmodulinuntereinheit der Phosphorylasekinase
Beispiele für eine große Anzahl an Strukturanaloga der Katecho- und die damit einhergehende PKA-unabhängige Aktivie-
lamine, die als Pharmaka in der Medizin breite Anwendung ge- rung des Enzyms erklärbar. Wie jedoch der Calciumanstieg
β-
n#
464 Kapitel 37 · Glucagon und Katecholamine – Gegenspieler des Insulins

zur Steigerung der hepatischen Gluconeogenese beiträgt, ist


im Detail noch nicht geklärt.
4 α2-adrenerge Rezeptoren sind an ein Adenylatcyclase-in-
hibierendes G-Protein (Gi) gekoppelt, sodass ihre Aktivie-
rung durch Katecholamine zu einer Senkung des intrazellu-
lären cAMP-Gehalts führt. Dies ist nicht nur für die
β-Zellen der Langerhans-Inseln (7 Kap. 36.3), sondern
auch für das Fettgewebe von Bedeutung. Adipocyten der ty-
pischen weiblichen Prädilektionsstellen für Fettansamm-
lung, sog. gynoide Adipocyten, enthalten neben β2- beson-
ders viele α2-adrenerge Rezeptoren. Dies bedeutet, dass sie
relativ unempfindlich gegenüber der lipolytischen Wirkung
von Katecholaminen sind. In der Tat vermindert sich die
Zahl der α2-adrenergen Rezeptoren in diesem Gewebe nur
während Schwangerschaft und Laktation. Dies deutet dar-
auf hin, dass eine wesentliche Funktion des gynoiden Fett-
gewebes in der während der Laktationsphase erforderlichen
Bereitstellung von Lipiden für die Synthese der Milchfette
besteht.

Signalweiterleitung über β-adrenerge Rezeptoren Alle bekann-


ten β-adrenergen Rezeptoren sind über stimulatorische G-Pro-
teine (Gs) mit dem Adenylatcyclasesystem gekoppelt, steigern
also den zellulären cAMP-Gehalt. . Abb. 37.7 Regulation der Kontraktion der glatten Muskulatur. Die für
4 β1-adrenerge Rezeptoren finden sich v. a. im Myokard. die Kontraktion notwendige Actin-Myosin-Interaktion wird durch die regu-
Ihre Hauptfunktion beruht in einer Steigerung der Kon- latorische leichte Myosinkette verhindert, solange diese nicht phosphory-
traktionskraft des Herzens. Sie stellen den molekularen An- liert vorliegt. Für die Phosphorylierung wird eine Myosin-Leichte-Ketten-Ki-
nase benötigt, die durch den Ca2+-Calmodulin-Komplex aktiviert wird. Ka-
griffspunkt für die puls- und blutdrucksenkenden
techolaminrezeptoren können in zweifacher Weise eingreifen: α1-adrenerge
β-Blocker dar. Rezeptoren führen über IP3-Bildung zu einer Erhöhung der zellulären Calci-
37 4 β2-adrenerge Rezeptoren sind die wichtigsten Vermittler umkonzentration; über β2-adrenerge Rezeptoren erhöhte cAMP-Konzentra-
metabolischer Katecholaminwirkungen in Skelettmuskel, tionen fördern zum einen die Calciumsequestrierung im endoplasma-
Leber und Fettgewebe. Außerdem führt ihre Aktivierung zu tischen Retikulum, zum anderen aktivieren sie die PKA, welche die Myosin-
Leichte-Ketten-Kinase phosphoryliert. Die phosphorylierte Myosin-Leichte-
einer Relaxation der glatten Muskulatur der Bronchien und
Ketten-Kinase benötigt höhere Ca2+-Calmodulin-Konzentrationen, um aktiv
der Blutgefäße der Skelettmuskulatur (Vasodilatation). Die zu sein (7 Kap. 64.3)
molekulare Basis dieses Effektes beruht zum einen auf
cAMP-stimulierter Calciumaufnahme in die Speicher des
endoplasmatischen Retikulums. Dies führt zu einem Absin- 4 β3-adrenerge Rezeptoren finden sich fast ausschließlich
ken der cytoplasmatischen Calciumkonzentration in der im braunen Fettgewebe, wo sie für eine Steigerung der
glatten Muskelzelle und damit zu einer Verminderung der Lipolyse sowie der Thermogenese verantwortlich sind.
Aktivität der Myosin-Leichte-Ketten-Kinase (. Abb. 37.7).
Über β2-adrenerge Rezeptoren ändern Katecholamine den
Kontraktionszustand der glatten Muskulatur noch über ei- 37.2.5 Konzentration im Serum
nen zweiten Mechanismus. Die PKA phosphoryliert die und Ausscheidung
Myosin-Leichte-Ketten-Kinase, wodurch deren Affinität
zum Calcium-Calmodulin-Komplex wesentlich verändert Plasmaspiegel Die Plasmaspiegel der Katecholamine sind im
wird. Im Vergleich zum nicht-phosphorylierten Enzym stressfreien Ruhezustand mit etwa 1 nmol/l (0,2 ng/ml) für Nor-
werden wesentlich höhere Konzentrationen des Calcium- adrenalin und 0,2 nmol/l (0,05 ng/ml) für Adrenalin außeror-
Calmodulin-Komplexes benötigt, um von der inaktiven in dentlich niedrig.
die aktive Form überzugehen. Unter β2-adrenerger Stimu-
lierung reicht die bei Erregung einer glatten Muskelzelle Vanillinmandelsäure stellt das Hauptabbauprodukt
auftretende Konzentrationszunahme an freien Calciumio- der Katecholamine dar
nen nicht mehr zur Auslösung eines Kontraktionsvorgangs Adrenalin und Noradrenalin werden durch eine Kombination
aus. Dieser Mechanismus liegt u. a. der therapeutischen von Oxidation und Methylierung zu biologisch inaktiven Pro-
Wirkung von β2-Sympathikomimetika zugrunde, die in dukten abgebaut. Die am Abbau beteiligten Enzyme sind die
großem Umfang bei Bronchialasthma eingesetzt werden, Monoaminoxidase (MAO) und die Catechol-O-Methyltrans-
welches durch eine gesteigerte Kontraktion der glatten ferase (COMT) (. Abb. 37.8). Die MAO (7 Kap. 26.3.2) desami-
Muskulatur des Bronchialtrakts gekennzeichnet ist. niert mit Hilfe von H2O und O2 Amine, darunter auch Noradre-
37.2 · Katecholamine
465 37
Adrenalin beginnt in der Leber mit der O-Methylierung zu den
entsprechenden 3-Methoxyverbindungen Normetanephrin und
Metanephrin. Durch MAO werden beide Verbindungen zum
3-Methoxy-4-Hydroxymandelsäurealdehyd oxidativ desami-
niert, wonach eine weitere Oxidation zur 3-Methoxy-4-Hydro-
xymandelsäure (Vanillinmandelsäure) erfolgt. Diese wird im
Harn ausgeschieden. In den adrenergen Nervenendigungen er-
folgt der Umbau von Noradrenalin zur Vanillinmandelsäure
ebenfalls mit MAO und COMT, allerdings in umgekehrter Rei-
henfolge.
Um Aufschluss über die Katecholaminsekretion zu erhalten,
hat es sich bewährt, statt der sehr aufwändigen Bestimmung der
Katecholamingehalte des Plasmas die Vanillinmandelsäureaus-
scheidung im Urin über 24 h zu messen, die außerdem Anhalts-
punkte über den täglichen Umsatz gibt.

Zusammenfassung
Für die Bewältigung von Stresssituationen sind die Kate-
cholamine Adrenalin und Noradrenalin von ganz besonde-
rer Bedeutung. Sie werden in adrenergen Nervenendigun-
gen und im Nebennierenmark aus der Aminosäure Tyrosin
synthetisiert. Sie verfügen über ein breites Wirkungsspekt-
rum am Herz-Kreislauf-System und auf den Stoffwechsel,
das im Wesentlichen die Mobilisierung gespeicherter Subs-
trate zum Ziel hat. Diese Vielfalt von Effekten kommt da-
durch zustande, dass der Organismus über mindestens fünf
unterschiedliche Katecholaminrezeptoren, die adrenergen
Rezeptoren, verfügt. Sie gehören alle in die Familie der
heptahelicalen Rezeptoren und benötigen für ihre Wirkung
heterotrimere G-Proteine. α1-adrenerge Rezeptoren sind an
den IP3-Weg gekoppelt, α2-adrenerge Rezeptoren hemmen
die Adenylatcyclaseaktivität, während alle drei β-adrenergen
Rezeptorsubtypen die Adenylatcyclase stimulieren. Die Ant-
wort einer Zelle auf einen Katecholaminstimulus hängt da-
mit von ihrer Ausstattung mit den unterschiedlichen Rezep-
toren ab. Die Katecholamine werden durch Monoaminoxi-
dase (MAO) und Catechol-O-Methyltransferase (COMT) zu
Vanillinmandelsäure abgebaut.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

. Abb. 37.8 Abbau der Katecholamine. (Einzelheiten s. Text)

nalin, Adrenalin und Dopamin, wonach die entstehenden Alde-


hyde überwiegend zur entsprechenden Säure oxidiert werden.
Die MAO ist in den verschiedensten Geweben nachweisbar und
findet sich in der äußeren Mitochondrienmembran. Die COMT
ist zur O-Methylierung verschiedener biologisch aktiver Verbin-
dungen wie Noradrenalin, Adrenalin, Dopamin, 3-Hydroxyest-
radiol, Ascorbat u. a. fähig. Als Methyldonor dient S-Adenosyl-
methionin. Der Abbau von zirkulierendem Noradrenalin und

Adrenalin# Noradrenalin# Metanephrin# Normetanephrin# 3-Methoxy-4-Hydroxymandelsäurealdehyd# 3-Methoxy-4-Hydroxymandelsäure#


Vanillinmandelsäure# Katecholamine Abbau Catechol-O-Methyltransferase (COMT) S-Adenosylhomocystein Monoaminoxidase (MAO)
38 Integration und hormonelle Regulation
des Energiestoffwechsels
Georg Löffler

Einleitung

In jedem arbeitsteilig organisierten und deshalb mit Organen für unter-


schiedliche Funktionen ausgestatteten Organismus muss der Stoffwech-
sel so reguliert werden, dass jedes Organ möglichst unter allen denk-
baren Gegebenheiten seinen Aufgaben nachkommen kann. Die jeweils
spezifische Versorgung der einzelnen Gewebe und Organe mit endo-
genen Energiespeichern wird durch die gezielte Koordinierung des
Stoffwechsels beim Hungern ermöglicht. Die Wiederauffüllung der Ener-
giespeicher ist dagegen das Charakteristikum des Stoffwechsels bei
Nahrungszufuhr.

Schwerpunkte . Abb. 38.1 Funktion der Adenylatkinase bei gesteigertem Energie-


verbrauch. (Einzelheiten s. Text)
4 Integration des Stoffwechsels beim Hungern
4 AMP als Hungersignal
nur die im Einzelfall geringen Mengen an Energiespeichern wie
4 Beteiligung insulinantagonistischer Hormone am Hunger-
Glycogen oder Triacylglycerinen zur Verfügung stehen. Ein
stoffwechsel
Mangel an Nahrungsstoffen wird deshalb eine Verlangsamung
4 Integration des Stoffwechsels bei Nahrungszufuhr
der ATP-Bereitstellung über die oxidative Phosphorylierung zur
4 Koordinierung des Stoffwechsels bei Nahrungszufuhr durch
Folge haben.
Insulin
Da die energieverbrauchenden Prozesse aber weiterlaufen,
4 Regulation von Hunger- und Sättigungsgefühl
kommt es zu einer Erniedrigung der ATP- und Erhöhung der
38 ADP-Konzentration. Durch die in allen Zellen vorkommende
Adenylatkinase kann der ATP-Mangel gebessert werden:
38.1 Stoffwechsel während des Hungerns
2 ADP ATP + AMP
Eine diskontinuierliche Nahrungsaufnahme ist ein Kennzeichen
vieler niedriger und aller höheren tierischen Organismen. Meist Wegen des damit verbundenen Anstiegs der AMP-Konzentra-
werden dabei kurze Phasen der Nahrungszufuhr von teilweise tion nimmt der Quotient ATP/AMP deutlicher ab als das Ver-
langen Phasen der Nahrungskarenz abgelöst. Diese sind dadurch hältnis ATP/ADP (. Abb. 38.1).
gekennzeichnet, dass für die Dauer des Nahrungsmangels nicht Alle eukaryonten Zellen verfügen über einen Regulations-
unbedingt erforderliche aber energieverbrauchende Vorgänge mechanismus, der bei Energiemangel für eine Reduktion der
abgeschaltet werden. Zu diesen gehört vor allem die Biosynthese Biosynthesevorgänge gleichzeitig mit einer Stimulierung katabo-
von Energiespeichern. ler Stoffwechselreaktionen sorgt. Hierdurch soll der zelluläre
Außerdem müssen endogene Substratspeicher mobilisiert wer- ATP-Bestand wieder hergestellt werden. Das Signal zur Auslö-
den, die für die Deckung des Energiebedarfs der einzelnen Zellen sung dieses Mechanismus ist die AMP-Konzentration.
oder Organe benötigt werden. Die Mobilisierung der körpereige- Die Einzelheiten dieses Mechanismus sind in . Abb. 38.2
nen Speicher muss dabei sorgfältig koordiniert werden. dargestellt und beruhen auf der Aktivierung einer spezifischen
Proteinkinase durch AMP, der AMP-abhängigen Proteinkinase
(AMPK) und der Phosphorylierung eines ganzen Satzes von Pro-
38.1.1 ATP-Mangel als allgemeines Hungersignal teinen durch dieses Enzym.

Das Fehlen von Nahrungsstoffen bewirkt allgemein Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase AMPK kommt
eine Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase in einer inaktiven dephosphorylierten und einer aktiven phos-
In Abwesenheit von oxidierbaren Nahrungsstoffen ergibt sich phorylierten Form vor. Die Bindung von AMP an die nicht-
für alle Zellen das Problem, dass sie ihre biologischen Aktivitäten phosphorylierte inaktive AMPK macht diese zu einem Substrat
aufrechterhalten müssen, obwohl ihnen als oxidierbare Substrate der konstitutiv aktiven Proteinkinase LKB1 und löst auf diese

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_38, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
38.1 · Stoffwechsel während des Hungerns
467 38
schaltet und dafür energieliefernde Vorgänge wie Glycolyse und
β-Oxidation der Fettsäuren angeschaltet werden.
Wie den in . Tab. 38.1 zusammengestellten Daten zu entneh-
men ist, kommen die Effekte der aktivierten AMPK zum Teil
durch direkte Phosphorylierung von Schlüsselenzymen der be-
treffenden Stoffwechselwege zustande. Die Glycogensynthase
und HMG-CoA-Reduktase werden durch Phosphorylierung ge-
hemmt, sodass Glycogen- und Cholesterinbiosynthese nur noch
mit verminderter Geschwindigkeit ablaufen. Die durch Phos-
phorylierung der Acetyl-CoA-Carboxylase ausgelöste Vermin-
derung der Enzymaktivität führt wegen des dadurch ausgelösten
Abfalls der Konzentration von Malonyl-CoA zu einem Rückgang
der Fettsäurebiosynthese. Da Malonyl-CoA gleichzeitig ein star-
ker Inhibitor der Carnitin-Palmitoyl-CoA-Transferase ist, führt
jede Verminderung seiner Konzentration zu einem gesteigerten
Einstrom von Acyl-Carnitin in die mitochondriale Matrix und
damit zu gesteigerter β-Oxidation der Fettsäuren (7 Kap. 21.3.2).
Die Phosphorylierung der Fructose-6-Phosphat-2-Kinase
(Phosphofructokinase 2) in der Muskulatur löst eine gesteigerte
. Abb. 38.2 Regulation und Wirkungsweise der AMP-abhängigen Prote-
Bildung von Fructose-2,6-Bisphosphat und damit eine Stimulie-
inkinase. AMPK: AMP-abhängige Proteinkinase; LKB1: Proteinkinase LKB1. rung der Glycolyse aus (7 Kap. 15.2.3). Von besonderem Interes-
(Einzelheiten s. Text) se ist die Phosphorylierung des Tumorsuppressorproteins
TSC1/TSC2. Sie aktiviert dieses Protein und führt damit zu einer
Hemmung der Proteinkinase mTOR. Die Folge ist ein Rückgang
Weise die Bildung der aktiven, phosphorylierten AMPK aus. der Proteinbiosynthese (7 Kap. 38.2.1, 48.3.3).
Hohe ATP-Konzentrationen hemmen dagegen die AMPK-Phos- Der Mechanismus einer Reihe weiterer Effekte der aktivier-
phorylierung. Für die Inaktivierung der phosphorylierten AMPK ten AMPK ist eher indirekt. Er betrifft die Änderung der Genex-
ist eine Proteinphosphatase verantwortlich (wahrscheinlich die pression verschiedener Enzyme, in der Regel durch Phosphory-
Proteinphosphatase 2C). lierung entsprechender Transkriptionsfaktoren oder die Ände-
rung der zellulären Lokalisation von Transportproteinen.
Effekte der aktiven AMP-abhängigen Proteinkinase Die aktive Die AMP-abhängige Proteinkinase AMPK steht damit
AMPK phosphoryliert eine Reihe von Enzymen und Transkrip- im Zentrum eines Netzwerks von Stoffwechselreaktionen,
tionsfaktoren und ändert auf diese Weise in einer »konzertierten welche das Überleben von Zellen bei Energiemangel gewähr-
Aktion« deren Aktivität in dem Sinne, dass energieverbrauchen- leisten. Außer durch Mangel an Nahrungsstoffen wird das En-
de Synthesevorgänge wie Glycogenbiosynthese, Fettsäurebiosyn- zym auch durch Hypoxie und eine Reihe von Stress-Situationen
these, Cholesterinbiosynthese und Proteinbiosynthese abge- aktiviert.

. Tab. 38.1 Metabolische Konsequenzen einer Aktivierung der AMP-abhängigen Proteinkinase AMPK (Auswahl). ChREBP: carbohydrate response
element binding protein

Enzym/Protein Effekt Organ Biologische Bedeutung

Direkte Phosphorylierung

HMG-CoA-Reduktase Enzymaktivität Leber Cholesterinbiosynthese

Fettsäurebiosynthese
Acetyl-CoA-Carboxylase Enzymaktivität Leber, Muskulatur
Fettsäureoxidation

Glycogensynthase Enzymaktivität Muskulatur Glycogenbiosynthese

Fructose-6-Phosphat-2-Kinase Enzymaktivität Muskulatur Glycolyse

TSC 1/TSC 2 Aktivität Ubiquitär mTOR-Aktivität ; Proteinbiosynthese

Indirekte Wirkungen

ChREBP DNA-Bindung Leber Expression von Glycolyseenzymen

PEPCK Genexpression Leber Gluconeogenese

GLUT4 Translokation in Plasmamembran Muskulatur Glucoseaufnahme

Hexokinase Enzymaktivität Muskulatur Glycolyse

AMP-abhängige Proteinkinase (AMPK) Aktivierung


468 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

Von besonderem Interesse für die Regulation der AMPK 38.1.3 Integration des Stoffwechsels
ist das vom Fettgewebe sezernierte Adiponectin. Dieses zu den von Leber, Muskel und Fettgewebe
sog. Adipokinen (7 Kap. 38.2.2) gehörende Protein hat insulin- bei Nahrungsentzug
sensitivierende Eigenschaften, d. h. es steigert in der Muskulatur
Glycolyse und β-Oxidation der Fettsäuren, hemmt im Fettgewe- Aufgrund der Verteilung der o. g. Substrate spielen wegen
be Fettsäuresynthese und Lipogenese bei gleichzeitiger Stimulie- 4 seines nahezu unbegrenzten Triacylglyceringehalts das Fett-
rung von Lipolyse und Glycolyse. In der Leber werden Gluco- gewebe,
neogenese und Fettsäurebiosynthese gehemmt und Glycolyse 4 ihres Glycogengehalts die Leber und
und β-Oxidation der Fettsäuren stimuliert. Alle Effekte des Adi- 4 ihres Proteingehalts die Muskulatur
ponectin verschwinden, wenn die AMPK durch einen Knockout
ausgeschaltet ist. Mit zunehmender Fettmasse sinkt die Adi- eine besondere Rolle bei der Stoffwechselkoordinierung des
ponectinsekretion des Fettgewebes. Die damit einhergehende Nahrungsentzugs.
Verminderung der Insulinsensitivität spielt eine wichtige Rolle Die zwischen ihnen bestehenden Substratflüsse sind in
bei der Entstehung des metabolischen Syndroms (7 Kap. 36.7.2). . Abb. 38.3 dargestellt.

Die Aktivierung des lipolytischen Systems löst im


38.1.2 Das Hungerproblem Fettgewebe die Abgabe von Fettsäuren aus, die
bei höheren Organismen wichtige Energielieferanten für viele Organe sind
Für den Menschen stellt der Besitz eines stoffwechselaktiven
Für höhere Organismen ist die Koordinierung des Stoffwechsels Fettgewebes einen evolutionären Vorteil dar. Die Masse der in
bei Nahrungsentzug wesentlich komplexer als für Einzeller. Da ihm gespeicherten Triacylglycerine lässt sich bei entsprechen-
sich der Substratbedarf der verschiedenen Organe des Organis- dem Überschuss an Nahrungsstoffen nahezu beliebig steigern,
mus unterscheidet, kommt es darauf an, die erforderlichen Sub- was das Überleben auch längerer Hungerperioden möglich
strate in jeweils ausreichendem Umfang zur Verfügung zu stel- macht.
len. So benötigt beispielsweise das Nervensystem eine gänzlich Vor ihrer Freisetzung (Lipolyse) müssen die gespeicherten
andere Substratversorgung als die Skelettmuskulatur. Außerdem Triacylglycerine hydrolytisch zu Fettsäuren und Glycerin ge-
umfasst der Begriff der Nahrungskarenz sowohl eher kurze Pha- spalten werden. Hierzu ist das lipolytische System notwendig,
sen (z. B. während der Nacht) als auch lange Zeiträume (z. B. das aus wenigstens drei unterschiedlich aufgebauten und regu-
während Hungerkatastrophen). Es ist klar, dass es unter diesen lierten Lipasen besteht, die im Einzelnen in 7 Kap. 21.1.2 be-
Umständen darauf ankommt, möglichst sparsam mit den zur schrieben sind. Die durch Lipolyse freigesetzten Fettsäuren wer-
Verfügung stehenden Energiespeichern umzugehen. den in Bindung an Albumin im Blutplasma in die verschiedenen
Die beim Nahrungsmangel vom menschlichen Organismus Gewebe transportiert, aufgenommen und durch β-Oxidation
38 verwerteten endogenen Speicherstoffe sind Glycogen, Triacyl- und anschließenden Abbau im Citratzyklus zur Deckung des
glycerine und Proteine. Energiebedarfs verwertet. Auch das während der Lipolyse ent-
stehende Glycerin wird von den Adipocyten abgegeben, der hier-
Glycogen Das Reservekohlenhydrat Glycogen ist zwar prinzi- für verantwortliche Transporter ist das Aquaporin 7. Das abge-
piell in allen Zellen außer den Erythrocyten enthalten, allerdings gebene Glycerin wird von der Leber für die Gluconeogenese
meist nur in geringen Konzentrationen. Für die Substratversor- verwendet (s. u).
gung bei Nahrungskarenz spielen lediglich die Glycogenvorräte . Abb. 38.4 stellt die Grundzüge des Fettgewebsstoffwechsels
der Leber (maximal ca. 10 g/100 g) und der Skelettmuskulatur bei Lipolyse dar. Für deren Regulation sind die Spiegel lipolytisch
(maximal 1 g/100 g) eine Rolle. Zusammen verfügt der mensch- wirkender Hormone als Aktivatoren sowie der von Insulin als
liche Organismus damit über etwa 400–450 g Glycogen. Inhibitor verantwortlich (7 Kap. 38.1.4). Ein kleiner Teil der
durch Lipolyse freigesetzten Fettsäuren wird allerdings in Acyl-
Triacylglycerine In geringen Mengen finden sich Triacylglyce- CoA umgewandelt und für die Triacylglycerinbiosynthese ver-
rine in nahezu allen Zellen. Für die Nahrungskarenz wichtig sind wendet. Dieser Vorgang wird als Reveresterung bezeichnet. Aus
jedoch die Triacylglycerine des Fettgewebes. Beim Normalge- dem Verhältnis der Geschwindigkeiten von Lipolyse, Revereste-
wichtigen macht das Fettgewebe etwa 15 % des Körpergewichts rung und Lipogenese ergibt sich die Konzentration nicht-ver-
aus, was einer Triacylglcerinmenge von etwa 12 kg entspricht. esterter Fettsäuern in der Fettzelle. Alle drei Vorgänge unterlie-
Diese könnte theoretisch den Energiebedarf des Organismus für gen Ernährungsgewohnheiten, der Nahrungszusammensetzung
mehr als 50 Tage decken. und werden v.a. durch Insulin und Katecholamine, aber darüber
hinaus auch durch weitere Hormone, z. B. Steroidhormone regu-
Proteine Etwa 18 % des Körpergewichtes besteht aus Proteinen. liert. Hiervon hängt die Konzentration der Plasma-Fettsäuren ab,
Diese sind damit potentiell eine wichtige Energiequelle. Aller- die fast ausschließlich aus dem Fettgewebe stammen.
dings haben Proteine viele wichtige und für das Leben unerläss- Fettsäuren werden von vielen Organen, z. B. der Skelettmus-
liche Funktionen, sodass nur ein relativ kleiner Teil des Körper- kulatur, der Nierenrinde oder der Leber, bevorzugt oxidiert. Dies
proteins zur Deckung des Energieverbrauchs während Hunger- erklärt ihre sehr kurze Halbwertszeit im Blutplasma von lediglich
phasen zur Verfügung steht. 1–2 min. Nicht zur Fettsäureoxidation imstande sind allerdings

AMP-abhängige Proteinkinase (AMPK) Regulation Hungerphasen


38.1 · Stoffwechsel während des Hungerns
469 38

. Abb. 38.3 Beziehungen zwischen Leber, Muskulatur, Fettgewebe und ZNS während Nahrungskarenz. Die Glucoseaufnahme von Muskulatur und
Fettgewebe ist stark erniedrigt. (Weitere Einzelheiten s. Text)

das Nervensystem, die Erythrocyten sowie Teile des Nieren- Umwandlung weißer in braune Fettzellen. Dieses bei vielen klei-
marks. Diese Gewebe sind auf den Abbau der Glucose als einzi- nen Säugetieren (Ratten, Mäuse) zu beobachtende Phänomen
ger Energiequelle angewiesen. Während sehr langer Hungerpha- erklärt die Kälteresistenz dieser Tiere. Neuen Untersuchungen
sen erwirbt das Nervensystem allerdings zusätzlich die Fähigkeit zufolge können auch erwachsene Menschen noch braunes Fett-
zur Oxidation von Ketonkörpern. gewebe besitzen, das im Rahmen des Energiehaushaltes mögli-
cherweise eine Rolle spielt.
Braunes Fettgewebe dient der Thermogenese Für Winterschläfer, z. B. Igel, ist das braune Fettgewebe von
Das in wesentlich geringerer Menge vorkommende braune Fett- ganz besonderer Bedeutung. Da sie während des Winterschlafs
gewebe unterscheidet sich deutlich vom weißen. Seine bräunli- in regelmäßigen Abständen unter Anhebung ihrer Körpertem-
che Farbe wird von seinem besonderen Mitochondrienreichtum peratur aufwachen müssen, werden erhebliche Anforderungen
und seiner guten Vaskularisierung verursacht. Die Funktion des an ihre Thermogenesekapazität gestellt.
braunen Fettgewebes ist nicht die Energiespeicherung, sondern
die Thermogenese. Die durch Lipolyse freigesetzten Fettsäuren Die Leber oxidiert im Hungerzustand
werden im braunen Fettgewebe selber oxidiert und die dabei frei- mehr Fettsäuren als zur Deckung ihres
gesetzte Energie für die Wärmeproduktion (Thermogenese) Energiebedarfs benötigt
verwendet. Mechanistisch liegt der Thermogenese die regulier- Im Hungerzustand sind die aus dem Fettgewebe stammenden
bare Entkopplung der oxidativen Phosphorylierung durch ein als Fettsäuren die wichtigste Energiequelle der Leber. Dank ihrer
Thermogenin (Synonym: UCP 1, uncoupling protein 1) bezeich- besonders guten Ausstattung zur β-Oxidation werden jedoch in
netes Protein zugrunde. Wie in 7 Kap. 19.1.5 beschrieben, bildet der Leber mehr Fettsäuren oxidiert als zur Deckung des hepati-
Thermogenin einen Protonenkanal in der inneren Mitochondri- schen Energiebedarfs benötigt. Das überschüssige Acetyl-CoA
enmembran. Die Lipolyse des braunen Fettgewebes wird durch wird für die Synthese von Acetacetat und β-Hydroxybutyrat ver-
Adrenalin bzw. Noradrenalin ausgelöst. Beide Hormone dienen wendet (7 Kap. 21.2.2). Beide Ketonkörper werden von der Leber
auch als Induktoren für Thermogenin. Ihre Effekte werden über an das Blut abgegeben und tragen zur Erhöhung der Konzentra-
den adrenergen β3-Rezeptor, eine Isoform der β-Rezeptoren tion metabolisierbarer Substrate im Blut bei. Sie dienen v. a. der
(7 Kap. 37.2.4), vermittelt. Muskulatur und dem Zentralnervensystem zur Deckung ihres
Braunes Fettgewebe ist während der Neugeborenenperiode Energiebedarfs (s. u.).
bei allen Säugern essentiell für die Aufrechterhaltung der Kör-
pertemperatur. In dieser Lebensphase sind Wärmeisolierung Während des Hungerns sind Fettsäuren
durch subcutanes Fettgewebe, Muskelzittern und andere Mecha- und Ketonkörper die wichtigsten Substrate zur
nismen noch nicht funktionsfähig, weswegen die Gefahr einer Energieversorgung der Muskulatur
Unterkühlung besonders groß ist. Unter entsprechenden Bedin- Während Hungerphasen sind Fettsäuren ähnlich wie in der Le-
gungen (z. B. Einwirkung von Katecholaminen) kommt es zur ber auch für die Skelettmuskulatur die wichtigsten Substrate zur
470 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

. Abb. 38.4 Grundzüge des Fettgewebsstoffwechsels bei Lipolyse.


Durch Aktivierung der Adenylatcyclase entstehendes cAMP aktiviert die
Lipolyseenzyme ATGL und HSL. Der größte Teil der dabei entstehenden
Fettsäuren sowie das Glycerin werden abgegeben. Ein Teil der Fettsäuren
unterliegt allerdings der Reveresterung. ATGL: Adipocyten-Triacylglycerin-
lipase; FATP: Fettsäuretransporter; HSL: hormonsensitive Lipase; PDE: Phos-
phodiesterase

Deckung des Energiebedarfs. Außerdem ist die Muskulatur im-


stande, aus der Leber stammende Ketonkörper in großem Um-
. Abb. 38.5 Glucose-Fettsäure-Zyklus. HK: Hexokinase; PDH: Pyruvatdehy-
fang zu oxidieren (. Abb. 38.3).
drogenase; PFK-1: Phosphofructokinase 1; T: Canitin/Acylcarnitin-Transport-
Ein wichtiges Element bei der Bewältigung von Hungerpha- system. (Einzelheiten s. Text)
sen ist der Glucose-Fettsäure-Zyklus (. Abb. 38.5). Die ver-
mehrte Fettsäureoxidation im Muskel geht mit einem Anstieg
der Konzentrationen von Acetyl-CoA und Citrat einher, die
38 beide als allosterische Effektoren wirken. Das erstere hemmt die Die Fähigkeit der Leber zur Glucoseproduktion
Pyruvatdehydrogenase, das zweite die Phosphofructokinase 1. ist ausschlaggebend für die Aufrechterhaltung
Dies führt zu einer Erhöhung der Glucose-6-Phosphat-Kon- der Blutzuckerkonzentration
zentration und somit zu einer Hemmung der Hexokinase. Als Während die meisten Organe und Gewebe ihren Energiebedarf
Resultat ergibt sich eine Hemmung der muskulären Glycolyse ohne weiteres aus der Oxidation von Fettsäuren oder Aminosäu-
bei gesteigertem Fettsäureangebot. Die dadurch nicht vom Mus- ren decken können, trifft dies aufgrund ihrer enzymatischen
kel dem Blut entnommene Glucose wird für die obligaten Glu- Ausstattung nicht zu für:
coseverwerter (z. B. Zentralnervensystem, Nierenmark) ver- 4 Erythrocyten,
wendet (s. u.). 4 das Nierenmark und
4 das Nervengewebe. Dieses kann allerdings bei lange
Während des Hungerns kommt es zu dauerndem Fasten bis zu einem gewissen Umfang auch
einer Steigerung der Proteolyse Ketonkörper oxidieren (7 Kap. 74.4.1)
Eine weitere Folge des Hungerns ist die Steigerung der Proteolyse
in vielen Geweben, v. a. aber in der Skelettmuskulatur. Die dabei Von George Cahill und seinen Kollegen stammen Untersuchun-
frei werdenden Aminosäuren werden z. T. ebenfalls der energie- gen am fastenden Menschen, die überzeugend nachgewiesen
liefernden Oxidation zugeführt, zum größeren Teil aber über den haben, dass die Leber und nach längerem Fasten auch die Nieren
Blutweg zur Leber transportiert, wo sie in die Reaktionen der und intestinale Mukosazellen für die Bereitstellung der für die
Gluconeogenese eingeschleust werden (ebenfalls der Gluconeo- oben genannten Organe und Gewebe benötigten Glucose verant-
genese dient das durch anaerobe Glycolyse von der Muskulatur wortlich sind.
freigesetzte Lactat (s. auch Cori-Zyklus, 7 Kap. 27.1.1). Hier- Die obligaten Glucoseverbraucher benötigen zu Beginn
durch kommt es bei Nahrungskarenz zu einem Schwund des einer Fastenperiode zusammen etwa 200 g Glucose/24 h. Diese
Proteinbestands des Organismus. Dieser stellt bei lange dauern- Menge wird zunächst durch den Abbau des Leberglycogens
den Hungerphasen eine große Gefahr dar, da dann wesentliche gedeckt. Da die Leber aber nur maximal 150 g Glycogen enthält,
Strukturelemente des Organismus verloren gehen, was letztlich muss sehr bald die Gluconeogenese aktiviert werden. Ihre
zum Tod durch Verhungern führt. Substrate sind Lactat und glucogene Aminosäuren, vornehmlich

Lipolyse Adipocyten Aquaporin 7 AMP Insulin lipolytische Hormone Adenylatcyclase ATP Glycerin Acyl-CoA Glycerin-3-Phosphat Tria-
cylglycerine
38.1 · Stoffwechsel während des Hungerns
471 38

. Tab. 38.2 Wirkung insulinantagonistischer Hormone


(Katecholamine und Glucagon) auf Leber, Fettgewebe und Musku-
latur. + Stimulierung; – Hemmung; Ø kein direkter Effekt

Vorgang Leber Fettgewebe Muskulatur

Glycogenbiosynthese – Ø –

Glycogenolyse + Ø +

Glycolyse – Ø +

Gluconeogenese + Ø Ø

Triacylglycerinsynthese – – Ø

Lipolyse Ø + +

Proteinbiosynthese Ø Ø –

Proteolyse Ø Ø +

. Abb. 38.6 Wirkung insulinantagonistischer Hormone auf den Stoff-


wechsel von Fettgewebe, Leber und Muskulatur. Entscheidend ist das je-
weilige Verhältnis der Insulinantagonisten zu Insulin. Überwiegen die Insu-
spiegel lösen eine Hemmung der cAMP-spezifischen Phospho-
linantagonisten, kommt es im Fettgewebe zur Lipolyse, weswegen die Kon- diesterase aus, was zusätzlich zur Stimulierung der Adenylatcyc-
zentration der Plasmafettsäuren zunimmt. Dies löst in der Leber eine Stei- lase zu hohen cAMP-Spiegeln führt. Insgesamt wird damit die
gerung der energieliefernden β-Oxidation und der Ketonkörperproduktion Aktivität lipolytischer Prozesse gesteigert.
und -abgabe aus. Zusätzlich stimulieren die Insulinantagonisten Glycoge-
Nervenendigungen des sympathischen Nervensystems sind
nolyse und Gluconeogenese. In der Muskulatur werden Fettsäuren und Ke-
tonkörper vermehrt oxidiert, während die Glycolyse gehemmt ist (. Abb.
mit jeder Fettzelle verbunden und setzen bei entsprechender Sti-
38.5). Außerdem wird die Glucoseaufnahme durch die niedrigen Insulin- mulation Noradrenalin frei. Dies führt zu einer Lipolyse, die
spiegel reduziert. Das Zentralnervensystem oxidiert zur Energiegewinnung nach Denervierung, Ganglienblockade oder pharmakologischer
Glucose, nach länger dauernder Nahrungskarenz auch Ketonkörper Entleerung der Noradrenalinspeicher verschwindet.
Die mit der Lipolyse einhergehende Fettsäurefreisetzung
spielt bei der Entstehung des Coma diabeticum eine besondere
aus der Muskulatur sowie aus der Lipolyse des Fettgewebes Rolle (7 Kap. 36.7.1).
stammendes Glycerin.
Leber In der Leber ist während des Hungerns v. a. das aus den
α-Zellen des Pankreas freigesetzte Glucagon (7 Kap. 37.1.2) von
38.1.4 Hormonelle Regulation des Stoffwechsels Bedeutung. Über spezifische Rezeptoren aktiviert es die hepati-
beim Hungern sche Adenylatcyclase. Erhöhte cAMP-Spiegel wirken als
4 Stimulatoren der Glycogenolyse (7 Kap. 15.2) und Inhibito-
Die für Hungern typische Stoffwechselumstellung ren der Glycogensynthese
von Fettgewebe, Muskulatur und Leber wird durch 4 Stimulatoren der Gluconeogenese (7 Kap. 15.3)
Katecholamine, Glucagon und Cortisol ausgelöst
Hormone als extrazelluläre Signalvermittler sind für die beim Insgesamt wird so die Freisetzung von Glucose und Ketonkör-
Fasten notwendigen Stoffwechselumstellungen verantwortlich. pern durch die Leber gesteigert (s. auch 7 Kap. 15.2, 7 Kap. 15.3,
Eine besondere Bedeutung kommt dabei den sog. insulinantago- 7 Kap. 21.2.2).
nistisch wirkenden Hormonen zu. Diese sind v. a. Adrenalin,
Noradrenalin und Glucagon. Verschiedene Signalwege (7 Kap. Muskulatur Bei Nahrungskarenz oxidiert die Muskulatur bevor-
37.1 und 37.2) sorgen dafür, dass deren Sekretion stimuliert und zugt Fettsäuren und Ketonkörper. Gleichzeitig wird die musku-
gleichzeitig die Insulinsekretion vermindert wird. Insgesamt er- läre Proteolyse gesteigert und Aminosäuren an das Blutplasma
gibt sich damit ein Überwiegen der Insulinantagonisten mit ent- abgegeben. Sie werden für die hepatische Gluconeogenese ver-
sprechenden Stoffwechselveränderungen von Fettgewebe, Leber wendet.
und Muskulatur (. Abb. 38.6 und . Tab. 38.2). Das Phänomen der gesteigerten Proteolyse in der Skelett-
muskulatur tritt nicht nur bei Nahrungskarenz auf, sondern auch
Fettgewebe Die für den Hungerstoffwechsel typische Änderung bei einer Reihe von pathologischen Zuständen wie Inaktivitäts-
des Fettgewebsstoffwechsels wird v. a. durch die Katecholamine atrophie, Kachexie oder Sepsis und führt zur Muskelatrophie.
Adrenalin und Noradrenalin ausgelöst. Sie aktivieren über β2- Über die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen ist Fol-
Rezeptoren (7 Kap. 37.2.4) das Adenylatcyclasesystem, die da- gendes bekannt:
durch erhöhten cAMP-Spiegel führen auf unterschiedlichen 4 Eine Voraussetzung der gesteigerten Proteolyse ist die Ubi-
Wegen zu einer Aktivitätserhöhung der für die Lipolyse verant- quitinierung (7 Kap. 49.3.2) der abzubauenden Proteine.
wortlichen Lipasen (7 Kap. 21.1.2). Die niedrigen Plasmainsulin- 4 Die Proteolyse erfolgt in den Proteasomen (7 Kap. 50.3).
472 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

. Abb. 38.7 Regulation von Proteinbiosynthese und Proteolyse in der Muskulatur. GR: Glucocorticoid-Rezeptor; KLF-15: krüppel like factor 15; PI3K:
Phosphatidylinositol-3-Kinase; PDK1: phosphoinosit-dependent kinase-1; PKB: Proteinkinase B. Zur Aktivierung von mTOR durch PKB . Abb. 38.11. (Einzel-
heiten s. Text)

4 Bei Nahrungskarenz wird v. a. die Ubiquitinligase Atro- die Expression des Transkriptionsfaktors KLF15 (krüppel like
gin-1 induziert. Man nimmt an, dass dies ein entscheiden- factor 15) stimuliert, der seinerseits Atrogin-1 induziert.
der Faktor für die Proteolyse ist.

Die Regulation des Atrogin-1-Gens ist komplex und Teil eines Zusammenfassung
regulatorischen Netzwerks, welches in der Skelettmuskulatur das Der Zustand des Hungerns zeichnet sich dadurch aus, dass
38 Gleichgewicht zwischen Proteinbiosynthese und Proteolyse steu- 4 der größte Teil der Energieversorgung des Organismus
ert. Überwiegt Ersteres, kommt es zur Hypertrophie der Mus- durch Fettsäuren und aus ihnen abgeleiteten Ketonkör-
kulatur, überwiegt Letzteres zur Atrophie. Glucocorticoide ei- pern bestritten wird und
nerseits und Wachstumsfaktoren, v. a. IGF-1 und Insulin, ande- 4 Erythrocyten, Zellen des Nierenmarks und Nervenzellen
rerseits spielen bei der Regulation eine wichtige Rolle als Antago- auch über längere Zeiträume mit der von ihnen benötig-
nisten (. Abb. 38.7). Im Zentrum der Signalvermittlung steht die ten Glucose versorgt werden.
durch Insulin, IGF-1 und andere Wachstumsfaktoren stimulierte
Proteinkinase B (PKB). Diese Durch Lipolyse werden die vom Organismus benötigten Fett-
4 aktiviert über die weiter unten beschriebenen Wege (7 Kap. säuren aus dem Fettgewebe mobilisiert und als Komplexe
38.2.1) die Proteinkinase mTOR und löst damit eine gestei- mit Albumin im Blutplasma zu den verschiedenen Geweben
gerte Proteinbiosynthese aus und transportiert. Die Leber ist zusätzlich imstande, bei der β-Oxi-
4 phosphoryliert den im Cytosol lokalisierten Transkriptions- dation von Fettsäuren und beim Abbau ketogener Aminosäu-
faktor FoxO und verhindert damit dessen Translokation in ren überschüssig produziertes Acetyl-CoA in Ketonkörper
den Zellkern. FoxO gelangt nur unphosphoryliert in den umzuwandeln, die an die Blutzirkulation abgegeben werden.
Zellkern, wo er als starker Aktivator der Transkription des Die Leber trägt die Hauptlast der Glucoseproduktion durch
Atrogin-1-Gens wirkt. Glycogenolyse und Gluconeogenese. Substrate für den letz-
teren Vorgang sind Lactat und glucogene Aminosäuren, die
Bei Nahrungskarenz und anderen zur Atrophie führenden Zu- beide hauptsächlich aus der Muskulatur stammen. Hinzu
ständen sind die Spiegel an Insulin und IGF-1 deutlich ernied- kommt Glycerin, das vom Fettgewebe zusammen mit Fett-
rigt. Wegen der dann fehlenden PKB wird mTOR inaktiviert und säuren freigesetzt wird.
gleichzeitig FoxO nicht mehr phosphoryliert. Die Folgen sind Für die Bereitstellung der für die Gluconeogenese und
eine Hemmung der Proteinbiosynthese und Aktivierung der Ketonkörperproduktion benötigten Aminosäuren wird in
Proteolyse. Die Expression des Atrogin-1-Gens wird außer durch der Muskulatur das Gleichgewicht von Proteinbiosynthese
FoxO durch Glucocorticoide stimuliert. Dieser Effekt ist aller- 6
dings indirekt. Über den Glucocorticoidrezeptor wird zunächst
38.2 · Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr
473 38

. Abb. 38.8 Beziehungen zwischen Leber, Muskulatur und Fettgewebe während der Resorptionsphase. Zugrunde gelegt sind die Verhältnisse nach Zu-
fuhr einer gemischten Mahlzeit. -+NH3: Aminogruppe. (Einzelheiten s. Text)

38.2 Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr


und Proteolyse zugunsten der Letzteren verschoben. Die zur
Aminosäurefreisetzung führende Proteolyse erfolgt im Ähnlich wie der Nahrungsmangel erfordert auch die Bewältigung
Proteasom. der Nahrungszufuhr während der Resorptionsphase erhebliche
Diese Vorgänge stehen unter hormoneller Kontrolle, wobei Umstellungen des Stoffwechsels. Deren Ziel ist es, die nach der
v. a. der Abfall der Insulin- sowie der Anstieg der Glucagon- Verdauung und Resorption von Nährstoffen gebildeten monome-
und Katecholaminkonzentration im Vordergrund stehen. ren Grundbausteine so in den Stoffwechsel einzuschleusen, dass
Folgen sind: 4 im Überschuss aufgenommene Nahrungsstoffe dazu ver-
4 im Fettgewebe eine Steigerung der Lipolyse, wendet werden, die endogenen Energiespeicher, v. a. Glyco-
4 in vielen Geweben eine gesteigerte Fettsäureoxidation gen und Triacylglycerine aufzubauen und
4 in der Leber eine Erhöhung der Ketonkörperbiosynthese 4 der Proteinbestand der verschiedenen Organe und Gewebe
und -abgabe, konstant bleibt oder möglichst zunimmt und so Wachstum
4 in der Leber vermehrte Glycogenolyse und Gluconeo- ermöglicht
genese.
Als Speicherorgane sind für diese Vorgänge die Leber und das
Glucocorticoide und ein Abfall der Insulinkonzentration Fettgewebe von besonderer Bedeutung. Da Proteine in der Hun-
leiten in der Muskulatur die Proteolyse ein. Das vom Fett- gerphase eine wichtige Rolle als Lieferanten der für die Gluco-
gewebe freigesetzte Adipokin Adiponectin stimuliert neogenese benötigten Aminosäuren spielen, ist auch die Skelett-
schließlich Signalwege, die zur Aktivierung der AMP-ab- muskulatur ein wichtiger Energiespeicher.
hängigen Proteinkinase führen. Die bei Nahrungszufuhr auftretenden Wechselwirkungen
Bei schwerem Energiemangel fällt in allen Zellen der ATP- zwischen Leber, Fettgewebe und Muskulatur nach einer ge-
Spiegel ab, während der AMP-Spiegel ansteigt. Dadurch mischten Mahlzeit sind in . Abb. 38.8 dargestellt.
wird die AMP-abhängige Proteinkinase aktiviert, die durch
Phosphorylierung wichtige Enzyme der Substratspeiche-
rung abschaltet. Außerdem aktiviert sie – ebenfalls durch
Phosphorylierung – katabol wirkende Enzyme.

Triacylglycerine Acetyl-CoA Glycerin-3-Phosphat


474 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

38.2.1 Integration des Stoffwechsels von Leber, vene an den Kreislauf abgegeben und von den extrahepatischen
Muskel und Fettgewebe bei Nahrungszufuhr Geweben verwertet (7 Kap. 38.2.2).

Aufgrund ihrer anatomischen Lage wird die Leber als erstes mit Eine de novo-Lipogenese aus Nahrungskohlen-
den während der Resorptionsphase aufgenommenen Makro- hydraten findet beim Menschen nur in geringem
und Mikronährstoffen konfrontiert. Lediglich die Nahrungs- Umfang statt
lipide werden in der intestinalen Lymphe gesammelt und dann Die Leber und das Fettgewebe verfügen über die Möglichkeiten
über den Ductus thoracicus in den Kreislauf abgegeben. der Synthese sowohl des Glycerin- als auch des Fettsäureanteils der
Triacylglycerine aus der aufgenommenen Glucose. Diese vollstän-
Die intestinal resorbierten Aminosäuren dige Biosynthese von Triacylglycerinen aus Nicht-Lipidvorstufen
werden in der Leber für die Protein- wie Glucose wird als de novo-Lipogenese bezeichnet. Aus vielen
und Glycogenbiosynthese verwendet Erfahrungen an Tieren weiß man, dass dieser Stoffwechselweg tat-
Nur etwa ein Viertel der aus der enteralen Resorption stammen- sächlich in beträchtlichem Umfang beschritten werden kann
den und mit der Pfortader zur Leber transportierten Aminosäu- (Straßburger Gänseleber!). Beim Menschen lässt sich allerdings
ren gelangt nach Passage durch die Leber in den systemischen unter physiologischen Bedingungen weder in der Leber noch im
Kreislauf. Die von der Leber aufgenommenen Aminosäuren wer- Fettgewebe eine nennenswerte de novo-Lipogenese nachweisen.
den für folgende Vorgänge verwendet: Solange nämlich die Kohlenhydratzufuhr niedriger als der Gesamt-
4 Biosynthese und gegebenenfalls Sekretion von Protei- energieverbrauch ist, wird die resorbierte Glucose als Glycogen
nen. Hierfür werden ca. 20% der aufgenommenen Amino- gespeichert oder oxidativ abgebaut. Die Triacylglycerine der Nah-
säuren verwendet. rung sind somit das Substrat für die Neusynthese von Lipiden
4 Gluconeogenese aus den glucogenen Aminosäuren. Ihre (s. u.). Das Fehlen der de novo–Lipogenese beim Menschen ist
Aminogruppe wird in Form von Harnstoff ausgeschieden eine Folge seiner fettreichen Ernährung. Mehrfach ungesättigte
und ihr Kohlenstoffskelett für die Synthese von Glucose- Fettsäuren lösen nämlich eine Repression wichtiger Lipogene-
6-Phosphat verwendet. Unter den Bedingungen der seenzyme aus, v. a. der Pyruvatdehydrogenase, Acetyl-CoA-
Nahrungszufuhr wird dieses überwiegend in Glycogen Carboxylase und Fettsäuresynthase (7 Kap. 21.3.2).
eingebaut (7 Kap. 14.2.1). Nur wenn eine extrem kohlenhydratreiche und fettarme Kost
4 Synthese von Acetyl-CoA aus ketogenen Aminosäuren zugeführt wird, nimmt die de novo-Lipogenese aus Glucose zu.
(7 Kap. 26.4.2), deren Aminogruppe ebenfalls als Harnstoff Bei einem Kohlenhydratanteil von 75 % werden etwa 20 % der
ausgeschieden wird. Die verbleibenden Kohlenstoffskelette aufgenommenen Glucose hierfür verwendet.
werden nach Umwandlung in Acetyl-CoA u. a. für die Bio-
synthese von Cholesterin, Fettsäuren und bei einem hohen Die in Chylomikronen enthaltenen Triacylglycerine
Proteinanteil der Nahrung auch von Ketonkörpern ver- werden nach Spaltung durch die hepatische Triacyl-
38 wendet. glycerinlipase von der Leber aufgenommen
4 Synthese von stickstoffhaltigen Verbindungen wie Purin- Aufgrund ihres spezifischen Resorptionsmechanismus werden
und Pyrimidinbasen, Aminozucker sowie Asparagin aus der Leber die Nahrungslipide in Form von Chylomikronen und
den Aminosäuren Glutamin und Aspartat. Chylomikronen-Remnants (7 Kap. 24.2) angeboten. Die in die-
sen Lipoproteinen enthaltenen Triacylglycerine werden durch
Resorbierte Nahrungskohlenhydrate die hepatische Triacylglycerinlipase (hepatische Lipase) gespal-
werden zum größten Teil in der Leber ten (. Abb. 38.9). Außerdem können Hepatocyten diese Lipopro-
zur Glycogensynthese verwendet teine mit Hilfe spezifischer Rezeptoren aufnehmen und dann
Der größte Teil der Nahrungskohlenhydrate besteht aus Stärke. weiter verwerten. Die durch die hepatische Triacylglycerinlipase
Diese liefert bei der intestinalen Verdauung Glucose, die resor- freigesetzten Fettsäuren werden mit Fettsäuretransportproteinen
biert und über die Pfortader in die Leber gebracht wird. In den (FATP, 7 Kap. 21.1.3) aufgenommen und anschließend zum ent-
Hepatocyten führt dies zu einer Steigerung der Glucoseaufnah- sprechenden Acyl-CoA aktiviert. Das Schicksal der aufgenom-
me, die unter Vermittlung des Glucose-Carriers GLUT2 abläuft. menen Fettsäuren hängt von der jeweiligen Stoffwechsellage ab:
Die aufgenommene Glucose wird zu Glucose-6-Phosphat phos- 4 Wenn sie zur Deckung des Energiebedarfs in die
phoryliert und löst dann eine Steigerung β-Oxidation eingeschleust werden sollen, müssen sie als
4 der Glycogensynthese sowie Carnitinester durch die innere Mitochondrienmembran
4 der Glycolyse und ihres anschließenden oxidativen Abbaus transportiert werden. Das geschwindigkeitsbestimmende
aus (7 Kap. 14 und 7 Kap. 15). Enzym hierfür ist die Carnitin-Palmitoyltransferase 1, die
durch Malonyl-CoA gehemmt wird (7 Kap. 21.3.2). Niedri-
Das Verhältnis von Glycogensynthese und Glycolyse variiert je ge Malonyl-CoA-Konzentrationen sind typisch für den
nach der Stoffwechselsituation, wobei die Konzentrationen von Hungerzustand.
Insulin bzw. Fettsäuren ebenso wie die körperliche Aktivität von 4 In der Resorptionsphase ist allerdings die Konzentration
großer Bedeutung sind (7 Kap. 36.5). von Malonyl-CoA eher hoch, weil die Acetyl-CoA-Car-
Die Glucosemenge, welche die Kapazität der Leber zur Gly- boxylase durch Insulin stimuliert wird (s. u. und 7 Kap.
cogensynthese bzw. Glycolyse übersteigt, wird über die Leber- 21.3.2). Infolgedessen werden die aufgenommenen Fettsäu-
38.2 · Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr
475 38

. Abb. 38.9 Die Aufnahme von triacylglycerinreichen Lipoproteinen in die Leber. Triacylglycerine verschiedener Lipoproteine werden durch die hepa-
tische Triacylglycerinlipase in Fettsäuren und Glycerin gespalten. Neben dem Abbau der durch Hepatocyten aufgenommenen Fettsäuren kommt es auch
zu deren Verwendung für die Biosynthese von Triacylglycerinen und Phospholipiden. Glycerin wird von den Hepatocyten aufgenommen und durch die
Glycerinkinase zu Glycerin-3-P phosphoryliert (nicht dargestellt). CPT-1: Carnitin-Palmitoyltransferase 1; PH: Phosphatidatphosphohydrolase. (Einzelheiten
s. Text)

ren bevorzugt in die Stoffwechselwege der Triacylglycerin- Aminosäuren stimulieren die Proteinbiosynthese
synthese eingeschleust. Die hierfür benötigte Phosphatidat- der Skelettmuskulatur
phosphohydrolase wird zusätzlich durch hohe Konzentra- Da ein Teil der über die Pfortader angelieferten Aminosäuren
tionen an Acyl-CoA stimuliert (7 Kap. 21.3.1). nicht von der Leber aufgenommen wird, steigt die Aminosäure-
konzentration im Plasma nach einer gemischten Mahlzeit an.
Neu synthetisierte Triacylglycerine werden in VLDL-Lipopro- Diese Aminosäuren werden von den Muskelzellen aufgenom-
teine eingebaut und anschließend sezerniert. men und für die Proteinbiosynthese oder zur Deckung des Ener-
giebedarfs abgebaut. Essentielle Aminosäuren, besonders Leu-
Neben Glycogen werden in der Skelettmuskulatur cin, aktivieren die muskuläre Proteinbiosynthese. Eine beson-
auch Triacylglycerine gespeichert dere Rolle spielt hierbei die Proteinkinase mTOR.
Anstiege der Blutglucosekonzentration sind eine Folge kohlen-
hydratreicher Mahlzeiten. Über den Glucosetransporter GLUT4 Die Steigerung der Proteinbiosynthese als Antwort
wird unter diesen Umständen Glucose vermehrt von der Skelett- auf den Proteingehalt der Nahrung wird durch die
muskulatur aufgenommen und für die Biosynthese von Glyco- Proteinkinase mTOR koordiniert
gen verwendet.
Die maximal mögliche Glycogenkonzentration der Musku-
latur beträgt etwa 1–1,5 %. Bei diesem Wert beginnt die Rück- Übrigens
kopplungshemmung der Glycogensynthase durch vorhandenes Rapamycin
Glycogen. Unter diesen Umständen aufgenommene Glucose Auf der Suche nach neuen Antibiotika wurde Anfang der
wird durch Glycolyse abgebaut. Da das Kapillarendothel auch 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in einer von der
der Skelettmuskulatur über eine aktive Lipoproteinlipase verfügt, Osterinsel stammenden Bodenprobe der Bakterienstamm
werden die aus der Lipidverdauung und Resorption stammen- Streptomyces hygroscopicus isoliert. Dieser produzierte einen
den Chylomikronen, aber auch andere triacylglycerinreiche Li- Metaboliten, der sich als sehr wirkungsvoll gegen Pilzinfek-
poproteine (VLDL) dort gespalten und die freigesetzten Fettsäu- tionen erwies. Die Osterinsel heißt in der Eingeborenenspra-
ren durch entsprechende Transporter (7 Kap. 21.1.3) aufgenom- che Rapanui, der neue Metabolit, ein makrozyklisches Lac-
men. Im Ruhezustand dienen sie v. a. der Triacylglycerinsynthe- 6
se, bei muskulärer Aktivität der Deckung des Energiebedarfs.
476 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

. Abb. 38.10 Struktur des Rapamycin

ton (. Abb. 38.10), wurde infolgedessen als Rapamycin be-


zeichnet. In den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass
Rapamycin ein potentes Immunsuppressivum ist und außer-
dem Wachstum und Proliferation vieler Zellen hemmt. Es ist
unter dem Handelsnamen Sirolimus erhältlich. Der wachs-
tumshemmende Effekt von Rapamycin wird auch in der Kar- . Abb. 38.11 Regulation und Wirkungsweise der Proteinkinase mTOR.
diologie ausgenutzt. Beschichtet man nämlich die zum Of- PI3K: Phosphatidylinositol-3-Kinase; PDK1: phosphoinosit-dependent kina-
fenhalten verengter Koronargefäße verwendeten Stents se-1; PKB: Proteinkinase B; AMPK: AMP-abhängige Proteinkinase. (Einzel-
(kleine Gitterröhrchen) mit Rapamycin oder einem Rapamy- heiten s. Text)
cinderivat, so ist die Häufigkeit einer durch übersteigertes
Zellwachstum ausgelösten Restenosierung wesentlich ge-
ringer. se genau reguliert wird (. Abb. 38.11). Für die mTOR-Aktivität
Die biochemische Untersuchung der Rapamycinwirkung hat ist das kleine G-Protein Rheb essentiell. Dieses unterliegt einer
zu der Entdeckung geführt, dass seine einzige molekulare komplexen Regulation durch Aminosäuren, besonders essentiel-
38 Wirkung die Bindung an eine Proteinkinase ist, die dadurch len, auf der einen und Wachstumsfaktoren oder Insulin auf der
inaktiviert wird. Dementsprechend wird diese Proteinkinase anderen Seite. Im Zentrum dieser Regulation steht das heterodi-
auch als TOR (target of rapamycin) bezeichnet. mere Tumorsuppressorprotein TSC1/TSC2:
4 Besonders die aus den Nahrungsproteinen gewonnenen
Aminosäuren führen zu einer Aktivierung der Proteinkina-
TOR ist eine Proteinkinase, die sich bei allen Eukaryonten von se mTOR. Dabei stehen zwei Effekte im Vordergrund, aller-
der Hefe bis zu den spezialisierten Zellen von Säugetieren nach- dings sind die molekularen Mechanismen noch nicht voll-
weisen lässt. Sie ist für die Koordinierung des Stoffwechsels bei ständig bekannt. Aminosäuren hemmen einerseits TSC1/
Nahrungsangebot, besonders bei Angebot von Aminosäuren, TSC2, zusätzlich gibt es auch Hinweise dafür, dass sie das
verantwortlich. Bei einzelligen Organismen löst TOR hauptsäch- G-Protein Rheb direkt stimulieren.
lich eine Steigerung der Proteinbiosynthese und daran anschlie- 4 TSC1/TSC2 wirkt als GTPase-aktivierendes Protein auf
ßend der Proliferation aus. Auch bei den Zellen höherer Orga- Rheb/GTP und inaktiviert es damit.
nismen steht dieser Effekt der Proteinkinase TOR im Vorder- 4 Phosphorylierung von TSC1/TSC2 durch die Protein-
grund, allerdings ist ihr Wirkungsspektrum ebenso wie die Re- kinase B (PKB) führt zu dessen Inaktivierung.
gulation ihrer Aktivität wesentlich komplexer (. Abb. 38.11). 4 PKB wird über beschriebene Reaktionskaskaden (7 Kap.
Bei Säugetieren ist die Proteinkinase mTOR (mammalian 36.6 und 7 Kap. 35.4.3) unter Zwischenschaltung der Kina-
TOR) nur im Komplex mit assoziierten Proteinen aktiv. Substrate sen PI3-Kinase und PDK-1 durch Insulin, IGF-1 bzw. sol-
von mTOR sind Proteine, deren Phosphorylierung eine Steige- che Wachstumsfaktoren aktiviert, die an Rezeptoren mit
rung der zellulären Translationsaktivität (7 Kap. 48.3.3), Riboso- Tyrosin-Kinaseaktivität binden.
menbiogenese, aber auch der Zelldifferenzierung und ggf. der
Proliferation auslöst. Diese Erkenntnisse beruhen überwiegend Energiemangel, der zu einer Aktivierung der AMP-abhängigen
auf der Hemmwirkung von Rapamycin, da die entsprechenden Proteinkinase (s. o.) führt, löst ebenso wie Hypoxie eine Aktivie-
molekularen Mechanismen nur im Einzelfall aufgeklärt sind. rung des TSC1/TSC2-Proteins und damit eine Hemmung von
Angesichts des vielfältigen Wirkungsspektrums von mTOR Rheb aus, die zur Inaktivierung von mTOR führt. Die TSC1/
ist es nicht verwunderlich, dass die Aktivität dieser Proteinkina- TSC2-Proteine haben damit eine wichtige Funktion bei der Re-
38.2 · Stoffwechsel bei Nahrungszufuhr
477 38
aktiviert. Das hierfür verantwortliche Enzym ist die Acyl-CoA-
Synthetase. Acyl-CoA ist das Substrat der Triacylglycerinsyn-
these. Das benötigte Glycerin-3-Phosphat stammt aus dem Glu-
coseabbau, da es durch Reduktion von Dihydroxyacetonphos-
phat bereitgestellt wird. Das bei der Hydrolyse der Triacylglyce-
rine durch die Lipoproteinlipase entstehende Glycerin kann
mangels einer aktiven Glycerinkinase vom Fettgewebe selbst
nicht verwertet werden, sondern wird in der Leber metabolisiert.
Ähnlich wie in der Leber ist eine de novo-Lipogenese aus-
schließlich aus Glucose im Fettgewebe nur unter sehr speziellen
Bedingungen möglich. Sie setzt den vollständigen Abbau von
Glucose zu Pyruvat und dessen Umwandlung zu Acetyl-CoA
voraus, das dann für die Fettsäurebiosynthese benutzt wird. Der
Pentosephosphatweg (7 Kap. 14.1.2) bzw. das Malatenzym
(7 Kap. 21.2.3) liefern das hierfür benötigte NADPH/H+.
Die Möglichkeit zur de novo-Lipogenese variiert von Spezies
zu Spezies und ist v. a. vom Fettgehalt der Nahrung abhängig. Die
Bedeutung der Kohlenhydratmast für den Fettansatz ist seit lan-
ger Zeit für viele Nutztiere bekannt, setzt aber eine relativ kohlen-
hydratreiche Mast voraus. Im Gegensatz dazu zeigen bei dem für
. Abb. 38.12 Schematische Darstellung der Lipogenese im Fettgewebe. die menschliche Ernährung typischen Fettgehalt von ca. 40 % die
Das für die Triacylglycerinbiosynthese benötigte Glycerin-3-Phosphat (GAP) für die Fettsäuresynthese aus Kohlenhydraten benötigten Enzyme
entsteht aus dem Glycolyse-Zwischenprodukt Dihydroxyacetonphosphat. Pyruvatdehydrogenase, ATP:Citratlyase, Acetyl-CoA-Carboxy-
Der Fettsäureanteil wird durch Aufnahme von Fettsäuren gedeckt, die
lase und Fettsäuresynthase nur sehr geringe Aktivitäten. Die de
durch die Wirkung der Lipoproteinlipase aus den Triacylglycerinen der Li-
poproteine entstehen. Insulin spielt eine entscheidende Rolle als Induktor novo-Biosynthese von Triacylglycerinen aus Glucose ist dem-
der LPL und Stimulator der Glucoseaufnahme. Eine de novo-Lipogenese aus nach nur von untergeordneter Bedeutung. Der Fettsäurebedarf
Acetyl-CoA spielt nur eine minimale Rolle. DHAP: Dihydroxyaceton-Phos- für die Lipogenese wird beim Menschen fast ausschließlich über
phat; FATP: Fettsäuretransporter; GLUT: Glucosetransporter; LPL: Lipoprote- die in der Nahrung enthaltenen Fettsäuren gedeckt.
inlipase

gulation von mTOR. Die Phosphorylierung von TSC1/TSC2- 38.2.2 Hormonelle Regulation des Stoffwechsels
Proteinen durch die PKB führt zu ihrer Inaktivierung, die alter- bei Nahrungszufuhr
native, an einer anderen Stelle erfolgende Phosphorylierung
durch AMPK zu ihrer Aktivierung. Nach der enteralen Resorption der üblichen gemischten Mahl-
Damit steht die Proteinkinase mTOR im Zentrum eines kom- zeiten kommt es im Blutplasma zu
plexen Regulationssystems, das in allen Zellen nachweisbar ist. Es 4 einem Konzentrationsanstieg von Glucose und Amino-
ist besonders in der Muskelzelle für die Steigerung von Translati- säuren,
on und Zellwachstum sowie auch für die Zellproliferation bei 4 einer Zunahme des Gehalts an Chylomikronen,
Überschuss an Nahrungsstoffen und entsprechender Stimulation 4 einem Anstieg des Insulinspiegels.
durch Wachstumsfaktoren und Insulin verantwortlich.
Das Ausmaß der durch Aminosäuren ausgelösten Protein- Die Substratspeicherung in der Resorptionsphase
biosynthese hängt darüber hinaus auch von der körperlichen hängt vom Überwiegen des Insulins
Aktivität ab. über seine Antagonisten ab
Die durch den Resorptionsvorgang ausgelöste Erhöhung der
Die für die Lipogenese des Fettgewebes Blutglucosekonzentration führt zu einer deutlichen Stimulie-
benötigten Fettsäuren stammen aus rung der Insulinsekretion mit einem Anstieg des Plasma-In-
Chylomikronen und VLDL sulinspiegels (7 Kap. 36.3). Dies ermöglicht eine koordinierte
Die Lipogenese, d. h. die Biosynthese von Triacylglycerinen ist Substratspeicherung in den hierfür hauptsächlich verantwortli-
die wichtigste Funktion des Fettgewebes bei einem Überschuss chen Geweben. Die spezifischen Effekte erhöhter Insulinspiegel
an Nahrungsstoffen (. Abb. 38.12). Das Ausgangsmaterial hier- auf den Stoffwechsel von Leber, Skelettmuskulatur und Fettgewe-
für sind die Chylomikronen bzw. VLDL (7 Kap. 24.2). Diese wer- be sind in . Tab. 38.3 zusammengestellt. Da sie nahezu alle Be-
den durch die Lipoproteinlipase zu Fettsäuren und Glycerin reiche des Stoffwechsels betreffen, kann man gut verstehen, dass
hydrolysiert. Die Lipoproteinlipase ist in besonders hoher Akti- ein Mangel oder Fehlen von Insulin zu dem rasch lebensbedroh-
vität am Endothel der das Fettgewebe versorgenden Kapillaren lichen Krankheitsbild des Typ-I-Diabetes mellitus (7 Kap. 36.7.1)
sowie an der Außenseite der Plasmamembran der Adipocyten führt.
nachweisbar. Die dabei entstehenden Fettsäuren werden durch
verschiedene Transportsysteme aufgenommen und zu Acyl-CoA
478 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

. Tab. 38.3 Spezifische Effekte von Insulin auf den Stoffwechsel


von Leber, Fettgewebe und Muskulatur. + Stimulierung; – Hem-
mung; Ø kein Effekt

Vorgang Leber Fettgewebe Muskulatur

Glucoseaufnahme + + +
(indirekt)

Glycogenbiosynthese + Ø +

Glycogenolyse – Ø –

Glycolyse + + +
. Abb. 38.13 Oraler Glucosetoleranztest. Grün: normaler Glucosetoleranz-
Gluconeogenese – Ø Ø test; Rot: Glucosetoleranztest bei Diabetes mellitus
Aminosäureaufnahme + Ø +

Proteinbiosynthese (+) Ø +
tase spielt Leptin eine entscheidende Rolle, da es im Hypothala-
Induktion der Lipo- Ø + + mus die für die Appetitauslösung zuständigen Zentren hemmt
proteinlipase
und dagegen die Sättigungszentren aktiviert (7 Kap. 38.3.3). Lep-
Triacylglycerinsynthese + + Ø tin ist außerdem für die Entwicklung der Gonadenfunktion un-
Lipolyse Ø – Ø erlässlich, reguliert die Knochenmasse und ist ein Modulator der
Immunfunktion.
VLDL-Synthese und + Ø Ø
Sekretion Die Funktionen des Fettgewebes sind nicht nur auf Triacyl-
glycerinbiosynthese bei Nahrungszufuhr und Lipolyse bei Nah-
rungskarenz beschränkt. Die Entdeckung des Hormons Leptin
hat gezeigt, dass es durch die Produktion von Hormonen aktiv an
Glucosetoleranztests überprüfen die Fähigkeit zur der Regulation der Körper- und Fettmasse teilnimmt. Da auch
Insulin-induzierten Glucoseverwertung weitere Hormone von den Zellen des Fettgewebes produziert
Die durch die enteralen Resorptionsvorgänge ausgelöste Erhö- werden, kann es als eine Art endokrines Organ aufgefasst wer-
hung der Blutglucosekonzentration führt reaktiv zu einer Steige- den. Vom Fettgewebe synthetisierte und sezernierte Faktoren
rung der Insulinsekretion. Dadurch kommt es zu einer gesteiger- werden als Adipokine bezeichnet (. Tab. 38.4).
ten Glucoseaufnahme in die Gewebe und damit zur Normalisie- Das vom Fettgewebe freigesetzte Peptidhormon Adiponec-
rung des Blutzuckers. Die Intaktheit dieses Regelkreises wird tin wirkt wie Leptin systemisch. Es hemmt v. a. durch Repression
38 durch die Glucosetoleranztests überprüft. der PEPCK die Gluconeogenese und damit die Glucosefreiset-
. Abb. 38.13 zeigt den Verlauf eines oralen Glucosetoleranz- zung in der Leber und stimuliert die Oxidation von Fettsäuren in
tests (OGTT). Der Untersuchte nimmt 100 g Glucose als Trink- der Skelettmuskulatur. Auf diese Weise kann es die Folgen einer
lösung zu sich und der Verlauf der Blutglucosekonzentration mit einem metabolischen Syndrom einhergehenden Insulinre-
wird anschließend während der nächsten Stunden ermittelt. In- sistenz beheben (7 Kap. 36.7.2).
nerhalb der ersten 30 min steigt die Blutglucose zunächst steil an, Das Peptidhormon Resistin wird bei Nagern von Adipocy-
danach setzt die insulininduzierte Gegenreaktion ein, sodass sich ten, beim Menschen von mit dem Fettgewebe assoziierten Mak-
nach spätestens 2 h eine weitgehende Normalisierung des Blut- rophagen produziert. Es vermindert die Insulinempfindlichkeit
zuckers einstellt. Liegt allerdings eine Insulinresistenz oder gar vieler Gewebe.
ein Diabetes mellitus vor (7 Kap. 36.7), findet sich neben einem Die Stromazellen des Fettgewebes sind beim Mann wäh-
etwas steileren Anstieg des Blutzuckers auf deutlich höhere Wer- rend des ganzen Lebens und bei der Frau nach der Menopause die
te in der ersten Phase der Belastung vor allem eine Verzögerung einzige Produktionsstätte für Östrogene. Da Östrogenrezeptoren
des Blutzuckerabfalls. Diese sog. gestörte Glucosetoleranz er- auf den Fettzellen selbst nicht nachweisbar sind, muss man anneh-
möglicht allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Insulin- men, dass Fettgewebe zur Östrogenversorgung des Organismus
resistenz oder dem Mangel an Insulin. beiträgt. Ob die Produktion und Sekretion von Angiotensinogen
im Fettgewebe etwas mit der beim metabolischen Syndrom häufig
Das Fettgewebe produziert eine Reihe von Hormonen anzutreffenden Hypertonie zu tun hat, ist noch unklar.
1994 wurde entdeckt, dass das Fettgewebe ein Hormon produ- Das Fettgewebe produziert außerdem eine Reihe parakrin
ziert und an das Blutplasma abgibt, welches für die Konstanz der wirkender Faktoren. Zu diesen gehört der insulinähnliche
Fettspeicher und damit im weitesten Sinn des Körpergewichts Wachstumsfaktor IGF-1 (insulin like growth factor-1), welcher bei
von entscheidender Bedeutung ist. Es handelt sich um ein Proteo- der Bereitstellung neuer Fettzellen aus den entsprechenden Vor-
hormon aus 167 Aminosäuren, das nach dem griechischen Wort läuferzellen, den Präadipocyten, wirkt. Auch das von Makropha-
für schlank (leptos) als Leptin bezeichnet wird. Seine Plasmakon- gen des Fettgewebes sezernierte TNF-α (tumor necrosis factor α)
zentrationen sind dabei in einem weiten Bereich proportional wirkt primär lokal, allerdings als Antagonist zum IGF-1. Es führt
zur Fettmasse. Bei der Langzeitregulation der Energiehomöos- zu einer Hemmung der Lipogenese und einer Steigerung der
38.3 · Steuerung der Nahrungsaufnahme über Appetit und Sättigungsgefühl
479 38

. Tab. 38.4 Vom Fettgewebe produzierte und sezernierte Adipokine (Auswahl)

Mediator/Hormon Wirkungsweise Wichtigster biologischer Effekt Produziert von

Leptin Systemisch Hemmung der Nahrungsaufnahme Adipocyten

Adiponectin Systemisch Steigerung der Insulinempfindlichkeit (Aktivierung der Adipocyten


AMP-abhängigen Kinase)

Resistin Systemisch Auslösung von Insulinresistenz Makrophagen des Fettgewebesa

Östrogene Systemisch Alle Östrogeneffekte, keine Wirkung am Fettgewebe Stromazellen; wegen Aromatase-Aktivität
Umwandlung von Androgenen in Östrogene

Angiotensinogen Systemisch Erhöhung des Blutdrucks Adipocyten, Stromazellen

IGF-1 Parakrin Differenzierung von Präadipocyten Adipocyten

TNF-α Parakrin Hemmung der Differenzierung von Präadipocyten; Makrophagen des Fettgewebes
Hemmung der Expression von Adiponectin
a Nur beim Menschen, bei Nagern wird Resistin von Adipocyten produziert.

Lipolyse. Darüber hinaus hemmt es die Differenzierung von


Präadipocyten und kann eine Apoptose bereits existierender Bereitstellung von Fettsäuren aus Chylomikronen und deren
Adipocyten auslösen. Einbau in Triacylglycerine im Fettgewebe. Neben Aminosäu-
ren sind Insulin und Wachstumsfaktoren mit ähnlichem Wir-
kungsspektrum für die Steigerung von Proteinbiosynthese
Zusammenfassung und Zellwachstum verantwortlich. Diese aktivieren u. a. die
Über ihre Verwendung zur Deckung des Energiehaushaltes Proteinkinase mTOR.
hinaus müssen die im Überschuss aufgenommenen Nah-
rungsstoffe so verarbeitet werden, dass die für die wichtigs-
ten Speicherorgane typischen Energiespeicher aufgebaut
werden. 38.3 Steuerung der Nahrungsaufnahme über
Dabei verwendet die Leber Appetit und Sättigungsgefühl
4 Glucose zur Glycogenbiosynthese und unter entspre-
chenden Stoffwechselbedingungen zu einem gewissen Vielfältige neuronale und humorale Faktoren
Teil zum Abbau in der Glycolyse, regulieren die Nahrungsaufnahme
4 Fettsäuren überwiegend zur Triacylglycerinbiosynthese Die Regulation der Nahrungsaufnahme über Hunger- und Sätti-
und der Abgabe an die Zirkulation in Form von VLDL und gungswahrnehmungen wird über eine Vielzahl von Faktoren
4 Aminosäuren für die Proteinbiosynthese, wobei ein Teil gesteuert, die nicht nur den Energiestatus des Organismus abbil-
der Proteine in die Zirkulation abgegeben wird. Gluco- den, sondern ebenso seine Versorgung mit einzelnen Nährstoff-
gene Aminosäuren werden für die Biosynthese von gruppen. Die Kalorienzufuhr durch die Nahrung wird dem
Glycogen verwendet. Energieverbrauch angepasst und zum Erhalt der Energiehomöo-
stase über mehrere sensorische Systeme erfasst und reguliert. Als
Im Skelettmuskel werden wie in der Leber Glucose zur Syn- zentrales Steuerungselement dient das Gehirn, in dem alle Infor-
these von Glycogen und Lipide zur Triacylglycerinsynthese mationen über den Ernährungszustand integriert werden und
benutzt. eine koordinierte Antwort auf die eingehenden Signale erfolgt.
Das quantitativ wichtigste Organ der Energiespeicherung ist Afferente Signale können neuronaler oder humoraler Art sein,
das Fettgewebe. Nach Spaltung durch die Lipoproteinlipase während efferente Signale des Gehirns zu einer motorischen
nimmt es die Fettsäuren der Nahrungslipide auf und ver- Steigerung der Aktivität zur Nahrungsaufnahme führen.
wendet diese zur Triacylglycerinsynthese. Wegen der außer- Angesichts der Tatsache, dass die Nahrungsaufnahme dis-
ordentlichen Fähigkeit des Fettgewebes zur Massenzunah- kontinuierlich erfolgt, Mahlzeitenfrequenz und Nahrungszu-
me sind die Möglichkeiten zur Triacylglycerinspeicherung sammensetzung eine große Variation zeigen und körperliche
sehr groß. Aktivitäten enorm wechseln können, ist es erstaunlich, dass bei
Als Koordinator der genannten Stoffwechselumstellungen einem beträchtlichen Teil der erwachsenen Bevölkerung das
wird das Hormon Insulin benötigt. In Leber und Muskulatur Körpergewicht über Jahre und Jahrzehnte konstant bleibt. Aus
stimuliert es die Glucoseaufnahme und Glycogensynthese. dieser Tatsache kann geschlossen werden, dass es nicht nur kurz-
Durch Stimulierung der Lipoproteinlipase ermöglicht es die fristige Signale des Hungerns und der Sättigung gibt, sondern
6 auch der Energiestatus des Körpers über lange Zeiträume gemes-
sen und reguliert wird.
480 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

Im Jahr 1900 wurde unabhängig von Francois Babinsky und


Alfred Fröhlich ein Krankheitsbild beschrieben, das mit Adipo-
sitas, hypogonadotropem Hypogonadismus und Kleinwuchs
einhergeht und als Dystrophia adiposogenitalis bezeichnet
wird. Ursache der sehr seltenen Erkrankung sind Tumore im
Hypothalamusbereich, meist Kraniopharyngeome. Später konn-
te gezeigt werden, dass die sog. hypothalamische Fettsucht auch
tierexperimentell durch Zerstörung bestimmter hypothalami-
scher Kernareale ausgelöst werden kann. Aus diesen Beobach-
tungen wurde geschlossen, dass im Hypothalamus eine Zentrale
lokalisiert ist, welche die verschiedensten afferenten Signale auf-
nimmt und zur Erzeugung von Hunger bzw. Sättigung benutzt.
Nervale und hormonelle Signale aus dem Intestinaltrakt vermit-
teln dabei die kurzfristige Regulation, während über den länger-
fristigen Energiehaushalt Signale aus dem Fettgewebe als dem
wichtigsten Energiespeicher verwendet werden.

38.3.1 Hypothalamische Steuerung


. Abb. 38.14 Die hypothalamische Regulation der Energiehomöostase
der Nahrungsaufnahme und ihre Regulation durch intestinale Hormone und Adipokine. AgRP:
agouti related peptide; CART: cocaine and amphetamine regulated transcript;
. Abb. 38.14 stellt in schematischer Form die am Appetit- und CCK: Cholecystokinin; GLP1: glucagon-like peptide 1; α-MSH: Melanocyten
Sättigungsverhalten beteiligten hypothalamischen Kerne und stimulierendes Hormon α; NPY: Neuropeptid Y; OXM: Oxyntomodulin;
ihre Verknüpfung mit peripheren Signalen dar: POMC: Proopiomelanocortin; PYY: Peptid YY. (Einzelheiten s. Text)

4 Der Nucleus arcuatus des Hypothalamus integriert die


kurz- und langfristigen Signale aus den Energiespeichern
und dem Intestinaltrakt. Wegen Besonderheiten der Blut- 38.3.2 Orexigene und anorexigene Hormone
Hirn-Schranke in diesem Bereich ist der Übertritt von des Intestinums
Peptiden aus der Blutzirkulation möglich. Er verfügt über
Neurone, die Appetit bzw. Sättigung auslösen und als orexi- Im Intestinaltrakt werden verschiedene Peptidhormone als Ant-
gene (griech. orexis: Verlangen, Appetit) bzw. anorexigene wort auf spezifische Nahrungsbestandteile oder den jeweiligen
Neurone bezeichnet werden. Funktionszustand gebildet und in die Blutzirkulation abgegeben
38 4 Appetitverhalten stimulierende orexigene Neurone des (. Abb. 38.14). Orexigene Peptidhormone stimulieren die Nah-
Nucleus arcuatus exprimieren das Neuropeptid Y (NPY) rungsaufnahme, anorexigene lösen das Sättigungsgefühl aus.
und das sog. agouti related peptide (AgRP) und werden als Peptide, die im Zusammenhang mit akuter Nahrungsaufnahme
NPY bzw. AgRP-Neurone bezeichnet. gebildet werden, dienen eher der kurzfristigen Regulation von
4 Sättigungsverhalten auslösende anorexigene Neurone des Appetit und Sättigung. . Tab. 38.5 gibt einen Überblick über die
Nucleus arcuatus exprimieren Proopiomelanocortin am besten charakterisierten intestinalen Hormone. Außer den
(POMC), den Präkursor von α-Melanocyten- genannten ist für eine große Zahl weiterer hier nicht besproche-
stimulierendem Hormon (α-MSH) und das sog. cocaine ner intestinaler Peptide und Faktoren ein Zusammenhang mit
and amphetamine regulated transcript (CART) und werden der Regulation von Appetit und Sättigung wahrscheinlich.
als POMC- bzw. CART-Neurone bezeichnet. Spezifische Rezeptoren für alle aufgeführten Peptide sind im
4 Die Neurone des Nucleus arcuatus projizieren in überge- Nucleus arcuatus nachgewiesen. Allerdings bedeutet dies nicht,
ordnete hypothalamische Kernareale (Nucleus paraventri- dass ihre Effekte ausschließlich über diesen Weg vermittelt wer-
cularis und das laterale hypothalamische Areal), wo sich den. Häufig konnte gezeigt werden, dass ihre Wirkung auch über
entsprechende Rezeptoren, v. a. für NPY, α-MSH und afferente Fasern des N. vagus zustande kommt, die im Nucleus
AgRP befinden. Dort werden weitere humorale und nervale tractus solitarii enden und von dort in die verschiedensten Hirn-
Signale integriert und damit letztlich die vielfältigen Me- regionen weitergeleitet werden.
chanismen ausgelöst, die zu Appetit- bzw. Sättigungsverhal-
ten führen. Zu diesen gehören u. a. vagale Afferenzen (z. B. Ghrelin ist das einzige orexigene,
Magendehnung), zirkulierende Nährstoffe (Hypoglykämien den Appetit stimulierende intestinale Hormon
lösen Hunger aus!) oder sensorische Wahrnehmungen (wie Ghrelin (7 Kap. 42.1.1 und 7 Kap. 61.2) ist ein aus 28 Aminosäu-
Geruch, Geschmack und Aussehen der Speisen). ren bestehendes Peptid, welches ursprünglich als Stimulator der
Sekretion von Wachstumshormon identifiziert wurde. Es wird
überwiegend in den sog. oxyntischen Zellen des Magens gebildet
und an das Blut abgegeben. Im Nüchternzustand und besonders
vor Mahlzeiten finden sich hohe Ghrelinkonzentrationen im
38.3 · Steuerung der Nahrungsaufnahme über Appetit und Sättigungsgefühl
481 38

. Tab. 38.5 Gastrointestinale Peptidhormone, die Appetit und Sättigung regulieren (Auswahl)

Bezeichnung Ort der Sekretion Effekt auf Appetit

Ghrelin Oxyntische Zellen der Magenmukosa

Cholecystokinin (CCK) I-Zellen im Duodenum und Jejunum

Glucagon-like peptide 1 (GLP1) L-Zellen im Dünndarm

Oxyntomodulin (OXM) L-Zellen im Ileum und Colon

Peptid YY (PYY) L-Zellen im Dünndarm

Pankreatisches Polypeptid (PP) Exokriner Pankreas, Peripherie der Langerhans-Inseln

Blutplasma, nach Mahlzeiten sinken diese rasch auf niedere Wer- Nahrungsstoffe im Dünndarm ausgelöst. PYY wirkt wahrschein-
te ab. Ghrelin stimuliert im Nucleus arcuatus die NPY- bzw. lich über eine Hemmung der orexigenen Neurone im Nucleus
AgRP-Neurone. Dies führt zu einer Stimulierung des Appetits. arcuatus durch Interaktion mit einem inhibitorischen Y2-Rezep-
Gleichzeitig hemmen v. a. die AgRP-Neurone die POMC-Neuro- tor. Die molekulare Ursache der anorexigenen Wirkung des PP
ne, was eine Unterdrückung der Sättigung auslöst. ist noch nicht bekannt.

Cholecystokinin wirkt hauptsächlich durch


Stimulierung von Vagusfasern anorexigen 38.3.3 Anpassung von Energiezufuhr
Cholecystokinin (CCK; 7 Kap. 61.2) wird in den I-Zellen von und Energieverbrauch durch Adipokine
Duodenum und Ileum als Antwort auf die Anwesenheit von Fett-
säuren, Aminosäuren und Peptiden im Duodenallumen gebildet. Neben der oben besprochenen kurzfristigen Regulation von Ap-
Von den verschiedenen durch posttranslationale Proteolyse ent- petit und Sättigung ist auch eine längerfristige Anpassung der
stehenden Formen ist die aus 33 Aminosäuren bestehende Energiezufuhr an den Energieverbrauch notwendig, damit sich
(CCK33) am wirkungsvollsten. Cholecystokinin löst neben sei- der Organismus in einem stabilen Gleichgewichtszustand bezüg-
nen pankreatischen Wirkungen eine über Stunden anhaltende lich seiner Energiereserven und seines Körpergewichts befindet.
Hemmung des Appetits aus. Beide Wirkungen werden über ent- Die hierbei zum Tragen kommenden Mechanismen werden auch
sprechende CCK-Rezeptoren auf efferente Fasern des N. vagus unter dem Begriff der Energiehomöostase zusammengefasst.
weitergeleitet. Wie groß der Anteil der CCK-Rezeptoren im Nu- Vom Fettgewebe als dem wichtigsten Energiespeicher des Orga-
cleus arcuatus an der anorexigenen Wirkung des CCK ist, ist nismus produzierte Adipokine spielen hierbei eine entscheiden-
noch nicht klar. de Rolle. Von besonderer Bedeutung sind das Leptin und mög-
licherweise auch Adiponectin.
Die vom Glucagon abgeleiteten Peptide GLP1
und Oxyntomodulin sowie das Peptid YY Leptin hemmt die orexigenen und stimuliert
und das pankreatische Polypeptid wirken anorexigen die anorexigenen Neurone des Nucleus arcuatus
GLP1 und Oxyntomodulin (OXM) (7 Kap. 37.1.2) sind im Intes- Bei normalgewichtigen Erwachsenen bleibt die Körpermasse
tinaltrakt gebildete Produkte der proteolytischen Prozessierung über lange Zeiträume ungeachtet der häufig im Überfluss ange-
des Proglucagons. Sie werden wegen ihrer stimulierenden Wir- botenen Nahrung konstant. Hieran hat das von Fettzellen sezer-
kung auf die Insulinsekretion auch als Inkretine (7 Kap. 36.3) nierte Peptidhormon Leptin (7 Kap. 38.2.2) einen erheblichen
bezeichnet. Für beide Peptide, die als Antwort auf die Anwesen- Anteil. Leptin wurde durch die gelungene Identifikation des
heit von Nahrungsstoffen im Dünndarm sezerniert werden, ist Gendefekts entdeckt, der bei genetisch fettsüchtigen (engl. obe-
eine anorexigene Wirkung nachgewiesen. Über den genauen se) ob/ob-Mäusen (. Abb. 38.15) für die Fettsucht verantwort-
Mechanismus ihrer Wirkung besteht noch keine Klarheit. So lich ist. Sein Gen-Produkt Leptin wird bei der ob/ob-Maus infol-
hemmt GLP1 die Magenmotilität und stimuliert die Insulinse- ge einer zu einem Stopcodon führenden Mutation nicht mehr
kretion, während Oxyntomodulin die Ghrelin produzierenden gebildet. Hauptursache für die Fettsucht der ob/ob-Mäuse ist
Zellen der Magenmukosa hemmt. Aufgrund des Vorkommens eine Hyperphagie. Diese kann mit rekombinantem Leptin besei-
entsprechender Rezeptoren im Nucleus arcuatus nimmt man an, tigt werden, wodurch auch die Fettsucht verschwindet. Das
dass sie stimulierend auf die anorexigenen Neurone und hem- Schema der Gewichtsreduktion durch Leptin ist in . Abb. 38.16
mend auf die orexigenen wirken. Auch die in jüngster Zeit zur dargestellt:
Behandlung des Typ-2-Diabetes eingesetzten Inkretinmimetika 4 Aktive Lipogenese und Zunahme der Fettmasse sind
haben eine anorektische Wirkung. die Signale zur Sekretion von Leptin durch das
Auch für das im Intestinaltrakt gebildete Peptid YY (PYY) Fettgewebe.
und das pankreatische Polypeptid (PP) ist eine anorexigene 4 Mit Hilfe spezifischer Transportsysteme wird Leptin durch
Wirkung nachgewiesen. Die Sekretion beider Peptide wird durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert.
482 Kapitel 38 · Integration und hormonelle Regulation des Energiestoffwechsels

. Abb. 38.16 Einfluss von Leptin auf die Nahrungsaufnahme. (Einzel-


heiten s. Text)

. Abb. 38.15 Adipöse ob/ob-Maus. Bei der rechts dargestellten adipösen


ob/ob-Maus liegt eine Punktmutation im Leptingen vor, weswegen kein masse ab, sondern spiegelt die metabolische Situation und die
Leptin mehr produziert und eine Hyperphagie ausgelöst wird. Die linke Versorgung mit Nahrungsstoffen wider.
Maus ist ein normalgewichtiges Wurfgeschwister ohne den Defekt.
Das Adipokin Adiponectin wird umgekehrt proportional zur
(Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. L. Herberg, Düsseldorf )
Fettmasse von Adipocyten gebildet und sezerniert. Es erhöht die
Insulinempfindlichkeit peripherer Organe über inzwischen cha-
rakterisierte Adiponectinrezeptoren. Diese sind interessanter-
4 Im Nucleus arcuatus des Hypothalamus bindet das Hormon weise auch im hypothalamischen Nucleus arcuatus nachgewie-
an spezifische Rezeptoren, die zur Familie der Rezeptoren sen worden. Da die intraventrikuläre Injektion von Adiponectin
mit assoziierten Proteinkinasen (7 Kap. 35.5) gehören. widersprüchliche Effekte auf die Nahrungsaufnahme zeigte, ist
4 Im orexigenen Anteil des Nucleus arcuatus werden v. a. die die Bedeutung von Adiponectin für die hypothalamische Regu-
NPY-produzierenden Neurone und damit der Appetit ge- lation der Energiehomöostase noch unklar.
hemmt (. Abb. 38.14).
4 Im anorexigenen Anteil des Nucleus arcuatus werden die
POMC-Neuronen aktiviert und somit die Sättigung stimu- Zusammenfassung
liert (. Abb. 38.14). Für die Regulation des Hunger- oder Sättigungsverhaltens
sind hypothalamische Kerne verantwortlich:
Damit wird ein Regelkreis gebildet, der eine weitgehende Kon- Der Nucleus arcuatus enthält anorexigene Neurone, die
stanz des Körpergewichts gewährleistet (. Abb. 38.16). Bei zu- α-MSH und CART exprimieren, außerdem orexigene Neuro-
38 nehmender Fettmasse wird Leptin vermehrt sezerniert, was eine ne, welche NPY und AgRP bilden.
Hemmung der Nahrungsaufnahme auslöst, die zu einer Norma- Anorexigene und orexigene Neurone projizieren in paraven-
lisierung des Körpergewichts führt. triculäre und laterale hypothalamische Areale. Von diesen
Die Aktivierung der in anderen Geweben, v. a. dem Fettge- gehen die zu Appetit- bzw. Sättigungsverhalten führenden
webe, nachweisbaren Leptinrezeptoren führen zu einem gestei- efferenten Signale aus.
gerten Energieverbrauch. Die hierbei zugrunde liegenden Me- Vom Intestinaltrakt gehen hormonelle Signale aus, die für
chanismen sind noch nicht endgültig geklärt. eine kurzfristige Regulation von Appetit bzw. Sättigung sor-
Bei der immer mehr zunehmenden Häufigkeit des Überge- gen. Ghrelin hat dabei einen orexigenen Effekt. CCK, GLP1,
wichts und der Adipositas (in Industriegesellschaften zusammen Oxyntomodulin und das pankreatische Polypeptid wirken
bis zu 40 % der Erwachsenen) ergibt sich die Frage nach einer anorexigen.
Beteiligung des Leptins am Zustandekommen dieses Krankheits- Signale für die längerfristige Energiehomöostase sind das an-
bildes. Bei menschlichen Fettsuchtsformen scheint kein Defekt orexigen wirkende Leptin aus dem Fettgewebe und Insulin.
der Leptingenexpression vorzuliegen, da auch bei schwer Über-
gewichtigen die Plasmaleptinspiegel mit der Körperfettmasse
korrelieren. Möglicherweise spielt aber eine Leptinresistenz eine 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Rolle bei der Entstehung der Adipositas beim Menschen.

Auch Insulin und Adiponectin tragen


zur Energiehomöostase bei
Das Zentralnervensystem gehört nicht zu den Organen, deren
Stoffwechsel durch Insulin reguliert wird (7 Kap. 36.5), aller-
dings kann Insulin die Blut-Hirn-Schranke passieren. Insulinre-
zeptoren kommen im Nucleus arcuatus vor, wo Insulin die glei-
chen Effekte auslöst wie Leptin (. Abb. 38.14). Allerdings hängt
die Insulinsekretion nicht wie diejenige des Leptins von der Fett-
483 39

39 Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse


Josef Köhrle, Lutz Schomburg, Ulrich Schweizer

Einleitung

Der Hypothalamus ist mit der Hypophyse über das Infundibulum ver-
bunden; hieraus ergibt sich eine anatomische und funktionale Einheit,
die als übergeordnetes Zentrum die hierarchisch organisierten Hormon-
achsen steuert. Releasing- und release-inhibiting-Hormone werden
pulsatil aus parvizellulären Neuronen der hypothalmischen Kerne in
den Primärplexus der Eminentia mediana des Hypophysenstiels frei-
gesetzt und erreichen über das Portalblutsystem die hormonprodu-
zierenden Zellen der Adenohypophyse. Durch die glandotropen Hor-
mone dieser übergeordneten Steuereinheit aus Hypothalamus und
Hypophyse wird die Aktivität der Zielorgane (endokrine Drüsen, Leber,
Niere, etc.) reguliert. Über eine feedback-Regulation durch die peripher
gebildeten Hormone und Stoffwechselmetabolite erfolgt die nötige
Rückkopplung und Feineinstellung der Hormonachsen. In der Neuro-
hypophyse (Hypophysenhinterlappen) enden die Axone von magnozel-
lulären, miteinander vernetzten Neuronengruppen der hypothalmi-
schen Kerngebiete N. paraventricularis und N. supraopticus. Hier wer-
den die zyklischen Nonapeptide Oxytocin und Arginin-Vasopressin
sezerniert. Zusammengenommen ergibt sich ein fein aufeinander abge-
stimmtes System zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der wichtigs-
ten Körperfunktionen.

Schwerpunkte

4 Hypothalamisch-hypophysäre Einheit
4 Freisetzung und Modifikation hypothalamischer Hormone
4 Hypothalamisch-hypophysäre Hormonachsen
4 Freisetzung und Regulation der sechs glandotropen . Abb. 39.1 Beziehungen zwischen den hypothalamischen Kerngebieten
Hormone der Adenohypophyse und der Hypophyse. Regulatorische Polypeptide (releasing Hormone und
release inhibiting Hormone) werden in parvizellulären Neuronen verschie-
4 Hormone der Neurohypophyse
dener hypothalamischer Kerngebiete gebildet und über die Eminentia me-
4 Pathobiochemie diana in die hypophysären Portalvenen der Adenohypophyse abgegeben.
Die magnozellulären Oxytocin- und Vasopressin-produzierenden
hypothalamischen Neurone im Nucleus paraventricularis und supraopticus
sezernieren diese Neuropeptide direkt in den Gefäßplexus der Neuro-
39.1 Hypothalamus hypophyse. Parvizelluläre Neurone: blau; magnozelluläre Neurone: rot;
RH: releasing Hormone; RIH: release inhibiting Hormone. (Einzelheiten s. Text)
39.1.1 Anatomische Besonderheiten der
hypothalamisch-hypophysären Einheit
nicht über einen postsynaptischen Spalt an nachgeschaltete
Zentral für das Verständnis der hypothalamisch-hypophysären Neurone weitergeben. Durch die Freisetzung ins Blut werden
Kommunikation wurde das von Ernst Scharrer (1905–1965) und diese Neurotransmitter zu Hormonen.
Berta Scharrer (1906–1995) entwickelte Konzept der neuroen- Die Besonderheiten sind:
dokrinen Sekretion (. Abb. 39.1). Dieses besagt, dass bestimm- 4 neuroendokrine Sekretion ins Blut durch zentrale
te hypothalamische Neurone, die mit allen neuronenspezifischen Neurone
Eigenschaften ausgestattet sind, ihre peptidergen und aminergen 4 Teilnahme parenchymaler Zellen an Hormonrezeption,
Transmitter auch direkt über den interstitiellen Raum in das fe- -transport und -bildung
nestrierte Kapillarsystem der Eminentia mediana oberhalb des 4 fenestrierte Kapillarstrukturen im Bereich des Hypothala-
Hypophysenstiels und damit in die Blutbahn sezernieren und mus (also keine vollständige Blut-Hirn-Schranke)
Hypophyse Pfortader-Kreislauf Adenohypophyse Neurophypophyse Adiuretin Oxytozin Ncl. suprachiasmaticus Area dorsalis Corpus
mammillare Ncl. eUBM
P. C. Heinrich hypothalamicus dorsalis
(Hrsg.), Löffler/Petrides und und
Biochemie ventralis Ncl. paraventricularis
Pathobiochemie, Ncl. supraopticus
DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_39, Ncl. infundibularis
© Springer-Verlag Ncl. hypothalamicus
Berlin Heidelberg 2014
posterior Ncl. präopticus
484 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

. Abb. 39.2 Posttranslationale Prozessierung von Prä-Proopiomelanocortin (Prä-POMC) durch Prohormonkonvertasen (PC), Carboxypeptidase E sowie
N- und C-terminale Modifikation. Das POMC-Gen kodiert für einen 32 kDa großen Proteinvorläufer (prä-POMC), der nach Abspaltung des Signalpeptids
durch die Signalpeptidase (SPase) in den sekretorischen Syntheseweg eingeschleust wird. POMC enthält 6 Hormonsequenzen, die zellspezifisch durch limi-
tierte Proteolyse freigesetzt werden: ACTH in den corticotropen Zellen der Adenohypophyse, drei Formen des Melanocortin Rezeptor-stimulierenden Hor-
mons (MSH) in Hypothalamus, ZNS und Haut, zwei Lipotropinformen sowie β-Endorphin (Hypothalamus und Hypophyse). Die prozessierenden Enzyme sind
die Endopeptidasen Prohormonkonvertase 1/3 und 2, die Exopeptidase Carboxypeptidase E (CPE). Die C-terminale Amidierung wird durch Peptidyl-amida-
ting Monooxygenase (PAM) katalysiert. Desacetyl-MSH (DA-MSH) wird durch N-Acetyltransferase (N-AT) zum aktiven α-MSH modifiziert. ACTH: Adrenocorti-
cotropes Hormon; β-End: β-Endorphin; CLIP: corticotropinlike intermediate peptide; LPH: Lipotropes Hormon; MSH: Melanocyten stimulierendes Hormon;
PC: Prohormonkonvertase

39.1.2 Neuropeptide des Hypothalamus Posttranslationale Modifikationen von neuro-


endokrinen Peptiden sind funktionell wichtig
Neuropeptide des Hypothalamus werden in Hypothalamische Hormone können folgende posttranslatio-
spezialisierten Neuronen synthetisiert nale Modifikationen erfahren
Im Hypothalamus gibt es eng vernetzte Strukturen aus Neuronen 4 Prozessierung aus Prä-Proproteinen durch
mit verwandten Eigenschaften, sog. Kerne, welche durch Pro- Signalpeptidase(SPase), Prohormonkonvertasen (PC) und
duktion und Freisetzung spezifischer regulatorischer Peptide Carboxypeptidasen.
charakterisiert sind (. Abb. 39.1). 4 Amidierung des Carboxyterminus durch eine Peptidylgly-
39 Die magnozellulären Neurone im supraoptischen Nucleus cin-amidierende Monooxygenase (PAM)
produzieren die zyklischen Nonapeptide Oxytocin und Arginin- 4 Zyklisierung eines Glutaminrestes des Aminoterminus
Vasopressin (AVP). Diese werden über lange Axone bis in die durch die Glutaminylcyclase (GC)
Nervenendigungen der Neurohypophyse transportiert und dort 4 Zyklisierung durch Disulfidbrücken unter Beteiligung von
freigesetzt. Proteindisulfidisomerasen (PDI)
Die parvizellulären Neurone in verschiedenen hypothalami-
schen Kerngebieten (z. B. Nucleus paraventricularis, Nucleus prä- Ein Beispiel für den möglichen Umfang dieser posttranlationa-
opticus, anteriorer, ventromedialer und lateraler hypothalami- len Modifikationen ist das im Hypothalamus, der Hypophyse
scher Nucleus) synthetisieren die hypothalamischen releasing- und anderen Geweben synthetisierte Proopiomelanocortin
Hormone Cortictropin-releasing-Hormon (CRH), Thyreotropin- (POMC) (. Abb. 39.2).
releasing-Hormon (TRH), Gonadotropin-releasing-Hormon Die limitierte Proteolyse des Prä-Prohormons durch Signal-
(GnRH), growth hormone (Somatotropin)-releasing-Hormon peptidase und Prohormonkonvertase dient der gezielten Freiset-
(GHRH) bzw. die release-inhibiting-Hormone Somatostatin (SSt) zung des Proteohormonmoleküls aus dem Vorläufer bzw. der Frei-
und Dopamin (. Abb. 39.1, . Tab. 39.1). An den Beispielen von setzung mehrerer Hormone aus einem gemeinsamen Primärtrans-
CRH, TRH und Dopamin wird deutlich, dass die gleichen Boten- lationsprodukt (. Abb. 39.2). Die Signalpeptidase spaltet zunächst
stoffe als Neurotransmitter im synaptischen Spalt oder als Hormon cotranslational das Signalpeptid beim Eintritt ins endoplasmatische
über das Kapillarnetz der Eminentia mediana wirken können. Retikulum ab. Im Golgi-Apparat und den sekretorischen Vesikeln
Die Freisetzung der meisten hypothalamischen Hormone erfolgen dann weitere sequenzspezifische Spaltungen durch Pro-
zeigt eine ausgeprägte Pulsatilität. Dies wird durch enge homo- hormonkonvertasen aus der Familie der Serinendoproteasen.
typische Vernetzung dieser spezialisierten Neurone in den hypo- Diese katalysieren die Proteolyse an basischen Aminosäuren, vor-
thalamischen Kernen ermöglicht, deren Aktivierung synaptisch nehmlich an dibasischen Motiven (KR, RR, RXXR, RKKR, etc.
durch Neurotransmitter übergeordneter ZNS-Strukturen stimu- R=Arginin; K=Lysin). Die Prohormonkonvertasen werden zelltyp-
liert wird (s. u.). spezifisch exprimiert und reguliert. So kann z. B. aus dem Pro-
39.1 · Hypothalamus
485 39

. Tab. 39.1 Hypothalamische releasing-Hormone und release-inhibiting-Hormone, adenohypophysäre glandotrope Hormone (Tropine) und
Hormone der Zielorgane

Hypothalamisches relea- Anzahl Hypothalamisches Abkür- Reguliertes hypo- Anzahl Abkür- Hormon
sing oder release-inhibi- Amino- Kerngebiet zung physäres Hormon Amino- zung des Zielorgans
ting-Hormon säuren + = Stimulierung
○ säuren
– = Hemmung

Corticotropin-releasing- 41 N. paraventricularis CRH Adrenocorticotropes 39 ACTH Cortisol; Nebennie-


Hormon (Corticoliberin) Hormon renrinde
+
(Corticotropin) ○

Thyreotropin-releasing- 3 N. paraventricularis TRH Thyroideastimulier- Dimer TSH* T4, T3; Schilddrüse


Hormon (Thyreoliberin) endes Hormon α (92)
+
(Thyreotropin) ○ β (110)

Gonadotropin-releasing- 10 N. präopticus GnRH Luteinisierendes Dimer LH* Testosteron; Hoden


Hormon (GnRH, Gonado- Hormon α(92) (Leydig-Zellen)
liberin) +
(Luteotropin) ○ β (118)
Androstendion;
(auch als Luteotropin-
Ovar (Theca-Zellen)
releasing-Hormon (LHRH)
bekannt) Follikelstimulierendes Dimer FSH* Hoden (Sertolizellen)
Hormon α (92)
Östradiol
+
(Follitropin) ○ β (115)
Ovar (Granulosa-
zellen)

growth hormone 44 N. arcuatus GHRH growth hormone, 191 GH IGF-1 der Leber und
(Somatotropin)-releasing- Somatotropin, Wachs- anderer Gewebe
Hormon tumshormon ○+
(Somatoliberin)

Somatostatin 14/28 N. paraventricularis, SSt growth hormone, 191 GH IGF-1 der Leber und
(GH-release-inhibiting- Anteriorer hypotha- Somatotropin, Wachs- anderer Gewebe
Homon) lamischer Nucleus tumshormon ○–

Dopamin (1) N. arcuatus DA –


Prolactin ○ 198 PRL -
(PRL-release-inhibiting-
Hormon)

Gonadotropin-release- 12 Dorsomedialer GnIH –


GnRH, LH/FSH ○
inhibiting-Hormon Hypothalamus

* TSH, LH und FSH haben eine identische gemeinsame α-Unterheit aus 92 Aminosäuren, jedoch hormon- und rezeptorspezifische unterschiedliche
β-Untereinheiten. N: Nucleus.

opiomelanocortin (POMC) abhängig vom Expressionsprofil der baut wird. Zusammen mit dem amidierten C-Terminus war diese
Prohormonkonvertasen entweder ACTH in den corticotropen Modifikation ein Grund dafür, dass TRH nach seiner biochemi-
Zellen der Adenohypophyse oder -und -MSH in Zellen des Hy- schen Reinigung lange nicht als Peptidhormon erkannt wurde.
pothalamus generiert werden. Zellspezifisch exprimierte Carboxy- Bei den neurohypophysären Hormonen Oxytocin und AVP
peptidasen (Carboxypeptidase E, D und Z) spalten als Exopeptida- (7 Kap. 39.2.4) bildet jeweils ein Cysteinrest den N-Terminus, der
sen die C-terminalen basischen Aminosäuren ab. durch die Ausbildung einer intermolekularen Disulfidbrücke vor
Die C-terminale Amidierung von Neuropeptiden und Hor- dem Abbau durch unspezifische Aminopeptidasen geschützt
monen wie CRH, TRH, GHRH und GnRH erfolgt enzymatisch wird. Die Zyklisierung fixiert überdies die räumliche Struktur
durch eine Peptidylglycin-amidierende Monooxygenase der kurzen Peptide und verbessert so die Rezeptorbindung wie
(PAM), ein Kupfer-abhängiges Enzym. In einem Zwei-Schritt- am Beispiel von Somatostatin deutlich wird, dessen synthetische
Prozess wird das C-terminale Glycin mittels Sauerstoff zu Koh- Analoga auch eine solche Ringstruktur aufweisen. Disulfidbrü-
lendioxid und Formaldehyd oxidiert. Das Stickstoffatom des cken stabilisieren auch die Konformation der hypophysären
Glycins verbleibt im Proteohormon und bildet nun den C-termi- glandotropen Hormone GH und Prolactin (PRL) sowie der -
nalen Amidstickstoff des amidierten Proteohormons. und -Untereinheiten der hypophysären Glykoproteohormone.
Die Aminosäure Glutamin am N-Terminus eines Hormon-
vorläufers kann durch die Glutaminylcyclase (GC) in einer Kon- Releasing-Hormone aus dem Hypothalamus
densationsreaktion zyklisiert werden. Hierbei entsteht ein N- werden pulsatil und circadian freigesetzt
terminales Pyroglutamat, das dem Hormon eine höhere Stabilität Die releasing Hormone und die meisten der nachgeschalteten
verleiht, da es nicht durch unspezifische Aminopeptidasen abge- hypophysären Hypophysenhormone weisen eine ausgeprägte
486 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

. Abb. 39.3 Neuroendokrine Regulation der pulsatilen synchronisierten GnRH Freisetzung im menschlichen Hypothalamus. Hypothalamische Kisspeptin
(KISS) positive KDNY-Neurone sezernieren pulsatil Kisspeptin und aktivieren über G-Protein gekoppelte Kiss-Rezeptoren GnRH-Neurone. Von diesen freige-
setztes GnRH stimuliert über den G-Protein gekoppelten Rezeptor für Gonadotropin releasing Hormon (GnRH) in der Adenohypophyse die Synthese und Frei-
setzung der Gonadotropine LH und FSH. KDNY-Neurone produzieren außer Kisspeptin die Neuropeptide Neurokinin B und Dynorphin. Neurokinin stimuliert
und Dynorphin hemmt autokrin die Kisspeptinproduktion, welche darüber hinaus durch Leptin aus dem Fettgewebe stimuliert wird. Eine andere hypothala-
mische Neuronenpopulation bildet Gonadotropin release inhibiting Hormon (GnIH), das über einen G-Protein gekoppelten Rezeptor auf GnRH-Neuronen und
gonadotropen Hypophysenzellen inhibitorische Effekte auf die HPG-Achse ausübt. Eine Endprodukthemmung durch Sexualsteroide erfolgt auf der Ebene der
Kisspeptinsekretion. Lediglich in der unmittelbaren präovulatorischen Zyklusphase (12.–14. Tag) der Frau stimuliert Östradiol die Kisspeptinsekretion

Tag-Nacht-Rhythmik ihres Sekretionsmusters auf. Viele Zellen scheint, als ob Hamster oder Schafe jedes Jahr von Neuem in die
besitzen eine eigene molekulare »innere Uhr«, die einen etwa Pubertät kämen.
24-stündigen Zyklus der Genaktivität reguliert. Diese mole-
kularen Uhren werden durch den Tag-Nacht-Rhythmus der Frequenz- und Amplitudenmodulation der
Umgebungshelligkeit stetig adjustiert. Neurone des suprachias- Neuropeptidfreisetzung durch vernetzte und
39 matischen Nucleus (SCN) erhalten über den Sehnerv von Me- synchronisierte Neurone in hypothalamischen
lanopsin-positiven Retinaganglienzellen die Information blauer Kernen steuern die Hypophysenfunktion
Lichtsignale und steuern die Aktivität hypothalamischer Kerne. Ein Beispiel für die pulsatile Sekretion von releasing-Hormonen
Auch das unter Lichteinfluss freigesetzte Hormon Melatonin der ist das GnRH, welches pulsatil in Abständen von 90–120 min
Epiphyse (Pinealorgan) beeinflusst die rhythmische Hormon- mehrmals am Tag und mit höherer Frequenz in der Nacht bei
sekretion. Unabhängig davon hat auch der Schlaf-Wach-Rhyth- beiden Geschlechtern freigesetzt wird. Im Menstruationszyklus
mus starke Einflüsse auf die endokrinen Achsen, wie die Muster der Frau steigt direkt vor dem Eisprung sowohl die Amplitude als
der CRH-ACTH-Cortisolsekretion zeigen, die nach dem mor- auch die Frequenz der hypothalamischen GnRH-Pulse und da-
gendlichen Aufstehen ihre höchste Aktivität aufweisen. mit der hypophysären Gonadtropinfreisetzung an. Diese Regu-
lation erfolgt durch den hypothalamischen GnRH-Pulsgenerator
Die Tageslänge reguliert über hypothalamische (. Abb. 39.3), ein eng vernetzter Neuronenverbund im Nucleus
neuroendokrine Mechanismen saisonales Verhalten präopticus. Von besonderer Bedeutung für ihn sind die KNDY-
und Reproduktion Neurone, welche die Neuropeptide Kisspeptin, Neurokinin B
Winterschlaf, Fellwechsel, saisonale Brunftzeiten und saisonaler und Dynorphin coexprimieren. Pulsatil freigesetztes Kisspeptin
Vogelzug werden über die neuroendokrine Verarbeitung der Ta- stimuliert die Synthese und Freisetzung von GnRH. In gona-
geslänge vermittelt. Ein augenfälliges und molekular gut doku- dotropen Hypophysenzellen löst dies die – ebenfalls pulsatile –
mentiertes Beispiel ist die saisonale Brunft. Anders als beim Sekretion der beiden Gonadotropine FSH und LH aus.
Menschen wird die GnRH-Produktion bei vielen Wildtieren nur Die unter dem Einfluss dieser Hormone vermehrt gebilde-
saisonal aktiviert. Melatoninrezeptor-exprimierende Zellen im ten Sexualsteroide wirken inhibitorisch auf KNDY-Neurone und
Hypophysenstiel (Pars tuberalis) interagieren dabei mit Zellen gonadotrope Hypophysenzellen (über den stimulierenden Effekt
im Hypothalamus und wirken direkt auf den GnRH-Pulsgene- von Östrogenen auf die GnRH-Sekretion bei der Ovulation
rator (s. u.). Die saisonale Aktivierung der GnRH-Sekretion ist 7 Kap. 40.5.1). Weitere inhibitorische Effekte auf die GnRH-
konzeptionell der Pubertät beim Menschen ähnlich, so dass es Freisetzung kommen durch die hypothalamischen GnIH-
39.1 · Hypothalamus
487 39
tive Signale in die zentrale Steuerung des endokrinen Systems
über die Hypothalamus-Hypophyse-Zielorgan-Achsen einbaut.

39.1.3 Hypothalamisch-hypophysäre
Hormonachsen

Die releasing-Hormone (RH) aus dem Hypothalamus (HTh)


stimulieren die Produktion und Sekretion der glandotropen
Hormone der Adenohypophyse (. Abb. 39.4). Release-inhibiting-
Hormone (RIH) wirken hingegen hemmend auf die adenohypo-
physäre Hormonsekretion. Die RH und RIH werden in speziali-
sierten neuropeptidergen Neuronengruppen (»Kernen«) des
Hypothalamus gebildet (. Abb. 39.1) und durch neuronale Sti-
mulation stoßweise (»pulsatil«) in Abständen von 1–3 h freige-
setzt. Die hypothalamisch-hypophysäre Hormonproduktion
steht dabei unter Rückkopplungskontrolle (negativer feedback)
von Effektormolekülen der peripheren Zielorgane. Zusätzlich
steht der Hypothalamus auch unter neuronaler Kontrolle durch
Hirnrinde (Kortex), limbisches System (Hippocampus, Nucleus
amygdalae, Septumregion), Thalamus und retikuläre, aszendie-
rende Nervenfasern des Rückenmarks. Diese Gebiete verarbeiten
. Abb. 39.4 Regulationsprinzip der Hypothalamus-Hypophysen-Zielor- exogene Reize und endogene Stimuli und übertragen diese Sig-
gan-Achsen. Aus dem Hypothalamus stammende releasing Hormone stimu-
nale über neuronalen Informationsfluss an die hypothalami-
lieren und release inhibiting Hormone hemmen Synthese und Freisetzung
hypophysärer glandotroper Hormone. Die von den Zielgeweben freigesetz- schen neuroendokrinen Kerngebiete (. Abb. 39.4).
ten effektorischen Hormone wirken im Sinne eines negativen feedback auf Als endokrine Achsen bezeichnet man die hierarchisch or-
Hypothalamus und Hypophyse. Releasing-Hormone: CRH, GnRH, TRH, GHRH; ganisierten Systeme aus Hypothalamus, Hypophyse und peri-
inhibitorische Hormone: Dopamin, Somatostatin, GnIH. Glandotrope (stimu-
pheren Zielorganen (. Abb. 39.5, . Tab. 39.1). Sie integrieren und
lierende) Hormone: ACTH, FSH/LH, TSH, GH, Prolactin (PRL). Hormone der
Zielorgane: Cortisol, Östradiol, Testosteron, Activine, Inhibine, T4, T3, GH,
steuern elementare Lebensvorgänge wie Entwicklung, Differen-
Prolactin. Die Aktivität der hypothalamischen Kerne wird durch übergeord- zierung und Wachstum, Fortpflanzung einschließlich Geburt
nete Zentren reguliert und Milchproduktion sowie verschiedene Aspekte des Stoff-
wechsels:
4 Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse
Neurone zustande. Außerdem löst das ebenfalls aus den KNDY- (HPA-Achse, hypothalamus-pituitary-adrenal: Hypophyse
Neuronen freigesetzte Dynorphin eine Hemmung der Kiss- engl. pituitary) wirkt über die Cortisolfreisetzung der Ne-
peptinfreisetzung aus, während Neurokinin B diese stimuliert, bennierenrinde auf viele v.a. katabole Stoffwechselprozesse
wodurch wahrscheinlich das pulsatile Sekretionsmuster zu- und ist akut und chronisch zusammen mit der neuronal sti-
stande kommt. mulierten Katecholaminfreisetzung aus dem Nebennieren-
Das Neurokinin B-Kisspeptin-GnRH-System ist auch essen- mark an der Stressantwort beteiligt.
tiell für die Auslösung der Pubertät. Von besonderer Bedeutung 4 Die Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (HPG-
hierbei ist das aus dem Fettgewebe stammende Hormon Leptin. Achse, hypothalamus-pituitary-gonad) steuert die für die
Seine Sekretion erfolgt proportional zur Fettmasse des Organis- Gonadenfunktion während der Entwicklung sowie der Re-
mus. Die durch Leptin ausgelöste Stimulierung der Kisspeptin- produktionsphase benötigte Freisetzung der männlichen
sekretion und damit der Pubertät erlaubt dem Organismus erst und weiblichen Sexualsteroide.
dann die Ausübung der Sexualfunktionen, wenn seine Energie- 4 Die Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse
speicher ein entsprechendes Niveau erreicht haben. Der Hypo- (HPT-Achse, hypophalamus-pituitary-thyroid) kontrolliert
thalamus des älteren Menschen zeigt einen markanten sexuellen über permissive Schilddrüsenhormonwirkung insbesonde-
Dimorphismus der KNDY-Neurone, die bei Frauen prominenter re die fetale und postnatale Entwicklung des zentralen Ner-
erscheinen, da mit der Menopause der Frau der negative feedback vensystems sowie Wachstum, Zelldifferenzierung, Energie-
durch Östradiol wegfällt. und Strukturstoffwechsel der meisten Körperzellen und Ge-
Die sekretorische Aktivität der GnRH-Neurone wird auch webe. Permissiv bedeutet, dass erst ein ausgeglichener
durch Katecholamine, endogene Opioide, Neuropeptide und Schilddrüsenhormonspiegel die adäquate Wirkung anderer
Hypophysenhormone reguliert. Dieses Beispiel illustriert deut- endokriner, neuronaler oder nutritiver Signale ermöglicht.
lich die Funktion des Hypothalamus und seiner neuroendokrin 4 Die somatotrope Achse ist für das Körperwachstum und
aktiven Kernstrukturen als Integrator des endokrinen Systems, den anabolen Stoffwechsel zuständig.
welches auf exogene und endogene Veränderungen adaptiv 4 Die lactotrope Achse ermöglicht die zeitgerechte Lactation.
reagieren kann und auch neuronale, immunologische und nutri- Sie ist für die Fortpflanzung aller Säuger unerlässlich.
488 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

. Abb. 39.5 Regulation des hypothalamisch-hypophysären Systems und der peripheren Zielgewebe der Adenohypophysenhormone. Dargestellt sind
die fünf endokrinen Achsen, welche den Stoffwechsel, die Funktion der Gonaden sowie Wachstum und Differenzierung regulieren; AVP: Arginin-Vasopres-
sin. (Einzelheiten s. Text)

Hormonsekretion durch Zellen, die nicht in


endokrinen Drüsen organisiert sind, erweitern aufgefasst wurden, Hormone und wirken damit ihrerseits
das Konzept der hormonellen Regulation und auf Hypothalamus, Hypophyse und andere Organe. Einen
Homöostase von Lebensvorgängen Meilenstein für das Verständnis des Energiestoffwechsels
stellt hierbei das Hormon Leptin dar, das von weißen Adi-
pocyten freigesetzt wird und den Energiestoffwechsel über
Übrigens Rezeptoren im Hypothalamus und in anderen Geweben
39 Endokrinologie im 21. Jahrhundert: Vom Konzept der steuert (7 Kap. 38.3). Das weiße Fettgewebe setzt nicht nur
inneren Sekretion über klassische endokrine Drüsen ein Hormon frei, inzwischen wurde den Fettzellhormonen
zum Nachweis der Produktion hormonell aktiver Sig- sogar ein eigener Sammelbegriff, Adipokine, gegeben.
nalsubstanzen in fast allen Zellen Die Entdeckung von Hepcidin, einem für die Eisenregulation
Claude Bernard (1813–1878) hat das Prinzip der inneren wichtigen Botenstoff aus der Leber (Hepatokin), zwingt
Sekretion als erster vorgeschlagen, bezog sich aber ur- erneut dazu, über die Erweiterung des Hormonbegriffs
sprünglich auf die hepatische Glucosefreisetzung. Arnold A. nachzudenken: Hepcidin ist zwar ein im Blut zirkulierender
Berthold (1803-1861) gelang in Göttingen durch Entfernung Botenstoff und bindet an ein zelluläres Oberflächenprotein
und Retransplantation der Hoden bei Hähnen 1849 als Ers- (Ferroportin); dieses kann aber nicht als Rezeptor im stren-
tem der Nachweis, dass Organe Botenstoffe in die Blutbahn gen Sinne aufgefasst werden.
abgeben, welche in Zielgeweben biologische Wirkungen
entfalten. Walter Cannon (1871–1945), ein amerikanischer
Physiologe, hat den Begriff der Homöostase geprägt und Im Hypothalamus werden auch Informationen
Ernest Starling hat 1905 zum ersten Mal den Begriff Hormon zur Kontrolle des Stoffwechsels integriert
für chemische Botenstoffe in der Blutbahn verwendet. Die Die Regulationssysteme der Glucose-, Fett-, Calzium- und Ei-
Homöostase in verschiedenen Situationen (z. B. Hunger, senhomöostase werden nicht direkt über die Hypothalamus-
physische Arbeit, Stress versus Sattheit und Ruhe) aufrecht Hypophysen-Achse kontrolliert, haben jedoch spezifische Ein-
zu erhalten erfordert ständige aktive Anpassungen des flüsse auf die hypothalamisch-hypophysäre Hormonsekretion.
Stoffwechselgeschehens. Um die Aktivität aller Organe im Neuronale Signale, Cytokine und Wachstumsfaktoren sowie
Sinne der Homöostase zu koordinieren, produzieren viele Stoffwechselprodukte des Struktur- und Intermediärstoffwech-
Organe, die ursprünglich nicht als endokrine Drüsen sels stehen ebenfalls in effektiver Rückkopplungskommunika-
6 tion mit der hypothalamisch-hypophysären Steuerungsfunktion
zentraler Stoffwechselvorgänge. Damit stellen hypothalamische

Hypothalamus-Hypophsen-Nebennierenachse (HPA-Achse) Hypothalamus-Hypophsen-Gonaden-Achse (HPG-Achse) Hypothalamus-Hypo-


phsen-Schilddrüsen-Achse (HPT-Achse) somatotrope Achse lactotrope Achse
39.2 · Hypophyse
489 39

. Tab. 39.2 Zellen und Hormone der Adenohypophyse

Zelltyp Färbeeigenschaft Anteil (%) Produkt Zielorgan

Corticotrop Basophil 15–20 ACTH Nebenniere

Thyreotrop Basophil 3–5 TSH Schilddrüse

Gonadotrop Basophil 10–15 LH, FSH Gonaden

Somatotrop Acidophil 40–50 GH Alle Gewebe, Leber, Knochen

Lactotrop Acidophil 10–15 PRL Brustdrüse, Gonaden

Folliculostellarzellen – 10–20 Cytokine, Wachstumsfaktoren Hormonsezernierende Zellen der Adeno-


hypophyse (parakrin)

Strukturen wie Nucleus arcuatus und paraventrikulärer Nucleus 39.2 Hypophyse


(. Abb. 39.1) die zentralen Steuerungsstrukturen des Energie-
stoffwechsels, der Nahrungsaufnahme, des Energieverbrauchs 39.2.1 Entwicklungsgeschichte von
und des Körpergewichts dar (vgl. 7 Kap. 38.3). Adeno- und Neurohypophyse
Somit können die vier zentralen Informationsübertragungs-
systeme, neuronale, endokrine, immunologische und nutritive Die koordinierte Abfolge der Expression
Kommunikationswege, nicht separat voneinander untersucht, spezifischer Transkriptionsfaktoren steuert
sondern müssen insbesondere auf der Ebene der hypothalami- die Differenzierung der fünf endokrin aktiven
schen Kerne und der hypophysären Hormonsekretion als gekop- Zelltypen in der Adenohypophyse
pelte Einheiten betrachtet werden. Diese Aspekte werden in den Während der frühen Embryonalentwicklung entsteht die Anlage
7 Kap. 38.3, 40.2, 41.1, 42.1, 56 behandelt. der Adenohypophyse als sich spezialisierender und wandernder
Zellverband im nicht-neuronalen Ektoderm des Kopfes rostral
an die vordere Neuralplatte anliegend. Spezifische Transkripti-
Zusammfassung onsfaktoren (Pitx1 und Pitx2) charakterisieren diese Struktur, die
Die Koordinierung und Regulation der vielfältigen Aufgaben sich als Epithel einstülpt und anschließend vom oralen Ektoderm
von Organen und Geweben ist für die Funktionsfähigkeit des als hohler epithelialer Vesikel ablöst (Rathke-Tasche). Das neu-
Organismus von entscheidender Bedeutung. Für die Auf- ronale Ektoderm behält dagegen seine neuronale Verbindung im
rechterhaltung der Homöostase bildet der Hypothalamus zu- späteren Hypothalamus, und die Neurohypophyse wird nur aus
sammen mit der Hypophyse die zentrale Steuereinheit. den Axonen und den sekretorischen Endigungen der magnozel-
In den Kernen des Hypothalamus werden die releasing- lulären neuroendokrinen Neurone aufgebaut, deren Zellkerne
Hormone sowie die release-inhibiting-Hormone synthetisiert sich im Hypothalamus befinden.
und durch Neurosekretion freigesetzt, welche die Aktivität Mit der Ausbildung der Rathke-Tasche differenzieren unter
der glandotropen Hormone der Hypophyse steuern. Die Kontrolle stimulatorischer und inhibitorischer Faktoren der Em-
hypothalamische Hormonfreisetzung wird durch vielfältige bryonalentwicklung (Notch, FGF10, etc.) und deren Rezeptoren
Signale reguliert. Von großer Bedeutung ist dabei der nega- sowie hypophysenspezifischer Transkriptionsfaktoren (z. B. Lim,
tive feedback durch Effektormoleküle peripherer Zielorgane. Pit, Prop, SF1) nacheinander die fünf endokrin aktiven Zelltypen
Darüber hinaus beeinflussen vielfältige Signale aus dem (. Tab. 39.2) und bevölkern organisiert die spätere Adenohypo-
Zentralnervensystem die hypothalamische Aktivität und physe (. Abb. 39.6). Corticotrope Zellen entstehen als erste hor-
gewährleisten damit die Einbeziehung exogener und endo- monpositive Population. Aus Lim3-positiven Progenitorzellen
gener Reize. der Rathke-Tasche entwickeln sich dann gesteuert durch den
Von besonderer Bedeutung sind drei hypothalamisch-hypo- Transkriptionsfaktor steroidogenic factor 1 (SF1) die gonadotro-
physären Hormonachsen: pen LH/FSH exprimierenden Zellen. Eine weitere Differenzie-
4 Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse für die rung erfolgt zu Pit1-positiven Zellen, welche Vorläufer der thy-
Stressantwort reotropen Zellen sind und aus denen auch die somatolaktotro-
4 Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden-Achse für die pen GH- bzw. prolactinpositiven Zellen hervorgehen. Für diese
Steuerung der Gonadenfunktion Differenzierung sind parakrine und autokrine Signale erforder-
4 Hypothalamus-Hypophyse-Schilddrüsen-Achse für die lich. Viele Störungen der Entwicklung und der Funktion der Hy-
Regulation von Wachstum, Differenzierung und Energie- pophyse sowie Ausfälle einzelner Hormonachsen können auf
stoffwechsel Mutationen in den entsprechenden Transkriptionsfaktoren der
fünf endokrin aktiven Zelltypen zurückgeführt werden (. Abb.
39.5). Mausmodelle mit Mutationen dieser hypophysenrelevan-
ten Transkriptionsfaktoren wie Pit1 zeigen entsprechende Aus-
490 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

. Abb. 39.6 Entwicklung der Adenohypophyse. Unter Kontrolle verschiedener hypophysenrelevanter Transkriptionsfaktoren (Abkürzungen in den
Kästen) differenzieren die aus der Rathke Tasche stammenden Progenitorzellen der Adenohypophyse sequentiell bis zur 12. Schwangerschaftswoche und
bevölkern koordiniert die spätere Adenohypophyse. Für diese Migration sowie die anschließende Verbindung der beiden Hypophysenteile sind weitere
Proteinfaktoren notwendig (nicht dargestellt). Zwischen Adeno- und Neurohypophyse liegt der Zwischenlappen, der beim Menschen nur wenig ausge-
prägt ist, jedoch noch Stammzellen zur Regeneration der Zelltypen der Adenohypophyse enthält. C: corticotrope Zellen; T: thyreotrope Zellen; S/L: somato-
lactotrope Zellen; S: somatotrope Zellen; L: lactotrope Zellen; G: gonadotrope Zellen. (Adaptiert nach Pfäffle 2006)

39 . Abb. 39.7 Schematische Darstellung des hypothalamisch-hypophysären neuroendokrinen Netzwerks und der Regulation der Synthese und Frei-
setzung glandotroper Hormone der Adenohypophyse durch hypothalamische releasing-Hormone (CRH, TRH, GnRH, GHRH; grün) bzw. release-inhibi-
ting-Hormone (SSt : Somatostatin – und Dopamin; rot). Das Neuropeptid Arginin-Vasopressin (AVP) ist auch ein starker Stimulator der ACTH-Freisetzung.
Ghrelin aus der Magenmukosa ist ein zweiter potenter Stimulator der GH-Freisetzung. Die neurohypophysären Hormone Oxytocin und AVP werden im
Hypophysenhinterlappen in den sog. Herring bodies gespeichert und durch neuronale Stimuli direkt freigesetzt. (Abkürzungen s. Text)

fälle einzelner Hormonachsen mit Entwicklungs- und Funk- Adenohypophyse und den peripheren Blutkreislauf (. Abb. 39.7).
tionsstörungen und sind wichtige Modelle der Altersforschung Die Freisetzung der glandotropen Hormone Adrenocorticotropes
(z. B. little Maus, Ames und Snell dwarf Maus). Hormon (ACTH, Corticotropin), Wachstumshormon (GH, So-
matotropin, growth hormone), Prolactin (PRL), Thyroidea-stimu-
lierendes Hormon (TSH, Thyreotropin), luteinisierendes (LH,
39.2.2 Glandotrope Hormone der Hypophyse Luteotropin) und Follikel-stimulierendes Hormon (FSH, Follitro-
pin) wird durch die release-Hormone und release-inhibiting-Hor-
Die Adenohypophyse produziert in fünf endokrin mone reguliert und über parakrine Signale der hypophysären Fol-
aktiven Zelltypen sechs glandotrope Hormone likulostellarzellen moduliert. Diese sind gliaähnliche, makropha-
Die Adenohypophyse besteht aus den fünf endokrin aktiven par- genartige Zellen, vergleichbar mit den Kupffer-Sternzellen der
enchymal organisierten Zelltypen, parakrin aktiven Follikulostel- Leber. Sie bilden ein verzweigtes, kommunizierendes Netzwerk
larzellen, einem dichten verzweigten Kapillarsystem und Stroma- zwischen den verschiedenen hormonsezernierenden Adenohypo-
anteilen (. Tab. 39.2). Über den Primärplexus erreichen die hypo- physenzellen und stimulieren z. B. bei Entzündung oder Sepsis die
thalamischen release- (RH) und release-inhibiting Hormone (RIH) ACTH-Produktion, während sie gleichzeitig die HPG- und HPT-
das Kapillarnetz der Eminentia mediana im Hypophysenstiel. Von Achsen sowie GH- und PRL-Sekretion blockieren.
dort aus steuern sie endokrin die Synthese und Freisetzung der
glandotropen Hypophysenhormone in das Kapillarsystem der

Adenohypophyse Zelldifferenzierung Pitx 1 Pitx 2 Lim 3 Isl 1 Tbx 19 Tpit Neuro D1 Lhx 3/4 Prop1 Ptx2 Pit1 SF1
GATA2 ZN16 OTX1 gonadotrope Vorläufer-Zelle somato-lactotrope Vorläufer-Zelle
39.2 · Hypophyse
491 39
Die glandotropen Hormone der Adenohypophyse tivieren. Auch das Schwangerschaftshormon hCG (huma-
lassen sich in zwei Gruppen einteilen: einkettige nes Choriongonadotropin) aus der Placenta, zeigt einen sol-
Peptidhormone (ACTH, GH, PRL) und zweikettige chen Aufbau, ist eng mit den hypophysären Glykoproteo-
Glykoproteohormone (TSH, LH; FSH) hormonen verwandt und wirkt über den LH-GPCR (7 Kap.
Die fünf endokrin aktiven Zelltypen der Adenohypophyse pro- 40.3.2). Sowohl LH als auch FSH werden in gonadotropen
duzieren, speichern und sezernieren 6 verschiedene Proteohor- Zellen gebildet, gespeichert und sezerniert, wobei die Syn-
mone (. Tab. 39.2): these der spezifischen -Untereinheiten unterschiedlich
4 ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) ist ein einkettiges reguliert wird. So steht z. B. die Expression von -FSH nicht
Peptid aus 41 Aminosäuren mit einer Halbwertszeit von ca. aber von -LH unter inhibitorischer Kontrolle durch gona-
20 min im Blut. ACTH wird in corticotropen Zellen unter dales Inhibin, was eine unterschiedliche Synthese und
stimulatorischer Kontrolle durch CRH und AVP und negati- Freisetzung der beiden Gonadotropine aus der gleichen
ver Rückkopplung durch Cortisol der Nebenierenrinde syn- Zelle ermöglicht.
thetisiert und pulsatil freigesetzt. ACTH wird aus dem
267 Aminosäuren enthaltenden Vorläuferprotein Prä-Opio- Mit wenigen Ausnahmen (s. Menstruationszyklus, 7 Kap. 40.5.1,
melanocortin (POMC) durch limitierte Proteolyse und PRL) werden die 6 Hormone der Adenohypophyse sehr ef-
katalysiert durch Prohormonkonvertase 1/3 (PC1) gebildet, fektiv durch Produkte ihrer Zielorgane über negativen feedback
die an der dibasischen Sequenz KR spaltet (. Abb. 39.2). Aus kontrolliert und durch hypothalamische releasing-Hormone sti-
POMC können in anderen Zelltypen, die andere Mitglieder muliert (. Abb. 39.4, 39.5, 39.7, 7 Kap. 39.2.3). Die Freisetzung
der Prohormonkonvertasen der Furinfamilie exprimieren, erfolgt aus sekretorischen Vesikeln nach pulsatiler Stimulation
noch 6 weitere Peptidhormone gebildet werden (drei MSH- durch releasing-Hormone und die Halbwertszeiten sind etwas
Formen, -Endorphin und zwei Lipocortine, LPH). länger als die der hypothalamischen releasing-Hormone.
4 GH (Wachstumshormon) ist ebenfalls ein einkettiges aus
191 Aminosäuren bestehendes Polypeptid, das durch zwei
S-S-Brücken stabilisiert wird, aber sonst keine weiteren 39.2.3 Regulation von Hypothalamus
posttranslationalen Modifikationen aufweist. GHRH und und Hypophyse durch die Zielgewebe
Ghrelin stimulieren, Somatostatin blockiert die GH-Syn-
these und Freisetzung aus den somatotropen Hypophysen- Sowohl der Hypothalamus als auch die Hypophyse stehen unter
zellen und IGF1 vermittelt die periphere negative Rück- strenger, in der Regel negativer Rückkopplungskontrolle durch
kopplung. GH aktiviert in seinen Zielzellen über einen Re- Effektoren, die in peripheren Zielorganen der glandotropen
zeptor der Cytokinfamile die JAK-STAT-Signaltransdukti- Hypophysenhormone gebildet werden. Diese Effektoren sind
on. Ghrelin stimuliert über einen eigenen GPCR, den einerseits selbst wieder Hormone oder andererseits typische
GH-Sekretagog-Rezeptor, und Somatostatin hemmt über Metabolite des Funktions- oder Intermediärstoffwechsels dieser
einen GPCR die GH-Freisetzung. Organe (. Abb. 39.4). Die negative Rückkopplung erfolgt generell
4 PRL (Prolactin) und GH sind eng verwandt und durch eine sowohl über rezeptorvermittelte Hemmung der Genexpression
Genduplikation entstanden. PRL, 198 Aminosäuren lang als auch verringerte Freisetzung der gespeicherten Proteohor-
und durch drei S-S-Brücken stabilisiert, bindet auch an ei- mone aus den sekretorischen Vesikeln der endokrin aktiven Zel-
nen Rezeptor der Cytokinfamile. Die PRL-Bildung steht un- len der Adenohypophyse.
ter tonischer inhibitorischer Kontrolle durch hypothalami- Die CRH- und ACTH-Freisetzung werden effektiv durch
sches Dopamin und wird durch hohe TRH-Konzentratio- Cortisol aus der Nebennierenrinde gehemmt und durch Stress-
nen stimuliert. Eine Unterbrechung der hypothalamischen faktoren und proinflammatorische Konstellation stimuliert.
Verbindung steigert somit die PRL-Sekretion während die Die Freisetzung von GnRH und den Gonadotropinen LH und
Synthese aller anderen Hypophysenhormone dann sistiert. FSH wird durch Sexualsteroide (Östradiol bzw. Androgene sowie
4 Die drei Glykoproteohormone TSH (Thyreoidea-stimulie- Progesteron) und Inhibine (FSH) gehemmt. Allerdings gibt es hier
rendes Hormon), LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH während des weiblichen Menstruationszyklus auch eine kurze
(Follikelstimulierendes Hormon) sind identisch aufgebaut; Phase vor dem Eisprung, wo hohe Östradiolkonzentrationen tran-
sie bestehen aus einer identischen -Untereinheit und je sient in einem positiven feedback die GnRH-Pulsfrequenz und die
einer spezifischen -Untereinheit. Die α- und -Unterein- LH-und FSH-Freisetzung stimulieren. Sowohl der negative als
heiten assoziieren während der Proteinbiosynthese und auch der positive feedback durch Sexualsteroide bezieht weitere
sind nicht-kovalent miteinander verbunden. Beide Poly- hypothalamische Kerngebiete ein, die den GnRH-Pulsgenerator
peptidketten sind aber posttranslational mehrfach N- und beeinflussen. Die unterschiedliche Regulation der von gonadotro-
O-glycosyliert, wodurch ihre Stabilität erhöht wird, da sie pen Zellen der Adenohypophyse unter GnRH-Stimulation gebil-
weniger proteasesensitiv sind als die einkettigen Proteohor- deten und sezernierten Gonadotropine LH und FSH wird dadurch
mone. Für die Bindung der Glykoproteohormone an ihre möglich, dass Inhibine aus den Granulosa- bzw. Leydig-Zellen der
zellspezifischen eng verwandten GPCR ist die heterodimere Gonaden effektiv die FSH-Bildung in der Adenohypophyse hem-
- -Struktur wichtig, nicht jedoch der Kohlenhydratanteil. men. Es ist nicht vollständig geklärt, ob und welche Sexualsteroide
Die freien α- oder -Untereinheiten sind nicht biologisch sowohl die hypothalamische GnRH als auch die hypophysäre
aktiv und können nicht die Glykoproteohormon-GPCR ak- Gonadotropinsekretion regulieren.
492 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

dem Vorläuferprotein in limitierter Proteolyse gespalten. Die Spei-


cherung erfolgt in sekretorischen Vesikeln der Neurohypophyse
nach Bindung an Neurophysin II, das als eine Art Chaperon für
AVP dient. Eine leichte Zunahme der Serum Osmolalität über
280 mOsmol/l hinaus, eine Hypernatriämie und die Abnahme der
extrazellulären Flüssigkeit (Hypovolämie) werden im Organum
vasculosum der anterioren Wand (Lamina terminalis) des dritten
Ventrikels und im Subfornicalorgan über Osmorezeptoren regis-
triert und bewirken so eine neuronale Stimulation der AVP-pro-
duzierenden magnozellulären Neurone. Trinken wird durch die
Osmolalität reguliert, die im anterioren Hypothalamus registriert
wird. Steigende Osmolalität stimuliert die AVP-Sekretion.
. Abb. 39.8 Struktur von Vasopressin und Oxytocin. Die Neurohypophy-
senhormone Vasopressin (antidiuretisches Hormon) und Oxytocin unter- AVP reguliert die Wasserhomöostase durch Erhöhung der
scheiden sich in lediglich 2 Aminosäuren (farblich hervorgehoben). Vaso- Wasserpermeabilität im Sammelrohr der Niere, vermittelt über
pressin steigert die renale Wasserrückresorption (antidiuretisches Hormon) den Einbau von Aquaporin 2 in die apikale Zellmembran.
und den Blutdruck, Oxytocin stimuliert die Wehentätigkeit und die Milch- G-Protein-gekoppelte AVP-V2-Rezeptoren in der basolateralen
sekretion. Die intramolekulare Disulfidbrücke ist essentiell für die biolo-
Membran der Hauptzellen des Sammelrohrs der Niere erhöhen
gische Wirkung
nach AVP-Bindung die intrazelluläre cAMP-Konzentration und
bewirken dadurch einen verstärkten Einbau von Aquaporin 2 in
Die Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin die Plasmamembran durch deren Fusion mit intrazellulären
(T3) sind potente Hemmer der TRH- und der TSH-Synthese und Aquaporin-2-haltigen Vesikeln, sodass vermehrt Wasser
-Sekretion. T4 muss allerdings lokal durch Deiodaseenzyme zum resorbiert wird. In der glatten Gefäßmuskulatur wirkt AVP auf
aktiven T3 umgewandelt werden, das über TRβ2-Rezeptoren zur Gq-gekoppelte AVP-V1-Rezeptoren, die über Phospholipase C,
Hemmung der TRH- und TSH-Sekretion führt. Die TRH-Sekre- IP3 und Ca2+ Signalwege eine Gefäßkontraktion und damit Blut-
tion wird durch eine Vielzahl weiterer Faktoren beeinflusst, z. B. druckerhöhung bewirken.
stimuliert Leptin über α-MSH dessen Sekretion. AVP, das auch in einer parvozellulären Neuronengruppe ge-
Die somatotrope GHRH-GH-Achse wird durch IGF1 sowohl bildet und neuroendokrin in die Eminentia mediana freigesetzt
auf der Ebene der somatotropen Zellen der Adenohypophyse als wird, stimuliert zusammen mit CRH die Freisetzung von ACTH
auch der hypothalamischen GHRH- Produktion gehemmt. Er- in der Adenohypophyse. Mehr als die Hälfte dieser parvozellulä-
gänzt wird diese Hemmung dadurch, dass IGF1 die Produktion ren Neurone coexprimieren AVP und CRH. Die beiden Nona-
von Somatostatin steigert. Dagegen ist das aus der Magenmucosa peptide AVP und Oxytocin, die evolutionär sehr alte und hoch-
stammende Ghrelin ein potenter Stimulator der GH-Sekretion. konservierte Orthologe in vielen Spezies bis zu Invertebraten
Die PRL-Sekretion wird durch weibliche Sexualhormone stimu- haben, wirken im ZNS auch als klassische Neurotransmitter,
liert. wenn sie von bestimmten Neuronen in den synaptischen Spalt
39 freigesetzt werden.
Prä-Pro-Oxytocin wird in magnozellulären Neuronen des
39.2.4 Hormone der Neuropypophyse supraoptischen Nucleus gemeinsam mit Neurophysin I als Vor-
läufer analog zu AVP synthetisiert, transportiert und gespeichert.
Aus der Neurohypophyse werden die zyklischen Nonapeptide Druck- und berührungssensitive Rezeptoren in der Brustwarze,
Oxytocin und Arginin-Vasopressin1 (AVP, auch als Vasopressin im Uterus und Genitalien vermitteln über einen neuroendokri-
oder antidiuretisches Hormon, ADH, bezeichnet) freigesetzt, die nen Reflex eine Stimulation der Freisetzung von Oxytocin
sich nur in zwei Aminosäurepositionen (3 und 8) unterscheiden (griech: schnelle Geburt). Es reguliert den Geburtsvorgang
(. Abb. 39.8). durch Kontraktion glatter Muskelzellen im Uterus. Die hiermit
einhergehende Uterusdehnung stimuliert in einem positiven
Arginin-Vasopressin erhöht die Wasserpermeabilität feedback die Oxytocinfreisetzung. Der erfolgreiche Geburtsvor-
im renalen Sammelrohr und steigert den Blutdruck gang mit dem Wegfall der Uterusdehnung beendet diesen posi-
Arginin-Vasopessin (AVP) wird als Prä-Pro-AVP (164 Amino- tiven feedback-loop.
säuren) zusammen mit seinem Trägerprotein Neurophysin II als Ein weiterer wichtiger Oxytocineffekt ist die Stimulierung
komplexer Vorläufer in den Perikarya der magno- und parvozel- der Milchfreisetzung durch Kontraktion glatter Muskelfasern im
lulären Neurone synthetisiert, in neurosekretorischen Granula in Myoepithel der laktierenden Brustdrüse.
den Axonen der magnozellulären Neurone über den Hypophy- Oxytocin ist ein wichtiges Hormon für die Ausbildung der
senstiel in die Neurohypophyse transportiert und in diesen Gra- Mutter-Kind-Beziehung, der Paarbindung, des Sozial- und Sexu-
nula während dieses Weges durch die Prohomonkonvertase aus alverhaltens (»Kuschelhormon«) und interpersonellen Vertrau-
ens wahrscheinlich auch beim Menschen.
1 Humanes Vasopressin enthält in Position 8 ein Arginin und wird deshalb
Vasopressin und sein Rezeptor (AVPR1A beim Menschen)
auch als Arginin-Vasopressin bezeichnet. Bei anderen Spezies findet sich beeinflussen die männliche Reproduktion und typisches männ-
statt des Arginin ein Lysin. liches Sozialverhalten bei vielen Spezies einschließlich des Men-
39.2 · Hypophyse
493 39

. Abb. 39.9 Oxytocin-stimulierte Entwicklung des neurovaskulären Systems in der Neurohypophyse. Erste Axone hypothalamischer magnozellulärer
Neurone (grün) erreichen den embryonalen Hypophysenhinterlappen vor dessen Vaskularisierung und setzen Oxytocin frei (A). Oxytocin stimuliert die
Knospung von Kapillaren aus der Carotisarterie (rot) in die Neurohypophyse (B) und die Ausbildung des neurohypophysären Kapillarsystems (C). In der
adulten Neurohypophyse wird Oxytocin pulsatil in die fenestrierten Kapillaren des Hypophysenhinterlappens sezerniert (A–D). AH: Adenohyphophyse; NH:
Neurohypophyse. (Adaptiert nach Cariboni und Ruhrberg 2011, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

schen. Mehrere dieser Effekte werden aber nicht durch die hor- Melaninablagerungen in den Melanocyten über GPCR-gekop-
monelle Wirkung von Oxytocin und AVP sondern durch ihre pelte Melanocortin-1 (MC1)-Rezeptoren und damit die Pigmen-
Neurotransmitterfunktion im ZNS bewirkt. tierung der Haut (7 Kap. 73). MSH wird beim Menschen in hy-
Oxytocinrezeptoren sind G-Protein-gekoppelt und aktivie- pothalamischen Kernen (z. B. N. arcuatus, paraventriculärer
ren die Phospholipase C. Die daraus resultierende Aktivierung Nucleus) als Neurotransmitter gebildet. MSH steuert effektiv
der Proteinkinase C (7 Kap. 35.4.3) löst eine Reihe von Phospho- zusammen mit Leptin, Neuropeptid Y (NPY), AGRP und CART
rylierungskaskaden aus. Zu diesen gehören die zur Kontraktion die Nahrungsaufnahme und den Energieverbrauch durch Bin-
der glatten Muskulatur führende Aktivierung der MLCK (7 Kap. dung und Aktivierung an GPCR-gekoppelte MC3- und MC4-
64.3.3), eine Stimulierung der Prostaglandinsynthese sowie unter Rezeptoren im Hypothalamus (7 Kap. 38.3). - und -MSH wir-
Einbeziehung des VEGF-Signalsystems auch angiogene Effekte. ken wie Leptin und CART beim Menschen anorexigen (appetit-
Oxytocin ist für die Ausbildung des Kapillarnetzes der Neu- hemmend); NPY und AGRP sind orexigen (appetitanregend).
rohypophyse während der Entwicklung das entscheidende para- Das Agouti-related-Protein (AGRP) ist ein effektiver MSH-Ant-
neuroendokrine Signal (. Abb. 39.9). Oxytocin-sezernierende agonist an Melanocortinrezeptoren. ACTH bindet im Nebennie-
Neurone des sich aus dem Neuroektoderm ausstülpenden Infun- renkortex an den MC2 GPCR und aktiviert diesen Rezeptor zur
dibulums stimulieren Endothelzellen der Carotis, die sich ausbil- Steigerung der Cortisolproduktion. MC5-Rezeptoren werden in
denden Neurohypophyse zu vaskularisieren und ein eigenes Ka- Schweißdrüsen und anderen exokrinen Drüsen exprimiert und
pillarnetz aufzubauen, das später die sezernierten Nonapeptide von -MSH aktiviert. Inaktivierende Mutationen des Melano-
des Hypophysenhinterlappens aufnimmt und in die Peripherie cortin-4 GPCR im Hypothalamus zählen zu den häufigsten mo-
weiterleitet. Oxytocin hat auch in anderen Geweben angiogene nogenetischen Ursachen der Adipositas bei ca. 3–5 % der morbid
Wirkungen. adipösen Patienten.
Melanocyten-stimulierendes Hormon (MSH, Melano-
cortin Rezeptor-stimulierendes Hormon, Melanocortin) wird
bei den meisten Spezies (Säuger, Fische und Vögel) im sog. Hy- Zusammenfassung
pophysenzwischenlappen (intermediate lobe) in POMC-expri- Die Hypophyse teilt sich in die aus dem nicht-neuronalen
mierenden Zellen gebildet. Der Hypophysenzwischenlappen ist Kopfektoderm gebildete Adenohypophyse (Hypophysen-
bei diesen Spezies im Prinzip das Lumen der ehemaligen Rathke- vorderlappen) sowie in die Neurohypophyse (Hypophysen-
Tasche, das von POMC-positiven Zellen besiedelt wird. Beim hinterlappen), die aus Neuronen des Hypothalamus ent-
Menschen ist diese Struktur wenig oder gar nicht ausgeprägt, steht.
dort sind aber in geringer Zahl Stamm- oder Progenitorzellen Die fünf endokrin aktiven Parenchymzelltypen der Adeno-
der Adenohypophyse nachgewiesen worden. In nicht-humanen hyphyse synthetisieren und sezernieren folgende sechs
Spezies werden in dieser Struktur beide Prohormonkonvertasen Proteohormone:
(PC1/3 und PC2) exprimiert, die an dibasischen Sequencen 4 ACTH steigert die Glucocorticoidbiosynthese der
POMC spalten und daraus α- und β-MSH und nicht ACTH bil- Nebennierenrinde. Die Sekretion wird durch hypo-
den wie in den adrenocorticotropen Zellen der Adenohypophy- 6
se, die nur PC1/3 exprimeren (. Abb. 39.2). MSH stimuliert die
494 Kapitel 39 · Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse

me (Cushing-disease), und sehr selten Gonadotropin oder TSH-


thalamisches CRH und AVP stimuliert und durch Gluco- produzierende Adenome. Hypophysenkarzinome sind äußerst
corticoide inhibiert. selten.
4 GH stimuliert die hepatische IGF1-Sekretion. Die Sekre- Inaktivierende Mutationen der für die Hypophysenfunktion
tion wird durch hypothalamisches GHRH und gastri- relevanten Transkriptionsfaktoren (. Abb. 39.6) können zum
sches Ghrelin stimuliert sowie durch Somatostatin und Ausfall einzelner oder mehrerer Hormonachsen führen. Bei
IGF1 inhibiert. rechtzeitiger Diagnose lässt sich dieses Krankheitsbild erfolg-
4 Prolactin stimuliert die Milchproduktion. Die Sekretion reich behandeln. Mutationen der Prohormonkonvertasen sowie
wird durch hypothalamisches Dopamin inhibiert. der an der posttranslationalen Modifikation der Proteohormone
4 TSH steigert die Biosynthese und Sekretion von Schild- beteiligten Enyzme sind zwar beschrieben, aber doch sehr selten
drüsenhormonen. Die Sekretion wird durch hypothala- und betreffen auch die Hormonbiosynthese in anderen Organen,
misches TRH stimuliert und durch Schilddrüsenhormone z. B als monogenetische Ursache von Adipositas.
inhibiert.
4 FSH und LH sind für die normale Funktion der Gonaden
unerlässlich. Die Sekretion wird durch GnRH stimuliert Zusammenfassung
und durch Sexualsteroide, Inhibine und GnIH inhibiert. Mechanistisch wurden im Prinzip fast alle Möglichkeiten der
seltenen Störungen der Hypophysen-Hypothalamus-Achse
Aus der Neurohypophyse werden Arginin-Vasopressin und beim Menschen bereits beschrieben:
Oxytocin sezerniert: 4 Beeinträchtigungen der hypothalamischen RH-Bildung
4 Arginin-Vasopressin steigert die Reabsorption von und hypophysären RH-Wirkung an RH-Rezeptoren
Wasser in den Nieren und den Blutdruck. 4 Störung der hypophysären RH-Rezeptoren oder ihrer
4 Oxytocin stimuliert die Kontraktion glatter Muskelzellen Signalübertragung, der hypophysären Bildung der
des Uterus und die Lactation. glandotropen Hormone und deren peripherer Wirkung
an ihren Rezeptoren oder ihrer Signalübertragung
4 Störung des feedback durch veränderte Rezeptoren oder
deren Wirkung.
39.3 Pathobiochemie
Erfreulicherweise sind Über- oder Unterfunktionen der be-
Die zentrale Form des Diabetes insipidus wird durch AVP-Man- troffenen Achsen bei rechtzeitiger Diagnose in der Regel gut
gel verursacht. Häufiges Trinken (Polydypsie), übermäßige Urin- therapierbar.
produktion und dadurch verursachte Salzverluste charakterisie-
ren dieses relativ seltene Krankheitsbild. AVP-Mangel durch
Störung der Funktion der Neurohypophyse führt zum unzurei- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
chenden Einbau von Aquaporin 2 in die apikale Membran des
39 Sammelrohrs der Nieren, wodurch es zur gestörten Wasser-
rückresorption kommt. Langwirksame AVP-Analoga können
diese Störung beheben. Noch seltener können inaktivierende
Mutationen des AVP2-Rezeptors ebenfalls zum Diabetes
insipidus führen, in diesem Fall handelt es sich jedoch um die
nephrogene Form.
Das Gegenteil davon, unzureichende Wasserausscheidung,
konzentrierter Urin und Hyponatriämie, findet man beim Syn-
drom der inappropriaten AVP/ADH-Sekretion oder Wirkung
(SIADH). Selektive Antagonisten des AVP2-Rezeptors beheben
diese Störung, die durch überhöhte AVP-Sekretion oder einen
überaktiven AVP2-Rezeptor hervorgerufen wird.
Oxytocinmangel bei der Frau beeinträchtigt massiv die
Milchausschüttung, wobei der Geburtsvorgang nicht betroffen
ist. Beim Mann sind keine Oxytocinmangeleffekte beschrieben.
Überschuss oder Mangel von releasing-Hormonen und Stö-
rungen ihrer hypophysären Rezeptoren sind zwar selten, aber
beschrieben. Die behandlungsbedürftigen Folgen sind exzessive
oder fehlende Freisetzung der glandotropen Hypophysenhor-
mone. Hypophysenadenome können ebenfalls zur erhöhten
oder gestörten Produktion der glandotropen Hormone führen.
Am häufigsten sind hierbei Prolactinome, gefolgt von GH-sezer-
nierenden Adenomen, selten sind ACTH-produzierende Adeno-
495 40

40 Steroidhormone –
Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen
Ulrich Schweizer, Lutz Schomburg, Josef Köhrle

Einleitung 4 Durch Proteinkinase A-abhängige Phosphorylierung wird


eine cytoplasmatische Cholesterinesterhydrolase (. Abb.
Steroidhormone bilden eine umfangreiche Gruppe von Hormonen, 40.1) aktiviert und so freies Cholesterin bereit gestellt.
die sich vom Cholesterin ableiten. Sie werden v. a. in der Nebennieren- 4 Der entscheidende Schritt (committed step) der Steroidbio-
rinde, den Hoden sowie den Ovarien synthetisiert. Alle Steroidhormone synthese ist der Import von Cholesterin in die Mitochon-
wirken über nucleäre Rezeptoren. Ihr Wirkungsspektrum reicht von der drien durch das StAR (steroidogenic acute regulatory)-Pro-
Beeinflussung des Intermediär- und Knochenstoffwechsels bis zur tein, welches ebenfalls durch die Proteinkinase A aktiviert
Regulation der männlichen bzw. weiblichen Sexualentwicklung und wird.
-funktion. 4 Durch die in der inneren Mitochondrienmembran lokali-
sierte Desmolase (p450scc – side chain cleavage enzyme),
Schwerpunkte erfolgt unter Spaltung der Seitenkette des Cholesterins
zwischen den C-Atomen 20 und 22 die Bildung von Preg-
4 Prinzipien der Biosynthese von Steroidhormonen
nenolon.
4 Das Glucocorticoid Cortisol: Biosynthese, Regulation,
4 Pregnenolon wird aus dem Mitochondrion exportiert und
Wirkungsspektrum, Pathobiochemie
steht dann für weitere Biosyntheseschritte am glatten endo-
4 Männliche Sexualhormone: Biosynthese, Regulation,
plasmatischen Retikulum und im Cytosol zur Verfügung.
Wirkungsspektrum, Pathobiochemie
4 Weibliche Sexualhormone: Menstruationszyklus, Bio-
Die weiteren Reaktionen der Steroidbiosynthese unterscheiden
synthese von Östrogenen und Progesteron, Regulation,
sich abhängig vom zu synthetisierenden Steroid. Zunächst folgt
Wirkungsspektrum, Pathobiochemie
die Umwandlung von Pregnenolon in Progesteron durch
3 -Hydroxysteroiddehydrogenase und 4,5-Ketosteroidisomera-
se. Progesteron wirkt einerseits als weibliches Sexualhormon (als
Gestagen) (7 Kap. 40.5), andererseits dient es auch als Zwischen-
40.1 Gemeinsame Schritte bei der Biosynthese stufe für die weitere Biosynthese von Corticosteroiden (Gluco-
von Cortico- und Sexualsteroiden und Mineralcorticoide) und den eigentlichen Sexualsteroiden
(Androgene und Östrogene). Während die natürlichen Gestage-
Die Aufklärung der chemischen Konstitution von Steroidhor- ne und Corticosteroide über 21 Kohlenstoffatome verfügen, ent-
monen (kurz Steroide) stellte einen Meilenstein der Biochemie halten endogene Androgene 19 und Östrogene 18 Kohlenstoffa-
dar, der mit der Verleihung des Nobelpreises für Chemie an tome. Welches Steroidhormon schließlich überwiegend gebildet
Adolf Butenandt und Leopold Ružička im Jahre 1939 gewürdigt wird, hängt von der spezifischen Expression der entsprechenden
wurde. Durch ihre Lipidlöslichkeit und ihre chemische Komple- Biosyntheseenzyme in den Zellen ab. Im Unterschied zu Proteo-
xität unterschieden sich die Steroide grundlegend von den bis hormonen und Neurotransmittern werden Steroidhormone bei
dahin chemisch aufgeklärten Hormonen und Neurotransmittern Bedarf produziert und freigesetzt. Sie werden nicht in sekretori-
Acetylcholin und Adrenalin. schen Vesikeln gespeichert.
Steroide werden aus dem Membranlipid Cholesterin (7 Kap.
3.2.5) gebildet. Zellen in der Nebennierenrinde und den Gonaden,
die aktiv Steroide synthetisieren, sind im Elektronenmikroskop an Übrigens
zahlreichen Lipidtröpfchen aus Cholesterinestern zu erkennen. Malen nach Zahlen
Die Steroidbiosynthese erfordert eine Reihe von Oxidations-, Strukturformeln sind manchmal schwer zu erlernen, aber sie
Lyase- und Reduktionsreaktionen, die durch Cytochrom-P450- stellen unverzichtbare Werkzeuge für die Biochemie dar. Im
abhängige Membranproteine im glatten endoplasmatischen Re- Fall der Steroidhormone sind sie essentiell, denn sie verleihen
tikulum und in Mitochondrien sowie durch cytosolische Dehy- allen endogenen Hormonen, Zwischenstufen ihres Metabolis-
drogenasen katalysiert werden: mus und steroidanalogen Pharmaka ein »Gesicht«. Enzymna-
4 Wird die Hormonproduktion durch extrazelluläre Signale, men leiten sich schlicht von den Reaktionen ab, die sie kataly-
z. B. durch ACTH (7 Kap. 39.2.2) stimuliert, führt dies zur sieren (z. B. 11 -Hydroxysteroiddehydrogenase), und erlau-
Aktivierung des Adenylatcyclasesystems mit einer Aktivie- 6
rung der Proteinkinase A.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
496 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

40
. Abb. 40.1 Entstehung von Pregnenolon in steroidproduzierenden Zellen. Nach Rezeptorstimulation steigt die cAMP-Konzentration an. Bindung von
cAMP an die regulatorische Untereinheit der Proteinkinase A (PKA) befreit und aktiviert die katalytische Untereinheit, welche die Cholesterinester-Hydrola-
se sowie das StAR-Protein phosphoryliert. StAR vermittelt den Transfer von Cholesterin durch die äußere Mitochondrienmembran. So erhält die in der inne-
ren Mitochondrienmembran gelegene 20,22- Desmolase (p450scc) Zugang zu ihrem Substrat und spaltet die aliphatische Kette des Cholesterins ab. Es
entsteht Pregnenolon, welches zur weiteren Umsetzung zurück ins Cytoplasma transferiert wird. (Einzelheiten s. Text und 7 Kap. 24.2)

ben so Rückschlüsse auf Substrat und Produkt der Reaktion. Zusammenfassung


Wenn man die Grundstruktur der Steroide malen kann und Steroidhormone werden in der Nebennierenrinde und in
sich die Bezeichnungen der einzelnen Kohlenstoffatome den Keimdrüsen de novo gebildet.
und Ringe einprägt, kann man den Biosyntheseschritten der Die Biosynthese von Steroidhormonen erfolgt aus Choles-
Steroide besser folgen. Dann wird auch offensichtlich, dass terin.
Gluco- und Mineralsteroide 21 Kohlenstoffatome enthalten Pregnenolon entsteht durch die Abspaltung der aliphati-
(z. B. Cortisol), während männliche Sexualsteroide nur aus 19 schen Seitenkette des Cholesterins in Mitochondrien.
(z. B. Testosteron) und weibliche sogar nur aus 18 Kohlen- Pregnenolon und Progesteron sind wichtige Zwischen-
stoffen bestehen (z. B. Östradiol). Am Beispiel von Pregneno- stufen, die genauso wie Cortisol 21 Kohlenstoffatome
lon sind die Bezeichnungen der Kohlenstoffe und Ringe ver- besitzen.
deutlicht (. Abb. 40.2). 6

Cholesterinesterhydrolase Pregnenolon# Cholesterin#


40.2 · Das Nebennierenrindenhormon Cortisol
497 40

. Abb. 40.2 Steroidhormone unterscheiden sich durch die Anzahl der C-Atome. (s. Übrigens: Malen nach Zahlen)

40.2.2 Biosynthese von Steroiden


Natürliche männliche Sexualsteroide haben 19 Kohlenstoff- in der Nebennierenrinde
atome.
Endogene weibliche Sexualsteroide besitzen aufgrund ihres Die histologische und biochemische Zonierung
aromatischen A-Rings nur 18 Kohlenstoffatome. der Nebennierenrinde
Die Bindung von ACTH an den G-Protein gekoppelten Melano-
cortinrezeptor 2 (MC2R) auf Nebennierenrindenzellen stimuliert
die cAMP-Synthese und damit die Proteinkinase A (PKA). PKA
40.2 Das Nebennierenrindenhormon Cortisol aktiviert durch Phosphorylierung die Cholesterinesterhydrolase,
StAR und CREB (cAMP responsive-element binding protein). Die-
40.2.1 Regulation durch das hypothalamisch- ser Transkriptionsfaktor aktiviert die Expression von StAR und
hypophysäre System weiteren steroidogenen Enzymen. Die Expression von steroidoge-
nen Enzymen folgt der histologischen Zonierung der Nebennie-
Rückkopplungsschleifen steuern die renrinde. So entsteht das Mineralcorticoid Aldosteron in der Zona
Hormonproduktion glomerulosa, Glucocorticoide wie Cortisol in der Zona fasciculata
Die Cortisolfreisetzung aus der Nebennierenrinde steht unter und Sexualsteroide in der Zona reticularis (. Abb. 40.3).
der Kontrolle des Hypophysenhormons ACTH (Adrenocortico- Das Mineralcorticoid Aldosteron unterscheidet sich vom
tropes Hormon, Corticotropin), welches seinerseits durch CRH Cortisol durch das Fehlen der 17-alpha-Hydroxygruppe und
(Corticoliberin, Corticotropin-releasing-Hormon) reguliert wird Bildung des Halbacetals zwischen der 11-Hydroxygruppe und
(7 Kap. 39.2.2). Produktion sowie Freisetzung von CRH und dem Aldehyd an Position 18 (. Abb. 40.5). Die Funktion des
ACTH stehen unter negativer Regulation durch Cortisol, um die Aldosterons wird beim Elektrolythaushalt der Niere behandelt
homöostatische Einstellung der Cortisolspiegel zu gewährleis- (7 Kap. 65.4.3).
ten. Wir finden also auch hier eine klassische Rückkopplungs-
schleife (wird auch als negativer feedback bezeichnet) wie sie bei Cortisol entsteht aus Progesteron durch
Hormonachsen häufig anzutreffen ist. drei aufeinander folgende Hydroxylierungen
CRH wird in 7–10 Pulsen innerhalb von 24 h freigesetzt, die In der Zona fasciculata katalysiert die am endoplasmatischen
vor allem während der Nacht und am Morgen auftreten. Diese Retikulum lokalisierte 17 -Hydroxylase die Umwandlung von
transienten Spitzen des Plasma-CRH entstehen einerseits durch Progesteron zu 17α-Hydroxyprogesteron (. Abb. 40.3). Dieses
die pulsatile Freisetzung, andererseits durch die kurze Plasma- wird dann durch die 21-Steroidhydroxylase in 11-Desoxycorti-
halbwertszeit von CRH. Die hypophysäre ACTH-Freisetzung sol umgewandelt. 11-Desoxycortisol wird in die Mitochondrien
folgt dem CRH-Rhythmus zeitversetzt, bewirkt aber einen stei- transferiert, wo es durch die 11 -Steroidhydroxylase in das beim
genden Cortisolspiegel am Morgen und einen langsam darauf Menschen vorherrschende und biologisch aktive Glucocorticoid
folgenden Abfall, da die Plasmahalbwertszeit von Cortisol mit Cortisol umgewandelt wird. Pro Tag kann die Zona fasciculata
>1 h deutlich länger ist als die der Peptidhormone (wenige Mi- beim Menschen 5–30 mg (14–84 µmol) Cortisol ohne vorherige
nuten). So entsteht aus diskreten Pulsen der Peptidhormone eine Speicherung freisetzen – eine gewaltige Menge für ein Hormon
langsame circadiane Rhythmik des Cortisols. Übrigens ist dies (zum Vergleich: Die gleiche Anzahl Insulinmoleküle würde über
der Grund, weshalb Plasmacortisolspiegel morgens vor dem ein Gramm wiegen. Tatsächlich setzt ein Mensch nur 1–2 mg
Frühstück bestimmt werden – eine Cortisolbestimmung zu einer Insulin pro Tag frei).
zufälligen Tageszeit ist angesichts der circadianen Schwankun- Da die Nebennierenrindenzellen nicht über die Kapazität
gen ohne diagnostischen Wert. verfügen, ausreichende Mengen an Cholesterin alleine aus Ace-
tyl-CoA zu synthetisieren, nehmen sie Cholesterinester in Form
von Lipoproteinen auf (7 Kap. 24.2). Dazu exprimieren sie nach
ACTH-Stimulation vermehrt LDL-Rezeptoren.

Pregnenolon# Progesteron# Cortisol# Testosteron# Östradiol#


498 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

. Abb. 40.3 Die Biosynthese von unterschiedlichen Steroidhormonen ist spezifisch für einzelne Zonen der Nebennierenrinde. Die Enzymausstattung
der Zona glomerulosa erlaubt die Biosynthese von Mineralcorticoiden wie Aldosteron. Das Glucocorticoid Cortisol ist das Endprodukt der Zona fasciculata.
Die Zona reticularis setzt vor allem Dehydroepiandrosteron und Androsteron frei. Sie produziert nur Spuren der Sexualsteroide Testosteron und Östradiol.
Beteiligte Enzyme: 1 : 20,22 Desmolase; 2 : 3β-Hydroysteroiddehydrogenase/Δ4,5-Ketoisomerase; 3 : 21-Hydroxylase; 4 : 11β-Hydroxylase; 5 : 18-Hy-
droxylase; 6 : 18-Methyloxidase; 7 : 17β-Hydroxylase; 8 : 17,20-Lyase; 9 : 17-Hydroxysteroiddehydrogenase; 10 : Aromatase. (Aus Schmidt et al. 2011)

40.2.3 Transport und Stoffwechsel des Cortisols am Kohlenstoff 11 im Aldosteron an der Bildung eines Halbace-
tals mit der Aldehydgruppe beteiligt und damit vor Oxidation
Der normale Cortisolspiegel beträgt morgens und nüchtern geschützt ist (. Abb. 40.5). Die Expression von 11 -HSD-2 wirkt
5–25 µg/dl (0,14–0,69 µmol/l). Aufgrund seiner Hydrophobizität also als »Filter« gegen Cortisol, da Cortison nicht an den Mine-
liegt Cortisol aber nicht frei gelöst im Plasma vor, sondern zu über ralcorticoidrezeptor bindet. Dieses Prinzip der intrazellulären
90 % gebunden an Transcortin (corticosteroid binding protein, Kontrolle der Konzentration von Liganden nucleärer Rezeptoren
40 CBG), ein von der Leber sezerniertes -Globulin, welches als (Prä-Rezeptorkontrolle der Ligandenverfügbarkeit) findet sich
Transferprotein im Plasma ähnlich wie Präalbumin (thyroidhor- in analoger Weise bei der Dejodierung von Schilddrüsenhormo-
mone binding globulin, TBG) für Schilddrüsenhormone, Sexhor- nen (7 Kap. 41.2.3) und der lokalen Synthese von Sexualsteroiden
mon-bindendes Globulin (SHBG) für Sexualsteroide und Vita- (7 Kap. 40.5.2).
min-D-Bindungsprotein (DBP) für Calcitriol dient (7 Kap. 58.3).
Irreversible Inaktivierung von Cortisol
Cortisol kann reversibel in Cortison umgewandelt Cortisol kann auch durch hepatische Enzyme an der C4=C5-
und damit inaktiviert werden Doppelbindung hydriert und somit inaktiviert werden. Die oxi-
Eine 11 -Hydroxysteroiddehydrogenase (11 -HSD-2) kann dative Abspaltung der Seitenkette am C-Atom 17 und die weitere
NAD+-abhängig Cortisol zum inaktiven Cortison oxidieren. Die Konjugation mit Glucuronsäure oder Sulfat erhöhen die Wasser-
umgekehrte Reaktion wird durch 11 -HSD-1 NADPH-abhängig löslichkeit und erleichtern so die renale Ausscheidung. Aufgrund
katalysiert. Zellen, die 11 -HSD-1 exprimieren, können also un- der vielfältigen Abbaureaktionen von Cortisol in Leber und
abhängig von der adrenalen Hormonfreisetzung ihre lokale Cor- Darm, ist seine orale Verfügbarkeit relativ gering. Andererseits
tisolkonzentration erhöhen (. Abb. 40.4). erlaubt dieser Umstand die gezielte topische Applikation in Form
Die Bedeutung der 11 -HSD-2 erklärt sich anschaulich aus von cortisolhaltigen Salben oder Inhalationssprays ohne bei rich-
ihrer Expression in Zellen, welche den Mineralocorticoidrezep- tiger Anwendung systemische Nebenwirkungen erwarten zu
tor (MR) exprimieren. Sowohl das Glucocorticoid Cortisol als müssen.
auch das Mineralcorticoid Aldosteron binden an den Mineralo-
corticoidrezeptor, allerdings ist die zelluläre Konzentration von
Cortisol ca. 100fach höher als die von Aldosteron. Die 11 -HSD-2
oxidiert und inaktiviert daher Cortisol, während der Sauerstoff

Cholesterin# Pregnenolon# Progesteron# 11-Desoxycorticosteron# Corticosteron# 18-Hydroxycorticosteron# Aldosteron# 17-Hydroxypreg-


nenolon# 17-Hydroxyprogesteron# 11-Desoxycortisol# Cortisol# Dehydroepiandrosteron# Androstendion# Testosteron# Östradiol#
40.2 · Das Nebennierenrindenhormon Cortisol
499 40

. Abb. 40.4 Cortisol und Cortison können durch Oxidation und Reduktion ineinander umgewandelt werden. Die 11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 2
(11β-HSD-2) katalysiert die Inaktivierung von Cortisol zu Cortison, die 11β-Hydroxysteroiddehydrogenase 1 (11β-HSD-1) ist für die Rückreaktion verant-
wortlich

. Abb. 40.5 Strukturformeln von Aldosteron in Aldehyd- und Halbacetal-


form. Der Aldehyd an Position 18 bildet mit der Hydroxylgruppe an Posi-
tion 11 ein zyklisches Halbacetal und schützt so die 11 -Hydroxylgruppe vor
Oxidation durch 11 -HSD-2. Durch Expression von 11 -HSD-2 kann sich eine
mineralcorticoidresponsive Zelle (z. B. im renalen Tubulusepithel) gegen
cortisolabhängige Aktivierung des Mineralocorticoidrezeptors schützen

40.2.4 Cortisolrezeptoren

Der Cortisolrezeptor oder Glucocorticoidrezeptor (GR) gehört


zur Klasse 1 der nucleären Rezeptoren. GR enthalten eine Ligan-
denbindungsdomäne und eine DNA-bindende Domäne, die an
sog. glucocorticoidresponsive Elemente (GRE) in Promotoren
seiner Zielgene bindet (7 Kap. 35.1). Die Homologie von Mine-
ralcorticoidrezeptor und Glucocorticoidrezeptor ist mit 97 % in
der Ligandenbindungsdomäne sehr ausgeprägt; daher bindet der
Mineralcorticoidrezeptor neben Aldosteron auch Cortisol mit . Abb. 40.6 Wirkungen des Cortisols. Metabolische Wirkungen: gestei-
gerte Lipolyse und Freisetzung von Fettsäuren im weißen Fettgewebe, ge-
vergleichbarer Affinität. Gerade in Neuronen, die keine
steigerte Proteolyse und Freisetzung von Aminosäuren aus Skelettmuskel,
11 -HSD-2 exprimieren, werden daher Cortisolsignale auch Bindegewebe und Knochen sowie gesteigerte Gluconeogenese in der Le-
durch den Mineralcorticoidrezeptor vermittelt. ber. Gleichzeitig wird die Glucoseaufnahme in Muskel, Haut und Fett inhi-
biert. Wirkungen auf das Immunsystem: Neben Hemmung der Glucoseauf-
nahme auch Leukozytose, Eosinopenie, Repression von T-Zellaktivität und
verminderte Cytokinproduktion
40.2.5 Stoffwechseleffekte des Cortisols

Cortisol stimuliert die Gluconeogenese


Als Glucocorticoid stimuliert Cortisol die hepatische Gluco- Beispiel der Aufrechterhaltung der Glucosehomöostase über die
neogenese und damit die Bereitstellung von Glucose in die Zir- relativ lange Nahrungskarenz zwischen Abendbrot und Früh-
kulation (. Abb. 40.6). Somit ist Cortisol ebenso wie Glucagon stück. Somit erklärt sich die Nüchternblutabnahme morgens zur
und Adrenalin ein Antagonist des Insulins. Während Glucagon Cortisolbestimmung.
und Adrenalin eher die kurzfristige Bereitstellung von Glucose Cortisol stimuliert die hepatische Gluconeogenese durch
aus Glycogen vermitteln, gewährleistet Cortisol eine langsamere vermehrte Transkription von Genen wie PEPCK und Glucose-
aber nachhaltige Erhöhung des Blutzuckerspiegels. Die nächtli- 6-Phosphatase. Die Erhöhung des Blutzuckerspiegels durch
che Zunahme des Cortisolspiegels bis zum Frühstück dient zum Glucocorticoide beruht weiterhin auf einer zusätzlichen Hem-

Cortisol Proteinsynthese Proteolyse Lipolyse Energiegewinnung Gluconeogenese


500 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

. Abb. 40.7 Strukturformeln von Cortisol und synthetischen Glucocorticoiden. (Einzelheiten s. Text)

mung der Glucoseaufnahme in peripheren Organen (Fett, Ske- Chronisch erhöhtes Cortisol behindert die Wund-
lettmuskel, Fibroblasten) und Hemmung der Proteinbiosyn- heilung und fördert die Entstehung von Osteoporose
these. Im Muskel wird die Proteolyse zusätzlich erhöht und In der Haut inhibiert Cortisol die Expression von Kollagenen
Aminosäuren werden in die Zirkulation abgegeben. Im weißen und Glucosaminoglycanen durch direkte Repression der Gene
Fettgewebe wird die Lipolyse stimuliert und Glycerin und Fett- für Kollagene und Kollagen-Galactosyltransferase. Im Knochen
säuren werden freigesetzt. Aminosäuren und Glycerin dienen in wird die Expression von Osteoprotegerin in Osteoblasten sup-
der Leber zur Gluconeogenese während andere Gewebe Amino- primiert und die Aktivität von Makrophagen (den Vorläufern
säuren und Fettsäuren direkt als Energiesubstrate nutzen. Glu- von Osteoklasten) erhöht. Deshalb treten bei anhaltend hohen
cocorticoide wirken also katabol auf Muskeln, Bindegewebe und Glucocorticoidspiegeln (durch Stress oder durch antiinflam-
Fettgewebe (. Abb. 40.6). Die Mobilisierung von freien Fettsäu- matorische Medikation) Störungen bei der Wundheilung, Perga-
ren aus den Triacylglycerinspeichern des weißen Fettgewebes menthaut und Osteoporose auf.
begünstigt die Entstehung einer Insulinresistenz in Leber und
Muskulatur, was besonders beim Hypercortisolismus von Be- Cortisol wirkt auf viele Gebiete im Gehirn
deutung ist (7 Kap. 36.7.2). Der Cortisolspiegel ist bei Personen, die an Depressionen er-
Die Expression des Glucocorticoidrezeptors in praktisch al- krankt sind, oftmals tonisch erhöht und lässt die circadiane bzw.
len Zelltypen legt nahe, dass die physiologische Funktion des pulsatile Rhythmik vermissen. Auch der negative feedback
Cortisols sich nicht in der Regulation des Blutglucosespiegels scheint gestört zu sein. Iatrogen (durch Überdosierung) oder
erschöpft. durch Cushing-Syndrom verursachter Cortisolüberschuss kann
zu Depressionen und psychotischen Attacken führen, die sehr
Cortisol wirkt antiinflammatorisch gut auf das Absenken der Cortisolspiegel ansprechen.
und immunsuppressiv
Eine weitere klassische Wirkung des Cortisols betrifft die Sup-
pression des Immunsystems und erklärt sich als negative Rück- 40.2.6 Pathobiochemie
kopplungsschleife auf proinflammatorische Cytokine zur Ein-
40 dämmung einer Immun- oder Entzündungsreaktion. Vermittelt Mutation der 21-Hydroxylase führt zum
wird diese u. a. durch Induktion des I B und Repression von Adrenogenitalen Syndrom
proinflammatorisch aktiven Cytokinen wie TNF- und IL-1 . Angeborene Störungen der Biosynthese von Steroidhormonen
Man kann bildlich behaupten, dass Cortisol quasi den Wasser- sind vergleichsweise häufig und liefern instruktive Beispiele für die
schaden eindämmen soll, den die Feuerwehr (akute Stressant- biochemischen Zusammenhänge zwischen den Nebennierenrin-
wort: Adrenalin etc.) verursacht hat. Daher werden synthetische den- und Sexualsteroiden. So erreicht die angeborene 21-Hydro-
Glucocorticoide wie Dexamethason oder Prednisolon zur Be- xylasedefizienz eine Inzidenz von bis zu 1:5.000. Da die weitere
handlung von Autoimmunerkrankungen, allergischen Reaktio- Biosynthese zum Cortisol (über 11-Hydroxylase) blockiert ist,
nen (z. B. Asthma) und chronischen sowie akuten Entzündun- reichern sich bei diesen Patienten 17 -Hydroxyprogesteron (17-
gen eingesetzt. Sie verdanken ihre höhere Wirksamkeit sowohl OHP), Progesteron und Pregnenolon an, die schließlich in die
einer höheren Affinität zum Glucocorticoidrezeptor und schwä- Androgenbiosynthese in der Zona reticularis münden. Gleichzei-
cheren Bindung an Transcortin (corticosteroid binding protein, tig entfällt durch das Fehlen von Cortisol die negative Rückkopp-
CBG), als auch einem verzögerten Abbau, was mit einer länge- lung auf die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse,
ren biologischen Halbwertszeit einher geht (. Abb. 40.7). sodass der ACTH-Spiegel ansteigt und eine Nebennierenhyper-
Die Wirkungen von Glucocorticoiden auf das Immunsystem plasie verursacht. Die daraus resultierende Überproduktion von
betreffen auch die Migration von Immunzellen, Expression der Androgenen durch die Nebennierenrinde vor der Pubertät führt
induzierbaren NO-Synthase (iNOS), sowie die verminderte Syn- bei Jungen zu einer prämaturen Ausbildung von Körperbehaarung
these von Prostaglandinen und Cytokinen. Außerdem können und resultiert unbehandelt durch das Schließen der Wachstums-
Glucocorticoide Apoptose bei Immunzellen wie T-Lymphocyten fugen in einer geringeren Körpergröße. Bei Mädchen kommt eine
und Neutrophilen induzieren. weitere Komplikation hinzu, denn sie können durch die adrenalen
Androgene (v. a. Androstendion) schon in utero und postnatal vi-

Prednisolon# 9α-Fluor-16α-Methylprednisolon# Dexamethason#


40.2 · Das Nebennierenrindenhormon Cortisol
501 40

A B C

. Abb. 40.8. Süßholz. A) Süßholzwurzel, B) Süßholzstrauch, C) Strukturformeln von Glycyrrhizin und seinem Aglycon Glycyrrhetinsäure. (Aus Schrott u.
Ammon 2012)

rilisiert werden – bis hin zur Entwicklung nicht eindeutiger Ge- den kann, wie im Falle von Hypophysenadenomen (Morbus
schlechtsorgane. Während die meisten Patienten noch über eine Cushing) oder Tumoren, die ektopisch ACTH produzieren (z. B.
variable Restaktivität der 21-Hydroxylase verfügen, leiden manche Bronchialkarzinome). Anzeichen des Cushing-Syndroms sind
an einem vollständigen Aktivitätsverlust (Inzidenz 1:15.000). Die- Glucoseintoleranz, Gewichtszunahme, charakteristische Verän-
se Patienten sind in den ersten Wochen nach der Geburt in akuter derung der Körperform (Stammfettsucht), Hautveränderungen
Lebensgefahr, da ihnen auch Aldosteron fehlt, sodass es zu Salz- sowie Bluthochdruck. Ein Cushing-Syndrom wird oft auch iat-
und Wasserverlustkrisen kommen kann. Deshalb wird weltweit in rogen durch zu hohen und zu langen Glucocorticoideinsatz ver-
über 40 Ländern bereits im Rahmen von Perinatalscreenings auf ursacht.
schwere Stoffwechselerkrankungen der 17-OHP-Serumspiegel
bestimmt. Durch Ersatz der Mineralcorticoid- und Glucocortico-
idaktivitäten und pharmakologische Blockierung der Androgen- Übrigens
wirkung können die Patienten ein normales Leben führen. Ursa- Vom Süßholzraspeln
che für die relativ häufigen Mutationen im Gen für die Steroid- Das Süßholz (Glycyrrhiza glabra) ist eine mediterrane Heil-
21-Hydroxylase ist die Rekombination mit einem inaktiven Pseu- pflanze, aus deren Wurzeln hustenlösende Extrakte, Salmiak-
dogen auf demselben Chromosom. pastillen und Lakritze hergestellt werden. Diese Extrakte
enthalten unter anderem die Verbindung Glycyrrhizin, ein
Die Zerstörung der Zona fasciculata Glykosid welches 50fach süßer schmeckt als Rohrzucker.
führt zum Morbus Addison Im Verdauungstrakt wird aus Glycyrrhizin das Aglykon
Die Zerstörung der Nebennierenrinde durch eine Autoimmun- Glycyrrhetinsäure freigesetzt, welches sehr potent die
reaktion ist nicht selten (Prävalenz: ca. 1 auf 2.500). Sie resultiert 11 -HSD-2 und damit die Inaktivierung von Cortisol hemmt.
in einer Abnahme, schließlich im Fehlen der Corticosteroide und In der medizinischen Literatur wird immer wieder von
einem Syndrom, welches Schwächezustände mit Hypoglykämie, hypertensiven Krisen, hypokaliämischen Lähmungen und
Fieber und Salzverlustkrisen umfasst. Durch die fehlende Rück- Rhabdomyolyse als Folge von ungezügeltem Lakritzkonsum
kopplung kommt es zu einer überschießenden Produktion von berichtet. Durch Hemmung der 11 -HSD-2 in der Niere
Proopiomelanocortin (7 Kap. 39.1.2). Neben erhöhter ACTH- kommt es zu einer exzessiven Stimulation des Mineralcorti-
Freisetzung kommt es auch zu einer erhöhten hypophysären coidrezeptors durch Cortisol und in der Folge zu den Symp-
α-MSH-Bildung. Dessen Wirkung auf MC1-Rezeptoren der tomen eines Hyperaldosteronismus: Eine erhöhte Wasser-
Haut vermittelt die charakteristischen bronzeartigen Verfärbun- und Natriumretention führen zu einer Blutdruckerhöhung
gen der Haut. Sowohl Gluco- als auch Mineralcorticoide müssen und die vermehrte Ausscheidung von Kalium über den Urin
pharmakologisch substituiert werden. resultiert in Muskelkrämpfen. Das Süßholz-»Raspeln« beruht
übrigens auf der Tatsache, dass im äußeren Teil der Wurzel
Das Cushing-Syndrom kann auf Tumoren hinweisen die Glycyrrhizinkonzentration höher ist als im Inneren
Ein Hypercortisolismus entsteht, wenn die ACTH-Produktion (. Abb. 40.8).
nicht durch die negative Cortisolrückkopplung supprimiert wer-
502 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

miert so das Gehirn über den »Ladezustand« seines wertvollsten


Zusammenfassung Energiespeichers (7 Kap. 38.3). So weiß man, dass stark überge-
Die pulsatile Freisetzung des Corticotropin-releasing-Hor- wichtige Kinder früher, sehr untergewichtige später, in die Pu-
mon (CRH) und des glandotropen Hormons ACTH resultie- bertät eintreten. Kinder mit genetischer Leptindefizienz treten
ren in einem circadianen Rhythmus der Cortisolspiegel im erst nach Leptinsubstitution in die Pubertät ein. Der Zusammen-
Plasma. hang zwischen GnRH-Freisetzung und body mass index (BMI)
Cortisol wird durch drei Hydroxylierungsreaktionen aus ist nicht nur für die Pubertät, sondern auch für die Aufrechter-
Progesteron in der Nebennierenrinde synthetisiert. haltung eines normalen Menstruationszyklus bei Frauen relevant
Cortisol bindet intrazellulär an den nucleären Glucocorti- (s. u.). Auch die Tageszeit wird vom Pulsgenerator berücksich-
coidrezeptor. tigt, sodass die Frequenz der GnRH-Pulse bei Nacht höher ist als
Cortisol stimuliert die hepatische Gluconeogenese durch tagsüber. Die GnRH-Freisetzung unterliegt schließlich einer
Induktion der benötigten Enzyme. negativen Rückkopplung durch gonadale Sexualsteroide sowie
In Muskeln und Bindegewebe hemmt Cortisol die Protein- einer Repression durch adrenale Glucocorticoide. Diese Rück-
biosynthese, stimuliert die Proteolyse und steigert die kopplung wird überwiegend durch Steroidhormonrezeptoren in
Lipolyse im weißen Fettgewebe. Kisspeptin-Neuronen vermittelt, die selbst durch Neurokinin B
Glucocorticoide wirken immunsuppressiv und inhibieren die und dessen Rezeptor aktiviert werden. Mutationen der Kompo-
Wundheilung. nenten dieser Rückkopplungsachse können zu Störungen der
Angeborene Störungen der Biosynthese von Corticoiden Pubertätsentwicklung und des Menstruationszyklus führen.
können zum adrenogenitalen Syndrom führen.

40.3.2 Gonadotrope Hormone der Hypophyse

40.3 Die Gonadotropine Die Gonadotropine FSH (Follitropin, Follikelstimulierendes


Hormon) und LH (Luteotropin, Luteinisierendes Hormon) gehö-
40.3.1 Regulation durch das hypothalamisch- ren zur gleichen Familie von heterodimeren Glykoproteohormo-
hypophysäre System nen wie TSH (7 Kap. 39.2.2). Obwohl ihre Namen nahelegen,
dass sie hauptsächlich die Ovarienfunktion kontrollieren, sind
sie auch für die Steuerung der Hoden verantwortlich (. Abb.
Wenige GnRH Neurone im Hypothalamus bilden 40.9). Zu Beginn der Pubertät werden Gonadotropine nur nachts
einen Pulsgenerator pulsatil freigesetzt. Mit Festigung der Achse treten die Pulse auch
Das übergeordnete Zentrum der Hypothalamus-Hypophysen- tagsüber auf, allerdings flachen diese mit dem Alter wieder ab.
Gonaden (HPG-)Achse wird durch eine kleine Zahl von Neuro- Die Rezeptoren für LH, FSH – und TSH – sind ebenfalls sehr
nen im mediobasalen Hypothalamus gebildet, die untereinander nahe verwandte heptahelicale GPCRs.
und mit verschiedenen anderen Gehirnregionen synaptisch ver- Bei der Frau wirkt FSH u. a. auf die Follikelrekrutierung und
bunden sind. Sie sezernieren GnRH (gonadotropin-releasing hor- -reifung. Die Expression der Aromatase (7 Kap. 40.5.2) in Gra-
mone), ein Decapeptidamid, in das portale Gefäßnetzwerk des nulosazellen des Ovars wird durch FSH induziert, genauso wie
40 Hypophysenstiels und regulieren so die Gonadotropinfreiset- die Expression des LH-Rezeptors. LH wirkt primär stimulierend
zung (LH, FSH) durch die Adenohypophyse (7 Abb. 39.4). Diese auf die androgenproduzierenden Thecazellen des Ovars. Die
Neuronen besitzen eine intrinsische rhythmische Aktivität, die Kontrolle der Steroidsynthese durch den LH-Rezeptor bleibt
sie synchronisieren und so eine pulsatile Freisetzung von GnRH auch nach dem Eisprung im Gelbkörper erhalten. Ein einzelner,
erzeugen können. Gleichzeitig unterliegen diese Neurone einer hoher LH-Puls löst die Ovulation aus.
Vielzahl von regulatorischen Mechanismen, die Umweltein- Beim Mann wirkt LH primär auf Leydig-Zellen und stimu-
flüsse, Stimmungen oder den metabolischen Zustand des Kör- liert die Testosteronsynthese. Testosteron und daraus hervorge-
pers berücksichtigen. gangenes Östradiol vermitteln die negative Rückkopplung auf
Hypothalamus und Hypophyse. Die Spermienproduktion wird
Beginnende GnRH Sekretion markiert die Pubertät durch Sertoli-Zellen unterstützt, welche über FSH und Testoste-
Der stärkste regulatorische Einfluss auf die HPG-Achse ist ihre ron reguliert werden. In Abwesenheit eines funktionellen FSH
»Erweckung« zu Beginn der Pubertät. Man weiß heute, dass oder FSH-Rezeptors entwickeln die sonst gesunden Männer eine
übergeordnete Neurone ein Neuropeptid mit Namen Kisspeptin Azoospermie (Fehlen von Spermien).
abgeben, welches auf GnRH-Neuronen an einen G-Protein-ge- Durch anhaltende pharmakologische Rezeptorstimulation
koppelten, GPR54 genannten Rezeptor bindet. Dieses Signal/ mittels GnRH-Analoga lassen sich die gonadotropen Hypophy-
Rezeptor-Paar Kisspeptin/GPR54 ist essentiell für die Aktivität senzellen desensitivieren, was als therapeutische Option klinisch
und Stimulation der GnRH-Neurone. bei hormonresponsiven Tumorerkrankungen (Prostatakarzi-
Doch welches Signal steuert die Kisspeptin-Freisetzung? nom oder Brustkrebs) genutzt wird.
Überraschenderweise stimuliert das Sättigungshormon Lep-
tin diesen Prozess (7 Abb. 39.4). Leptin wird entsprechend des
Fettgehaltes aus dem weißen Fettgewebe freigesetzt, und infor-
40.4 · Männliche Sexualsteroide
503 40

. Abb. 40.9 Hormonelle Steuerung der Gonaden durch das hypothalamisch-hypophysäre System. (Einzelheiten s. Text). (Aus Schmidt et al. 2011)

Übrigens Zusammenfassung
Kallmann-Syndrom Der GnRH-Pulsgenerator liegt im Hypothalamus und wird
Ein seltsames Syndrom hat überraschende Einblicke in die mit der Pubertät aktiv.
Entwicklung der etwa 2.000 GnRH-produzierenden Neurone Die Gonadotropine LH und FSH sind Glycoproteohormone
des mediobasalen Hypothalamus gewährt. Hypogonadaler aus der Hypophyse und stimulieren die Sexualsteroidpro-
Hypogonadismus ist ein Syndrom, bei dem die Pubertät duktion in Hoden und Ovarien.
nicht von alleine eintritt. Die Synthese von gonadalen Se- LH stimuliert die Sexualsteroidbiosynthese durch Leydig-
xualsteroiden bleibt aus, weil die Hypophyse ihrerseits nicht Zellen beim Mann und durch Thecazellen bei der Frau.
mit der verstärkten Sekretion von Gonadotropinen beginnt. FSH wirkt keimzellenfördernd; beim Mann über die Sertoli-
Beim Kallmann-Syndrom ist das Fehlen von messbarem Zellen und bei der Frau über die Granulosazellen.
GnRH mit einer Anosmie verbunden (hypogonadaler Hypo-
gonadismus mit Anosmie). Die Patienten riechen also nichts.
Das war der Schlüssel zu Aufklärung der genetischen Ursa- 40.4 Männliche Sexualsteroide
che. Man fand, dass Zellen, die am Riechen beteiligt sind,
während der Embryonalentwicklung nicht korrekt wandern. 40.4.1 Biosynthese männlicher Sexualsteroide
So entdeckte man, dass auch GnRH-Neurone während dieser
Zeit erst in den Hypothalamus einwandern. Beim Kallmann- Leydig-Zellen im Hoden produzieren Testosteron
Syndrom ist das Gen für ein Protein mutiert, welches für die Die Biosynthese von männlichen Sexualsteroiden (Androgenen)
Migration beider Zelltypen essentiell ist. findet in Leydig-Zellen des Hodens statt, die sich im Zwischen-
zellkompartiment zwischen den spermienproduzierenden Tubu-
li befinden. Die Steroidbiosynthese wird über den LH-Rezeptor
durch cAMP-Erhöhung stimuliert und folgt dem bereits be-
schriebenen Weg (7 Kap. 40.1). 17 -Hydroxyprogesteron und
17 -Hydroxypregnenolon werden durch das Enzym C17-C20-
Lyase in Androstendion bzw. Dehydroepiandrosteron (DHEA)
umgewandelt. Reduktion an Position 17 und im Falle von 5-An-
drostendiol die Oxidation an Position 3 münden in die Bildung
von Testosteron (. Abb. 40.10). Im menschlichen Hoden ist der
5-Weg bevorzugt.

hormonelle Steuerung Ovarien Thecazellen Granulosazellen Östradiol Progesteron Gelbkörper Luteinzellen Leydig-Zellen Hoden
Sertoli-Zellen Spermatide Spermatozyte
504 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

. Abb. 40.10 Biosynthese des Testosterons aus Pregnenolon. P450c17: 17α-Steroidhydroxylase. (Einzelheiten s. Text)

Auch DHEA aus der Nebenniere kann zu Testosteron


umgewandelt werden
In der Nebennierenrinde synthetisiertes Dehydroepiandroste-
ron (DHEA, . Abb. 40.3) wird zu DHEA-S sulfatiert und in die
Zirkulation abgegeben. DHEA-S kann von Leydig-Zellen wieder
aufgenommen, desulfatiert und intrakrin zu Testosteron weiter
reduziert werden. Ein erwachsener Mann produziert täglich
4–12 mg Testosteron, wozu die Nebennierenrinde allerdings nur . Abb. 40.11 Periphere Umwandlung von Testosteron in
etwa 0,2 mg beiträgt. DHEA-S ist mit einer Plasmakonzentration 5α-Dihydrotestosteron
von 500–2.500 ng/ml (1,3–6,8 µmol/l) das am höchsten konzen-
trierte Steroid und könnte einen »Prohormon-Puffer« darstellen
40 aus dem sich andere Gewebe bedienen. Es gibt zwei Isoenzyme der 5 -Reduktase. 5 -Reduktase
Typ 1 ist in vielen Geweben bei Mann und Frau aktiv, während
5 -Reduktase Typ 2 vorwiegend in externen Genitalgeweben,
40.4.2 Transport und Stoffwechsel Prostata und Haarfollikeln exprimiert wird.

Androgene werden im Plasma zu 98 % von einem sowohl Testo- Manche Testosteroneffekte werden
steron als auch östrogenbindenden Protein (SHBG, sex hormone durch Östradiol vermittelt
binding globulin) gebunden. Die normale Testosteronkonzentra- Testosteron kann durch das Enzym Aromatase in Östradiol um-
tion im Plasma des Mannes beträgt 3–10 ng/ml (10–35 nmol/l). gewandelt werden (7 Kap. 40.5.2). Im Gegensatz dazu kann DHT
nicht in Östrogene umgewandelt werden und stellt somit ein
Dihydrotestosteron entsteht aus Testosteron »eindeutiges« Androgen dar. Paradoxerweise werden manche
und ist ein potentes Androgen Testosteroneffekte, wie z. B. die männliche Prägung des embryo-
Testosteron wird in verschiedenen peripheren Zielgeweben (z. B. nalen Gehirns, durch Östradiol vermittelt. Östradiol kann im
in der Prostata) durch das Enzym 5 -Reduktase irreversibel in- Gegensatz zu Testosteron zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung
trakrin in Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt. Seine Plas- nicht ins Gehirn aufgenommen werden. Die lokale Umwandlung
makonzentration ist etwa 10-mal niedriger als die des Testoste- im Gehirn von Testosteron in Östradiol stellt somit Liganden für
rons. DHT bindet den Androgenrezeptor (AR) stärker als Testos- den Östradiolrezeptor zur Verfügung, der daraufhin die männli-
teron und stellt somit ein noch potenteres Androgen dar (. Abb. che Prägung des Gehirns vermittelt. Der zirkulierende Testoste-
40.11). Bei angeborener Inaktivität der 5 -Reduktase wird der ronspiegel bei der Frau liegt unter 1 ng/ml.
Androgenrezeptor in bestimmten Geweben zu schwach stimu- Die Inaktivierung von Testosteron und DHT geschieht durch
liert und es kommt z. B. zu Hypospadie oder Intersexualität. Reduktion mittels 3 -Hydroxysteroiddehydrogenase u. a. in der

17-α-Hydroxypregnenolon# Dehydroepiandrosteron (DHEA)# ∆^5^^-Androstendiol# 3-β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase ∆^4,5^^-Ke-


tosteroidisomerase Progesteron# 17-α-Hydroxyprogesteron# 17,20-Lyase Androstendion# Testosteron#
40.4 · Männliche Sexualsteroide
505 40
Leber. Nach Oxidation an Position 17 werden die freien oder ner äußerlich zu Frauen und erfahren von ihrer genotypischen
sulfatierten bzw. glucuronidierten Androgenderivate über den Identität erst, wenn sie aufgrund der Abwesenheit von Menstru-
Urin ausgeschieden. ationszyklen untersucht werden. Bei ihnen entsteht Östradiol
durch Aromataseaktivität in peripheren Geweben aus Androge-
nen. Aufgrund der Androgenrezeptormutation bleibt eine Viri-
40.4.3 Effekte der Androgene lisierung aus und die Östrogene setzen sich phänotypisch durch.
Eine Polyglutaminexpansion im Androgenrezeptorgen löst beim
Testosteron steuert Körperbau und Sexualfunktion Menschen ab einer bestimmten Länge eine zu Lähmungen und
beim Mann zum Tode führende neuromuskuläre Degenerationserkrankung
Testosteron und DHT binden an den gleichen nucleären Rezeptor, aus, die als Kennedy-Syndrom bezeichnet wird.
den Androgenrezeptor. Während der männlichen Geschlechts-
differenzierung kommt dem Testosteron eine wichtige Rolle bei Therapeutische Verwendung von Antiandrogenen
der Bildung von Strukturen zu, die aus den Wolff-Gängen abgelei- Unerwünschte Androgenwirkungen können durch Antiandro-
tet sind, wie z. B: Samenleiter, Nebenhoden und Samenbläschen. gene (Androgenantagonisten am Androgenrezeptor) wie Cypro-
Die äußeren Genitalien weisen eine außerordentliche Entwick- steronacetat oder Flutamid vermindert werden. Sie kommen zur
lungsplastizität auf, sodass selbst weibliche Genitalien bei Neuge- Anwendung bei Frauen mit exzessiver adrenaler Androgenpro-
borenen durch dauerhaft hohe Androgenspiegel virilisiert werden duktion, bei Kindern mit Adrenogenitalem Syndrom (um den
können (7 Kap. 40.2.6). Nach Eintritt in die Pubertät bewirkt Tes- Epiphysenschluss zu verzögern bzw. bei Mädchen eine Virilisie-
tosteron die Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale rung zu verhindern) und bei Patienten mit androgenabhängigem
wie männlicher Körperbehaarung und vermehrtem typisch mas- Prostatakarzinom. Bei benigner Prostatahyperlasie, polyzysti-
kulinen Muskelaufbau. Für die Spermienbildung ist die Testoste- schem Ovarialsyndrom, bei exzessivem Haarwuchs und Haar-
ronwirkung auf Sertoli-Zellen essentiell. Testosteron hat auch psy- ausfall finden 5 -Reduktasehemmer wie Finasterid Verwen-
chische Effekte und steigert die Libido und die Aggressivität. dung. Bei Triebtätern kann der Sexualtrieb durch eine antiand-
rogene Medikation gedämpft werden.
Androgene wirken anabol
Wie inzwischen jeder Sportinteressierte weiß, wirken Andro-
gene anabol, d. h. sie unterstützen den Aufbau von Muskelmas- Übrigens
se. Neben der Bildung von Muskelfasern und der Stimulation BALCO und Doping im großen Stil
der Proteinbiosynthese antagonisieren sie die katabole Wirkung Die Bay-Area Laboratory CO-operative (BALCO) war nach
von Glucocorticoiden nach Belastung und verkürzen damit die außen eine Art Genossenschaft, bei der sich Sportler gemein-
Regenerationszeit des Muskels. Weiterhin erhöhen sie die Bil- sam ein Speziallabor bei San Francisco teilten, das sportmedi-
dungsrate von Erythrozyten. Wer anabole Steroide missbraucht, zinische Untersuchungen durchführen sollte. Allerdings lag
muss allerdings oft Nebenwirkungen in Kauf nehmen, die die Spezialität des Labors weniger beim Lactattest, als bei der
darauf beruhen, dass sich die anabolen nicht sauber von den laborchemischen Überwachung von Dopingverfahren. Neben
virilisierenden Wirkungen der Substanzen trennen lassen. So der Überwachung des Hämatokritwertes (der weltweit bei
kann es bei Männern zu einer übersteigerten Aggressivität und vielen Sportlern bekanntermaßen ganz zufällig dem persönli-
zur Hodenatrophie kommen (Testosteron reprimiert die Gona- chen Wettkampfkalender folgt, dabei aber den sportrechtli-
dotropinbildung in der Hypophyse), während zu den uner- chen Grenzwert nie überschreitet), half BALCO auch mit sehr
wünschten Wirkungen bei Frauen eine unangenehme Zunahme speziellem Wissen. Chemiker hatten das neuartige syntheti-
der Körperbehaarung, eine Absenkung der Stimmlage und sche anabole Steroid Tetrahydrogestrinon (THG) synthetisiert,
sogar eine signifikante Klitorisvergrößerung zählen. Ein Stero- aber vorerst weder publiziert noch offen vermarktet. Doping
idmissbrauch bei Heranwachsenden kann weiterhin zum vor- mit THG, welches den Athleten als THE CLEAR bekannt war,
zeitigen Schließen der Wachstumsfugen und damit zu geringe- hatte den Vorteil, dass es dafür weder immunchemische noch
rer Körpergröße führen, was in der Vergangenheit mitunter massenspektrometrische Analysemethoden in Dopinglabors
sogar ein angestrebtes Ziel bei Turnern und Turnerinnen gewe- gab. Erst ein Insider-Tipp erlaubte es, THG zu identifizieren
sen sein mag! und im Folgenden bei vielen, mitunter prominenten Sport-
lern in vormals »sauber« getesteten Proben nachzuweisen.
Gerichtsfest bewiesen ist die Anekdote durch das umfassende
40.4.4 Pathobiochemie Geständnis der Sprinterin Marion Jones, die im Jahr 2000 in
Sydney drei olympische Goldmedaillen gewann (und wegen
Der nucleäre Androgenrezeptor vermittelt Dopings wieder verlor). Wissenschaftliche Publikationen zu
die Androgenwirkungen THG finden sich erst seit 2004. THG bindet hochaktiv sowohl
Das Gen für den Androgenrezeptor liegt auf dem X-Chromo- an den Androgenrezeptor als auch an den Progesteronrezep-
som. Somit können für den Androgenrezeptor heterozygote tor, jedoch nicht an den Östrogenrezeptor (. Abb. 40.12).
symptomfreie Frauen funktionsbeeinträchtigte Androgenrezep-
tor-Allele an ihre Söhne vererben. Bei völliger Inaktivität ihres
Androgenrezeptors entwickeln sich karyotypische 46,XY-Män-
506 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

bis zu 40 mg Hormon täglich erreichen kann. Das freigesetzte


Progesteron stimuliert die sekretorische Phase der Uterus-
schleimhaut, in der das Endometrium für die Einnistung eines
Embryos bereit ist. Der Gelbkörper atrophiert um den vor-
letzten (26.) Zyklustag, sodass Progesteron und Östradiol
bald unter einen kritischen Wert fallen. Da die sekretorische
Uterusschleimhaut ohne Progesteron und Östradiol nicht wei-
ter aufrecht erhalten werden kann, bricht sie zusammen und
. Abb. 40.12 Tetrahydrogestrinon. Bei Athleten als THE CLEAR bekannt,
wird abgestoßen. Gleichzeitig fehlt nun die negative Rückkopp-
steigerte das synthetische anabole Steroid Tetrahydrogestrinon die Leis-
tung, während es den Dopingfahndern schlicht unbekannt war
lung von Progesteron, Östradiol und Inhibin auf die Hypophyse,
die ihrerseits wieder vermehrt FSH ausschüttet, welches für die
Rekrutierung neuer Primärfollikel und Reifung eines dominan-
ten Follikels wichtig ist. Ein dominantes Follikel setzt sich durch
Zusammenfassung und wächst zu erheblicher Größe an (Graaf’sches Follikel),
Leydig-Zellen im Hoden produzieren Testosteron. während die anderen rekrutierten Follikel atrophieren. Wäh-
Testosteron wird durch 5 -Reduktase in das wirksamere rend dieser Follikelphase nimmt die Östradiolfreisetzung mit
Dihydrotestosteron überführt. der Zellmasse des dominanten Follikels zu. Im Hypothalamus
Testosteron und Dihydrotestosteron binden an den gleichen kommt es wenige Tage vor der Ovulation zu einer Veränderung:
Androgenrezeptor. Die klassische negative Rückkopplung von Östradiol auf den
Testosteron wirkt am Skelettmuskel anabol. GnRH-Pulsgenerator wird nach Erreichen einer kritischen
Androgene vermitteln die männliche Geschlechtsdifferen- Östradiolkonzentration für wenige Tage durch eine positive
zierung und Funktion. Rückkopplung abgelöst, die in der Erhöhung der GnRH-Puls-
Antiandrogene blockieren den Androgenrezeptor oder frequenz und schließlich in den präovulatorischen LH- und
Hemmen die 5 -Reduktase. FSH-Puls mündet.
Durch Aromatase gebildete Östrogene wirken beim Mann Ein aktuelles Problem der neuroendokrinologischen For-
auf die Gehirnentwicklung, Knochenwachstum und schung stellt der Wechsel von der negativen zur positiven Rück-
Spermienreifung. kopplung durch Östradiol im Hypothalamus dar. So exprimieren
die GnRH-Neurone selbst keine Östrogenrezeptoren (ER). Man
nimmt an, dass die GnRH-Neurone unter Kontrolle einer ande-
ren Neuronengruppe im Hypothalamus stehen. Wie bei den an-
40.5 Weibliche Sexualsteroide deren endokrinen Achsen auch stellt die Aufklärung und das
Verständnis der neuroendokrinen Kontrolle der HPG-Achse so-
40.5.1 Der Menstruationszyklus wie ihrer Integration mit anderen Achsen eine formidable Auf-
gabe für die Zukunft dar.
Den Zyklus kann man als Menstruations-,
Ovarial- und Hormonzyklus auffassen Ovariale Inhibine reprimieren FSH
40 Der weibliche Zyklus stellt ein klassisches Beispiel für die Funk- Inhibine sind verwandte Glykoproteohormone aus der transfor-
tionsfähigkeit, Vernetzung und Flexibilität des endokrinen Sys- ming growth factor β (TGF-β) Familie. Granulosazellen des Fol-
tems dar. Bei den meisten Frauen dauert ein Menstruationszyk- likels produzieren Inhibine, welche die FSH-Freisetzung der
lus im Durchschnitt 28 Tage und ist nicht an eine bestimmte Hypophyse spezifisch hemmen. Hierdurch kann die unter-
Jahreszeit oder Brutsaison gebunden. Der Menstruationszyklus, schiedliche Kinetik der FSH- und LH-Konzentrationen erklärt
also die zyklische Änderung des Zustands der Uterusschleim- werden. Ähnlich wie die hypophysären Glykoproteohormone
haut, wird von einem Ovarialzyklus begleitet, der mit dem Hor- LH, FSH und TSH werden Inhibine als Heterodimere aus einer
monzyklus in Wechselwirkung steht. gemeinsamen Untereinheit und einer spezifischen A- oder
Der Menstruationszyklus beginnt nach Konvention am B-Untereinheit gebildet. Inhibinrezeptoren gehören zur Fami-
ersten Tag der Menses also mit der Abstoßung der Uterus- lie der Rezeptor-Serin/Threonin-Kinasen.
schleimhaut und Monatsblutung (. Abb. 40.13). Es folgt eine
proliferative Phase mit einem Neuaufbau des Endometriums, Die Menopause beginnt,
die mit dem Eisprung in die sogenannte sekretorische Phase wenn alle Follikel verbraucht sind
mündet. Der Eisprung wird durch einen hohen LH- und FSH- Bei der Geburt verfügen Frauen über etwa 1–2 Millionen Eizel-
Puls um den 14. Tag des Zyklus ausgelöst, der seinerseits am len. Bis zur Pubertät überleben nur noch etwa 300.000 Eizellen.
Ende einer Phase der höchsten GnRH-Pulsrate steht. Die dann Wie oben ausgeführt, beginnen mehrere Primärfollikel die Rei-
beginnende Lutealphase wird vom Gelbkörper dominiert, fung, von denen sich pro Ovulation fast immer nur ein einziges,
der sich aus den Theca- und Granulosazellen des gesprungenen dominantes Follikel durchsetzt. Pro Zyklus gehen also mehrere
Follikels bildet. Die gelbe Farbe des Corpus luteum ergibt sich Eizellen unter. Nach 400–500 Ovulationen, irgendwann im 4. bis
durch die massive Akkumulation von Cholesterinestern in den 5. Lebensjahrzehnt, sind die Primärfollikel einer Frau verbraucht.
Zellen als Ausgangsmaterial für die Progesteronsynthese, die Die ovariale Produktion von Östradiol bricht daraufhin zusam-
40.5 · Weibliche Sexualsteroide
507 40

. Abb. 40.13 Überblick über den Menstruationszyklus. Der 1. Tag des 28 Tage dauernden Zyklus ist definiert durch das Einsetzen der Menses. Die Puls-
frequenz der hypothalamischen GnRH Sekretion steigert sich während der Follikelphase bis zur Ovulation, die durch einen scharfen LH und FSH Puls aus-
gelöst wird. Unter dem Einfluss der Gonadotropine werden Follikel rekrutiert, wachsen und setzen steigende Mengen Östradiol frei. Nach der Ovulation
wird der Follikel zum Gelbkörper umgebaut und produziert vorwiegend Progesteron (Lutealphase), welches seinerseits Hypophyse und Hypothalamus in-
hibiert und somit seine eigene Produktion schließlich erniedrigt. Die endometriale Schleimhaut kann nur unter hohen Progesteronkonzentrationen auf-
recht erhalten werden und bricht daher mit Abnahme des Progesteronspiegels zusammen, was schließlich zur Menses führt. Die hormonellen, ovariellen
und endometrialen Phasen des Zyklus werden von einer Änderung der basalen Körpertemperatur begleitet

men und die Frau tritt in die Menopause ein. Da jetzt die Rück- seits von Thecazellen umgeben. Theca-interna-Zellen besitzen
kopplung durch Östradiol fehlt, sind postmenopausale Frauen das Enzym 17,20-Lyase und sind somit in der Lage, die Umwand-
durch hohe Gonadotropinspiegel charakterisiert. Außerdem lung von Progesteron in Androstendion zu katalysieren. Dieses
fehlt auch ovariales Inhibin, sodass das FSH/LH-Verhältnis in Androgen stellen sie parakrin den benachbarten Granulosazel-
der Menopause ansteigt. len zur Verfügung. Dort wird Androstendion durch die Aroma-
tase und 17 -Hydroxysteroiddehydrogenase in Östradiol über-
führt. Nach dem Eisprung, mit dem Übergang des Follikels in
40.5.2 Biosynthese, Transport und Stoffwechsel einen Gelbkörper, stellen die Zellen die Expression von Aroma-
von weiblichen Sexualsteroiden tase und 17,20-Lyase ein, und der Gelbkörper setzt fortan vor
allem Progesteron frei (. Abb. 40.14).
In die Biosynthese von Östradiol in den Ovarien
teilen sich zwei Zelltypen
Ein Follikel besteht aus einer zentralen Eizelle, die von mehreren
Schichten Granulosazellen umgeben wird. Diese werden ihrer-

Menstruationszyklus ovarieller Zyklus Folikelphase Ovulation Lutealphase proliferative Phase sekretorische Phase Körpertemperatur basale
508 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

. Abb. 40.14 Kooperation von Thecazellen und Granulosazellen bei der Biosynthese von Östradiol. Thecazellen stellen unter LH-Stimulation das
schwache Androgen Androstendion zur Verfügung, welches in Granulosazellen unter FSH-Stimulation durch 17-beta-Hydroxysteroiddehydrogenase und
Aromatase in Östradiol umgewandelt wird. Eine gesteigerte Produktion von 17α-Hydroxyprogesteron findet sich vor allem beim adrenogenitalen Syndrom
40 sowie beim Krankheitsbild der polycystischen Ovarien.BM: Basalmembran

Östradiol wird über Sexhormon-bindendes Globulin Aromatase wandelt Androgene in Östrogene um


(SHBG) transportiert Aromatase ist ein Cytochrom-P450-abhängiges Enzym und
Östrogene werden im Plasma zu ca. 98 % vom SHBG (7 Kap. katalysiert irreversibel die oxidative Entfernung der angulä-
40.4.2) gebunden. Die Östradiolkonzentration im Plasma der ren Methylgruppe an C-Atom 19 von Androgenen, wobei der
Frau schwankt zwischen 20–60 pg/ml (70–220 pmol/l) um die A-Ring aromatisiert wird. Der Reaktionsmechanismus ist in
Menses bis >200 pg/ml (>740 pmol/l) vor der Ovulation. . Abb. 40.15 veranschaulicht. Aromatase wird nicht nur in den
Der Abbau von Östradiol wird durch hepatische Oxidation Granulosazellen des Ovars exprimiert. Periphere Gewebe wie
sowie Glucuronidierung oder Sulfatierung erreicht (7 Kap. z. B. weißes Fettgewebe verfügen über Aromataseaktivität und
62.3.1). können so bei Frauen eine gewisse Östradiolsynthese aus adre-
Der Abbau von Östradiol wird durch hepatische Oxidation nalen Androgenen wie z. B. DHEA(S) noch nach der Menopau-
sowie Glucuronidierung oder Sulfatierung erreicht (7 Kap. 62.3.1). se aufrechterhalten. Hieraus erklärt sich die tendenziell stärkere
Darüber hinaus erfolgen auch Hydroxylierungen an den C-Ato- Ausprägung von Symptomen der Menopause bei sehr schlanken
men in Position 2, 4 und 16 des Östradiol sowie anschließende Frauen. Auch bei Männern befindet sich Aromatase im weißen
Methylierungen durch das Enyzm Katechol-O-Methyltransferea- Fettgewebe.
se (COMT) zu Katecholöstrogenen.

Progesteron# Androstendion# 17α-Hydroxyprogesteron# Östron# Östradiol#


40.5 · Weibliche Sexualsteroide
509 40

. Abb. 40.15 Mechanismus der Aromatase. Die Entfernung der angulären C19-Methylgruppe durch die Aromatase überführt Testosteron in Östradiol.
Dargestellt ist der komplexe Reaktionsmechanismus. Die Abspaltung der Methylgruppe als Ameisensäure ist irreversibel

40.5.3 Biologische Effekte

Östradiol vermittelt den weiblichen Phänotyp


Der Anstieg der Östradiolkonzentration während der Pubertät löst
charakteristische Veränderungen des weiblichen Organismus aus.
Es kommt zu der typisch weiblichen Verteilung des subcutanen
Fettgewebes, dem Wachstum der Brust, der Ausprägung des weib-
lichen Behaarungstyps, weiblichen Gesichtszügen und der For-
mung der weiblichen Silhouette.
. Abb. 40.16 Aufbau der beiden Östradiolrezeptorproteine. Wie alle
Steroidhormonrezeptoren enthalten die Östradiolrezeptoren eine DNA-
Östradiol wirkt durch Östrogenrezeptoren Bindungsdomäne (DBD) sowie eine Hormonbindedomäne (HBD). Die Trans-
auf viele Gewebe aktivierungsdomänen am N- und C-Terminus (AF-1 und AF-2) interagieren
Östrogenrezeptoren (ER) werden durch zwei unterschiedliche mit der Transkriptionsmaschinerie
Gene kodiert, ER und ER für deren Transkripte jeweils meh-
rere Spleißvarianten existieren, die sich z. B. am N-Terminus in
der Aktivierungsdomäne unterscheiden (. Abb. 40.16). Beide ER schaft nicht nur über direkte Rückkopplung, sondern auch
gehören zu Klasse I der nucleären Rezeptoren und wirken als li- indirekt weitere Ovulationen verhindern.
gandengesteuerte Transkriptionsfaktoren. Die meisten Wirkun-
gen von Östrogenen werden über den ER vermittelt. Klassisch Gestagene Wirkung des Progesterons
ist die »östrogene« Wirkung von Östradiol, d. h. der Aufbau des Der Gelbkörper kann während der Lutealphase eine Plasmakon-
Endometriums in der proliferativen Phase. Über diesen Effekt zentration an Progesteron von 20 ng/ml aufrecht erhalten, das ist
werden auch »Phytoöstrogene« (z. B. Genistein aus Soja, Tofu) bis zu 1.000mal höher als die Spiegel der anderen Sexualsteroide.
und »Xenoöstrogene« (z. B. Phthalsäureester als Plastikweich- Progesteron aus dem Gelbkörper ist in den ersten Wochen essen-
macher) definiert: Diese Stoffe erhöhen das Gewicht des Uterus tiell zur Aufrechterhaltung der Schwangerschaft indem es das
eines Versuchstieres, welches diesen Substanzen ausgesetzt wur- Endometrium auf die Einnistung des Embryos vorbereitet und
de. Östradiol hemmt den Knochenabbau durch Induktion von danach die Blastozyste und später den Embryo am Leben hält.
Wachstumshormon, 1,25-Dihydroxy-Vitamin D3 und IGFI. Später übernimmt die Plazenta die Progesteronproduktion mit
Deshalb steigt bei postmenopausalen Frauen mit erniedrigtem Plasmaspiegeln bis 150 ng/ml zum Zeitpunkt der Geburt.
Östradiolspiegel das Frakturrisiko an.

Antiöstrogene Wirkung von Progesteron 40.5.4 Pathobiochemie


Die Wirkung von Progesteron wird durch einen nucleären Re-
zeptor der Klasse 1 vermittelt (Progersteronrezeptor, PR). Pro- Antiöstrogene werden zur Therapie
gesteron entfaltet eine dreifache antiöstrogene Wirkung: von Brustkrebs eingesetzt
4 PR reprimiert die Expression des ER, Bei östrogenabhängigen Formen des Mammakarzinoms werden
4 PR stimuliert die weitere Hydroxylierung und damit Inakti- Antiöstrogene wie Tamoxifen verwendet, die den Östrogenre-
vierung von Östrogenen und zeptor zwar binden, jedoch nicht aktivieren (. Abb. 40.17).
4 PR stimuliert die Sulfatierung von Östradiol (E2) und
Östriol (E3). So kann Progesteron während der Schwanger-

Testosteron# 19-Hydroxytestosteron# 19,19-Dihydroxytestosteron# Östradiol# Peroxy-Enzym-Intermediat# Oxotestosteron#


510 Kapitel 40 · Steroidhormone – Produkte von Nebennierenrinde und Keimdrüsen

. Abb. 40.18 Choriongonadotropin. Das humane Choriongonadotropin


. Abb. 40.17 Synthetische Sexualsteroide. 17α-Ethinylöstrogen und Nor- (hCG) geht aus einer Genduplikation des LH-Gens hervor. Es wird in der Pla-
gestrel sind klassische Bestandteile der »Pille«. Die Rezeptorantagonisten zenta gebildet und kann im Urin gemessen werden. Es dient zur Aufrechter-
Mifepriston und Tamoxifen blockieren die Funktionen des Progesteron- haltung des Gelbkörpers, da hypophysäres LH durch den hohen Progeste-
bzw. Östradiolrezeptors ronspiegel supprimiert wird

Die Wirkungsweise der »Pille«


Die Einführung oraler Kontrazeptiva beruht einerseits auf der Übrigens
Analyse der Hormonwirkungen, die dem Menstruationszyklus hCG und Schwangerschaftstests
und einer Schwangerschaft zugrunde liegen, andererseits auf den Der entscheidende Schritt zu Beginn der Schwangerschaft
Fortschritten der Chemie, oral verfügbare und wirksame Hor- ist die Aufrechterhaltung des Gelbkörpers und seiner Pro-
monanaloga bereit zu stellen. Ein entscheidender Schritt war die gesteronproduktion. Dazu übernimmt der Embryo gleich
Erkenntnis, dass die Einführung einer 17 -Ethinylgruppe ein mit der Implantation die Kontrolle über die mütterlichen
synthetisches Sexualsteroid oral bioverfügbar macht. Ein weite- Hormone: Er sezerniert dazu aus plazentaren Syncytiotro-
rer wichtiger Schritt war die Synthese von 19-Norsteroiden, phoblasten das humane Choriongonadotropin (hCG). Dieses
welche progestagene Wirkungen entfalten (. Abb. 40.17). Die stellt ein Glykoproteohormon mit großer Ähnlichkeit zum
»Pincus-Pille« (entstanden aus der Zusammenarbeit des Klini- LH dar. Das hCG-Gen ging aus einer primatenspezifischen
kers Gregory Pincus und des Chemikers Carl Djerassi, der sich Duplikation des LH-Gens hervor. hCG ist ein sehr potenter
selbst »die Mutter der Pille« nennt) enthält eine östrogene und LH-Rezeptorligand mit hoher Plasmahalbwertszeit. Mit sei-
eine gestagene Komponente, die zusammen den Menstruations- ner Hilfe wird der Gelbkörper unabhängig vom mütterlichen
zyklus aufrecht erhalten, aber die Ovulation hemmen. Die »Mini- LH und hypertrophiert. Damit einher geht die weitere Erhö-
pille« enthält nur eine gestagene Komponente, die auf mehreren hung des Progesteronspiegels bis ins letzte Trimester der
40 Ebenen wirkt: Der Uterusschleim wird verfestigt und damit der Schwangerschaft. Die Berliner Endokrinologen Selmar Asch-
Zugang für Spermien in die Eileiter erschwert und die Ovulation heim und Bernhard Zondek beschrieben in den 1920er Jah-
wird unterdrückt. Die »Pille danach« ist ein hochdosiertes Ges- ren die Induktion von Gelbkörpern in präpuber tären Mäu-
tagen (z. B. Levonorgestrel oder Ulipristalacetat), welches den sen nach Injektion von 0,5 ml Urin einer Schwangeren: Die
Eisprung über die Lebensdauer der Spermien hinaus um bis zu Aschheim-Zondek-Reaktion. Darauf wurde der erste
5 Tage verzögern kann. Von den Verhütungspillen abzugrenzen Schwangerschaftstest aufgebaut, der schon kurz nach der
ist die »Abtreibungspille«, ein hochdosiertes Antiprogestin Implantation des Embryos positiv wird. Auch aktuell
(z. B. RU-498 »Mifepriston«). Ein großer Substituent an C11 er- basieren Schwangerschaftstests auf dem Nachweis von hCG,
laubt die Bindung an den Progesteronrezeptor, aber nicht an den heute verwendet man allerdings immunchemische Teststäb-
Östrogenrezeptor. Diese Substanz verhindert trotz Bindung an chen statt Tierversuche (. Abb. 40.18).
den Progesteronrezeptor dessen Aktivierung. Mifepriston anta-
gonisiert also die Wirkung von Progesteron: die Blastozyste stirbt
ab und die Uterusschleimhaut wird abgestoßen. Die Anwendung
der »Pille danach« oder gar von Mifepriston ist allerdings von
vielen höchst unangenehmen Nebenwirkungen begleitet wie
man sie von einem hochdosierten Eingriff ins endokrine System
erwarten muss und stellt daher keine praktische Alternative zur
klassischen Kontrazeption dar.

17 -Ethinyl-Östradiol# Norgestrel# Mifepriston, RU-498# Tamoxifen#


40.5 · Weibliche Sexualsteroide
511 40

Zusammenfassung
Der weibliche Zyklus läuft auf drei Ebenen ab:
Zyklische Veränderungen
4 des Endometriums,
4 der Ovarialaktivitäten und
4 der Hormonkonzentrationen im Plasma.

Der Zyklus beginnt mit der Monatsblutung, der Eisprung


findet ca. am 14. Tag statt und ist durch einen LH-Peak und
einen Anstieg der Körpertemperatur charakterisiert.
Granulosa- und Thecazellen kooperieren bei der durch
Aromatase katalysierten Östradiolsynthese.
Progesteron aus dem Gelbkörper ist für die Aufrechterhal-
tung der Schwangerschaft essentiell.
Die durch hCG stimulierte hohe Produktion der Sexual-
steroide, v. a. Progesteron, supprimiert effektiv die hypo-
thalamische GnRH- und hypophysäre Gonadotropin-
sekretion und verhindert so eine weitere Empfängnis.
Die Wirkung von »Antibabypillen« basiert auf der Hemmung
der Ovulation, Nidation und/oder Mucusbeschaffenheit.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


41 Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren
von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel
und Zelldifferenzierung
Josef Köhrle, Ulrich Schweizer, Lutz Schomburg

Einleitung Jeder Follikel ist von einem dichten Kapillarnetz umgeben.


Nur in dieser angiofollikulären Einheit aus Endothel- und Epi-
Die Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Triiodthyronin (T3) thelzellen kann die Schilddrüsenhormonsynthese erfolgen.
steuern Entwicklung, Wachstum, Zelldifferenzierung, die meisten ana- Die Calcitonin produzierenden C-Zellen (7 Kap. 66.2) besie-
bolen und katabolen Stoffwechselwege sowie viele Reaktionen des deln während der Entwicklung die Schilddrüse und funktionie-
Struktur- und Funktionsstoffwechsels. Das biologisch aktive Hormon der ren in enger parakriner Interaktion mit der angiofollikulären
Schilddrüse ist das T3. Es entsteht aus dem als Prohormon dienenden T4 Einheit aus Thyreozyten und Endothelzellen der Schilddrüse.
durch enzymatische Deiodierung. Seine Wirkungen werden überwie- Die beiden Hormone der Schilddrüse sind das Thyroxin (T4)
gend durch nucleäre T3-Rezeptoren (TR , TR ) vermittelt, die als ligan- und das Triiodthyronin (T3) (. Abb. 41.1). Die Hormonproduk-
denabhängige Transkriptionsfaktoren die Transkription vieler Gene tion der Schilddrüse wird durch das hypothalamisch-hypo-
regulieren. physäre System reguliert, sodass man analog zu den Verhältnis-
Biosynthese und Sekretion der Schilddrüsenhormone werden durch sen bei den Glucocorticoiden oder den Sexualsteroiden von ei-
das hypothalamisch-hypophysäre System reguliert. Von besonderer ner Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse (HPT-
Bedeutung sind hierbei das hypothalamische TRH und das hypo- Achse) spricht.
physäre TSH.

Schwerpunkte 41.1.1 Das Thyreotropin-Releasing-Hormon


4 TRH und TSH als wichtigste Bestandteile der Hypothalamus-
Das Thyreotropin-releasing-Hormon (Thyroliberin,
Hypophysen-Schilddrüsen-Achse
TRH) wird in spezifischen Neuronen des hypothala-
4 Regulation der Sekretion von TRH und TSH
mischen paraventrikulären Nucleus posttransla-
4 Wirkung von TSH auf den TSH-Rezeptor der Schilddrüse
tional durch Prohormonkonvertasen aus seinem
4 Biosynthese der Schilddrüsenhormone T4 und T3
Vorläuferprotein freigesetzt und posttranslational
4 Transport im Blutplasma und Stoffwechsel der Schilddrü-
modifiziert
senhormone
Das Thyreotropin-releasing-Hormon TRH (Thyroliberin) ist mit
4 Effekte der Schilddrüsenhormone und Wirkungsmechanis-
nur drei Aminosäuren das kleinste bekannte Peptidhormon. Das
mus
humane TRH-Gen kodiert allerdings für den Vorläufer Prä-Pro-
41 4 Iodidmangel, Hyper- und Hypothyreosen
TRH (Molekülmasse 26 kDa), der sechs Kopien des TRH-Vor-
läufers (Gln-His-Pro-Gly) enthält. Dieses Peptid wird jeweils
nach dibasischen Aminosäuresequenzen (Lys–Lys, Lys-Arg,
41.1 Regulation der Hormonproduktion der
Schilddrüse durch das hypothalamisch-
hypophysäre System

Die Schilddrüse (lat. thyreoidea) ist die größte endokrine Drüse


des Menschen. Das schmetterlingsförmige Organ besteht aus
zwei durch einen Isthmus verbundenen Schilddrüsenlappen. Es
hat bei der Frau ein Volumen von 15–20 ml und beim Mann von
18–25 ml, und kann durch Ultraschall gut vermessen werden.
Die funktionelle Einheit der Schilddrüse ist der Follikel. Er wird
aus einem einschichtigen, polarisierten Epithel endodermalen
. Abb. 41.1 Struktur der beiden Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4)
Ursprungs (Thyreocyten) mit stark ausgeprägten tight junctions
und Triiodthyronin (T3). T3 ist die biologisch aktive Form der Schilddrüsen-
gebildet, welches kugelförmig das sog. Kolloid umschließt. Das hormone. Im T3 ist das Iodatom in Position 5’ durch ein Wasserstoffatom er-
Kolloid besteht hauptsächlich aus abgelagertem iodierten und setzt. Dadurch steigt der pK-Wert der OH-Gruppe auf 8.4 im Vergleich zu 6.8
polymerisierten Thyreoglobulin. im T4, das beim physiologischen pH als Phenolatanion vorliegt

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
41.1 · Regulation der Hormonproduktion der Schilddrüse durch das hypothalamisch-hypophysäre System
513 41

. Abb. 41.2 Biosynthese und Abbau des hypothalamischen TRH. A Struktur der mRNA des Prä-Pro-TRH. Auf eine am 5’-Ende gelegene, nicht-transla-
tierte Region (5’-UTR) folgen die Sequenzen für Signalpeptid (SP) und Pro-TRH. Dieses enthält insgesamt 6-mal die Codons für die TRH-Vorläuferpeptide
(dunkelrot). Am 3’-Ende befindet sich eine große nicht-translatierte Region sowie das Poly-A-Ende. B Vom translatierten Präpro-TRH wird das Signalpeptid
abgespalten und durch die an dibasischen Aminosäuresequenzen schneidenden Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 werden die 6 Kopien der Sequenz
Gln-His-Pro-Gly-X-X freigesetzt. X steht für die basischen Aminosäuren Arginin oder Lysin. Mit der Carboxypeptidase E werden die basischen Reste entfernt,
die Peptidamidase PAM spaltet das nun C-terminale Glycin unter Bildung des Carboxyamids und die Glutaminylcyclase (GC) bildet aus dem N-terminalen
Glutaminrest durch Zyklisierung den Pyroglutaminrest des nun biologisch aktiven TRH. C Struktur des TRH. Die Spaltstelle der TRH inaktivierenden Thyroli-
berinase ist angegeben. (Einzelheiten s. Text)

Arg–Arg) durch die Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 aus da die beiden Prohormonkonvertasen PC1/3 und PC2 repri-
dem Vorläufer Prä-Pro-TRH herausgespalten (. Abb. 41.2). Die miert werden. Gentranskription und TRH-Bildung sind also
C-terminalen basischen Aminosäuren der Spaltprodukte werden erhöht, wenn niedrige Schilddrüsenhormonspiegel in den TRH-
durch Carboxypeptidase E (auch Carboxypeptidase H genannt) Neuronen registriert werden. Auch Nahrungsentzug hemmt die
entfernt. Wie bei einigen anderen hypothalamischen endokrin PC1/3- und PC2-Genexpression im PVN, während Leptin diese
aktiven Neuropeptiden erfolgt im Anschluss die Cyclisierung des stimuliert.
N-Terminus durch Glutaminylcyclase (GC) und die Amidierung Durch die posttranslationalen Modifikationen ist TRH vor
des C-Terminus durch Peptidylglycin-amidierende Monooxy- dem Abbau durch unspezifische Peptidasen geschützt; es hat den-
genase (PAM) zum fertigen TRH (pyroGlu-His-Pro-Amid) noch nur eine Halbwertszeit von ca. 2 min: Die hochspezifische
(7 Kap. 39.1.2). Metallopeptidase TRH-Degrading Ectoenzyme (Thyroliberinase,
TRH wird in einer hypophysiotropen Neuronenpopulation TRH-DE) ist das einzige Enzym, welches TRH spalten kann, wo-
des paraventrikulären Nucleus (PVN) produziert und in der Emi- bei TRH das einzige bekannte physiologische Substrat des TRH-
nentia mediana, die außerhalb der Blut-Hirn-Schranke liegt, in DE ist. Das Ektoenzym wird auf lactotropen Zellen der Adenohy-
den portalen Kapillarplexus des Hypophysenstiels sezerniert. Vie- popyse und Tanycyten1 exprimiert und wird invers zum TRH-
le dieser hypophysiotropen TRH-Neurone zeigen auch eine Co- Rezeptor durch T3-abhängige feedback-Regulation reguliert.
expression und Sekretion des anorexigenen Neuropeptids CART Weitere Faktoren, welche die TRH-Freisetzung stimulieren
(7 Kap. 38.3). Die TRH-Freisetzung zeigt ähnlich wie die TSH-
Freisetzung (s. u.) ein ausgeprägtes circadianes Profil mit einem 1 Tanycyten sind spezialisierte Gliazellen, die den dritten Ventrikel des Hypo-
thalamus auskleiden und cytoplasmatische Fortsätze bis zur Eminentia
Maximum in den Abendstunden und zu Beginn der Nacht.
mediana haben, mit denen sie eine Verbindung zu den Nervenendigungen
Die Schilddrüsenhormone T3 und T4 blockieren die TRH- der parvizellulären hypothalamischen Neurone herstellen. Auf diese Weise
Transkription durch negative feedback-Regulation (. Abb. 41.3). können sie die Verfügbarkeit von sezerniertem TRH für die thyreotropen
Auch die Prozessierung von Pro-TRH wird durch T3 gehemmt, und lactotropen Zellen der Adenohypohyse beeinflussen.
514 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

41.1.2 Thyreotropin, das Thyreoidea-


stimulierende Hormon der Adeno-
hypophyse

TRH stimuliert in thyreotropen Zellen der Adenohy-


pophyse die Biosynthese und Sekretion des hetero-
dimeren Glykoproteinhormons Thyreotropin (TSH)
TRH wird pulsatil in hohen Konzentrationen in den Kapillarple-
xus der Eminentia mediana freigesetzt und stimuliert den TRH-
Rezeptor-1 in thyreotropen Zellen der Adenohypophyse. Der
G-Protein gekoppelte (GPCR) TRH-Rezeptor-1 aktiviert die
Phospholipase C mit Bildung von Inositol-3-Phosphat als second
messenger. Dies erhöht die cytosolische Calciumkonzentration
und aktiviert die Proteinkinase C, was zur Stimulierung der Syn-
these, Glycosylierung und Freisetzung des heterodimeren Gly-
koproteohormons Thyreotropin (TSH) (7 s. Kap. 39.2) führt, das
ebenfalls pulsatil und mit einem circadianen Rhythmus sezer-
niert wird.
In neuroendokrinen Gehirnregionen außerhalb des Nucleus
paraventilcularis, im autonomen Nervensystem und anderen
Geweben wird der TRH-Rezeptor-2 exprimiert, wo von nicht-
hypophysiotropen Neuronen des Gehirns sezeniertes TRH als
Neuropeptid lokal wirkt.
Das Schilddrüsenhormon T3 ist der wichtigste inhibitorische
Regulator der hypophysären TSH-Produktion und -Sekretion
(. Abb. 41.3). Hypothyreote Stoffwechselbedingungen stimulie-
ren die Expression des TRH-Rezeptor-1 in thyreotropen Zellen,
während dessen Expression in der Hyperthyreose gehemmt
wird. Der TRH-Rezeptor-1 wird invers zum TRH-abbauenden
Ektoenzym (Thyroliberinase) durch T3 reguliert.
TSH hat als Glykoproteohormon eine deutlich längere biolo-
gische Halbwertszeit von ca. 50–70 min als TRH. Die posttrans-
lationale N-und O-Glycosylierung und Sialylierung von TSH
wird durch das TRH-Pulsmuster beeinflusst und verändert die
biologische Aktivität von TSH. Schlafentzug, Hunger, chroni-
scher Stress, Entzündungen und einige Erkrankungen stören das
reguläre Pulsmuster von TRH und damit auch das von TSH, was
. Abb. 41.3 Regulation der TRH- bzw. TSH-Sekretion. Das biologisch aktive zum Verlust des physiologischen nächtlichen TSH-Anstiegs
T3 hemmt direkt die Biosynthese und Sekretion von TRH und TSH. T4 hat ei- führt. Proinflammatorische Cytokine hemmen die TSH-Biosyn-
41 nen gleichartigen Effekt, muss dazu allerdings erst in T3 umgewandelt wer-
these parakrin über die Follikulostellarzellen der Adenohypo-
den. Über diese Regulation hinaus beeinflussen eine Reihe weiterer Faktoren
die Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsenachse. (Einzelheiten s. Text)
physe bei Infektionen, Fieber und Entzündungen.
TRH steigert in lactotropen Zellen der Adenohypophyse
auch die Biosynthese und die Sekretion von Prolactin neben der
Stimulation von TSH in thyreotropen Zellen.
oder hemmen, sind in . Abb. 41.3 dargestellt. Die TRH-positiven
Neurone des PVN sind damit die zentralen Sensoren der HPT-
Achse, welche über negativen feedback und durch die Umgebungs- Übrigens
temperatur, Nahrungsaufnahme, Energiestoffwechsel und Stress- Wichtige Daten zur Funktion der Schilddrüse
hormone effektiv gesteuert werden. Zusätzlich wird die Wirkung und ihrer Hormone
von freigesetztem TRH an den Zielzellen durch Regulation von 4 Schilddrüsenhormone regulieren über direkte und per-
TRH-Rezeptor-Expression und TRH-Abbau kontrolliert. missive Mechanismen die Gehirnentwicklung (IQ),
Wachstum, Körpergewicht, (Energie-)Stoffwechsel und
Körpertemperatur.
4 Thyroxin (T4) gehört zu den 5 weltweit am meisten
verordneten Medikamenten.
6
41.1 · Regulation der Hormonproduktion der Schilddrüse durch das hypothalamisch-hypophysäre System
515 41

. Abb. 41.4 Die Signaltransduktion des TSH-Rezeptors. Der heptahelikale TSH-Rezeptor verfügt über eine große N-Terminale extrazelluläre Liganden-
bindungsdomäne. Nach TSH-Bindung interagiert die C-terminale intrazelluläre Domäne mit heterotrimeren G-Proteinen. Gq aktiviert die Phospholipase Cβ
und die Proteinkinase C, Gs stimuliert die Adenylatcyclase und die Proteinkinase A . Beide Signaltransduktionswege haben jeweils unterschiedliche Auswir-
kungen auf die Aktivität der Thyreocyten. PLCβ: Phospholipase Cβ; PKA: Proteinkinase A; PKC: Proteinkinase C. (Weitere Einzelheiten s. Text)

TSH steuert Synthese, Speicherung und Freisetzung


4 Die Autoimmunerkrankung M. Hashimoto betrifft 1–3% der Schilddrüsenhormone T4 und T3
der erwachsenen Frauen. TSH erreicht über die Zirkulation die stark durchblutete Schild-
4 Schilddrüsentumore sind die häufigsten Tumore endo- drüse, bindet dort an die große extrazelluläre Ektodomäne
kriner Organe mit weltweit steigender Inzidenz des TSH-Rezeptors (TSH-R) und aktiviert so die Thyreocyten.
(ca. 5 Neuerkrankungen pro 100.000 pro Jahr). Der TSH-R ist G-Protein gekoppelt und stimuliert über ein Gs-
4 Die Prävalenz gutartiger oder maligner Schilddrüsen- Protein den cAMP- und über ein Gq-Protein den Phospholipase
erkrankungen ist 2- bis 3fach höher bei Frauen als bei C-Signalweg. Die Aktivierung des cAMP-Signalwegs steigert
Männern. dabei in erster Linie die Schilddrüsenhormonfreisetzung und
4 Zwei Drittel der Weltbevölkerung haben noch immer das Wachstum der Schilddrüse, während der Phosphoinositol-
eine unzureichende Iodidversorgung. weg die Hormonproduktion u. a. durch Induktion der Dualen
4 1 von 3.500 Neugeborenen wird ohne oder mit Oxidase (DUOX) und Thyreoglobulinbiosynthese erhöht.
nicht-funktioneller Schilddrüse geboren: Im Gegensatz zu den meisten anderen GPCR hat der TSH-R
Kongenitale Hypothyreose führt unbehandelt zu bereits ohne Ligandenbindung eine basale Aktivität, welche
schwerer mentaler Retardierung, sog. Kretinismus. eine konstante Schilddrüsenhormonproduktion gewährleistet
Neonatales TSH-Screening ist inzwischen in ent- und die durch TSH-Bindung deutlich verstärkt wird. Man weiß
wickelten Ländern flächendeckend eingerichtet das, weil das Fehlen des TSH-R stärkere Auswirkungen hat
und sichert die sofortige T4-Substitution sowie eine als das Fehlen von TSH. Für die biologische Aktivität des TSH-R
normale Entwicklung. ist eine postranslationale Sulfatierung durch das Enzym Pro-
teintyrosin-Sulfotransferase 2 an einer konservierten TSH-R
Sequenz wie bei den anderen Glykoproteohormonrezeptoren
erforderlich. Eine Störung dieser Modifikation führt zum feh-
lenden Wachstum der vorhandenen Schilddrüse, zur Be-
einträchtigung der Hormonsynthese und zum verzögerten
Wachstum.
516 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

also durch den Natriumgradienten aktiviert; die Aktivität der


Zusammenfassung Na+/K+-ATPase der basolateralen Plasmamembran liefert hier-
Im paraventrikulären Nucleus des Hypothalamus wird das für durch ATP-Verbrauch die Energie. Nicht jede natürliche Iod-
Tripeptid TRH gebildet und sezerniert. Es stimuliert die TSH- verbindung kann für die Synthese der Schilddrüsenhormone
Freisetzung in der Adenohypophyse. Die TRH-Neurone ste- verwendet werden, da der NIS nur Iodid in Thyreocyten auf-
hen im Zentrum vielfältiger Regelkreise, welche die Hem- nimmt.
mung der TRH-Freisetzung durch die Schilddrüsenhormone NIS wird durch voluminöse Anionen wie Perchlorat (ClO4–),
ebenso wie viele stimulierende und inhibierende Signale Cyanat, Thiocyanat oder Nitrat kompetitiv gehemmt. Diese im
aus dem Energiestoffwechsel, der Nahrungsaufnahme und Tabakrauch und einigen nicht sachgerecht zubereiteten Nah-
dem Hormonstatus integrieren. rungsmitteln konzentrierten Anionen beeinträchtigen damit die
TSH stimuliert über den in den Epithelien der Schilddrüse Schilddrüsenfunktion und können strumigen (kropferzeugend)
gelegenen TSH-Rezeptor wichtige Schritte der Schilddrüsen- wirken. Pertechnat (TcO4–) wird dagegen von NIS transportiert,
hormonproduktion, -speicherung und -freisetzung und ist eignet sich aber nicht zur Synthese von Schilddrüsenhormonen.
damit zentraler Regulator der Schilddrüsenhormonachse. Ein Pertechnatisotop wird diagnostisch verwendet (7 Kap. 41.4.1)
und Perchlorat wird therapeutisch zur Hemmung der Iodidak-
kumulation eingesetzt.

41.2 Biosynthese der Schilddrüsenhormone Iodid wird über den Ionenkanal Pendrin
in den Kolloidraum abgegeben
Von den Thyreocyten der Schilddrüse werden die beiden Schild- Durch NIS in Thyreocyten aufgenommenes Iodid wird nicht in
drüsenhormone Thyroxin (T4, Tetraiodthyronin) sowie Triiod- der Zelle angereichert, sondern schnell durch den in der apikalen
thyronin (T3) (. Abb. 41.1) gebildet und sezerniert. Beide struk- Zellmembran lokalisierten Ionenkanal Pendrin (PDS, . Abb. 41.5,
turell sehr eng verwandte Hormone sind iodierte Derivate der Schritt 3) in den kolloidalen Raum abgegeben. Neben Iodid kann
Aminosäure Tyrosin. Aus diesem Grund ist der Stoffwechsel der Pendrin auch die Anionen Sulfat und Chlorid transportieren.
Schilddrüsenhormone sehr eng mit dem des essentiellen Spuren- Mutationen in NIS oder PDS können durch Beeinträchtigung
elements Iod verknüpft. des Iodidtransports zur Strumabildung führen.
Calcitonin, das dritte in der Schilddrüse gebildete Hormon,
das den Calciumeinbau in Knochen steigert, wird in C-Zellen Die Iodierung von Tyrosylresten des Thyreoglobu-
gebildet (7 Kap. 66.2). lins und die Bildung von Iodthyroninen werden
durch die Thyreoperoxidase katalysiert
Das in der apikalen Thyreocytenmembran integrierte Membran-
41.2.1 Synthese der Schilddrüsenhormone enzym Duale Oxidase (DUOX, Thyreoxidase) liefert extrazellu-
und Iodstoffwechsel läres H2O2 für die oxidative Iodierung von Tyrosylresten im Thy-
reoglobulin. Das Enzym ist eine NADPH-Oxidase, die mit Hilfe
Die Biosynthese von Schilddrüsenhormonen erfolgt von intrazellulärem NADPH/H+ extrazelluläres H2O2 erzeugt. Es
am dimeren Träger- und Speicherprotein Thyreo- hat eine vergleichbare Struktur wie verwandte Enzyme in der
globulin, welches in das Kolloidlumen der Follikel Leukocytenmembran (7 Kap. 69.2.1) oder in der apikalen
sezerniert und gespeichert wird Membran von Epithelzellen.
Thyreoglobulin (Tg) ist mit einer Molekülmasse von 2 × 330 kDa Für die enzymatische Iodierung des im Kolloidraum gespei-
41 eines der größten menschlichen Proteine. Es stellt das zentrale cherten Thyreoglobulins ist das membrangebundene Hämopro-
Synthese-, Träger- und Speicherprotein der Schilddrüsenhor- tein Thyreoperoxidase (TPO) notwendig. Dieses katalysiert
monbiosynthese dar. Thyreoglobulin wird in Thyreocyten syn- drei unterschiedliche Reaktionen (. Abb. 41.5, Schritt 4):
thetisiert, posttranslational prozessiert, glycosyliert und als 4 H2O2-abhängige Oxidation von Iodid auf die Stufe eines
Dimer durch die apikale Zellmembran in das Follikellumen se- Iodonium-Kations (I+) oder Iodradikals,
zerniert (. Abb. 41.5, Schritt 1). Dort stellt es den Hauptbestand- 4 Iodierung spezifischer Tyrosylreste des Thyreoglobulins in
teil des Kolloids dar und ermöglicht die trägergebundene Schild- der 3- und 5-Position. Obwohl mehrere Tyrosylreste im
drüsenhormonbiosynthese. Thyreoglobulin iodiert werden, sind jedoch nur ausgewähl-
te mono- und diiodierte Tyrosinreste (MIT und DIT) an
Das Spurenelement Iodid wird in der Schilddrüse der Bildung der Schilddrüsenhormone T4 und T3 beteiligt.
mit einem sekundär aktiven Transportsystem Diese hormonogenen Domänen des Thyreoglobulin sind
angereichert im N- und C-Terminus lokalisiert, wobei in drei dieser Do-
Der Natrium/Iodid-Symporter (NIS) in der basolateralen Thy- mänen bevorzugt T4, in einer Domäne besonders bei unzu-
reocytenmembran der Follikel ist das Schlüsselmolekül der reichender Iodversorgung T3 gebildet wird.
Iodidaufnahme in Thyreocyten. NIS akkumuliert Iodid gegen 4 Als dritte Reaktion katalysiert TPO auch die Kopplung von
einen Konzentrationsgradienten und nutzt dabei den Cotrans- iodierten Tyrosylresten (. Abb. 41.6) der Thyreoglobulin-
port von 2 Natriumkationen als treibende Energie (. Abb. 41.5, Polypeptidkette zu Iodthyroninen. Der TPO-katalysierte
Schritt 2). Dieser nicht-elektroneutral arbeitende Symporter wird Reaktionsmechanismus benötigt H2O2 und läuft vermutlich
41.2 · Biosynthese der Schilddrüsenhormone
517 41

Biosynthese und
Sekretion von
Thyreoglobulin

I+

. Abb. 41.5 Biosynthese der Schilddrüsenhormone. Spezifische Tyrosylreste des von den Thyreocyten synthetisierten und in das Kolloid sezernierten Pro-
teins Thyreoglobulin werden iodiert. Hierfür ist der transzelluläre Transport von Iodid sowie dessen Oxidation notwendig. Durch die Kopplungsreaktion ent-
stehen immer noch an Thyreoglobulin gebundene iodierte Thyronine. Für die Freisetzung der Schilddrüsenhormone wird dieses Thyreoglobulin durch
Endocytose in die Thyreocyten aufgenommen und lysosomal abgebaut. Die dabei entstehenden Hormone werden dann über Membrantransporter in das
Blutplasma abgegeben. Weitere Einzelheiten s. Text. Dehal: Dehalogenase; DIT: Diiodtyrosin; DUOX: Duale Oxidase; TPO: Thyreoperoxidase (O= Iodid-oxidie-
rende Aktivität; I= iodierende Aktivität; K= koppelnde Aktivität)

über Ein-Elektronentransfer-Reaktionen, wobei über radi- können so sehr hohe Proteinkonzentrationen von 700–
kalische Zwischenstufen mono- oder di-iodierte Tyrosyl- 1.000 mg/ml vorliegen und die Schilddrüsenhormonversor-
reste entstehen. Die anschließende Kopf-Schwanz-Konjuga- gung bis zu 3 Monate lang sicherstellen, ohne dass eine zu-
tion iodierter Tyrosylreste unter Ausbildung der Diphenyl- sätzliche Iodidaufnahme erforderlich ist. Nur 1 % des Thy-
etherstruktur der Iodthyronine lässt im Thyreoglobulin die reoglobulins wird bei adäquater Iodversorgung pro Tag für
Aminosäure Dehydroalanin zurück und ist einzigartig in die Hormonfreisetzung verwertet.
der Biochemie. Nach Iodierung und Bildung des Hormons
innerhalb der Thyreoglobulinpeptidkette bleibt das die Iod- Ab der 12.–15. Schwangerschaftswoche produziert die Schild-
thyronine enthaltende Thyreoglobulin im Kolloid abgela- drüse lebenslänglich das für die Schilddrüsenhormonbiosyn-
gert und teilweise über Lysylreste polymerisiert. Im Kolloid these essentielle H2O2, das allerdings auch cytotoxisch ist. Über-

Na^+^^/K^+^^-ATPase Biosynthese Thyreoglobulin Sekretion Pendrin


518 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

. Abb. 41.7 Antithyroidale Substanzen, welche als Inhibitoren der


Thyreoperoxidase wirken

Bei Schilddrüsenüberfunktion ist die Thyreoperoxidase bis-


her der einzige pharmakologisch genutzte Angriffspunkt zur
Hemmung der Schilddrüsenhormonbiosynthese mit Thioharn-
stoffderivaten (. Abb. 41.7). Viele kropfbildende Substanzen
(Goitrogene, von engl. goiter= Kropf) sind Hemmstoffe der
TPO. Sie finden sich in relevanten Konzentrationen in Bestand-
teilen von Kreuzblütlern (z. B. Glukosinolate und Isoflavonoide
in bestimmten Kohlarten wie Brokkoli) in der menschlichen
Nahrung. Auch eine Reihe von sog. endocrine disruptors (natür-
liche oder synthetische endokrin aktive Substanzen der Nahrung
und Umwelt) sind potente Hemmstoffe der TPO, was sich beson-
ders nachteilig bei gleichzeitig bestehendem Iodidmangel auf das
Strumawachstum auswirkt.

Zur Freisetzung der Schilddrüsenhormone wird das


die Iodthyronine enthaltende Thyreoglobulin durch
Endocytose aufgenommen und lysosomal vollstän-
dig abgebaut. Die dabei entstehenden Hormone
41 werden über Membrantransporter exportiert
. Abb. 41.6 Mechanismus der durch die Thyreoperoxidase katalysierten
Kopplung von iodierten Tyrosylresten im Thyreoglobulin. Mit Hilfe von Die Freisetzung der Schilddrüsenhormone kann nicht im Kol-
H2O2 katalysiert die Thyreoperoxidase die Abstraktion von Wasserstoff an loidraum erfolgen. Das die Iodthyroninreste enthaltende Thy-
zwei benachbarten Tyrosylresten. Diese reagieren unter Bildung eines Chi- reoglobulin muss durch Endocytose in die Thyreocyten aufge-
nol-Ether-Zwischenproduktes, aus dem durch Rearrangement ein T4-Rest nommen werden (. Abb. 41.5, Schritt 5). Dieser Vorgang wird
als modifizierte Aminosäure im Thyreoglobulin und ein Dehydroalaninrest
durch TSH stimuliert.
entstehen. Tg: Thyreoglobulin; TPO: Thyreoperoxidase
Intrazellulär erfolgt der lysosomale Abbau von Thyreoglobu-
lin. Dieser wird durch Cathepsine initiiert und durch Peptidasen
schüssiges H2O2 wird durch die Glutathionperoxidase 3 (pGPx), vervollständigt. Dabei werden nicht nur die Schilddrüsenhormo-
die ebenfalls in das Kolloidlumen sezerniert wird, und die zellu- ne T4 und T3, sondern auch nicht zur Hormonsynthese verwen-
lären Enzyme der Thioredoxinreduktase-Familie abgebaut. dete aber iodierte Tyrosinreste freigesetzt (. Abb. 41.5, Schritt 6).
Diese beiden Enzymsysteme bilden zusammen ein antioxidatives T4 und T3 werden durch spezifische in der basolateralen Plas-
Schutzsystem der Follikel gegen H2O2. Sie sind Selenoproteine, mamembran lokalisierte Schilddrüsenhormontransporter (z. B.
was den besonders hohen Selengehalt der Schilddrüse im Ver- MCT8) in den interstitiellen Raum abgegeben und von dort in
gleich zu anderen Geweben erklärt. Schwerer Selenmangel das Kapillarsystem der Follikel und damit in den Blutkreislauf
ebenso wie unzureichende Iod- oder Eisenversorgung (notwen- sezerniert (. Abb. 41.5, Schritt 7).
dig für die TPO-Biosynthese) führen zu Funktionsstörungen der Die bei der vollständigen Proteolyse des Thyreoglobulin
Schilddrüse. freiwerdenden Mono- oder Diiodtyrosinreste werden zur Wie-

Chinolether-Intermediat# Dehydroalanin# Methimazol# 6-Propyl-Thiouracil# 6-Methyl-2-Thiouracil# Carbimazol#


41.2 · Biosynthese der Schilddrüsenhormone
519 41

. Tab. 41.1 Hydrophobe kleine Hormone werden im Blut an Verteilungsproteine gebunden

Hormon Verteilungsprotein Affinität (KA M–1) Herkunft Rezeptor

T4, T3 TBGa, TTR, Albumin 1010, 108, 105 Hepatocyten, (Choroid- Megalin
plexus: TTR)

3-T1-Amin Apolipoprotein B100 1010 GI-Trakt Apolipoproteinrezeptor


9
Calcitriol Vitamin-D-Bindungsprotein (VDBP) 4∙10 Hepatocyten Megalin, Cubilin
8
Estradiol, Testosteron Sexhormonbindendes Globulin 6∙10 Hepatocyten Megalin
(SHBG) 3∙108

Cortisol Corticosteroidbindendes Globulina 3∙107 Hepatocyten Megalin


(CBG, Transcortin)

Retinoide Retinoidbindende Proteine z.B. RBP 106 Hepatocyten und andere Megalin (für RBP)
Zellen
a
Diese beiden hepatischen Globuline sind strukturverwandt und gehören zur Familie der hormonbindenden Serpine (Serinproteinase-Inhibitoren).

dergewinnung des Spurenelements Iod durch eine Iodtyrosin- den aus der interstitiellen Flüssigkeit bzw. dem Primärharn re-
dehalogenase (Dehal) deiodiert (. Abb. 41.5, Schritt 8). Im Lau- sorbieren können.
fe der Evolution der Landlebewesen hat sich so ein aufwendi-
ger und hocheffektiver Mechanismus zur Akkumulation und
Wiederverwertung des essentiellen Spurenelements Iod ent- Übrigens
wickelt. Eigenschaften wichtiger Bindungs- und Verteilungs-
proteine für hydrophobe Hormone im Blut
Verteilungsproteine für niedermolekulare hydrophobe Hor-
41.2.2 Bindungsproteine für die Verteilung der mone regeln die freie Hormonkonzentration im Blut, Stoff-
Schilddrüsenhormone an die Zielorgane wechsel und Ausscheidung sowie die zelluläre Verfügbarkeit
(. Tab. 41.1). Hormonverteilungsproteine werden teilweise
Die hydrophoben Schilddrüsenhormone zusammen mit ihren Liganden von verschiedenen Zellen
binden im Blut an drei von der Leber sezernierte über Rezeptoren aktiv aufgenommen.
Verteilungsproteine
Die Schilddrüsenhormone zählen zu den hydrophoben Hormo-
nen, obwohl sie als Tyrosinabkömmlinge an der Alaninseiten-
kette wie Aminosäuren geladen sind. Wegen ihrer Hydrophobi- 41.2.3 Aufnahme und Modifikation
zität werden sie an drei Hormonverteilungsproteine des Blutes von Schilddrüsenhormonen in Zielzellen
gebunden:
4 Thyroxinbindendes Globulin (TBG) mit hoher Affinität Spezifische Transportsysteme regulieren den Export
und niedriger Bindekapazität (T4-Assoziationskonstante der Schilddrüsenhormone aus den Thyreocyten und
KA = 1010 M‒1), deren Import in die jeweiligen Zielzellen
4 Transthyretin (TTR) mit mittlerer Bindungsaffinität Schilddrüsenhormone gelangen über erleichterten oder sekun-
(KA = 7∙107 M‒1) und Kapazität, där aktiven Transport durch Zellmembranen, wobei verschie-
4 Albumin mit niedriger Affinität (KA = 105 M‒1) und sehr dene Transportsysteme hierfür verantwortlich sind:
hoher Bindungskapazität. 4 Der Monocarboxylattransporter 8 (MCT8) transportiert
bevorzugt T3 und mit geringerer Aktivität T4. Er ist auch
Wegen der starken Proteinbindung liegt die freie T4-Konzentra- am Export von T3 (und T4) aus der Schilddrüse beteiligt
tion im Plasma bei 30 pmol/l und damit unter 0,1 % der Ge- (. Abb. 41.5, Schritt 7 und . Abb. 41.9, 7 Kap. 41.10).
samt-T4-Konzentration. 4 Der Monocarboxylattransporter 10 ( MCT10) transpor-
Gemeinsam bewirken diese Serumproteine, dass die Hor- tiert neben T3 auch noch aromatische Aminosäuren.
mone sich nicht unspezifisch in Lipidmembranen einlagern, 4 Der organische Anionentransporter (OATP1c1) wird vor
sondern gerichtet an Zielzellen verteilt werden können. Zudem allem in Endothelzellen exprimiert und ist am T4-Trans-
verhindert die Protein-Hormon-Assoziation die glomeruläre Fil- port über die Blut-Hirn-Schranke beteiligt.
tration, die zu einem unkontrollierten Verlust der Schilddrüsen- 4 Auch L-Typ-Aminosäuretransporter (z. B. LAT 2), die T4
hormone führen würde. Manche Zellen und die Nierentubuli und T3 transportieren können.
haben zudem endocytotische Rezeptoren (z. B. Megalin, Cubi-
lin), die mit den Hormonverteilungsproteinen auch ihre Ligan-
520 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

DIO1
DIO2

DIO3

3,3‘ T2
inaktiv

. Abb. 41.8 Schilddrüsenhormonaktivierung und -metabolisierung durch 5'-Deiodierung und Decarboxylierung. In der Schilddrüse werden die Hor-
mone T4 und T3 synthetisiert. Nach Sekretion ins Blut werden sie im Körper verteilt und in der Peripherie durch die intrazellulären 5’-Deiodasen DIO1 und
DIO2 aktiviert. Diese entfernen das Iod in der Position 5’ des Prohormons Thyroxin und wandeln dieses in das biologisch aktive T3 um. Die intrazelluläre
5-Deiodase DIO3 entfernt das Iod in der Position 5 und bildet aus Thyroxin inaktives reverses T3 (rT3). Durch die Kombination von Deiodierung und Decar-
boxylierung entsteht der T3-antagonistische Metabolit 3-T1-Amin

T3 ist die biologisch aktive Form der Schilddrüsen- DIO2 bildet dagegen vorwiegend T3 aus T4 für autokrine und
hormone und wird überwiegend enzymatisch durch parakrine Wirkungen und wird von vielen Zellen exprimiert.
die 5’-Deiodasen gebildet Dies ist insbesondere für die adäquate Funktion der Hypothala-
41 Das Hauptsekretionsprodukt der menschlichen Schilddrüse ist mus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse wichtig, da sowohl T3 als
T4, welches selbst keine biologische Aktivität zeigt und deswe- auch das Prohormon T4 den negativen feedback ausüben. Die
gen als Prohormon bezeichnet werden kann. Nur zu einem ge- Blut-Hirn-Schranke des Erwachsenen ist über dort exprimierte
ringen Anteil von ca. 20 % wird das aktive T3 sezerniert. Der T4-Transporter gut für das endokrin verfügbare T4 durchlässig,
größte Teil der T3-Bildung im Körper erfolgt durch enzymati- nicht aber für T3 und die anderen Iodthyronine, sodass der loka-
sche reduktive Monodeiodierung von T4 in der 5’-Position des len parakrinen T3-Produktion durch DIO2 wichtige regulatori-
phenolischen Rings. Diese Schlüsselreaktion der Schilddrüsen- sche Funktionen zukommen.
hormonaktivierung wird von zwei unterschiedlich regulierten Für Gliazellen, Astrocyten und Tanycyten spielt dies eine be-
Selenoproteinen, der Typ-I- und der Typ-II-5’-Deiodase (DIO1 sondere Rolle:
und DIO2) katalysiert. Die gewebe- und entwicklungsspezifi- 4 Im Kapillarblut ankommendes T4 wird zunächst durch den
sche Expression dieser beiden Selenoprotein-Gene ermöglicht Transporter OATP1c1 in den Extrazellulärraum gebracht
die feinregulierte lokale T3-Bildung aus dem Prohormon T4 in und von dort mit Hilfe des MCT10-Transporters von Tany-
verschiedenen Zielzellen: cyten bzw. Astrocyten aufgenommen.
DIO1 wird vornehmlich in der Schilddrüse, aber auch in der 4 Durch die DIO2 erfolgt dann die Deiodierung zu T3.
Leber und den Nieren exprimiert. Sie trägt signifikant zur Pro- 4 Dieses gelangt vor allem über die Transporter MCT8 in
duktion des im Serum zirkulierenden T3 bei und ist außerdem an benachbarte TRH-positive Neurone. Hier reguliert T3 die
der Rückgewinnung von Iodid aus den Schilddrüsenhormonen Expression spezifischer Proteine, z.B. hemmt es die TRH-
und ihren Metaboliten durch Deiodierung in der Leber beteiligt. Biosynthese. (. Abb. 41.9).

Triiodthyronin (T3)# reverses# Thyroxin (T4)#


41.3 · Zelluläre Effekte und Wirkungsmechanismen der Schilddrüsenhormone
521 41

misch verteilt. In bestimmten Geweben (Gehirn, Knochen,


Uterus) kann T3 lokal durch DIO2 gebildet werden, das para-
krin über Transporter Zielzellen der T3-Wirkung erreicht.
Manche Zellen können T4 und T3 durch DIO3 abbauen und
sich so vor unerwünschter T3-Wirkung schützen.

41.3 Zelluläre Effekte und Wirkungs-


mechanismen der Schilddrüsenhormone

41.3.1 Wirkspektrum der Schilddrüsenhormone

T3 beeinflusst den Intermediärstoffwechsel in zweifacher Weise:


4 Durch direkte Beeinflussung der Expression spezifischer
Gene und eine Reihe sog. nichtgenomischer Effekte sowie
4 durch permissive Effekte. So steigt beispielsweise die Kate-
. Abb. 41.9 Lokale parakrine T3 Bildung im Hypothalamus aus endokrin cholaminempfindlichkeit vieler Zellen mit zunehmender
verfügbarem T4 durch DIO2 und zellspezifische Transporter. Drei Regula-
tionsprinzipien greifen para-, auto- und endokrin in die lokale Schilddrü-
T3-Konzentration.
senhormonversorgung ein: zellspezifischer und hormonselektiver Transport
der endokrin sezernierten Schilddrüsenhormone, die streng kontrollierte Häufig wird vor allem der Substratflux (Durchsatz) durch die
enzymatische Deiodierung des Prohormons T4 zum aktiven T3 sowie der zentralen Stoffwechselwege erhöht, indem sowohl anabole als
kontrollierte T4- und T3-Abbau durch die DIO3. Dargestellt ist die Hem- auch katabole Reaktionen stimuliert werden. Diese Effekte füh-
mung der Expression von TRH durch T3. (Einzelheiten s. Text)
ren letztlich zu einem Hypermetabolismus, wobei bei Hyperthy-
reose katabole Reaktionen überwiegen. Darüber hinaus sind T3-
Effekte auf translationale und posttranslationale Vorgänge be-
Dieser Regulation durch lokale DIO2-Aktivität unterliegen ne- kannt, wie die Steigerung der ribosomalen Proteinsynthese oder
ben den hypothalamischen TRH-produzierenden Neurone auch des mitochondrialen Sauerstoffverbrauchs.
die thyreotropen Zellen der Adenohypophyse. Hier reguliert
DIO2 die lokale T3-Bildung aus dem verfügbaren T4 und damit Kohlenhydratstoffwechsel T3 aktiviert die Gluconeogenese
die Expression von TRH-Rezeptor-1, Thyroliberinase und und Glycogenolyse und verringert die Glucoseverwertung. Au-
TSHβ-Untereinheit. ßerdem stimuliert es z. B. die Expression der Glucosetransporter
Ein weiteres Selenoenzym ist die Deiodase Typ III oder DIO3. GLUT1 und GLUT4.
Sie dient dem Abbau von T4 bzw. T3 durch reduktive Deiodie-
rung an der Position 5. Dabei entsteht aus T4 reverses T3 Lipidstoffwechsel T3 steigert den Lipidumsatz (lipid turnover).
(3,3’,5’-Triiodthyronin, rT3). Dieses ist biologisch inaktiv, da es Im weißen Fettgewebe werden sowohl Liponeogenese als auch
nicht an die nukleären T3-Rezeptoren bindet. T3 ist ebenfalls ein Lipolyse stimuliert. Allerdings überwiegt, besonders bei höheren
Substrat der DIO3, welche Schilddrüsenhormone inaktiviert. T3-Konzentrationen, der lipolytische Effekt. Konzentration und
Durch Kombination von Deiodierung und Decarboxylie- Umsatz der freien Fettsäuren sind bei Hyperthyreose erhöht, da
rung entstehen aus den verschiedenen Thyroninen die Thyron- T3 die Sensitivität der Adipocyten für die lipolytischen Hormone
amine. Von diesen hat das 3T1-Amin hormonelle Wirkungen steigert und dadurch in der Leber die Oxidation von Fettsäuren
(7 Kap. 41.3.2) zu CO2 und Ketonkörpern stimuliert wird. In der Leber wird die
Liponeogenese u. a. durch Induktion des Malatenzyms, der Glu-
cose-6-Phosphatdehydrogenase, der Fettsäuresynthase vermit-
Zusammenfassung telt. T3 ist ein wichtiger Regulator des Cholesterinstoffwechsels
Der erste Schritt der Biosynthese von T4 und T3 ist die TPO- durch Induktion der HMG-CoA-Reduktase und Erhöhung der
katalysierte Iodierung spezifischer Tyrosylreste des Thyreo- Cholesterinsynthese v. a. in der Leber. T3 steigert außerdem den
globulins, gefolgt von der Kopplung je zweier iodierter LDL Abbau, die Cholesterinausscheidung in der Galle und hemmt
Tyrosylreste zu proteingebundenem T4 und T3. Durch lyso- den enterohepatischen Gallensäurenkreislauf. Insgesamt ernied-
somale Proteolyse des Thyreoglobulins werden T4 und T3 rigt T3 das Plasma-Cholesterin, weswegen neue T3-Analoga als
freigesetzt, ins Blut sezerniert und proteingebunden zu rezeptorselektive Pharmaka für Dyslipidämien entwickelt wer-
ihren Zielorganen transportiert. den. Ein erhöhter Cholesterinspiegel im Plasma ist dagegen ein
Zusätzlich wird T3 in Leber und Niere aus dem Prohormon charakteristisches Zeichen der Hypothyreose
T4 durch DIO1 gebildet und über den Blutkreislauf syste-
6 Proteinstoffwechsel T3 beeinflusst den Proteinstoffwechsel auf
unterschiedliche Weise. Je nach Protein und Organ lassen sich
522 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

stimulierende bzw. hemmende Effekte auf die Proteinexpression 41.3.2 Molekulare Mechanismen der Wirkung
nachweisen. Allerdings überwiegt die katabole Wirkung bei der der Schilddrüsenhormone
Hyperthyreose. Bei T3-Mangel führt möglicherweise eine ver-
minderte Expression der Hyaluronidase zu einer typischen, als Der klassische Weg der T3-Wirkung verläuft über
Myxödem bezeichneten Störung des Bindegewebsstoffwechsels. nucleäre T3-Rezeptoren
T3 stimuliert die Expression der Na+/K+-ATPase. Hierdurch Das aktive Schilddrüsenhormon T3 wirkt vor allem auf Zielzel-
wird vermehrt ATP hydrolysiert, was wesentlich zur Thermoge- len, die T3-Rezeptoren exprimieren. Abhängig von ihrer Ligan-
nese und zur Steigerung des Sauerstoffverbrauchs der Gewebe denbindung verändern T3-Rezeptoren die Expression T3-regu-
durch T3 beiträgt. Von diesem Effekt sind Gehirn, Milz und Ho- lierter Gene.
den ausgenommen. T3 erhöht auch die Bildung von Mitochon- Die T3-Rezeptoren (TR) gehören zur Klasse der nucleären
drien, steigert den Verbrauch von ATP und induziert z. B. die Rezeptoren (Liganden-aktivierte Transkriptionsfaktoren). Sie
mitochondriale α-Glycerin-3-Phosphatdehydrogenase. werden beim Menschen von zwei Genen exprimiert, von denen
T3 induziert β3-Rezeptoren und wirkt synergistisch zur durch unterschiedlichen Transkriptionsstart und durch alterna-
Katecholamin-stimulierten Expression und Funktion des tives Spleißen der Transkripte mehrere Isoformen wie z.B. TRα1,
mitochondrialen Entkopplungsproteins UCP1 (7 Kap. 19.1.5) TRβ1 und TRβ2 gebildet werden. Wie andere nucleäre Rezepto-
im braunen Fettgewebe. T3 erhöht die Sensitivität des β-adrener- ren für niedermolekulare Liganden sind sie modular aufgebaut
gen Rezeptorsystems und wirkt an vielen Endpunkten synergis- (7 Kap. 33.3).
tisch mit Katecholaminen, worauf die initiale symptomatische Einzelne Zellen und Gewebe weisen unterschiedliche Expres-
Behandlung der Hyperthyreose mit Betablockern basiert. sionsmuster der verschiedenen TR-Formen auf, die eine gewisse
Spezifität für bestimmte T3-regulierte Gene zeigen. So ist in der
Effekte auf Wachstum und Differenzierung T3 fördert das Leber TRβ1 die dominante Rezeptorform, im Herzmuskel TRα1,
Wachstum über eine Stimulierung der Wachstumshormonbil- in der Hypophyse und in Neuronen wird TRβ2 exprimiert. TRβ2
dung in der Hypophyse (7 Kap. 42.1.1) und über Effekte auf die ist essentiell für die negative Rückkopplung zur Steuerung der
Differenzierung von Chondrocyten im Knochen. Diese Effekte HPT-Achse im Hypothalamus und in den thyreotropen Zellen
werden durch verschiedene Polypeptidwachstumsfaktoren (wie der Adenohypophyse. Diese Unterschiede in der Rezeptorvertei-
z. B. IGF, EGF und FGF) vermittelt. T3 steuert in utero und post- lung ermöglichen den therapeutischen Einsatz von TR-Isoform-
natal räumlich koordinierte Differenzierungsvorgänge wie z. B. selektiven T3-Analoga, sodass z. B. positive Effekte auf den hepa-
die normale Entwicklung und funktionelle Organisation der Ge- tischen Lipidstoffwechsel erzielt werden, ohne dass unerwünsch-
hirnstrukturen. Insbesondere werden Bildung, Verzweigung und te Wirkungen am Herz oder im Gehirn auftreten.
synaptische Verknüpfung der Dendriten durch T3-abhängige
Regulation der Bildung und Wirkung verschiedener neurotro- T3-Rezeptoren regulieren die Genexpression durch
pher Faktoren gesteuert, ebenso wie die Neuronenmigration aktivierende oder repressive Mechanismen
und Myelinisierung (7 Kap. 74.2.2). Anders als Glucocorticoidrezeptoren binden T3-Rezeptoren be-
reits in Abwesenheit von T3 an die entsprechenden enhancer-
Effekte auf das Herz-Kreislauf-System T3 löst eine Zunahme der Sequenzen T3-responsiver Gene (TRE-Sequenzen). Diese sind
β1-Rezeptoren des Herzmuskels aus. Dadurch wird die Katechol- meist als konservierte Basensequenz (AGGTCA) eng benachbart
aminwirkung am Herzen erhöht, was zu einer Erhöhung der Kon- 2-mal in der Promotor- und/oder enhancer-Struktur derartiger
traktilität und des Auswurfvolumens sowie einem positiv-chrono- Gene lokalisiert. Die entwicklungs- und gewebespezifisch expri-
tropen Effekt führt. Im Herzmuskel wird durch T3 die Expression mierten TRα1, TRβ1 und TRβ2 zeigen hierbei unterschiedliche
41 verschiedener Gene moduliert. T3 stimuliert die Genexpression Bindungspräferenz an spezifisch angeordnete und orientierte
der sarkoplasmatischen Ca2+-ATPase, Na+/K+-ATPase sowie ver- TREs verschiedener T3-responsive Gene, was mit für die Vielfalt
schiedener Kaliumkanäle. Gehemmt wird die Expression von der Wirkungen von T3 verantwortlich ist.
Phospholamban, Adenylatcyclasen V und VI, des TRα und des Der Mechanismus der Genaktivierung durch T3 ist in . Abb.
Na+/Ca2+-Austauschers. Auch das Myosin-Gen MHCα wird 41.10 dargestellt:
durch T3 induziert, das MHCβ-Gen aber gehemmt. T3 steigert 4 Meist bilden T3-Rezeptoren Heterodimere mit dem Reti-
auch die Proliferation der Kardiomyocyten und die Angiogenese. noat-Rezeptor RXR (7 Kap. 58.2.6).
T3-Veränderungen beeinflussen somit ähnlich wie körperliches 4 In Abwesenheit von T3 rekrutiert der TR-RXR-Komplex
Training reversibel die Struktur, die Mechanik, Reizleitung, Elekt- verschiedene Corepressorproteine, was zu einer Hemmung
rophysiologie, Funktion und Anpassung des Herzens an physiolo- der Gentranskription führt.
gische und pathophysiologische Anforderungen. 4 Bindung von T3 an den T3-Rezeptor löst durch Konforma-
tionsänderung die Abdissoziation des Corepressors aus,
Weitere Effekte Weitere T3-Wirkungen finden sich bei der Im- wonach Coaktivatoren angelagert werden, was die Gentran-
plantation der Blastozyste im Uterus, bei der Chondrocytendif- skription aktiviert.
ferenzierung und beim Knochenwachstum, der Entwicklung des 4 In ähnlicher Weise werden auch reprimierende Wirkungen
Innenohrs und der Retina ebenso wie bei der Kontrolle des Tu- von T3 vermittelt. Dann wird nach Ligandenbindung die
morwachstums, der Wundheilung oder der Remodellierung des Transkription durch Bindung eines Corepressors blockiert.
Myokard nach Ischämie.
41.3 · Zelluläre Effekte und Wirkungsmechanismen der Schilddrüsenhormone
523 41

. Abb. 41.10 Regulation der Genexpression durch T3-Rezeptoren. Die


Schilddrüsenhormone T3 und T4 werden durch die Transporter MCT8 und
MCT10 bzw. OATP1c1 oder LAT2 in die Zielzellen aufgenommen. T4 wird
dort durch die 5’-Deiodasen in T3 umgewandelt und in den Zellkern trans-
loziert. Im Gegensatz zu anderen nucleären Rezeptoren bindet der T3-Re-
zeptor bereits ohne Liganden an entsprechende TRE-Sequenzen der DNA.
Dabei bildet er Dimere mit dem Retinoat-Rezeptor RXR. In dieser Form wer-
den Corepressoren gebunden, welche die Aktivierung der Genexpression
verhindern. Nach Bindung von T3 kommt es zum Austausch von Coaktiva-
toren gegen die Corepressoren und damit zur Aktivierung der Genexpressi-
on T3-responsiver Gene. LAT2: L-Typ Aminosäurentransporter 2; MCT8/10:
Monocarboxylatransporter 8 oder 10; OATP1c1: Organische Anionentrans-
porter 1c1; DIO: Deiodase; RXR: Retinoat -X- Rezeptor; TR: T3-Rezeptor. . Abb. 41.11 Von nucleären T3-Rezeptoren unabhängige Effekte der
(Weitere Einzelheiten s. Text) Schilddrüsenhormone. T3 bindet an cytosolische T3-Rezeptoren, was zu ei-
ner Aktivierung der cytoslischen PI3-Kinase und der Proteinkinase B führt.
Außerdem binden die Schilddrüsenhormone T3 bzw. T4 an unterschied-
liche Bindungsstellen des Integrin ανβ3. T3 löst so ebenfalls eine Aktivie-
Dieser duale Schaltermechanismus ist für reprimierende und rung der PI3-Kinase aus, T4 aktiviert die MAP-Kinase. PKB und MAPK führen
zu einem vielfältigen Spektrum zellulärer Reaktionen. DIO1,2: Typ-1- und
stimulatorische T3-Wirkungen verantwortlich, wie sie beispiels- Typ-2-Deiodasen; LAT2: L-Typ Aminosäurentransporter 2; MCT8/10: Mono-
weise bei der embryonalen und postnatalen Gehirnentwicklung carboxylatransporter 8 oder 10; OATP1c1: Organische Anionentransporter
nachgewiesen sind. Hierbei wird die Repression bestimmter T3- 1c1; MAPK: mitogen aktivierte Proteinkinase; PI3K: Phosphoinositol-3-Kina-
responsiver Gene genau zeitlich, örtlich und in Bezug auf die se; TR: T3-Rezeptor; TRα43: mitochondrialer T-Rezeptor. (Einzelheiten s. Text)
lokal wirksame T3-Konzentration koordiniert aufgehoben. Die-
se wird durch das Zusammenspiel von Transportern für Schild-
drüsenhormone und der Aktivität der T3-bildenden bzw. Schild- ßen (7 Kap. 35.4.3). Unter anderem werden der Transkriptions-
drüsenhormon-abbauenden Deiodasen reguliert (7 Kap. 41.2.3). faktor HIF1 und die cytosolische Kinase mTOR aktiviert.
In verschiedenen Modellsystemen hat sich gezeigt, dass die Tran-
skription von etwa 5% der zellulären Gene durch T3 und T3- Membranrezeptoren und Schilddrüsenhormone: Eine weitere
Rezeptoren reguliert wird. Möglichkeit der Aktivierung der PI3-Kinase durch Schilddrü-
senhormone erfordert einen membranständigen Rezeptor. Es
Einige Effekte von Schilddrüsenhormonen sind handelt sich um das Integrin ανβ3, welches über zwei spezifi-
unabhängig von den klassischen T3-Rezeptoren schen Bindungsstellen für Schilddrüsenhormone verfügt (. Abb.
Nicht alle der beobachteten zellulären Effekte der Schilddrüsen- 41.11). Bindung von T3 führt über die PI3-Kinase zu einer Akti-
hormone können auf Änderungen der Gentranskription durch vierung der Proteinkinase B, während T4 den Weg der mitogen
Aktivierung der oben beschriebenen T3-Rezeptoren zurückge- aktivierten Proteinkinase stimuliert (7 Kap. 35.4.2) und damit
führt werden. Dies hat zu der Erkenntnis geführt, dass es weitere deren vielfältige Effekte vermittelt.
Signaltransduktionsmechanismen für T3 oder T4 geben muss:
Mitochondriale Effekte der Schilddrüsenhormone: Schilddrü-
T3 und die PI3-Kinase: Wegen der Lokalisation der Proteinbio- senhormone, v.a. T3, haben eine Reihe definierter Effekte auf
synthese ist das Vorkommen von cytosolischen T3-Rezeptoren Mitochondrien. Diese werden durch T3-vermittelte Aktivierung
nicht überraschend. Diese können allerdings bereits im Cytosol eines als TR bezeichneten Rezeptors vermittelt. Es handelt
T3 binden und assoziieren dann an die regulatorische Unterein- sich um eine verkürzte Form des TR , die mitochondrial lokali-
heit der PI3-Kinase (. Abb. 41.11). Dies löst eine Aktivierung der siert ist und als Transkriptionsfaktor im mitochondrialen Ge-
katalytischen Untereinheit aus, an die sich die diversen über die nom wirkt. Über diesen Mechanismus löst T3 wahrscheinlich
Proteinkinase B vermittelten Signaltransduktionswege anschlie- eine Zunahme der Mitochondrienbiogenese, der oxidativen Ka-
524 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

pazität der Mitochondrien, der Aktivität der Adeninnucleotid-


Translocase sowie der ATP-Produktion aus. Zusammenfassung
Generell beeinflusst das aktive Schilddrüsenhormon T3 Zell-
Die unterschiedlichen Wirkungsmechanismen der differenzierung, Entwicklung, Wachstum und Struktur- sowie
Schilddrüsenhormone wirken in einer konzertierten Energiestoffwechsel. Seine Effekte spielen sich vorwiegend
Aktion auf Stoffwechselvorgänge auf der Ebene der Gentranskription ab und können sich von
Schilddrüsenhormone haben ein außerordentlich breites Wir- Organ zu Organ unterscheiden.
kungsspektrum und beeinflussen eine Vielzahl unterschiedlicher 4 Im Intermediärstoffwechsel werden je nach Organ und
biologischer Vorgänge. Es ist derzeit nur teilweise möglich, diese Schildrüsenhormonstatus Glycogenolyse und Gluconeo-
mit den bis heute aufgeklärten molekularen Mechanismen zu genese sowie Lipogenese und Lipolyse stimuliert.
erklären. Eine schon lange bekannte und auch klinisch bei der 4 T3 beeinflusst die Expression der verschiedensten Prote-
Hyperthyreose zu beobachtende Wirkung ist die Steigerung des ine. Ein besonders markantes Beispiel ist die Steigerung
Sauerstoffverbrauchs und der Thermogenese durch T3. Beim der Expression der Na+/K+-ATPase, die an der Erhöhung
Menschen wird die Thermogenese bis zu 45% durch die Aktivität des Sauerstoffverbrauchs durch T3 beteiligt ist.
der Na+/K+-ATPase bestimmt. T3 beeinflusst dieses Enzym auf 4 Am Myokard löst T3 durch Steigerung der Expression
dreifache Weise: unterschiedlicher Gene elektrochemische und mechani-
4 Über T3-Rezeptoren induziert T3 die Expression der Na+/ sche Veränderungen aus, die denen nach körperlichem
K+-ATPase-Untereinheiten. Training entsprechen.
4 Ähnlich wie der Gucosetransporter GLUT4 ist auch die 4 T3 fördert Wachstum und Differenzierung vieler Gewebe
Na+/K+-ATPase z. T. in intrazellulären Vesikeln gebunden, und ist besonders für die regelrechte Entwicklung des
die unter dem Einfluss von T3 in die Plasmamembran ver- Nervensystems wichtig.
lagert werden. Dieser Effekt ist unabhängig von nucleären 4 Die T3-Rezeptoren bilden Heterodimere mit Retinoat-
T3-Rezeptoren und wird über die Stimulation des PI3- rezeptoren und wirken als liganden-modulierte Tran-
Kinase- und MAP-Kinaseweges vermittelt. skriptionsfaktoren, die im Nucleus der Zielzellen lokali-
4 Der durch die gesteigerte Aktivität der Na+/K+-ATPase her- siert sind.
vorgerufene ATP-Verbrauch hängt u.a. von den mitochond- 4 Neben der Beeinflussung der Gentranskription durch
rialen Effekten von T3 ab. nucleäre T3-Rezeptoren können Schilddrüsenhormone
die Signalwege aktivieren, die zu einer Stimulierung der
3-T1-Amin ist ein weiteres Schilddrüsenhormon, Proteinkinase B bzw. der MAPkinasen führen. Sie
zirkuliert im Blut an Apolipoprotein B100 gebunden interagieren hierzu mit dem Integrin ανβ bzw. mit
und wirkt über einen G-Protein-gekoppelten cytosolischen T3-Rezeptoren
Rezeptor
Wie andere Aminosäuren bzw. Aminosäurederivate können
auch die Schilddrüsenhormone durch Decarboxylierung in die
entsprechenden Amine, die Thyronamine, überführt werden. 41.4 Pathobiochemie
Diese zeigen z.T. Hormonwirkungen. Besonders trifft dies für
das in den letzten Jahren wiederentdeckte 3-T1-Amin zu (. Abb. 41.4.1 Diagnostische Verfahren
41.8). 3-T1-Amin zirkuliert im Serum in relativ hohen Konzent-
rationen (10–100 nmol/l) und wird dort mit hoher Affinität an TSH-Konzentrationen im Serum sind ein integrativer
41 Apolipoprotein B100 gebunden. Im Gegensatz zu T3 wirkt 3-T1- Marker der Funktion der Schilddrüsenhormonachse
Amin nicht über nucleäre, sondern über plasmamembranständi- Die diagnostische Interpretation der Homöostase oder einer ge-
ge G-Protein gekoppelte Rezeptoren (z. B. trace amine associated störten Funktion der Schilddrüsenhormonachse anhand von
receptors, TAAR). Interessanterweise sind die 3-T1-Amin-Effek- Messungen der Konzentrationen der Schilddrüsenhormone T4
te entgegengesetzt zu denen von T3 (s. o.). 3-T1-Amin wird und T3 im Serum, Blut oder Körperflüssigkeiten wird dadurch
überwiegend außerhalb der Schilddrüse gebildet und hat für ein erschwert, dass die lokalen Aktivitäten der DIO-Enzyme und der
biogenes Amin eine ungewöhnlich lange Serumhalbwertszeit T3-Transporter in Zielzellen und Nicht-Zielzellen der diagnosti-
von mehreren Tagen. Die genaue Biosynthese von 3-T1-Amin ist schen Routinemessung bisher nicht zugänglich sind.
noch nicht endgültig geklärt, erfordert aber eine Kombination Wesentlich aussagekräftiger ist die Bestimmung der TSH-
von Deiodierungen und Decarboxylierung, falls T4, T3 oder an- Konzentration im Serum. Sie ist ein Indikator der T3-Wirkung
dere Iodthyronine die Vorläufer sind. in der Hypophyse und hat deswegen eine hohe diagnostische
Bedeutung für den Funktionszustand der Schilddrüse. Bei den
verschiedenen Formen der Hypothyreose kann die TSH-Kon-
zentration auf nahezu das 1000fache der Norm ansteigen, wäh-
rend Hyperthyreosen durch deutlich erniedrigte Spiegel gekenn-
zeichnet sind (. Abb. 41.12). Ganz selten kommen TSH produ-
zierende Tumoren vor, bei denen die negative Feedbackregula-
tion nicht mehr funktioniert, was zu hohen Konzentrationen von
41.4 · Pathobiochemie
525 41
γ-Strahler 99-m-Pertechnat wird von NIS zwar in Thyreocyten
aufgenommen, aber nicht wie Iodid in Thyreoglobulin eingebaut
und deshalb schnell wieder eliminiert. Auch zur Lokalisation
NIS-positiver Metastasen von Schilddrüsentumoren, z. B. in
Knochen oder Lunge, wird dieses Isotop diagnostisch eingesetzt,
wobei wiederum die Anreicherung durch vorherige Behandlung
mit rekombinantem TSH gesteigert wird. Dieses Prinzip wird
auch bei der Radioiodtherapie von Schilddrüsentumoren mit
Iodisotopen angewandt.

41.4.2 Schilddrüsenfunktion bei Iodidmangel

Ein Drittel der Menschheit leidet unter


unzureichender Iodidversorgung, die vermeidbare
Entwicklungs- und Stoffwechselstörungen
bei Kindern und Erwachsenen auslöst
Durch Iodidmangel ausgelöste Fehlfunktionen der Schilddrüse
sind weltweit noch immer weit verbreitet. Sie äußern sich bei Kin-
. Abb. 41.12 Logarithmische Beziehung von TSH und freiem Thyroxin dern durch Entwicklungsstörungen und Beeinträchtigungen der
(FT4) bei verschiedenen Störungen der Schilddrüsenfunktion. Verglichen Intelligenzentwicklung, bei Erwachsenen durch verschiedene
ist die Serumkonzentration an freiem T4 mit der präziser zu bestimmenden Stoffwechselstörungen. Die durch den Iodidmangel verursachte
Serumkonzentration an TSH. Die Referenzbereiche für TSH und freies T4 bei
Verminderung der Schilddrüsenhormonsekretion löst durch eine
Gesunden (Euthyreose) sind gelb unterlegt. Die blau gefärbten Bereiche
geben die diagnostisch ermittelten pathologischen Werte für TSH und FT4 verringerte negative Rückkopplung eine Steigerung der hypotha-
bei unterschiedlichen Erkrankungen an: Klinisch manifeste (erhöhtes TSH lamischen TRH- und der hypophysären TSH-Produktion aus.
und niedriges T4) und subklinische (erhöhtes TSH und normales T4) Hypo- Durch hohe TSH-Spiegel kommt es zu einer kontinuierlichen
thyreose; klinisch manifeste (erniedrigtes TSH und erhöhtes T4) und subkli- Stimulation der iodidverarmten Schilddrüse, was einen Prolifera-
nische (erniedrigtes TSH und normales T4) Hyperthyreose; Hypothala-
tionsreiz darstellt. Durch Iodidmangel vermehrt gebildetes IGF-1
mische Hypothyreose: fehlende TRH-Bildung (tertiäre Hypothreose); NTI:
schwere Allgemeinerkrankung; TSHom: TSH-sezerniernder Hypophysen- und andere Wachstumsfaktoren steigern die Thyreocytenprolife-
tumor; T3-Resistenz: durch Mutation bedingte beeinträchtigte Wirkung des ration, Neubildung von Follikeln und die als Iodmangelstruma
TRα oder TRβ Rezeptors. (Adaptiert nach Baloch et al. 2003, mit freundlicher bezeichnete Vergrößerung der Schilddrüse (. Abb. 41.13). Hy-
Genehmigung von Thyroid) pertrophie und Hyperplasie der Thyreocyten können die Ent-
wicklung von autonomen Bereichen der Schilddrüse (sog. »heiße
Knoten«) auslösen. Diese unterliegen nicht mehr der hypothala-
TSH und Schilddrüsenhormonen im Blut führt. Inaktivierende misch-hypophysären Regulation. Autonome Adenome zeigen
Mutationen der T3 Rezeptoren können ebenfalls zu einer Stö- häufig somatische, konstitutiv aktivierende Mutationen des TSH-
rung der Feedbackregulation mit erhöhten TSH und Schilddrü- Rezeptors oder des nachgeschalteten Gs-Proteins. Gelegentlich
senhormonkonzentrationen im Blut führen, der sog. Schilddrü- entwickeln sich bei endemischem Iodidmangel auch follikuläre
senhormonresistenz. Schilddrüsenkarzinome.
In bestimmten Fällen wird die Schilddrüsendiagnostik durch Unabhängig von der Iodidversorgung können genetische
Messung der Serumkonzentrationen des totalen oder freien T4 Fehlfunktionen aller bisher bekannten an der Schilddrüsenhor-
teils unter Einbeziehung der Konzentrationsbestimmung des he- monsynthese beteiligten Proteine (vgl. . Abb. 41.5) ebenfalls eine
patisch sezernierten Bindungsproteins TBG vervollständigt. Struma verursachen.
Bei seltenen TSH-produzierenden Hypophysenadenomen
Für die Diagnostik und Therapie von Funktions- kann es zur übermäßigen Produktion von TSH ohne negative
störungen der Schilddrüse wird die TSH-Stimulation Rückkopplung kommen. Ebenfalls selten sind konstitutiv akti-
und Funktion des NIS ausgenutzt vierende Mutationen des TRH-Rezeptors. Bei inaktivierenden
Rekombinant exprimiertes humanes TSH wird bei Patienten mit Mutationen des TRH-Rezeptors funktioniert die TRH-Stimula-
Schilddrüsenkarzinom zur Stimulation der Radioiodidaufnah- tion nicht, wodurch hypothyreote Stoffwechsellagen und eine
me diagnostisch und therapeutisch eingesetzt, wodurch die Zer- gestörte Schilddrüsendifferenzierung bereits während der Ent-
störung des Schilddrüsenrestgewebes und der Schilddrüsentu- wicklung entstehen können.
mormetastasen verstärkt wird.
Das kurzlebige metastabile 99-m-Pertechnatisotop (TcO4–)
als Substrat des Natrium/Iodid-Symporters NIS ermöglicht nu-
klearmedizinische Funktionstests (Szintigramme) zur bildge-
benden Diagnostik von Schilddrüsenfunktionsstörungen (z. B.
zur Differenzierung sog. kalter, warmer und heißer Knoten). Der
526 Kapitel 41 · Schilddrüsenhormone – Zentrale Regulatoren von Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Stoffwechsel und Zelldifferenzierung

duktion von Glycosaminoglycanen und eine gesteigerte Prolife-


ration der mesenchymalen Vorläuferzellen, Fibroblasten und
Adipocyten, insbesondere im beengten Retroorbitalkomparti-
ment, was letztlich zum Bild des endokrinen Exophthalmus
führt. Die TRAK-Bestimmung im Serum ist entscheidend für die
Diagnostik und Verlaufskontrolle dieser schwer behandelbaren
Erkrankung. Die Therapie erfolgt entweder mit Substanzen,
welche die Schilddrüsenhormonsynthese durch TPO-Blockade
hemmen (Thyreostatika) (. Abb. 41.7), chirurgische totale Thy-
roidektomie, radiochemische Zerstörung des Schilddrüsengewe-
bes durch Behandlung mit Iodidisotopen, die sich in der Schild-
drüse NIS-vermittelt anreichern oder adjuvant durch Supple-
mentation mit Selenverbindungen.
Die zweithäufigste Form der Hyperthyreose ist die Schild-
drüsenautonomie. Die Erkrankung tritt im höheren Lebensalter
auf und befällt Frauen 4-mal häufiger als Männer. Ursächlich
. Abb. 41.13 Patientin mit vergrößerter Schilddrüse (Struma Grad II)
sind häufig durch Iodidmangel entstandene autonome Adenome
sowie mit einem sicht- und tastbaren Knoten vor der Luftröhre.
(© Drahreg01/cc-Licence 3.0 by-sa.)
(s. o.).

41.4.4 Hypothyreose, die Unterfunktion


41.4.3 Hyperthyreose, die Überfunkton der Schilddrüse
der Schilddrüse
Blockierende Autoantikörper führen
Stimulierenden Autoantikörper gegen zur Zerstörung der Schilddrüse
den TSH-Rezeptor verursachen Hyperthyreose Eine weitere Autoimmunerkrankung der Schilddrüse ist die Ha-
Hyperthyreosen beruhen auf einer Überproduktion von Schild- shimoto Thyreoiditis. Die Autoantikörper sind meist gegen die
drüsenhormonen, die der Regulation durch das hypothalamisch- Thyreoperoxidase oder gegen Thyreoglobulin gerichtet und lö-
hypophysäre System weitgehend entzogen ist. Symptome sind: sen eine Entzündungsreaktion aus. Diese führt durch die lym-
4 Nervosität phocytäre Infiltration der Schilddrüse auch mit cytotoxischen
4 Wärmeintoleranz Immunzellen zur nachhaltigen Zerstörung der Thyreocyten,
4 vermehrte Schwitzneigung deren Raum durch proliferierende Fibroblasten eingenommen
4 Gewichtsverlust wird (Fibrose). Langsam, aber kaum aufhaltbar werden die Thy-
4 Tachykardie reocyten, die angiofollikulären Strukturen und hormonbildende
4 vergrößerte Blutdruckamplitude Follikel des Organs zerstört. Mitunter kommt es zur Bildung so-
4 vermehrtes Herzzeitvolumen wohl von Antikörpern gegen TPO als auch von blockierenden
Antikörpern gegen die TSH-Rezeptoren, wodurch die Schild-
Verursacht werden Hyperthyreosen entweder durch stimulie- drüsenhormonproduktion weiter abnimmt. Die Folge ist eine
rende TSH-Rezeptor-Autoantikörper oder durch Schilddrüsen- durch synthetisches L-Thyroxin (T4) behandlungspflichtige
41 autonomie. Hypothyreose. Derartige Autoimmunerkrankungen der Schild-
Morbus Basedow entsteht durch stimulierende TSH-Rezep- drüse können in allen Lebensphasen auftreten, sind jedoch am
tor-Autoantikörper (TRAK) (engl. Graves’ disease). TRAK-Sti- häufigsten bei Frauen im geschlechtsreifen Alter. Die Schilddrü-
mulation des TSH-Rezeptors vermehrt die Produktion und Se- senunterfunktion vom Typ Hashimoto Thyreoiditis ist eine der
kretion von Schilddrüsenhormonen. Eine durch TRAK stimu- häufigsten endokrinen Erkrankungen. Die hierbei lebenslang
lierte Schilddrüse entzieht sich der negativen Rückkopplungs- erforderliche T4-Substitution ist die Ursache dafür, dass T4 welt-
kontrolle der Hypothalamus-Hypophysen-Achse, da TRH und weit zu den fünf am meisten verschriebenen Substanzen gehört.
TSH durch die Hyperthyreose supprimiert sind, während die
TRAK Produktion in B-Lymphocyten nicht durch T3 suppri- Angeborene Hypothyreosen treten bei 1 von 3.500
miert wird. Diese schwerwiegende und nicht gut therapierbare Neugeborenen auf und werden weltweit durch ein
Erkrankung ist die häufigste Form der Schilddrüsenüberfunk- obligatorisches neonatales TSH-Screening in einem
tion und tritt bei Frauen 5-mal öfter auf als bei Männern. Die Tropfen Fersenblut entdeckt
kontinuierliche Stimulation des TSH-Rezeptors durch die Auto- Die menschliche Schilddrüse entwickelt sich unter der Kontrolle
antikörper löst über den Phosphoinositolsignalweg Wachstum mehrerer Transkriptionsfaktoren (z. B. FOXE1, PAX8, NKX2.1)
und Proliferation der Thyreocyten aus und führt zur Strumabil- bereits im ersten Drittel der Schwangerschaft
dung. Durch TRAK werden auch TSH Rezeptoren stimuliert, die Störungen der Expression oder Mutation dieser Transkrip-
in bestimmten Hautarealen und im retroorbitalen Bindegewebe tionsfaktoren, die in einer sequentiellen Abfolge und Kombina-
exprimiert sind. Deren Stimulation bewirkt eine veränderte Pro- tion in der wandernden und sich differenzierenden Schilddrü-
41.4 · Pathobiochemie
527 41
senanlage exprimiert sein müssen, führen zu beeinträchtigter
Organentwicklung oder zum kompletten Ausfall der Schilddrü-
senentwicklung. Genetische Defekte der an der Hormonsynthe-
se beteiligten Proteine sind eine weitere Ursache der angebore-
nen Hypothyreose. Weltweit weist eines von 3.500 Neugebore-
nen eine klinisch relevante Beeinträchtigung oder den komplet-
ten Ausfall der Anlage, Entwicklung oder Funktion der
Schilddrüse auf. Durch weltweit obligatorisches vor 30 Jahren
eingeführtes Neugeborenen-Screening in einem Tropfen Fersen-
blut in der ersten Lebenswoche gelingt es, diejenigen Kinder zu
finden, die erhöhtes TSH in Blut haben, was auf eine stimulierte
HPT-Achse hinweist. Um die adäquate mentale und körperliche
Entwicklung dieser betroffenen Säuglinge nach Wegfall der ma-
ternalen plazentaren Schilddrüsenhormonversorgung sicher zu
stellen, müssen diese innerhalb der ersten zwei Lebenswochen
sofort eine T4-Substitutionstherapie erhalten, damit keine blei-
benden Entwicklungsstörungen entstehen. Diese T4-Ersatzthe-
rapie muss nach Abklärung der Ursache der TSH-Erhöhung bei
Bestätigung der Entwicklungs- oder Funktionsstörung der
Schilddrüse lebenslang aufrechterhalten werden, womit bei ad-
äquater und dauerhafter Dosierung eine ganz normale Entwick-
lung des Kindes ohne Beeinträchtigung des IQ und der Lebens-
qualität ohne Nebenwirkungen des T4 gelingt.
Da T3 und T4 plazentagängig sind, gewährleistet während
der Embryonal- und Fetalzeit das mütterliche Schilddrüsenhor-
mon eine normale körperliche Entwicklung eines athyreoten
Kindes.

Zusammenfassung
Mangelhafte Iodidversorgung verursacht Strumaentwick-
lung und Hypothyreose trotz gesteigerter TSH Bildung.
TSH-Rezeptor stimulierende Autoantikörper (TRAK) lösen
eine als Morbus Basedow bezeichnete Hyperthyreose aus.
Blockierende Autoantikörper gegen TPO oder Thyreoglobu-
lin werden bei einer chronisch entzündlichen Hypothyreose
nachgewiesen, die als Hashimoto Thyreoiditis bezeichnet
wird.
Die häufigsten Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse
sind M. Basedow und die Hashimoto Thyreoiditis.
Fehlfunktionen der einzelnen Komponenten der Hypothala-
mus-Hypophysen-Schilddrüsen-Peripherie-Achse können zu
kongenitalen oder somatischen hypo- oder hyperthyreoten
Störungen führen, die obligat mit T4 bzw. Thyreostatika be-
handlungsbedürftig sind.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


42 Wachstumshormon und Prolactin
Lutz Schomburg, Ulrich Schweizer, Josef Köhrle

Einleitung zusätzlich das Entkopplungsprotein UCP-1 (7 Kap. 19.1.5)


und damit die mitochondriale Aktivität induziert.
In den vorangegangenen Kapiteln wurden die glandotropen Hypo- 4 In der Skelettmuskulatur wird die Aufnahme von Fettsäuren
physenhormone besprochen, nun wenden wir uns den Proteohormo- stimuliert und die Glucoseverwertung gehemmt. Somit wird
nen Wachstumshormon (GH, growth hormone) und Prolactin (PRL) zu. eine Umstellung von Glucose- auf Fettoxidation eingeleitet.
GH stimuliert das Körperwachstum, viele anabole und regenerative
Vorgänge und den Energiestoffwechsel. Ein Teil der Effekte beruht da- Zusammengenommen dominieren die anabolen Aspekte, d. h.
rauf, dass GH v. a. in der Leber die Synthese und Sekretion insulinähn- vermehrte Glycogenolyse in der Leber und Lipolyse in Fettzellen
licher Wachstumsfaktoren (IGF, insulin-like growth factors) erhöht. zusammen mit verstärkter Proteinbiosynthese, besonders in der
PRL hat große strukturelle Ähnlichkeit mit GH und wirkt auf das Brust- Muskulatur. Diese direkten GH-Effekte führen zu einem verbes-
drüsenepithel, die Laktation, das Immunsystem sowie den Energie- und serten Verhältnis von Muskel- zu Fettmasse, erhöhen die körper-
Mineralstoffwechsel. liche Leistungsfähigkeit und unterstützen regenerative Prozesse.
Die GH-Wirkung trifft somit den Zeitgeist, weswegen GH auch
Schwerpunkte zu den sog. lifestyle-drugs gerechnet wird.
4 Funktionen und Regulation des Wachstumshormons
4 Insulinähnliche Wachstumsfaktoren Übrigens
4 Regulation der Prolactinsekretion und Funktionen von
Doping mittels GH
Prolactin
Die charakteristischen Körpermerkmale mancher Spitzen-
4 Pathobiochemie
sportler in den Disziplinen, in denen Muskulatur, Kraft und
Größe einen Wettbewerbsvorteil darstellen, lassen auf eine
ausgeprägte GH-Wirkung schließen. Inwieweit dieses eine na-
42.1 Wachstumshormon (GH) türliche Veranlagung darstellt oder der missbräuchlichen
Gabe von synthetischem GH geschuldet ist, kann häufig nur
Wachstumshormon (GH, growth hormone; STH, Somatotro- vermutet werden, da die Halbwertszeit von GH relativ kurz ist,
pin) ist ein 191 Aminosäuren langes Proteohormon aus dem und ein Doping-Nachweis nur selten geführt wird. Allerdings
Vorderlappen der Hypophyse (Adenohypophyse). Es ist neben ist es verdächtig, wenn ein ausgewachsener Sportler im fort-
dem strukturähnlichen Prolactin (PRL) das mengenmäßig häu- geschrittenen Alter plötzlich zur Korrektur der Zahnstellun-
figste Hypophysenhormon. GH, wie auch PRL, sind monomere gen eine Klammer trägt. Ebenso können manche wundersa-
Hormone, die durch intramolekulare Disulfidbrücken stabili- men körperlichen Veränderungen männlicher Hollywood-
siert werden. Die GH-positiven acidophilen Zellen der Adeno- schauspieler, die im fortgeschrittenen Alter noch extrem mus-
hypophyse werden als somatotrope Zellen bezeichnet, die kelbetonte Rollen von Geheimagenten, Ringern oder Boxern
42 ebenfalls häufigen azidophilen PRL-positiven als lactotrophe übernehmen, nicht nur auf ein intensives Trainings- und aus-
Zellen. gefeiltes Ernährungskonzept zurückgeführt werden.

GH ist ein anaboles Hormon


Die Hauptfunktionen von GH liegen in der Unterstützung von GH bindet im Plasma an lösliche Rezeptordomänen
Wachstum, Energiestoffwechsel und weiteren anabolen und re- GH ist als Proteohormon wasserlöslich; dennoch liegt es im Blut
generativen Prozessen: überwiegend im Komplex mit einem GH-bindenden Protein
4 In der Leber bewirkt GH über die Aktivierung des GH- (GHBP) vor. Die Komplexbildung dient dem GH-Transport, der
Rezeptors (GHR) eine erhöhte Glycogenolyse und Glucose- Verlängerung der GH-Halbwertszeit und der Kontrolle der loka-
freisetzung. Zudem wird die hepatische Lipoproteinlipa- len GH-Konzentration. Die extrazelluläre Domäne des GH-Re-
se (LPL) stimuliert, was mit vermehrter Lipolyse und zeptors (GHR) stellt ein hochaffines GHBP dar, welches beim
erhöhtem Fettsäuremetabolismus einhergeht. Dieser Effekt Menschen durch posttranslationale proteolytische Spaltung (sog.
wird durch das aus dem Fettgewebe stammende Hormon shedding) des membranständigen GHR generiert wird. Verant-
Adiponektin (7 Kap. 38.2.2) unterstützt. wortlich sind Metalloproteasen der ADAM-Familie (ADAM, A
4 Auch im weißen Fettgewebe stimuliert GH direkt die Lipo- Disintegrin And Metalloproteinase), die auf der Membranoberflä-
lyse und Fettsäurefreisetzung. Im braunen Fettgewebe wird che schneiden, und Aspartylproteasen der γ-Sekretasefamilie,

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
42.1 · Wachstumshormon (GH)
529 42

. Abb. 42.1 Signaltransduktion durch den GH-Rezeptor (GHR). Die Bindung von GH an GHR-Dimere bewirkt eine Aktivierung der rezeptorassoziierten
Januskinase 2 (JAK2). Hierdurch werden Tyrosinreste der JAK2 und des GHR phosphoryliert, die zur Aktivierung von STAT-Proteinen (signal transducer and
activator of transcription) und des PI3- und MAP-Kinase-Signalwegs führen. Tyrosinphosphatasen (SHP) und SOCS-Proteine (suppressors of cytokine signa-
ling) sind an der Termination der GH-GHR-Signalkaskade beteiligt. ALS: säurelabile Untereinheit; PKB: Proteinkinase B; TF: Transkriptionsfaktoren

die den GHR in der Transmembrandomäne spalten. Bei man- growth factors), IGF-bindenden Proteinen (IGF-BPs), der säure-
chen Nagern entstehen diese GHBP durch alternatives Splicing labilen Untereinheit (ALS, acid labile subunit) und des SOCS
der Transkripte des GHR, was deren physiologische Bedeutung (7 Kap. 42.1.2). IGF stellen wichtige lokale Regulatoren des Zell-
unterstreicht. wachstums und insbesondere auch der Chondrocytendifferen-
zierung in den Wachstumszonen der Knochen dar.
Der GH-Rezeptor ist mit dem
JAK/STAT-Weg assoziiert
Am GH-Rezeptor (GHR) induziert die GH-Bindung die Aktivie- 42.1.1 GHRH, Somatostatin und Ghrelin
rung der JAK-STAT Signalkaskade (7 Kap. 5.1). Der GHR ist als Regulatoren der GH-Sekretion
620 Aminosäuren lang, glycosyliert, hat eine einzelne Trans-
membrandomäne und ist intrazellulär über ein sog. Box1-Motiv Die pulsatile Freisetzung von GH
mit der cytoplasmatischen Janus Kinase 2 (JAK2) assoziiert wird zentralnervös gesteuert
(. Abb. 42.1). Die Bindung von GH an vorgebildete GHR-Homo- Die pulsatile Freisetzung des GH wird durch zwei antagonistisch
dimere induziert eine Konformationsänderung im GHR und wirkende und gegensätzlich regulierte hypothalamische Peptid-
aktiviert die Kinasedomänen von JAK2, welche die zytoplasma- hormone gesteuert, das growth hormone-releasing hormone
tischen Domänen der GHR phosphorylieren und aktivieren. Die (GH-RH, Somatoliberin) und das Somatostatin (SSt, somatotro-
Phosphotyrosinreste der GHR dienen dann als Andockstellen pin release inhibiting hormone, SRIH). Die GH-RH-Freisetzung
für die intrazelluläre Signalkaskade über STAT-Proteine (STAT, aus den neuroendokrinen Zellen im Nucleus arcuatus des Hypo-
signal transducer and activator of transcription), die dort ebenfalls thalamus unterliegt einer zentralnervösen Kontrolle durch Sero-
von JAK2 phosphoryliert und aktiviert werden. Die Phospho- tonin, Dopamin und - und -adrenerge Signale (. Abb. 42.2).
STATs bilden dann Hetero- und Homodimere und translozieren Tiefschlafphasen fördern die GH-RH Synthese und Freisetzung.
in den Kern, wo sie als Transkriptionsfaktoren GH-Zielgene ak- Auch das Neuropeptid SSt erreicht als hypothalamisches Hor-
tivieren. Überdies kann ein aktivierter GHR auch den PI3K- und mon über das Portalblutsystem die somatotropen Zellen, an
über RAS den MAP-Kinase-Signalweg stimulieren (. Abb. 42.1), denen es aber die GH- (und TSH-) Freisetzung inhibiert.
mit den entsprechenden Effekten auf Proliferation, Apoptose- Typische circadiane Rhythmen mit hohen nächtlichen Frei-
hemmung und Metabolismus (7 Kap. 35.4.2, 35.4.3). Das GH- setzungsraten bestimmen die zirkulierenden GH-Konzentratio-
Signal wird intrazellulär durch Tyrosinphosphatasen (SHP) be- nen. Diese sind während des embryonalen Wachstums, nach der
endet, und durch GH-induzierte Proteine der SOCS-Familie Geburt und nach der Pubertät besonders hoch, zeigen ge-
(SOCS, suppressors of cytokine signaling) in einer lokalen Rück- schlechtsspezifische Unterschiede, verlieren mit dem Alter aber
kopplungsschleife gehemmt. Besonders gut charakterisiert ist die an Dynamik und Amplitude. Somit überlagern sich beim GH
durch den aktivierten GHR hervorgerufene Steigerung der Ex- tageszeitliche Schwankungen mit geschlechts- und altersabhän-
pression von insulinähnlichen Wachstumsfaktoren (insulin-like gigen Effekten. Aus diesen Gründen ist eine einzelne Bestim-
530 Kapitel 42 · Wachstumshormon und Prolactin

. Abb. 42.3 Biosynthese, posttranslationale Modifikation und Rezeptor-


. Abb. 42.2 Regulation der Sekretion von Wachstumshormon (GH). spezifität von Ghrelin. Ghrelin wird von Zellen der Magenmukosa syntheti-
GH wird von somatotropen Zellen der Hypophyse synthetisiert und pulsatil siert. Eine Acylierung an Serin 3 durch die Ghrelin-O-Acyltransferase (GOAT)
sezerniert. Die wachstumsstimulierenden Effekte werden zum Großteil überführt das 28 Aminosäuren lange Peptid in den Liganden des GH-Sekre-
durch die Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktoren IGF-1 und IGF-2 aus der tagogrezeptors GHSR. Obestatin ist ein zweites Produkt des Ghrelin-Prohor-
Leber vermittelt. GH-Releasing Hormon (GHRH) aus dem Hypothalamus und mons mit unbekanntem Rezeptor und umstrittener Wirkung
Ghrelin aus der Magenmukosa stimulieren die GH-Synthese und -Freiset-
zung, während das hypothalamische Somatostatin (SSt) und die zirkulie-
renden Komplexe aus IGF mit IGF-Bindeproteinen (IGF-BP) und säurelabiler 42.1.2 IGF-1 als Mediator des GH
Untereinheit (ALS) die GH Produktion hemmen

Die meisten GH Effekte werden


durch IGF-1 vermittelt
mung der GH-Konzentration im Blut zur Diagnostik von Stö- Die beiden Proteohormone IGF-1 und IGF-2 (IGF = insulin like
rungen der GH-Achse ungeeignet. Eine basale Sekretion von growth factor) sind dem Insulin ähnlich; diese Verwandtschaft
Cortisol und Schilddrüsenhormonen ist für die GH-Synthese erstreckt sich von der Namensgebung über die Ähnlichkeiten der
und Freisetzung erforderlich und für eine normale Entwicklung Rezeptoren bis zur Struktur der Hormone. Die Prohormone sind
und das altersgerechte Wachstum unverzichtbar. homolog, allerdings wird beim Insulin das C-Peptid posttransla-
tional herausgeschnitten, während es bei IGF-1 und IGF-2 im
Auch ein Hormon aus dem Magen reguliert maturen Hormon erhalten bleibt (7 Kap. 36.2). Sowohl der Insu-
die GH Freisetzung linrezeptor (IR) als auch der IGF1-Rezeptor (IGF-1R) können
Seit längerer Zeit war ein dritter Regulator der GH-Freisetzung Homodimere oder IR/IGF-1R-Heterodimere bilden; die jewei-
bekannt, dessen Rezeptor auf somatotropen Zellen nicht von lige Affinität zu den namengebenden Hormonen ist höher als zu
GHRH aktiviert bzw. von SSt gehemmt wird. Dieser Rezeptor den strukturverwandten Hormonen (. Abb. 42.4). Intrazellulär
wurde deshalb als GH-secretagogue-Receptor (GHSR) bezeich- werden die gleichen Signalkaskaden aktiviert. IGF-1 hemmt
42 net. Das zugehörige Hormon Ghrelin (indogermanisch: ghre durch negative Rückkopplung (negativer feedback) die GH-Frei-
wachsen/keimen) wurde aus dem Homogenat des Magens iso- setzung aus der Hypophyse und die GH-RH Freisetzung aus dem
liert. Die Strukturaufklärung ergab ein Peptidhormon aus Hypothalamus, während die hypothalamischen SSt-Neurone
28 Aminosäuren, bei dem die Hydroxylgruppe des Serin 3 mit stimuliert werden. IGF-2 wird durch ein Gen codiert, welches
Octanoat verestert ist. Diese posttranslationale Modifikation ist dem genomic imprinting (7 Kap. 47.2.1) unterliegt. Es wird beson-
eine biochemische Besonderheit und kann reversibel über Ghre- ders in der frühen Entwicklung im Embryo und Fetus stark ex-
lin-O-Acyl-Transferase (GOAT) und Acyl-Protein-Thioeste- primiert. Der IGF-2R ist auch als Mannose-6-Phosphat-Rezep-
rase 1 (APT1)/Lysophospholipase 1 reguliert werden, wobei nur tor (M6PR) bekannt und sowohl in der Plasmamembran als auch
das acylierte Ghrelin als Agonist am GHSR wirkt (. Abb. 42.3). in intrazellulären Membranen lokalisiert. Der IGF-2R/M6PR
Ein zweites Peptid des Ghrelinprohormons, das sog. Obestatin, bindet IGF-2 mit höherer Affinität als IGF-1, nicht aber Insulin.
wurde zunächst als Antagonist der Ghrelinwirkung beschrieben, Zusätzlich erkennt und bindet dieser Rezeptor Mannose-6-Phos-
was sich in Folgestudien nicht bestätigen ließ. Interessanterweise phat-tragende Cytokine und Hormone, wie z. B. transforming-
wird Ghrelin bereits vor den Mahlzeiten freigesetzt (antizipato- growth factor (TGF ), leukemia-inhibiting factor (LIF) oder
risch). Es stimuliert neben der GH-Freisetzung auch die appetit- Proliferin, und beeinflusst so Organentwicklung und Wachstum.
regulierenden Neurotransmitter im Hypothalamus (NPY, Neu- Beim Erwachsenen werden die GH-induzierten Effekte überwie-
ropeptid Y; AgRP, Agouti-related protein) (7 Kap. 38.3.2). gend von IGF-1 vermittelt.
42.2 · Prolactin
531 42
42.2 Prolactin

Prolactin stimuliert das Brustdrüsenepithel


Die Strukturen von Prolactin (PRL) und GH sind ähnlich, ebenso
gehört der Prolactin-Rezeptor (PRLR) wie der GHR zur Klasse 1
der Cytokin-Rezeptor-Superfamilie. PRL besteht aus 199 Amino-
säuren und wird durch drei Disulfidbrücken stabilisiert. Es zirku-
liert überwiegend ohne Bindungspartner im Blut und hat entspre-
chend nur eine Halbwertszeit von ca. 15 min. Der PRLR koppelt
ebenso wie der GHR an die JAK2-STAT5- und MAPK-Signalwege.
. Abb. 42.4 Insulin, Insulin-ähnliche Wachstumsfaktoren IGF-1 und IGF-2 Die Namensgebung unterstreicht die besondere Bedeutung
und ihre zellulären Rezeptoren. Insulin, IGF-1 und IGF-2 binden aufgrund
von PRL während Schwangerschaft und Stillzeit. Hier hat PRL
ihrer Strukturähnlichkeit in spezifischem Ausmaß an Insulin-Rezeptor-Ho-
modimere (IR), IR/IGF-1R Heterodimere und IGF-1R Homodimere. Der IGF-2R
eine direkte Wirkung auf Wachstum und Ausbildung des Brust-
ist ein Monomer und auch als Mannose-6-Phosphat Rezeptor (M6PR) aktiv. drüsenepithels, es stimuliert die Milchproduktion und trägt zur
M6PR bindet neben IGF-2 auch M6P-tragende Cytokine und Hormone. Ge- Unterdrückung des Eisprungs während der Stillzeit bei. Anzahl
strichelte Pfeile symbolisieren erniedrigte Affinitäten der Bindungspartner und Größe laktotropher Zellen erhöhen sich während der
Schwangerschaft, was zu vorübergehenden Einschränkungen
der Sehfähigkeit führen kann, wenn die erhöhte Raumforderung
IGF-1 wird durch einen Proteinkomplex der Hypophyse auf das optische Chiasma drückt. Allerdings sind
im Plasma stabilisiert auch beim Mann deutliche PRL-Konzentrationen im Blut nach-
Das hepatische IGF-1 stellt das am besten charakterisierte Ziel- weisbar und zahlreiche laktotrophe Zellen in der Hypophyse zu
Gen der GH-Wirkung dar. Im Blut bilden IGF-1 und IGF-2 finden. Mausmodelle haben eine Vielzahl weiterer physiologi-
Komplexe mit IGF-bindenden Proteinen (IGF-BP) und einem scher Funktionen mit PRL in Verbindung gebracht, wie z. B. Im-
dritten Protein, der säurelabilen Untereinheit ALS (acid labile munantwort, Verhalten, Energie- oder Mineralstoffwechsel.
subunit). Beim Erwachsenen dominieren dabei die ternären Überdies wird PRL nicht nur in der Hypophyse exprimiert, son-
Komplexe aus IGF-1/IGF-BP3/ALS oder IGF-1/IGF-BP5/ALS. dern es wirkt auch als parakrines Hormon in einer Vielzahl
Auch diese Komplexbildung bewirkt eine Stabilisierung des Hor- weiterer Gewebe wie z. B. Prostata, Haut, Gehirn, Brustgewebe,
mons, Verbesserung des Transports und genauere Regulation der Immunzellen und Adipocyten.
lokalen IGF-1-Konzentrationen im Zielgewebe. Freies IGF-1 hat
eine Halbwertszeit von ca. 12 min, während es im ternären Kom- Dopamin ist der wichtigste Inhibitor
plex über >12 h stabil ist. Alle Komponenten dieser Komplexe der PRL-Freisetzung
werden GH-abhängig synthetisiert und sind entsprechend bei In der Hypophyse werden Biosynthese und Sekretion von
GH-Mangel reduziert. PRL hauptsächlich durch Dopamin (DA) gehemmt. PRL ist das
einzige adenohypophysäre Hormon, welches überwiegend unter
tonischer Inhibition steht, sodass die PRL-Freisetzung ansteigt,
Zusammenfassung wenn die Verbindung des Hypothalamus zur Hypophyse unter-
Die pulsatile Freisetzung von Wachstumshormon (GH) wird brochen ist. Neben dem Saugreiz beim Stillen wurden Östrogene,
durch das neuroendokrine Peptid GH-releasing-Hormon thyrotropin-releasing hormone (TRH) und Oxytocin als positive
(GH-RH) aus Hypothalamus und Ghrelin aus der Magen- Stimulatoren der PRL-Freisetzung beschrieben, dennoch über-
mukosa stimuliert; Somatostatin (SSt) und insulinähnlicher wiegt unter Normalbedingungen die Hemmung durch DA.
Wachstumsfaktor 1 (IGF-1) hemmen die GH-Freisetzung.
Die Synthese und Freisetzung von IGF-1 und IGF-2 werden in
der Leber und anderen Geweben durch GH stimuliert und Zusammenfassung
vermitteln die wachstumsfördernde Wirkung. Prolactin (PRL) ist neben GH das häufigste Hormon der
Die IGF assoziieren mit IGF-bindenden Proteinen (IGF-BP) Hypophyse; GH und PRL, wie auch der GHR und PRL-Rezep-
und der säurelabilen Untereinheit (ALS) zu ternären Komple- tor, sind strukturverwandt und wirken über ähnliche Signal-
xen, die im Blut zirkulieren und die Stabilität und lokalen kaskaden.
Konzentrationen der IGF kontrollieren. Die physiologische Bedeutung von PRL geht weit über
GH und IGF wirken anabol und stimulieren den Glucose- Laktation und Fertilität hinaus, und beinhaltet Aspekte des
und Fettstoffwechsel zugunsten erhöhter Proteinbiosyn- Verhaltens, Immunsystems und Vitamin- und Mineralstoff-
these, besonders in der Muskulatur. wechsels.
Störungen der Biosynthese oder Funktion von GH oder GHR
bzw. IGF, IGF-BP oder ALS bewirken Metabolismus- und
Wachstumsstörungen.
532 Kapitel 42 · Wachstumshormon und Prolactin

42.3 Pathobiochemie GH nicht effektiv, hingegen ist die Therapie mit IGF-1 erfolgreich.
Dieser Defekt ist aber auch von überraschenden positiven
Gigantismus und Akromegalie Wenn ein Hypophysentumor GH Nebenwirkungen begleitet (s. 7 Übrigens: »Das Geheimnis gesun-
produziert und sich der feedback-Regulation entzieht, so kann den Alterns«). Auch Störungen der zellulären GH-Signalübertra-
sich ein charakteristisches Krankheitsbild mit erhöhter GH-Ak- gung und deren Regulation können zu Minderwuchs und Beein-
tivität entwickeln: trächtigung der anabolen GH-Wirkung bei Patienten führen
Erfolgt die Erkrankung bereits in der Jugend, kommt es u. a. (z. B. Mutationen in den Genen von STAT5b oder ALS).
zu einem außergewöhnlichen Größenwachstum, dem Gigantis-
mus. Dermaßen erkrankte Individuen dienten als Inspiration für
entsprechende Berichte, Sagen und Märchen in der Weltliteratur, Übrigens
z. B. Goliath oder Samson im Alten Testament, Rübezahl im Rie- Das Geheimnis gesunden Alterns
sengebirge, Fasolt und Fafner in Wagners Ring des Nibelungen Schon lange sucht die Medizin nach Wegen, uns vor Zivilisa-
oder die Titanen in der griechischen Mythologie. In der Vergan- tionskrankheiten wie Diabetes mellitus oder Krebs zu schüt-
genheit sammelten sich unter den »Langen Kerls« des preußi- zen. Überraschende Hinweise lieferte eine Langzeitstudie
schen Paraderegiments von Friedrich-Wilhelm I sicher auch (über 22 Jahre) von 99 Laron-Patienten in Ecuador, in denen
Männer mit GH-Hypersekretion, während sie heutzutage in be- aufgrund einer Mutation im GHR-Gen nur geringe IGF-
stimmten Sportarten (Basketball, Volleyball, Boxen) überreprä- 1-Konzentrationen vorliegen. Diese kleinwüchsigen Indivi-
sentiert sein dürften. duen entwickelten (fast) keinen Diabetes mellitus und keine
Erfolgt die GH-Hypersekretion erst im Erwachsenenalter Krebserkrankungen. Aus Studien mit Modellorganismen
nach dem Schließen der Epiphysenfugen (Wachstumszonen) der (Hefe, C. elegans, Maus) war schon länger bekannt, dass eine
langen Röhrenknochen, wird ein verstärktes Wachstum der Ak- reduzierte Aktivität der GH-IGF-1-Achse lebensverlängernd
ren (äußere Enden der Extremitäten, besonders Finger und Füße, wirkt. Die Lebenserwartung dieser ecuadorianischen Laron-
aber auch Augenwülste, Nase, Ohr, Kinn, etc.) ausgelöst, eine Patienten war aus anderen Gründen nicht signifikant erhöht,
Akromegalie. Meist tritt auch ein Wachstum der inneren Organe doch ihr Krebs- und Diabetesrisiko war verschwindend
auf, welches zur Visceromegalie führt. In ca. 90 % der Fälle liegt gering.
ein GH-sezernierendes Hypophysenadenom zugrunde. Die Er-
krankung entwickelt sich zumeist langsam, entsprechend schlei-
chend folgen die Symptome und schwierig ist die Diagnose. Ver- Hyperprolactinämie und Galaktorrhoe Hyperprolactinämie ist
gröberte Gesichtszüge und vergrößerte Hände, Kiefer oder Füße die einzige gut charakterisierte Erkrankung im PRL-System. Ur-
können als Zufallsbefunde (der Ehering drückt, die Schuhe pas- sächlich sind hierbei meist Tumore der laktotrophen Zellen der
sen nicht mehr, Zahnzwischenräume entstehen) die korrekte Adenohypophyse. Die Therapie mit DA-Agonisten ist häufig er-
Diagnose einleiten. Drückt der Hypophysentumor ins Gehirn folgreich, um sowohl die Tumorgröße als auch die erhöhten PRL-
und auf das optische Chiasma, können entsprechende Gesichts- Konzentrationen zu verringern. Bei Frauen bewirkt die Hyper-
feldausfälle folgen. Die Raumforderung eines solchen Tumors prolactinämie eine gestörte gonadotropin-releasing-Hormon
kann zudem die Freisetzung der anderen hypophysären Hor- (GnRH)-Freisetzung durch Neurone des Hypothalamus, gestör-
mone hemmen und allgemeine Symptome eines Hypopituitaris- te LH- und FSH-Freisetzungen und damit Störungen der Ovari-
mus (Hypophysenunterfunktion) hervorrufen (Hypogonadis- alfunktion mit Anovulation, Zyklusstörungen und Galaktorrhoe
mus, Amenorrhoe, Infertilität). Eine Therapie kann dann über (krankhafter Brustmilchausfluss). Beim Mann können Prolacti-
modifizierte Somatostatin-Analoga erfolgen, da diese die GH- nome mit Einschränkung der Libido und Potenz durch sekundä-
Biosynthese und Freisetzung hemmen. Alternativ können GH- re Hemmung der Gonadotropinsekretion sowie mit einer Gynä-
Rezeptor-Antagonisten die GH-Wirkung unterbinden. Häufig komastie (Vergrößerung der Brustdrüsen) verbunden sein.
42 muss aber schließlich eine entsprechende Operation erfolgen,
um den aktiven Tumor vollständig zu entfernen.
Zusammenfassung
Minderwuchssyndrome Ein Mangel an GH-Wirkung kann zu Die GH-IGF-Wachstumsachse reguliert anabole Prozesse
ausgeprägten Wachstumsstörungen (Minder- bzw. Zwergwuchs) und den Energiestoffwechsel und beeinflusst somit das
führen, wobei auch die Entwicklung der Muskulatur verzögert Diabetesrisiko und maligne Prozesse. Die physiologische
ist. Dieses Defizit äußert sich auch im verspäteten Erreichen von Bedeutung von Prolaktin ist noch unzureichend geklärt,
Meilensteinen der Kindesentwicklung (Krabbeln, Stehen, Ge- könnte aber ähnlich bedeutsam und vielschichtig sein.
hen). Häufig liegt eine inaktivierende Mutation im Gen des hy-
pophysär exprimierten GHRH-Rezeptors zugrunde. Diese Kon-
stellation kann heutzutage effektiv mit rekombinant erzeugtem 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
GH therapiert werden. Ein erfolgreiches Beispiel dieser Interven-
tion ist durch die Entwicklung des Weltfußballers Lionel Messi
allgemein bekannt geworden.
Ebenso kann eine Mutation im GHR zu einem Wachstums-
defekt, dem sog. Laron-Syndrom führen. Hier ist rekombinantes
533 IV

Molekularbiologie
Kapitel 43 Zellzyklus – Koordination der Zellteilung – 535
P. C. Heinrich, H.-G. Koch, J. Brix

Kapitel 44 Replikation – Die Verdopplung der DNA – 545


H.-G. Koch, J. Brix, P. C. Heinrich

Kapitel 45 DNA-Mutationen und ihre Reparatur – 559


H.-G. Koch, J. Brix, P. C. Heinrich

Kapitel 46 Transkription und Prozessierung der RNA – 567


J. Brix, H.-G. Koch, P. C. Heinrich

Kapitel 47 Regulation der Transkription – Aktivierung und


Inaktivierung der Genexpression – 588
J. Brix, H.-G. Koch, P. C. Heinrich

Kapitel 48 Translation – Synthese von Proteinen – 600


M. Müller, L. Graeve

Kapitel 49 Proteine – Transport, Modifikation und Faltung – 615


M. Müller, L. Graeve

Kapitel 50 Proteine – Mechanismen ihres Abbaus – 629


M. Müller, L. Graeve

Kapitel 51 Apoptose – Der programmierte Zelltod – 633


P. C. Heinrich, H.-G. Koch, J. Brix

Kapitel 52 Grundlagen der Tumorentstehung – 638


B. Brandt, P. E. Petrides

Kapitel 53 Spezifische Tumore – Entstehung, Progression


und Therapie – 649
B. Brandt, P. E. Petrides

Kapitel 54 Gentechnik – 660


J. Brix, P. C. Heinrich, H.-G. Koch, G. Löffler

Kapitel 55 Gentechnik in höheren Organismen –


Transgene Tiere und Gentherapie – 679
J. Brix, P. C. Heinrich, H.-G. Koch, G. Löffler
535 43

43 Zellzyklus – Koordination der Zellteilung


Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Jan Brix

Einleitung

Der Zellzyklus beschreibt die Entstehung zweier Tochterzellen aus einer


Ursprungszelle. Die dabei ablaufenden Vorgänge werden durch ein
komplexes, molekulares Netzwerk reguliert. Nach einer entsprechenden
Vergrößerung der Zellmasse muss sichergestellt werden, dass eine Zelle
ihr komplettes Genom fehlerfrei dupliziert und während der Zellteilung
zu gleichen Teilen an die Tochterzellen weitergibt.

Schwerpunkte

4 Die 4 Phasen des Zellzyklus


4 Steuerung des Zellzyklus durch Cycline und cyclinabhän-
gige Kinasen (Cdks)
. Abb. 43.1 Teilungsraten unterschiedlicher humaner Zelltypen
4 Regulation der cyclinabhängigen Kinasen
4 Die Bedeutung der Transkriptionsfaktoren p53 und E2F
im Zellzyklus
laren Mechanismen der Zellzyklusregulation ein wichtiger
Schlüssel zum Verständnis solcher Erkrankungen.

Das Leben von Einzellern beginnt mit ihrer Entstehung durch


Teilung ihrer Mutterzellen und ist dann durch eine Phase des 43.1 Chronologie des Zellzyklus
Wachstums gekennzeichnet, die in etwa zur Verdopplung ihrer
Zellmasse führt. Daran schließt sich die Bildung zweier Tochter- Bei der Erzeugung zweier identischer Tochterzellen muss die
zellen durch Zellteilung an. Der Zeitraum vom Entstehen einer gesamte genetische Information sorgfältig repliziert und genau
Zelle durch eine Mitose bis zu ihrem Ende durch erneute Zelltei- auf die Tochterzellen verteilt werden, sodass jede Zelle eine Ko-
lung wird als Zellzyklus bezeichnet und ist besonders gut an ein- pie des gesamten Genoms erhält. Darüber hinaus muss die üb-
zelligen Eukaryonten, z. B. Hefezellen, untersucht worden. Bei rige Zellmasse verdoppelt werden, ansonsten würden aus jeder
ihnen führt das Durchlaufen des Zellzyklus zur exponentiellen Zellteilungsrunde kleinere Zellen resultieren. Bei Eukaryonten
Zunahme der Population. mit komplexem Zellaufbau mit verschiedenen Kompartimenten
Auch die Zellen höherer, vielzelliger Organismen durchlau- sind sämtliche Vorgänge zeitlich und räumlich miteinander ko-
fen den Zellzyklus. Allerdings ist bei ihnen im Gegensatz zu Ein- ordiniert. Zudem müssen Zellen auf äußere Signale reagieren,
zellern ein dauerndes exponentielles Wachstum nicht erwünscht die der einzelnen Zelle mitteilen, dass weitere Zellen gebraucht
und auch gar nicht möglich. Für die Aufrechterhaltung der Zell- werden.
masse eines adulten, nicht mehr wachsenden Organismus muss
es also Mechanismen geben, die eine weitere Zellvermehrung Der Zellzyklus umfasst vier verschiedene Phasen
verhindern. Zu diesen Mechanismen gehören das Anhalten des Bei kontinuierlicher Proliferation treten Zellen nach der Zelltei-
Zellzyklus mit der Folge, dass weitere Zellteilungen verhindert lung, der Mitose (M-Phase), in die Interphase ein, die aus der
und nicht mehr benötigte Zellen durch Apoptose eliminiert G1-Phase (gap-1), der S-Phase (Synthese) und der G2-Phase
werden. (gap-2) besteht (. Abb. 43.2):
Im erwachsenen Menschen finden sich neben Geweben mit 4 Die erste Phase der Interphase, die G1-Phase, ist durch
hoher Zellteilungsrate auch solche, in denen Zellteilungen nie Zellwachstum und die Synthese von Proteinen und Nucleo-
oder höchst selten stattfinden (. Abb. 43.1). tiden charakterisiert, die für die DNA-Replikation benötigt
Menschliche Nerven- und Muskelzellen teilen sich nach Dif- werden.
ferenzierung nicht mehr, Leberzellen z. B. nur etwa einmal pro 4 In der S-Phase wird die DNA der Zelle repliziert, RNA und
Jahr. Im Gegensatz dazu teilen sich andere Zellen, z. B. die Vor- Proteine werden synthetisiert.
läufer der Blutzellen, etwa einmal pro Tag. Störungen im Zellzy- 4 In der anschließenden G2-Phase werden weiterhin RNA
klus bilden häufig die Grundlage für das Entstehen bösartiger und Proteine synthetisiert, und die Zelle bereitet sich auf
Erkrankungen wie Krebs. Daher ist das Wissen um die moleku- die Zellteilung vor.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_43, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
536 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung

. Abb. 43.2 Die einzelnen Phasen des Zellzyklus mit drei ausgewählten Kontrollpunkten. Die Mitose kann in sechs verschiedene Phasen unterteilt
werden; in der Abbildung sind Prometaphase und Metaphase sowie Telophase und Cytokinese zusammengefasst (Einzelheiten s. Text und 7 Übrigens:
»Die Mitose«)

4 Während der Mitose wird die DNA auf die mitotischen 43.2 Kontrolle des Zellzyklus
Spindeln und Tochterchromatiden aufgeteilt, das Cytoplas-
ma teilt sich, und es entstehen zwei gleiche Tochterzellen. Durch die genaue Kontrolle des Zellzyklus wird verhindert, dass
die nächste Zellzyklusphase begonnen wird, bevor die vorherge-
Bei einer schnell wachsenden Säugerzelle dauert ein Zellzyklus hende Phase beendet ist. Es wäre gefährlich, die DNA-Synthese
43 etwa 24 h, wobei auf die G1-Phase etwa 6–12 h, die S-Phase etwa
6–8 h, die G2-Phase etwa 3–4 h und auf die Mitose etwa 0,5–1 h
einzuleiten, wenn nicht genügend Nucleotide und Enzyme für
diesen Prozess vorhanden sind. Es hätte ebenfalls katastrophale
entfallen. Folgen für die Zelle, wenn die Mitose eingeleitet würde, obwohl
Zellen haben die Möglichkeit, den Zellzyklus vorübergehend die DNA-Synthese noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Die
oder dauerhaft zu verlassen: Zelle verfügt daher über Kontrollpunkte (checkpoints/restriction
4 Differenzierte Zellen verlassen den Zellzyklus und treten in points), an denen sie den Fortschritt des Zellzyklus überprüft. Ein
die sog. G0-Phase ein; dies gilt z. B. für sich nicht teilende solcher Kontrollpunkt, der über den Eintritt in die S-Phase ent-
Nerven- und Muskelzellen. scheidet, befindet sich in der späten G1-Phase des Zellzyklus
4 Der Entzug von Wachstumsfaktoren und Nährstoffen führt (. Abb. 43.2). Hier wird überprüft, ob eine ausreichende Zellgrö-
ebenfalls dazu, dass Zellen in die G0-Phase eintreten. ße erreicht ist, ob keine DNA-Schäden vorliegen und ob ausrei-
4 Ruhende, nicht terminal differenzierte Zellen können durch chend Substrate für die Nucleinsäuresynthese vorhanden sind.
Zugabe von Wachstumsfaktoren und Nährstoffen dazu ver- Ein weiterer Kontrollpunkt befindet sich am Ende der G2-Phase.
anlasst werden, die G0-Phase zu verlassen und wieder in Dort überprüft die Zelle, ob die DNA erfolgreich repliziert wur-
den Zellzyklus einzutreten. de oder ob DNA-Schäden vorliegen. Bei Fehlermeldungen wird

Mitose Prophase Prometaphase Metaphase Anaphase Telophase Cytokunese Zellzyklus G_2-Kontrollpunkt Kontrollpunkt
G_2-Phase S-Phase G_1-Phase G_0-Phase G_1-Kontrollpunkt
43.3 · Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen
537 43

. Abb. 43.3 Zeitlich regulierte Expression von Cyclinen während des Zellzyklus. Die Längen der einzelnen Phasen des Zellzyklus sind nicht maßstabs-
gerecht dargestellt

der Zellzyklus angehalten und die Zelle hat Zeit, den DNA-Scha-
den zu beheben (7 Kap. 45.2) oder den Zellzyklus abzubrechen . Tab. 43.1 Die wichtigsten Cycline und cyclinabhängigen Kina-
und in die Apoptose einzutreten. An einem dritten Kontroll- sen während des Zellzyklus in Säugetieren
punkt am Ende der Metaphase der Mitose wird die korrekte An-
Phase des Cycline Cyclinabhängige Kinasen
heftung der Kinetochore an den mitotischen Spindelapparat Zellzyklus
überprüft. Das Kinetochor ist ein DNA-Protein-Komplex, der an
den Centromeren (griech. »Mittelpunkt«; Kontaktstelle der bei- G1-Phase Cyclin D Cdk4, Cdk6
den Tochterchromatiden) lokalisiert ist. Cyclin E Cdk2
Die Entscheidung, einen Kontrollpunkt zu passieren, wird
S-Phase Cyclin D Cdk4, Cdk6
durch externe Faktoren wie Wachstumsfaktoren und von einem
inneren Uhrwerk der Zelle bestimmt. Dieses Uhrwerk besteht Cyclin E Cdk2
aus Cyclinen und den sog. cyclinabhängigen Kinasen. Externe Cyclin A Cdk2
Signale wirken regulierend auf diese cyclinabhängigen Kinasen G2-Phase Cyclin Ba Cdk1
ein. Der Verlust der Abhängigkeit der Zellzyklusprogression
Cyclin A Cdk1
durch externe Wachstumsfaktoren und der Verlust der Zellzyk-
luskontrolle an den Kontrollpunkten ist ein Charakteristikum M-Phase Cyclin A Cdk1
von Tumorzellen. Cyclin B a Cdk1

a auch Cyclin M genannt.

43.3 Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen

Cycline sind die Aktivatoren cyclinabhängiger am Golgi-Apparat lokalisierten Cdks sind an der Auflösung der
Kinasen Golgi-Membranen während der Mitose beteiligt. Das Centro-
Cycline sind eine Gruppe strukturell verwandter Proteine, deren som steuert die Organisation der Mikrotubuli während der Mi-
Konzentrationen während der Phasen des Zellzyklus oszillieren tose und wird daher auch als microtubule-organizing center be-
(. Abb. 43.3). Ihre Konzentration während des Zellzyklus wird zeichnet. Die Verdopplung der Centrosomen während der Mito-
durch regulierten proteolytischen Abbau im Proteasom be- se wird über Cdks gesteuert. Damit unterstützen die außerhalb
stimmt. des Zellkerns lokalisierten Cdks die im Zellkern den Zellzyklus
Cycline sind die Aktivatoren der cyclinabhängigen Kinasen regulierenden Cdks.
(cyclin-dependent kinases, Cdks) (. Tab. 43.1). Sobald sie an die
Cdks binden, öffnet sich deren aktives Zentrum und die Cdk- Für den geordneten Ablauf des Zellzyklus ist eine exakte Regula-
Aktivität steigt an. Im Unterschied zu Cyclinen, deren Synthese tion der Cyclin/Cdk-Komplexe notwendig (. Abb. 43.4, 43.5 und
und Abbau während des Zellzyklus oszilliert, sind die Cdks wäh- 43.7). Sie erfolgt durch:
rend des gesamten Zellzyklus vorhanden. Damit sind die Cycline 4 reversible Phosphorylierung/Dephosphorylierung
die regulatorischen Komponenten eines Cyclin/Cdk-Komplexes. 4 Ubiquitinierung und anschließenden Abbau durch das Pro-
Ein Cyclinmolekül kann an unterschiedliche Cdks binden und teasom
dadurch deren Enzymaktivität steuern. Cyclin/Cdk-Komplexe 4 spezifische Inhibitorproteine
entfalten ihre Wirkung fast ausschließlich im Zellkern. Daher ist 4 Regulation der subzellulären Lokalisation und
die kontrollierte Translokation von Cyclin/Cdk-Komplexen in 4 transkriptionelle Regulation
den Zellkern eine wichtige Stufe für die Regulation des Zellzyk-
lus. In der G2-Phase und in der M-Phase des Zellzyklus sind
nucleäre Lamine und Mikrotubuli-assoziierte Proteine wichtige
Substrate für Cdks. Neben den kernlokalisierten Cdks findet
man Cdks auch am Golgi-Apparat und an den Centrosomen. Die
538 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung

. Abb. 43.4 Regulation von cyclinabhängigen Kinasen (Cdk) durch Phosphorylierung und Dephosphorylierung sowie durch spezifische Inhibitor-
proteine (CKI, Cdk-Inhibitoren). (Einzelheiten s. Text)

Die Aktivität der Cdks wird durch Cdk-aktivierende Kinase (Cak, ein Komplex aus Cyclin H, Cdk7
Phosphorylierung/Dephosphorylierung und und Mat1) ist dagegen eine wesentliche Voraussetzung für die
Ubiquitinierung mit anschließendem Abbau Aktivierung des Cyclin B/Cdk1-Komplexes 3 . Wenn die Zelle
durch das Proteasom reguliert zur Zellteilung bereit ist, wird Cdk1 an den beiden inhibitori-
Cdks bilden eine Familie von Proteinen, die sich durch eine hohe schen Aminosäuren Thr 14 und Tyr 15 durch die Phosphata-
Konservierung der Aminosäuresequenz in den funktionellen se Cdc25c (cell division cycle protein 25c) dephosphoryliert 4 .
Domänen auszeichnet. Die durch die Interaktion mit Cyclinen Damit wird der Cyclin B/Cdk1-Komplex aktiviert und die Zelle
entstehenden Cyclin/Cdk-Komplexe besitzen lediglich eine ge- zum Eintritt in die Mitosephase stimuliert 5 , weshalb dieser
ringe Kinaseaktivität, die durch spezifische Inhibitorproteine Komplex auch als mitosis-promoting factor (MPF) bezeichnet
(CKI) oder durch Phosphorylierung inhibiert werden kann wird (s. »Übrigens: Die Mitose« und . Abb. 43.5). Da der aktive
(. Abb. 43.4). Für die Aktivierung der Cyclin/Cdk-Komplexe Cyclin B/Cdk1-Komplex wiederum die Phosphatase Cdc25c
muss das inhibitorische Phosphat abgespalten werden und durch Phosphorylierung stimuliert, erfolgt so eine feedforward-
gleichzeitig eine aktivierende Phosphorylierung an einem ande- Aktivierung 6 . Der aktive Cyclin B/Cdk1-Komplex ist dann ein
ren Aminosäurerest erfolgen. Durch Ubiquitinierung und Prote- wesentlicher Auslöser der Mitose. Auch die Regulation anderer
43 olyse des Cyclins werden aktive Cyclin/Cdk-Komplexe inakti-
viert. Diese Proteolyse der verschiedenen Cycline erklärt auch
am Zellzyklus beteiligter Cyclin/Cdk-Komplexe erfolgt in ähnli-
cher Weise durch Phosphorylierung/Dephosphorylierung.
deren Oszillation während des Zellzyklus (. Abb. 43.3). Um die Mitosephase zu verlassen, wird im aktiven Cyclin B/
Am Beispiel der Cdk1 soll die Bedeutung der inhibitorischen Cdk1-Komplex zunächst Threonin 160 von Cdk1 durch die
und aktivierenden Phosphorylierungen der Cdks dargestellt Phosphatase Kap (kinase associated phosphatase) dephosphory-
werden (. Abb. 43.5): liert 7 . Cyclin B wird durch die Ubiquitinligase SCF ubiquiti-
Durch Bindung von Cyclin B kommt es zu einer schwa- niert 8 und durch das Proteasom abgebaut 9 , während inakti-
chen Aktivierung von Cdk1 1 . Inaktivierende Kinasen wie ves Cdk1 erneut Cycline binden und damit aktiviert werden
Wee1(little-1; schottisch: wee = klein), Myt1 (myelin transcription kann. Der aktive Cyclin B/Cdk1-Komplex stimuliert durch
factor 1) oder Mik1 (mitotic inhibitor kinase 1) phosphorylieren Phosphorylierung die Ubiquitinligase SCF und leitet damit die
Cdk1 an Threonin 14 und Tyrosin 15 2 . Die Phosphorylierung Proteolyse von Cyclin B ein.
an beiden Aminosäuren führt zur Inaktivierung von Cdk1, da
diese Aminosäuren im aktiven Zentrum liegen. Die weitere
Phosphorylierung des Threoninrestes 160 von Cdk1 durch eine
43.3 · Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen
539 43

. Abb. 43.5 Regulation von Cdk1/Cyclin B durch Phosphorylierung, Dephosphorylierung und proteasomalen Abbau (Einzelheiten s.Text). Der SCF-
Ubiquitinligase-Komplex besteht aus den Untereinheiten Skp1 (S-phase kinase associated protein 1), Cullin und F-Box-Protein (F-Box beschreibt ein Amino-
säuremotiv, das an Protein-Protein-Interaktionen beteiligt ist). Ubi: Ubiquitin

Cyclinabhängige Kinasen Die Aktivität der cyclinabhängigen Kinasen


werden über Inhibitoren reguliert wird über ihre subzelluläre Lokalisation reguliert
Eine zusätzliche Regulation der cyclinabhängigen Kinasen er- Da Cyclin/Cdk-Komplexe überwiegend im Zellkern aktiv sind,
folgt durch die Interaktion mit Inhibitoren, die als Cdk-Inhibito- kommt ihrer Translokation vom Cytosol in den Zellkern eine be-
ren (CKI) bezeichnet werden. In Metazoen (mehrzelligen Euka- sondere Bedeutung zu. Dies gilt auch für die Cdk1-aktivierende
ryonten) sind zwei CKI-Familien bekannt, die sich hinsichtlich Phosphatase Cdc25c (. Abb. 43.7). Cyclin B trägt sowohl ein Kern-
ihrer Struktur und Spezifität unterscheiden. Zur INK4 (inhibitor Import-Signal (NLS, nuclear localization signal) als auch ein Kern-
of kinase 4)-Familie gehören die Inhibitoren p16INK4A, p15INK4B, Export-Signal (NES, nuclear export signal), d. h. es findet ein kon-
p18INK4C und p19INK4D. INK4-Inhibitoren verhindern durch tinuierliches shuttling des Cyclin B/Cdk1-Komplexes zwischen
Bindung an Cdk4 und Cdk6 deren Interaktion mit Cyclin D, wir- Cytosol und Kern statt. Dabei werden der Import in den Zellkern
ken also spezifisch während der G1-und S-Phase des Zellzyklus durch Importin β und der Export durch Crm-1, ein Importin-β-
(. Abb. 43.6). Die Cip/Kip (cyclin inhibitor protein/kinase inhibi- ähnliches Protein, ermöglicht (7 Kap. 12.2 und 49.2). Allerdings
tor protein)-Familie umfasst die Proteine p21Cip1, p27Kip1 und findet man den Cyclin B/Cdk1-Komplex während der gesamten
p57Kip2. Im Unterschied zu INK4-Inhibitoren binden diese so- Interphase überwiegend im Cytosol vor und erst in der späten Pro-
wohl an Cycline (p21Cip1) als auch an Cdks (p27Kip1 und p57Kip2). phase der Mitose im Zellkern. Dieser zellzyklusabhängigen Loka-
Die Konzentration und Aktivität der CKIs während des Zell- lisation liegt eine komplexe Regulation zugrunde (. Abb. 43.7):
zyklus wird ebenfalls durch Phosphorylierung und Proteolyse 4 Die während der Interphase im Cytosol vorliegenden Cyc-
reguliert. lin B/Cdk1-Komplexe sind durch Phosphorylierung inakti-
Zusätzlich erfolgt eine transkriptionelle Regulation der CKIs viert. Die Inaktivierung erfolgt durch die Kinase Myt1. Die
durch den Transkriptionsfaktor p53 (s. u.). Eine Inaktivierung während der Interphase geringe Menge an kernlokalisierten
der CKI-gesteuerten Zellzykluskontrolle findet man z. B. häufig Cyclin B/Cdk1-Komplexen wird durch die Kinase Wee-1
in Tumorzellen. inaktiviert (. Abb. 43.5).

Wee1 Myt1 Mik1 Cdk1 Cyclin B Cdc25c


540 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung

insbesondere an phosphorylierte Proteine binden. Die


ungewöhnliche Bezeichnung dieser Proteine leitet sich von
dem ursprünglichen Aufreinigungsprotokoll ab: Die Pro-
teine eluierten in der 14. Fraktion einer Säulenchromato-
graphie und wurden in der anschließenden Elektrophorese
an Position 3.3 gefunden.
4 Nach Dephosphorylierung von Serin 216 dissoziiert das
14-3-3 Protein ab und Cdc25c kann in den Zellkern trans-
portiert werden. Dort erfolgt die Aktivierung durch eine
mehrfache Phosphorylierung durch Plk1 7 .
4 Im Zellkern bindet das phosphorylierte Cdc25c dann an
den Cyclin B/Cdk1-Komplex und aktiviert diesen durch
Dephosphorylierung 3 .
4 Um den Übergang von der Mitosephase in die G1-Phase zu
ermöglichen, erfolgt der proteolytische Abbau von Cyclin B
und Cdc25c nach Ubiquitinierung 8 .

Der Zellzyklus wird durch die Transkriptions-


faktoren p53 und E2F reguliert
Neben der Regulation des Zellzyklus durch z. B. Phosphorylie-
rung oder Proteolyse erfolgt eine Regulation auch auf der Tran-
skriptionsebene. Einer der wichtigsten Transkriptionsfaktoren
ist hier p53, ein Protein mit einer molekularen Masse von 53 kDa.
. Abb. 43.6 Assoziation von Cyclin/Cdk-Komplexen während des Das Protein wird häufig auch als »Wächter des Genoms« be-
Zellzyklus und deren Inhibitoren. Einzelne Cycline können mit verschie-
zeichnet, da es bei einer Schädigung der DNA den Zellzyklus
denen Cdks und einzelne Cdks mit verschiedenen Cyclinen interagieren.
Inhibitoren können entweder nur Cdks (INK4-Inhibitorfamilie) oder sowohl arretieren kann und so DNA-Reparatursystemen (7 Kap. 45.2)
Cycline als auch Cdks (Cip/Kip-Inhibitorfamilie) inhibieren. (Einzelheiten die Gelegenheit gibt, diese Schäden zu beheben. Die Bedeutung
s. Text) dieser »Wächterfunktion« wird auch dadurch deutlich, dass bei
etwa 50 % aller Tumorpatienten Mutationen im p53-Gen vorlie-
gen. Keimbahnmutationen im p53-Gen führen zu dem sog. Li-
4 Am Anfang der Prophase der Mitose wird das Kernexport- Fraumeni-Syndrom (7 Kap. 52, 53). Diese Patienten zeigen ein
signal von Cyclin B durch Phosphorylierung maskiert, so- stark erhöhtes Krebsrisiko und entwickeln häufig schon vor Ein-
dass es zur Anreicherung von inaktiven Cyclin B/Cdk1- tritt in die Pubertät maligne Tumore, wie z. B. Brustkrebs, Leuk-
Komplexen im Zellkern kommt. An dieser Phosphorylie- ämie und Hirntumore.
rung ist vermutlich die zellkernlokalisierte Kinase Plk1 4 Wie in . Abb. 43.8 gezeigt, liegt p53 als Tetramer mit der
(polo-like kinase 1) beteiligt 1 . Ubiquitinligase Mdm2 (mouse double minute 2 protein)
4 Um den Cyclin B/Cdk1-Komplex im Kern zu aktivieren, assoziiert vor. Durch Ubiquitinierung 1 und protea-
erfolgt die Phosphorylierung durch die bereits in somalen Abbau 2 wird die zelluläre Konzentration von p53
. Abb. 43.5 erwähnte kernlokalisierte Kinase Cak 2 . unter physiologischen Bedingungen gering gehalten.
4 Eine volle Aktivierung wird allerdings erst nach Entfernung 4 Nach einer DNA-Schädigung, z. B. einem Doppelstrang-
der Phosphatreste an den Positionen 14 und 15 erreicht. bruch 3 , wird dieser durch den Proteinkomplex MRN
Diese Dephosphorylierung wird durch die bereits vorge- erkannt 4 . MRN besteht aus der Exonuclease Mre11, der
stellte Phosphatase Cdc25c bewirkt 3 . ATPase Rad50 und dem Gerüstprotein Nbs1.
43 4 Die Dephosphorylierung von Cdk1 führt zu deren Aktivie-
rung, sodass die Zelle in die Mitose eintreten kann 4 .
4 MRN aktiviert nachfolgend die Serin/Threoninkinasen ATM
und ATR 5 . Die Phosphorylierung von p53 durch ATM
4 Cdc25c trägt wie Cyclin B sowohl ein Kern-Import-Signal oder ATR 6 führt zur Dissoziation der Ubiquitinligase
als auch ein Kern-Export-Signal und ist ebenso wie Cyclin Mdm2. Dadurch unterbleibt die Proteolyse, und es kommt zu
B während der Interphase überwiegend im Cytosol lokali- einer erhöhten p53 Konzentration in der Zelle. Gleichzeitig
siert. Nach Phosphorylierung an Serin 216 durch die Kinase führt diese Phosphorylierung durch ATM oder ATR zu einer
Chk1 (checkpoint-homologue kinase 1) 5 , bindet Cdc25c an erhöhten Aktivität des Transkriptionsfaktors p53.
das Adapterprotein 14-3-3 6 . Diese Phosphorylierung 4 Aktiviertes p53 stimuliert die Transkription des p21Cip-Gens
kann durch die Proteinphosphatase PP2a (protein phospha- (. Abb. 43.6, 7 ), sodass die Konzentration dieses Cyclinin-
tase 2a) 5 rückgängig gemacht werden. Durch die Bindung hibitors ansteigt und der Zellzyklus solange angehalten wer-
des 14-3-3 Proteins wird das Kern-Import-Signal maskiert den kann, bis die DNA-Schäden behoben sind 8 .
und Cdc25c deshalb im Cytosol festgehalten. 4 Bei irreparablen DNA-Schäden führt die dauerhafte Akti-
14-3-3 Proteine gehören zu einer in allen Eukaryonten vor- vierung von ATM und ATR zu extrem hohen p53-Konzent-
kommenden Familie von regulatorischen Proteinen, die rationen, die die Apoptose auslösen.
43.3 · Kontrolle der cyclinabhängigen Kinasen
541 43

. Abb. 43.7 Regulation des Cyclin B/Cdk1-Komplexes und der Proteinphosphatase Cdc25c durch unterschiedliche subzelluläre Lokalisation. Polo-
ähnliche Kinasen (polo-like kinases) sind hochkonservierte Serin/Threoninkinasen, die C-terminal mehrere sog. Polo-Boxen besitzen. Diese aus etwa 70–80
Aminosäuren bestehenden konservierten Bereiche bestimmen die subzelluläre Lokalisation der Kinasen und üben eine autoinhibitorische Wirkung aus.
(Einzelheiten s. Text)

Ein weiteres wichtiges Regulatorprotein des Zellzyklus ist das 4 Die Kinaseaktivtät beider Komplexe führt zur Hyperphos-
Tumorsuppressorprotein pRB (Retinoblastomprotein). pRB ist phorylierung von pRB, das insgesamt 16 potentielle Serin-/
ein Inhibitor des Transkriptionsfaktors E2F-1 (E2F-1 gehört zu Threoninphosphorylierungsstellen besitzt. Diese Phospho-
einer Familie von eukaryontischen Transkriptionsfaktoren), der rylierung bewirkt die Freisetzung des Transkriptionsfaktors
die Transkription von Proteinen steuert, die für den Übergang E2F-1 10 . Die Bezeichnung G1-Kontrollpunkt (. Abb. 43.2)
von der G1-Phase in die S-Phase benötigt werden. Hierzu zählen beschreibt im Wesentlichen diese kontrollierte Freisetzung
z. B. die DNA-Polymerase, die Dihydrofolatreduktase und Cyc- von E2F-1.
lin E. Mutationen im pRB-Gen führen zum Retinoblastom, ei- 4 Freigesetztes E2F-1 stimuliert dann die Transkription ver-
nem Tumor der sich entwickelnden Retina, der bei Neugebore- schiedener Gene, wie z. B. die der DNA-Polymerasen und
nen und Kleinkindern mit einer Häufigkeit von etwa 1:20 000 Cyclin E, und ermöglicht so den Übergang in die S-Phase.
auftritt. Da pRB nicht nur in der Retina, sondern vermutlich Die in der S-Phase gebildeten Cyclin E/Cdk2-Komplexe
in allen Zelltypen exprimiert wird, findet man Mutationen im können pRB ebenfalls phosphorylieren, sodass es zu einem
pRB-Gen auch z. B. bei Bronchial- und Mammakarzinomen Verstärkungseffekt kommt.
(7 Kap. 53). 4 Ist einer der Inhibitoren der cyclinabhängigen Proteinkina-
Der Mechanismus der E2F Inaktivierung ist in . Abb. 43.8 sen wie p21Cip aktiviert, z. B. nach DNA-Schädigung (s. o.),
(rechts unten) schematisch dargestellt: unterbleibt die Phosphorylierung von pRb und damit die
4 E2F-1 ist durch Bindung von pRB inaktiviert, sodass die Freisetzung von E2F-1. Durch die fehlende Transkriptions-
Transkription der E2F-1-kontrollierten Gene unterbleibt 9 . stimulation kommt es zu einem Zellzyklusarrest.
4 Durch Wachstumsfaktoren (s. u.) kommt es zu einem An-
stieg der Cyclin-D-Konzentration (. Abb. 43.3) und zur Bil-
dung der Cyclin D/Cdk4- bzw. Cyclin D/Cdk6-Komplexe.

Cdc25c Cdk1 Cyclin B


542 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung

. Abb. 43.8 Wirkung der Tumorsuppressorproteine p53 und pRb. p53 inhibiert Cyclin/Cdk-Komplexe durch verstärkte Expression des cyclinspezifischen
Inhibitors p21Cip. pRB wird durch Cyclin/Cdk-Komplexe phosphoryliert, wodurch der Transkriptionsfaktor E2F-1 freigesetzt wird. ATM: ataxia teleangiectasia
mutated; und ATR: ataxia teleangiectasia related. Ataxia teleangiectasia ist eine seltene Erkrankung, die durch Wachstumsstörungen und erhöhtes Tumor-
risiko charakterisiert ist (s. 7 Kap. 45, 7 Tab. 45.3). (Einzelheiten s. Text)

Übrigens sin-4, Kinesin-5, Kinesin-10, Kinesin-14 und Dynein


Die Mitose (7 Kap. 13).
Der Begriff Mitose wurde von dem deutschen Anatom 2. Pro-Metaphase Nach der Translokation des Cyclin B1/
Walther Flemming (1843–1905) geprägt, der erstmals das Cdk1-Komplexes (MPF: mitosis-promoting factor) in den Zell-
Verhalten von Chromosomen während der Zellteilung beo- kern (. Abb. 43.7) zerfällt die Kernmembran und die weiter
bachtete. Die gleichmäßige Verteilung der replizierten kondensierten Chromosomen können über die Kinetochore
Chromosomen auf zwei Tochterzellen ist nur aufgrund an die Mikrotubuli binden. Entscheidend für den regulierten
tiefgreifender Veränderungen der Zellmorphologie möglich. Zerfall der Kernmembran ist die Phosphorylierung der Kern-
So muss z. B. in Metazoen (mehrzellige Eukaryonten) die lamina, einem dichten Flechtwerk aus Proteinuntereinheiten
43 Kernmembran aufgelöst und am Ende der Mitose aus Kern-
membranfragmenten und Membrananteilen des Endoplas-
(Laminen), die der inneren Kernmembran aufliegt. Die durch
den Cyclin B1/Cdk1-Komplex katalysierte Phosphorylierung
matischen Retikulums neu gebildet werden. führt zur Depolymerisierung der Lamine und zum Zerfall der
Die Mitose wird in sechs Stadien eingeteilt (. Abb. 43.2, Kernlamina. Der Cyclin B1/Cdk1-Komplex destabilisiert
oberer Teil): durch Phosphorylierung ebenfalls die Kernporenkomplexe
1. Prophase Die replizierten Chromosomen, bestehend aus und scheint auch die Kondensation der Chromosomen
je zwei Tochterchromatiden, kondensieren und werden durch Phosphorylierung der SMC-Proteine und des His-
lichtmikroskopisch sichtbar. Der Spindelapparat bildet sich tons H1 (7 Kap. 10.3) zu steuern. Das Protein Mad2 erkennt
außerhalb des Zellkerns: Ausgehend von einem Protein- Kinetochore, die nicht an Mikrotubuli gebunden sind und
komplex (dem Centrosom) entstehen fächerförmig Mikro- verhindert in diesem Fall den Übergang in die Anaphase.
tubuli. Mindestens fünf verschiedene Motorproteine sind Damit ist Mad2 ein wesentlicher Faktor des Mitosekontroll-
an der Ausbildung des Spindelapparates beteiligt: Kine- punktes (. Abb. 43.2).
6 6

DNA-Schädigung Mdm2 P21_cip__ Cdk4,6 E2F1


43.4 · Wachstumsfaktoren und Zellzyklus
543 43

3. Metaphase Die Metaphase ist die längste Phase Chromosomen interagieren und durch Fusion miteinander
(ca. 20 min) der Mitose. Die Centrosomen wandern zu den eine neue Kernmembran bilden. Diese Fusion und die As-
gegenüberliegenden Polen der Zelle und die Chromosomen semblierung von Kernporenkomplexen werden durch
orientieren sich zwischen den Centrosomen in der Äquato- Ran-GTP (7 Kap. 12.1.2) stimuliert.
rialebene. Es kommt zu einer Phosphorylierung der Motor- 6. Cytokinese Während der Cytokinese wird das Cytoplasma
proteine und von MAPs (microtubule-associated proteins). durch einen kontraktilen Ring, bestehend aus Actin- und My-
Diese Cdk-abhängige Phosphorylierung führt zu einer er- osinfilamenten, geteilt und es entstehen zwei Tochterzellen.
höhten Mikrotubulidynamik, d. h. einem verstärkten Auf-
und Abbau. Die korrekte Trennung der beiden Tochterchro-
matiden setzt voraus, dass sie von gegenüberliegenden Mik-
rotubulifasern gebunden werden. An der Kontrolle der kor- 43.4 Wachstumsfaktoren und Zellzyklus
rekten Anheftung ist die Proteinkinase Aurora B beteiligt.
4. Anaphase Die Anaphase setzt ein, wenn die Kohäsine, Im Zellzyklus spielen eine ganze Reihe von Wachstumsfaktoren
die die Tochterchromatiden zusammenhalten, proteolytisch eine wichtige Rolle. So können Säugetierzellen in Zellkultur nur
gespalten werden. Die verantwortliche Protease wird als dann proliferieren, wenn dem Kulturmedium Serum zugesetzt
Separase bezeichnet und ist vor Beginn der Anaphase durch wird. Das Serum enthält Faktoren, die das Wachstum einer Zelle,
die regulatorische Untereinheit Securin inaktiviert. Während eines Organs oder eines Organismus fördern (. Tab. 43.2).
der Anaphase wird Securin durch die Ubiquitinligase APC/C Wachstumsfaktoren können:
(anaphase promoting complex) ubiquitiniert und durch das 4 mitogen, also mitosestimulierend,
Proteasom abgebaut. APC/C ubiquitiniert ebenfalls den Cyc- 4 proapoptotisch, d. h. den programmierten Zelltod
lin B1/Cdk1-Komplex sowie B-Typ-Cycline und leitet damit (7 Kap. 51) stimulierend oder
deren Proteolyse ein. APC/C wird während der Interphase 4 antiapoptotisch wirken.
durch Cyclin/Cdk-Komplexe inaktiviert und durch die Cdc14-
Phosphatase in der Anaphase aktiviert. Die Trennung der Wachstumsfaktoren stimulieren das Zellwachstum und die Zell-
Tochterchromatiden erfolgt sowohl durch die Verkürzung teilung, indem sie die Synthese von Proteinen und anderen Mo-
der Mikrotubuli als auch durch die Wanderung der Spindel- lekülen, z. B. Nucleotiden, in der Zelle fördern und das Durch-
pole; dabei trennen sich die Tochterchromatiden mit einer laufen des Zellzyklus stimulieren. Die Vielzahl dieser Faktoren
Geschwindigkeit von etwa 1 µm/min. reguliert nicht nur Zellwachstum, sondern auch Zellmigration,
5. Telophase Nach der vollständigen Trennung der Tochter- Differenzierung und Überleben von Zellen, d. h. sie wirken
chromatiden muss die Kernmembran wieder aufgebaut wer- pleiotrop. In Abwesenheit dieser Faktoren treten Zellen in die
den. Hierzu werden zunächst die durch Cyclin B1/Cdk1- G0-Phase des Zellzyklus ein oder sterben durch Apoptose. Zellen
Komplexe katalysierten Phosphorylierungen durch die in der G0-Phase können durch Wachstumsfaktoren wieder zum
Phosphatase Cdc14 rückgängig gemacht. Die Dephosphory- Eintritt in die G1-Phase stimuliert werden.
lierung der Kondensine und des Histons H1 führt zu einer Man unterscheidet verschiedene Familien von Wachstums-
Dekondensation der Chromosomen. Die Dephosphorylie- faktoren, die häufig an membranständige Rezeptor-Tyrosin-
rung der Motorproteine und MAPs (s. o.) führt zu einer kinasen binden, dadurch Signalkaskaden in Gang setzen und zur
Dissoziation der Mikrotubuli. Es wird vermutet, dass Frag- Aktivierung verschiedener Transkriptionsfaktoren führen
mente der Kernmembran nach Dephosphorylierung mit den (7 Kap. 35). Letztere regulieren die Expression von Cyclinen und
6 Cyclininhibitoren.

. Tab. 43.2 Wachstumsfaktoren im Serum (Auswahl)

Faktor Bedeutung u. a. Pathobiochemie Verweis in Kapitel

Plättchen(Thrombozyten)-Wachstumsfak- Embryogenese, Entwicklung von Wichtig bei Wundheilung 34, 35


tor (PDGF, platelet-derived growth factor) Blutgefäßen (Angiogenese)

Fibroblastenwachstumsfaktor Embryogenese, Entwicklung von Wichtig bei Wundheilung 34, 35


(FGF, fibroblast growth factor) Knorpelgewebe, Blutgefäßen In vielen Tumorzellen erhöht

Epidermaler Wachstumsfaktor Zellproliferation und -differenzierung Zusammenhang mit Brustkrebs, 34, 52, 53
(EGF, epidermal growth factor) Darmkrebs

Nervenwachstumsfaktor Differenzierung und Überleben von Wird bei Verletzungen des periphe- 74
(NGF, nerve growth factor) Neuronen ren Nervengewebes freigesetzt

Insulinähnliche Wachstumsfaktoren Stimulierung der Zellproliferation 34


(IGF-1 und IGF-2, insulin- like growth factor) Hemmung der Apoptose
544 Kapitel 43 · Zellzyklus – Koordination der Zellteilung

Übrigens Zusammenfassung
Neuartige Wirkstoffe in der Krebstherapie: Bei mehrzelligen Organismen wie dem Menschen finden
Tyrosinkinase-Inhibitoren während des ganzen Lebens Zellteilungen statt. Dabei
Gene, deren Produkte durch Mutation den Zellzyklus dauer- verdoppelt die Zelle ihren Inhalt, bevor sie sich in zwei iden-
haft und damit unkontrolliert stimulieren können, werden tische Tochterzellen teilt. Zellteilungen werden in den streng
als Onkogene bezeichnet. Im Gegensatz hierzu werden regulierten Phasen des Zellzyklus vorbereitet.
Gene, deren Produkte normalerweise die Zellteilung hem- Zur Regulation der einzelnen Phasen existiert ein endo-
men, diese Fähigkeit aber durch Mutation verloren haben, genes Kontrollsystem. Diese »innere Uhr« wird durch
als Tumorsuppressorgene bezeichnet (7 Kap. 52 und 53). cyclinabhängige Kinasen repräsentiert.
Onkogene oder Tumorsuppressorgene codieren häufig für Cyclinabhängige Kinasen werden reguliert über:
Tyrosinkinasen, die entscheidend an der Regulation und 4 Synthese und Abbau von Cyclinen
Kontrolle des Zellzyklus beteiligt sind. Viele unkontrolliert 4 Aktivierung der katalytischen Cdk-Untereinheiten durch
wachsende Tumorzellen tragen Mutationen in Tyrosinkina- Anlagerung der Cycline
se-codierenden Genen. So findet man z. B. bei Mammakarzi- 4 Phosphorylierung und Dephosphorylierung
nomen häufig eine Mutation im EGF-Rezeptor (. Tab. 43.2), 4 Transkriptionsfaktoren (p53 und E2F)
die zu einer EGF-unabhängigen, permanenten Aktivierung 4 Inhibitormoleküle (CKIs) und
führt. 4 subzelluläre Lokalisation
In den vergangenen Jahren sind Medikamente entwickelt
worden, die zu einer spezifischen Hemmung der Tyrosin- Substrate der cyclinabhängigen Kinasen sind Strukturpro-
kinasen führen und eine neue Generation von Wirkstoffen in teine der Zelle, Proteine, die mit Transkriptionsfaktoren
der Tumorbehandlung repräsentieren: wechselwirken oder Transkriptionsfaktoren selbst. Zellproli-
4 ATP-Analoga können Tyrosinkinasen hemmen; allerdings feration wird exogen über Wachstumsfaktoren reguliert, die
wirken sie relativ unspezifisch. Sie zeigen häufig starke ihre Information über eine Signaltransduktionskaskade ins
Nebenwirkungen, da sie alle ATP-bindenden Proteine Zellinnere bis in den Zellkern weitergeben.
inhibieren können.
4 Substanzen, die neben der ATP-Bindungsstelle auch
Teile der Tyrosinkinasedomäne zur Bindung benötigen 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
und deshalb spezifischer als ATP-Analoga wirken.
4 Monoklonale Antikörper (7 Kap. 70), die z. B. nach
Bindung eine Dimerisierung und damit Aktivierung der
Rezeptor-Tyrosinkinase verhindern (7 Kap. 35 und 52).

Das prominenteste Beispiel für einen Inhibitor, der sowohl


an die ATP-Bindestelle als auch an die Kinasedomäne bindet,
ist Imatinib (Glivec), das seit 2001 erfolgreich in der Behand-
lung chronisch myeloischer Leukämie (CML) eingesetzt wird.
Der synthetische, polyaromatische Wirkstoff Imatinib hemmt
die durch Mutation permanent aktive Tyrosinkinase Bcr-Abl1
(breakpoint cluster region-Abelson-murine leukemia homo-
logue). Ursache der permanenten Aktivierung ist eine Chro-
mosomentranslokation, bei der es zum DNA-Austausch zwi-
schen den Chromosomen 9 und 22 kommt. Am Beispiel des
43 dadurch entstandenen sog. Philadelphia-Chromosoms
konnte erstmalig der Zusammenhang zwischen Chromo-
somenmutationen und Tumorentstehung nachgewiesen
werden.
Wegen seiner geringen Nebenwirkungen wurde Imatinib
nach seiner Einführung als Wunderwaffe gegen Krebs hoch-
gelobt.
Trastuzumab (Herceptin), Cetuximab (Erbitux) und Bevaci-
zumab (Avastin) sind monoklonale Antikörper, die gegen
Tyrosinkinasen gerichtet sind und z. B. zur Behandlung von
Mamma- und Bronchialkarzinomen eingesetzt werden
(7 Kap. 54.5).
545 44

44 Replikation – Die Verdopplung der DNA


Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich

Einleitung der beiden Einzelstränge ist die gesamte genetische Information


für einen Organismus enthalten.
Die Informationen über den Aufbau eines Organismus, seiner Gewebe Matthew Meselson und Franklin Stahl zeigten schon 1958 in
und Organe sind im Genom jeder Zelle niedergelegt und dienen der einem originellen Experiment, dass die DNA-Replikation semi-
Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Vorgänge. Damit diese Informa- konservativ erfolgt (. Abb. 44.1). Sie verwendeten hierzu das
tion an Tochterzellen weitergegeben werden kann, wird das gesamte Bakterium E. coli, das sie über viele Generationen in einem Me-
Genom in einem als Replikation bezeichneten Prozess kopiert. Die dium gezüchtet hatten, welches das schwere Stickstoffisotop 15N
Replikation des humanen Genoms beginnt an etwa 30.000 Stellen anstelle des normalen Isotops 14N enthielt. Danach stellten sie
gleichzeitig und wird durch einen Multienzymkomplex, das Replisom, das Medium auf das normale Isotop 14N um. Die Ausgangs-DNA
katalysiert. Entsprechende Kontrollmechanismen sorgen dafür, dass die und die DNA der ersten und zweiten Generation wurden in ei-
Fehlerrate bei der DNA-Replikation niedrig gehalten wird. nem Dichtegradienten zentrifugiert. Während sie zu Beginn des
Experiments nur eine DNA-Bande mit der dem Stickstoffiso-
Schwerpunkte top 15N entsprechenden Dichte nachweisen konnten, fand sich
nach einer Generation in der isolierten DNA eine Dichte, die
4 Die Mechanismen der semikonservativen Replikation in Pro-
genau zwischen der 15N- und 14N-markierten DNA lag. Nach
und Eukaryonten mit Initiation, Elongation und Termination
zwei Generationen wurden zwei DNA-Spezies nachgewiesen,
4 Der Mechanismus der DNA-Polymerasen und ihre Korrektur-
von denen die eine die Dichte der normalen 14N-markierten
aktivität
DNA aufwies, die zweite die intermediäre Dichte. Dieses Ergeb-
4 Das Posaunenmodell der bidirektionalen DNA-Synthese
nis konnte nur durch die Annahme erklärt werden, dass es bei
4 Die Rolle von Topoisomerasen und Telomerase bei der Repli-
der DNA-Replikation zu einer Aufspaltung der beiden Doppel-
kation
stränge kommt, von denen dann jeder als Matrize für die Synthe-
se eines neuen Strangs dient. Damit besteht jeder aus einer
Replikation hervorgegangene DNA-Doppelstrang aus einem
Der gesamte Bauplan eines Lebewesens ist in seiner DNA-Sequenz parentalen und einem neu synthetisierten Einzelstrang. Spätere
festgelegt und steht prinzipiell in jeder Körperzelle zur Verfügung. Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Mechanismus der
Die DNA-Sequenzen enthalten die Informationen für ihre eigene
Synthese und für die Synthese aller RNAs und Proteine. Vor jeder
Zellteilung muss die Zelle ihre DNA exakt replizieren und dann
einen eigenen vollständigen DNA-Satz an ihre Tochterzellen wei-
tergeben. Dieser Vorgang erfordert eine komplexe Maschinerie aus
Nucleotiden, Enzymen, Regulator- und Helferproteinen, die unter
Energieverbrauch die DNA-Stränge mit hoher Geschwindigkeit
und Genauigkeit kopiert. Die korrekte Replikation der DNA ist das
zentrale Ereignis im Zellzyklus (7 Kap. 43). Die mit der DNA-
Replikation verknüpften Vorgänge wurden ursprünglich in Bakte-
rienzellen wie E. coli untersucht. Viele der dabei gewonnenen Er-
kenntnisse können auf eukaryontische Organismen und damit auf
Säugetiere einschließlich des Menschen übertragen werden. Ob-
wohl die Grundprinzipien der DNA-Replikation bei pro- und eu-
karyontischen Organismen identisch sind, unterliegt die Replika-
tion bei Eukaryonten infolge der größeren Komplexizität ihres
Genoms einer komplizierteren Regulation.

44.1 Die DNA-Replikation ist semikonservativ

Die DNA liegt in allen Organismen in Form eines Doppelstrangs . Abb. 44.1 Nachweis des semikonservativen Mechanismus der DNA-
mit zwei antiparallel verlaufenden Einzelsträngen vor. In jedem Replikation. (Einzelheiten s. Text)

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_44, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
546 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

Replikationsursprung (ori)
semikonservativen Replikation nicht auf Bakterienzellen be-
schränkt ist, sondern universell für alle Organismen gilt, deren
Genom aus doppelsträngiger DNA besteht.

44.2 Das Replikonmodell

In Anbetracht der Komplexität der Chromatinstruktur


(7 Kap. 10) ist es einleuchtend, dass Zellen einen außerordentlich
Ende komplizierten Apparat zur Replikation ihrer DNA benötigen.
Diesen Vorgang unterteilt man in drei Stadien:
4 Initiation
4 Elongation
ori 4 Termination

Die gleiche Unterteilung wird auch für Transkription und


Translation (7 Kap. 46 und 48) verwendet. In dem bereits 1963
Replikationsgabeln aufgestellten Replikonmodell postulierten Francois Jacob, Sid-
ney Brenner und Jacquis Cruzin, dass die Initiation der Replika-
tion an definierten Stellen des DNA-Doppelstranges, den sog.
origins of replication (ori; Replikationsursprünge) (. Abb. 44.2)
Ende beginnt. Durch die an dieser Stelle einsetzende Neusynthese der
DNA bildet sich eine Replikationsgabel, die elektronenmikro-
skopisch sichtbar ist. Der ausgehend von einem origin of repli-
cation neu synthetisierte DNA-Abschnitt wird dabei als Repli-
ori kon bezeichnet. Eine wichtige Frage für die DNA-Replikation
war diejenige nach der Richtung, in der sich die am Replika-
tionsursprung entstehende Replikationsgabel bewegt. Prinzi-
piell ist hier eine unidirektionale oder eine bidirektionale Repli-
kation möglich, dementsprechend müssen jeweils eine bzw.
zwei funktionelle Replikationsgabeln entstehen. Durch elektro-
nenmikroskopische Aufnahmen von replizierender DNA ist
diese Frage nicht zu entscheiden. Gibt man jedoch während der
DNA-Replikation radioaktive Desoxyribonucleotide zu, werden
Ende
die aktiven Replikationsgabeln markiert: Im Falle der unidirek-
tionalen Replikation nur eine, bei bidirektionaler Replikation
jedoch beide. Dabei hat sich gezeigt, dass pro- und eukaryonti-
sche Chromosomen durch bidirektionale Replikation verdop-
pelt werden (. Abb. 44.2).
ori ori
Die Replikation der eukaryontischen Chromosomen
beginnt an mehreren Stellen gleichzeitig
Die ringförmigen Chromosomen der Bakterien besitzen nur
einen Replikationsursprung. Das Chromosom von E. coli besteht
aus etwa 4,6 ∙ 106 Basenpaaren, deren vollständige bidirektionale
Replikation etwa 50 min benötigt (bei einer Replikationsge-
44 schwindigkeit von etwa 5 ∙ 104 Basenpaaren/min). Allerdings
. Abb. 44.2 Replikation des aus einem Replikon bestehenden ring-
kann es bei schnell wachsenden Zellen bereits vor Abschluss der
förmigen bakteriellen Chromosoms. (Einzelheiten s. Text) Replikation und Zellteilung zu einer erneuten Re-Initiation der
Replikation kommen, sodass in Bakterien eine kontinuierliche
DNA-Replikation stattfinden kann. Dies ermöglicht schnell
wachsenden E. coli-Zellen, sich etwa alle 30 min zu teilen.
Im Unterschied zu Bakterien ist die Replikation in Eukary-
onten nicht kontinuierlich, sondern auf die etwa 6–12 h dauern-
de Synthesephase (S-Phase) des Zellzyklus (7 Kap. 43) be-
schränkt. Darüber hinaus wird die Replikation in Eukaryonten
während des gesamten Zellzyklus nur exakt einmal initiiert. Die
44.3 · Initiation – Start der Replikation
547 44
44.3 Initiation – Start der Replikation

Die Initiation der Replikation in Pro- und


Eukaryonten folgt den gleichen Prinzipien
Der Befund, dass die DNA-Replikation semikonservativ erfolgt,
weist schon auf eine wesentliche Voraussetzung für den Replika-
tionsvorgang hin: die DNA-Doppelstränge müssen zunächst an
den Replikationsursprüngen in Einzelstränge getrennt werden,
damit die Replikation beginnen kann. Da A–T-Basenpaare ledig-
lich durch zwei Wasserstoffbrücken zusammengehalten werden
und damit leichter voneinander zu trennen sind als G-C Basen-
paare, findet man bei bakteriellen Replikationsursprüngen repe-
titive A–T-reiche Sequenzen. Über die Sequenzeigenschaften
eukaryontischer Replikationsursprünge ist bislang nur wenig
. Abb. 44.3 Replikation eukaryontischer DNA mit Hilfe multipler bekannt. In Hefe werden sie auch als ARS (autonomously replica-
Replikationsblasen. (Einzelheiten s. Text)
ting sequence) bezeichnet.
In E. coli wird der Replikationsursprung zunächst durch das
DNA-Doppelstrang-bindende Protein DnaA erkannt, das die
menschliche DNA-Polymerase (Replikationsgeschwindigkeit beiden DNA-Stränge in einer ATP-abhängigen Reaktion lokal
etwa 3 ∙ 103 Basenpaare/min) würde aber bei nur einem Replika- entwindet (. Abb. 44.4). DnaA gehört zur Familie der AAA+-
tionsursprung allein für das humane Chromosom 1 (2,5 ∙ 108 Ba- ATPasen (ATPases associated with various cellular activities), ei-
senpaare) etwa 29 Tage für dessen vollständige Replikation be- ner sehr heterogenen Proteinfamilie, die als Oligomere an einer
nötigen. Es ist daher von vornherein ausgeschlossen, dass jedes Vielzahl biologischer Prozesse beteiligt sind. Im nächsten Schritt
menschliche Chromosom nur ein Replikon darstellt; stattdessen bildet die Helicase DnaB mit Hilfe des DnaC Proteins einen he-
beginnt die Replikation eukaryontischer Chromosomen an xameren Ring um die entstandene Einzelstrang-DNA und ent-
vielen Replikationsursprüngen gleichzeitig (. Tab. 44.1). Man spiralisiert die DNA in einem ATP-abhängigen Prozess weiter.
schätzt, dass im menschlichen Genom etwa 30.000 Replikations- Damit sich die getrennten DNA-Stränge hinter der vorrücken-
ursprünge vorhanden sind. Der Ablauf der DNA-Replikation in den Helicase nicht wieder paaren, stabilisiert das einzelstrang-
Anwesenheit zweier Replikationsblasen ist schematisch in bindende Protein SSB (single strand binding protein) den DNA-
. Abb. 44.3 dargestellt. Die Replikation erfolgt in den Replika- Einzelstrang. SSBs bilden Tetramere, um die sich der DNA-Ein-
tionsblasen bidirektional und wird dadurch beendet, dass zwei zelstrang herumwindet. Elektronenmikroskopisch ähneln diese
aufeinander zulaufende Replikationsblasen miteinander ver- Strukturen den aus Histonen und Doppelstrang-DNA aufgebau-
schmelzen. Die im Vergleich zu Bakterien deutlich geringere ten Nucleosomen (7 Kap. 10).
Replikationsgeschwindigkeit bei Eukaryonten hat ihre Ursache Die lokale Entwindung des ringförmigen DNA-Doppelstran-
vermutlich in dem wesentlich komplexeren Aufbau der Chro- ges durch die Helicase erhöht zwangsläufig die Torsionsspan-
mosomen. Experimente mit radioaktiv-markierten Histonen nung im verbleibenden Teil der Helix. Durch die Bildung sog.
deuten darauf hin, dass die Nucleosomen (7 Kap. 10) direkt vor Superhelices kann dies zwar z. T. kompensiert werden, aller-
der Replikationsgabel aufgelöst werden und die freigesetzten dings dürfen sich auch die Superhelices nicht unbegrenzt ausbil-
Histone unmittelbar an die neusynthetisierten DNA-Stränge den, da ansonsten die Gefahr von Strangbrüchen besteht. Die
binden. Dieses Histon-remodeling ist vermutlich für die gerin- Zelle muss daher über die Möglichkeit verfügen, die Superspira-
gere Replikationsgeschwindingkeit bei Eukaryonten verant- lisierungen aufzulösen. Die hierfür verantwortlichen Enzyme
wortlich. werden Topoisomerasen genannt, von denen es zwei unter-
schiedliche Formen gibt (. Abb. 44.5):
4 Topoisomerase I: Diese Enzyme spalten einen DNA-Einzel-
strang, indem die OH-Gruppe eines Tyrosylrests des Enzyms

. Tab. 44.1 Pro- und eukaryontische Replikons (bp: Basenpaare)

Organismus Replikons Durchschnittliche Länge (Mbp) Replikationsgeschwindigkeit (bp/min) Beispiel

Bakterium 1 4,6 50.000 E. coli

Hefe 500 25 3.600 S. cerevisiae

Fruchtfliege 3.500 50 2.600 D. melanogaster

Säugetier 30.000 120 3.000 H. sapiens

Pflanze 35.000 3.400 Unbekannt F. assyriaca


548 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

. Abb. 44.4 Die Initiation der Replikation in Bakterien. Rot-markierte Bereiche des DNA-Doppelstranges, DNA-unwinding element (DUE); SSB: single-
stranded binding protein (Einzelstrangbindungsprotein). (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Mott u. Berger 2007, mit freundlicher Genehmigung von
Macmillan Publishers Ltd)

die Phosphodiesterbindung nucleophil angreift und damit Ein gewisser Grad an Superspiralisierung ist bei Prokaryon-
einen Einzelstrangbruch erzeugt. Die benachbarten Enden ten eine Voraussetzung dafür, dass Replikation und Tran-
der Doppelhelix können sich nun bis zur Entspannung ge- skription korrekt ablaufen können. Der Grund hierfür ist
geneinander drehen, anschließend werden die Strangenden möglicherweise, dass die Superspiralisierung die notwen-
wieder miteinander verknüpft (. Abb. 44.5). Nach dieser dige Strangtrennung erleichtert. Hemmstoffe der Gyrase
Entspiralisierung kreuzen sich die beiden DNA-Stränge werden als Antibiotika verwendet (s. u.).
weniger als zuvor. Die Reaktion der Topoisomerase I erfolgt
ATP-unabhängig. Die Initiation der Replikation bei Eukaryonten wird
4 Topoisomerase II: Topoisomerasen des Typs II können Su- durch cyclinabhängige Kinasen reguliert
perspiralisierungen dadurch beheben, dass sie in einer Die grundlegenden Mechanismen der Initiation der Replikation
ATP-abhängigen Reaktion beide Stränge durchtrennen, die unterscheiden sich nicht bei Pro- und Eukaryonten (. Tab. 44.2),
DNA entspannen und anschließend wieder miteinander allerdings muss in Eukaryonten sichergestellt werden, dass die Re-
verknüpfen. Ein Sonderfall sind die bakteriellen Topoiso- plikation erst während der S-Phase des Zellzyklus beginnt und die
merasen II, die auch als Gyrasen bezeichnet werden. Diese Initiation an jedem der etwa 30.000 Replikationsursprünge nur
Klasse von Enzymen ist imstande, unter ATP-Verbrauch genau einmal erfolgt (. Tab. 44.2). Dies wird dadurch erreicht, dass
Superhelices in ringförmige DNA-Moleküle einzuführen. sich bereits während der G1-Phase des Zellzyklus ein zunächst

44

. Abb. 44.5 Reaktionsmechanismus der Topoisomerase I. Zur Vereinfachung ist der DNA-Doppelstrang nicht in superspiralisierter Form dargestellt.
(Einzelheiten s. Text)

Helicasen DNA-Replikation
44.4 · Elongation – Neusynthese der DNA
549 44
inaktiver Prä-Initiationskomplex bildet. Für die Bildung dieses
Prä-Initiationskomplexes erkennt der hexamere ORC-Komplex
(origin recognition complex) zunächst den Replikationsursprung
und rekrutiert die Proteine Cdc6 und Cdt1 (. Abb. 44.6). Beide
Proteine sind notwendig, um den Helicasekomplex Mcm auf der
DNA zu verankern; sie inhibieren aber gleichzeitig die Helicaseak-
tivität von Mcm und verhindern so die Entspiralisierung der DNA
während der G1-Phase. Nach Eintritt der Zelle in die S-Phase
kommt es zur Aktivierung cyclinabhängiger Kinasen (Cdks,
7 Kap. 43), die Cdc6 phosphorylieren und damit die Dissoziation
von dem Mcm-Komplex bewirken. Der Mcm-Komplex beginnt
dann die ATP-abhängige Entspiralisierung der DNA. Gleichzeitig
verhindern die cyclinabhängigen Kinasen durch Phosphorylie-
rung des ORC-Komplexes die Bildung neuer Initiationskomplexe
während der S-Phase. Da die Bildung des Initiationskomplexes
nur während der G1-Phase, seine Aktivierung aber nur während
der S-Phase erfolgen kann, wird sichergestellt, dass die Replikation
erst während der S-Phase beginnt und die Initiation jedes Replika-
tionsursprungs nur genau einmal erfolgt. Es werden vermutlich
nicht alle Replikationsursprünge in Eukaryonten gleichzeitig er-
kannt, allerdings stellt deren große Zahl sicher, dass das gesamte
Genom innerhalb der S-Phase repliziert werden kann.

44.4 Elongation – Neusynthese der DNA

Für die Elongation während der Replikation


sind DNA-Polymerasen verantwortlich
Nach Trennung des DNA-Doppelstranges in die beiden Einzel-
stränge und deren Stabilisierung durch SSBs (single strand binding
proteins) erfolgt die Neusynthese der DNA. Diese auch als Elonga-
tion bezeichnete Reaktion wird durch DNA-Polymerasen kataly-
siert. Sowohl Pro- als auch Eukaryonten enthalten mehrere DNA-
Polymerasen (. Tab. 44.3). In E. coli sind fünf verschiedene En-
zyme identifiziert worden, eine eukaryontische Zelle kann dagegen
mehr als 15 verschiedene Polymerasen enthalten, von denen
viele spezifisch an DNA-Reparaturmechanismen beteiligt sind
(7 Kap. 45.2). Während der Replikation bilden die DNA-Poly-
merasen zusammen mit anderen Proteinen am Replikations-
ursprung einen Proteinkomplex, der auch als Replisom bezeichnet
wird und der an der Replikationsgabel entlang wandert.
Das Replisom enthält in E. coli u. a. die Helicase DnaB, die
Primase DnaG und die DNA-Polymerase III (. Tab. 44.2). Die . Abb. 44.6 Mechanismus der Initiation der DNA-Replikation bei Euka-
Interaktionen der verschiedenen Proteine in dem Replisomkom- ryonten. Der Replikationsursprung wird durch den ORC-Komplex (origin
recognition complex) erkannt. Anschließend binden Cdc6 (cell division cycle
plex sind entscheidend für die Geschwindigkeit der DNA-Neu-
6), Cdt1 (cdc10-dependent transcript 1) und die Helicase Mcm (mini chromo-
synthese. Durch den Kontakt mit der DNA-Polymerase III wird some maintenance protein) und bilden einen inaktiven Prä-Initiationskom-
die Geschwindigkeit der Helicase etwa 10fach erhöht, d. h. falls plex, der erst während der Synthesephase durch cyclinabhängige Kinasen
der Kontakt mit der Polymerase verlorengeht, reduziert sich (Cdks) durch Phosphorylierung aktiviert werden kann. (Einzelheiten s. Text).
gleichzeitig die Geschwindigkeit der DNA-Entspiralisierung. (Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung von Taylor u.
Francis)
Damit wird verhindert, dass die Helicase der DNA-Polymerase
davonläuft. Der Kontakt zur Helicase stimuliert auch die Prima-
se, eine spezialisierte RNA-Polymerase, die kurze RNA-Stücke
(5–10 Nucleotide) als Startermoleküle (primer) synthetisiert. Die Hydrolyse von Pyrophosphat liefert die Energie
Diese primer sind notwendig, da die DNA-Polymerasen keine für die DNA-Synthese
de-novo-Synthese durchführen können, sondern lediglich ausge- Allen DNA-Polymerasen ist eine Reihe von Eigenschaften gemein-
hend von einer freien 3 -OH-Gruppe eine DNA-Strangverlänge- sam. DNA-Polymerasen benötigen einen als Matrize bezeichneten
rung katalysieren können (s. u.). Einzelstrang, dessen Basensequenz die Reihenfolge der für die
550 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

. Tab. 44.2 An der DNA-Replikation in Pro- und Eukaryonten beteiligte Proteine

Phase Prokaryonten Eukaryonten Funktion

Initiation DnaA ORC (origin recognition Erkennen des Replikationsursprungs und ATP-abhängige lokale
complex) Entspiralisierung

DnaB Mcm-Komplex (mini chromo- DNA-Helicase zur ATP-abhängigen Entspiralisierung der DNA
some maintenance proteins)

DnaC Cdc6 und Cdt1 Verankerung von DnaB bzw. Mcm-Komplex an der DNA

Topoisomerasen I und II Topoisomerasen I und II Verhinderung von Strangbrüchen durch Auflösung von Superspirali-
(Gyrasen) sierung

SSBs (single strand binding RPA (replication protein A) Einzelstrang-bindende Proteine zur Verhinderung der Reassoziation
proteins) getrennter Doppelstränge

Elongation Primase (DnaG) Primase Synthese der RNA-primer; in Eukaryonten Bestandteil der DNA-
Polymerase α

Polymerase α Verlängert den RNA-primer um einige Desoxyribonucleotide, bevor


die Polymerasen δ/ε die weitere Verlängerung übernehmen

γ-Komplex RFC (replication factor C) Clamp loader; verantwortlich für die ATP-abhängige Verankerung der
β- bzw. PCNA-Untereinheit der DNA-Polymerase

β-Untereinheit PCNA (proliferating cell Ringförmige Untereinheit der DNA Polymerase, die das Enzym auf
nuclear antigen) der DNA verankert; auch sliding clamp (Gleitring) genannt; entschei-
dend für die Prozessivität der DNA-Polymerasen

Polymerase III Synthese des Führungsstranges und des Verzögerungsstranges

Polymerase δ Synthese des Verzögerungsstranges zusammen mit Polymerase α

Polymerase ε Vermutlich Synthese des Führungsstrangs

Polymerase I FEN-1 (flap endonuclease 1) Entfernen der RNA-primer


(Exonucleaseaktivität) RNase H
RNase H

Polymerase I (Polyme- Polymerase δ Auffüllen der Lücke, die durch Entfernung der RNA-primer entstan-
raseaktivität) den ist

DNA-Ligase DNA-Ligase ATP- oder NAD+-abhängige Bildung der Phosphodiesterbindung

Termination Tus (terminator utiliziation Rtf1 (replication termination Die Replikation stoppt beim Zusammentreffen zweier Replikations-
substance) factor 1) gabeln; zusätzlich existieren spezielle Terminationssequenzen, die
durch Terminationsproteine erkannt werden

Topoisomerase II (Gyrase) Trennung der beiden ringförmigen Tochterchromosomen

Telomerase Ermöglicht die vollständige Replikation von Chromosomenenden


bei linearen Chromosomen

. Tab. 44.3 Die wichtigsten DNA-Polymerasen in menschlichen Zellen (human protein reference database)

DNA-Polymerase α δ ε β γ

44 Lokalisation Zellkern Zellkern Zellkern Zellkern Mitochondrien

Funktion Synthese des RNA-primers Synthese des Verzö- Vermutlich Synthese Reparatur Replikation der mito-
und dessen Verlängerung gerungsstrangs des Führungsstrangs chondrialen DNA
um etwa 50–100 Nucleotide

Primaseaktivität Ja Nein Nein Nein Nein

3’,5’-Exonuclease- Nein Ja Ja Nein Ja


(proofreading) Aktivität

Essenziell für die Repli- Ja Ja Ja Nein Nein


kation im Zellkern

Molekülmasse (Da) 165.870 123.642 364.860 38.180 139.570


44.4 · Elongation – Neusynthese der DNA
551 44
Neusynthese gewählten Desoxyribonucleosidtriphosphate be-
stimmt. Hierdurch wird gewährleistet, dass der neue DNA-Strang
tatsächlich komplementär zum parentalen Strang ist.
DNA-Polymerasen katalysieren eine Polymerisationsreak-
tion nach folgendem Schema:

dNTP + (dNMP)n → (dNMP)n+1 + P~P (dNMP)n+1 + 2 Pi

Dabei steht d(desoxy)NTP für dATP, dGTP, dCTP oder dTTP


und (dNMP)n für den zu verlängernden DNA-Strang aus
n Nucleotiden. Da die freie Enthalpie der ersten Teilreaktion mit
–3,5 kcal/mol relativ gering ist, muss die Anhydridbindung im
Pyrophosphat ebenfalls gespalten werden. Durch die dann stark
negative freie Enthalpie der Gesamtreaktion (ΔG= –7 kcal/mol)
ist die DNA-Polymerisation ein praktisch irreversibler Prozess.
Die DNA-Polymerase katalysiert den nucleophilen Angriff der
freien 3’-OH-Gruppe des zu verlängernden DNA-Strangs auf die
Anhydridbindung zwischen dem α- und β-Phosphat des anzu-
knüpfenden Desoxyribonucleotids (. Abb. 44.7). Durch diesen
Reaktionsmechanismus ist die Richtung der Kettenverlängerung
festgelegt: Sie erfolgt immer vom 5’- zum 3’-Ende. Ähnlich wie
bei ATPasen ist Magnesium (Mg2+) ein unentbehrlicher Cofak-
tor für die DNA-Polymerasen. Um die Genauigkeit der DNA-
Synthese sicherzustellen, überprüft die DNA-Polymerase die
Fähigkeit eines neu hinzukommenden Nucleotids, entweder eine
A:T- oder G:C-Basenpaarung auszubilden. Einige, aber nicht alle
DNA-Polymerasen haben die Fähigkeit ein eventuell falsch ein-
gebautes Nucleotid wieder zu entfernen. Diese als Korrektur oder
proofreading bezeichnete Aktivität beruht auf der 3’,5’-Exo-
nucleaseaktivität (. Tab. 44.3) einiger DNA-Polymerasen; diese
Enzyme können also falsch eingebaute Nucleotide am 3’-Ende
eines DNA-Moleküls unmittelbar nach ihrem Einbau wieder ab-
spalten. Bei der DNA-Polymerase III aus E. coli erhöht die Exo-
nucleaseaktivität die Genauigkeit der Replikation etwa um den . Abb. 44.7 Reaktionsmechanismus der DNA-Polymerase. (Einzelheiten
Faktor 1.000, was die biologische Bedeutung dieser Korrekturak- s. Text). (Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung von
Taylor u. Francis)
tivität unterstreicht. Zusätzlich wird sterisch der Zugang von
Ribonucleotiden zum aktiven Zentrum der DNA-Polymerasen
verhindert. Dies ist notwendig, da die zelluläre Konzentration verankert so die DNA-Polymerase auf der DNA. Für die Veran-
von Ribonucleotiden etwa 10fach höher ist als die Konzentration kerung dieser Klammer sind spezielle ATPasen nötig, die auch
von Desoxyribonucleotiden. als clamp loader bezeichnet werden (. Tab. 44.2) und das ringför-
Die verschiedenen DNA-Polymerasen können zwischen 50 mige Gleitring-Dimer aus zwei β-Untereinheiten kurzfristig öff-
und etwa 1.000 Nucleotide pro Sekunde an die wachsende DNA- nen, um das Einfädeln der DNA zu ermöglichen (s. . Abb. 44.8).
Kette anfügen. Diese Angabe der Aktivität allein ist jedoch nicht Nach Ablösen des clamp loaders kann die DNA-Polymerase an
ausreichend zur Charakterisierung von DNA-Polymerasen. Eine die dimere β-Untereinheit binden und die DNA-Polymerisation
ihrer wesentlichen Eigenschaften wird auch als Prozessivität be- beginnen.
zeichnet. Diese wird als die Zahl von Nucleotiden bestimmt, die
im Durchschnitt von einem DNA-Polymerasemolekül an eine Jede DNA-Replikation startet mit der Synthese
wachsende DNA-Kette angefügt wird, bevor das Enzym von sei- eines RNA-primers
nem Substrat, der DNA-Kette, abdissoziiert. Für die verschiede- DNA-Polymerasen können keine de novo-Synthese starten, son-
nen DNA-Polymerasen schwankt der Wert für die Prozessivität dern lediglich ausgehend von einem freien 3’-OH-Ende eine
von weniger als 10 bis mehr als 1.000 Nucleotide. Die hohe Pro- Strangverlängerung katalysieren. Daraus ergeben sich Probleme
zessivität der DNA-Polymerasen hat ihre Ursache in einer beson- für die Replikation der DNA, die auf unterschiedliche Weise ge-
deren Verankerung des Enzyms auf der DNA (. Abb. 44.8). Eine löst worden sind (. Abb. 44.9).
spezielle Untereinheit der DNA-Polymerase, der sog. Gleitring 4 Bei Prokaryonten wird durch eine als Primase bezeichnete
oder auch clamp genannt (β-Untereinheit in Bakterien bzw. RNA-Polymerase ein kurzes RNA-Stück synthetisiert, das
PCNA, proliferating cell nuclear antigen, in Eukaryonten, . Tab. komplementär zur Matrize ist. Die freie 3’-OH-Gruppe die-
44.2) lagert sich klammerartig um den DNA-Doppelstrang und ses primers nutzt die DNA-Polymerase für die Anlagerung
552 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

. Abb. 44.9 Start der DNA-Replikation durch Synthese eines RNA-


primers. (Einzelheiten s. Text)
B

weiterer Nucleotide. RNA-Polymerasen können im Unter-


schied zu DNA-Polymerasen eine de novo Synthese von
Nucleinsäuren katalysieren.
4 Bei Eukaryonten ist die Primase eine Teilaktivität der DNA-
Polymerase
4 Der RNA-primer muss nach erfolgter Verlängerung entfernt
und die entstandenen Lücken aufgefüllt werden.
4 Eine von manchen Viren benutzte Möglichkeit besteht
darin, dass ein nucleotidbindendes Protein an den DNA-
Einzelstrang bindet, sodass die DNA-Polymerasen an die-
sem Nucleotid angreifen und weitere Nucleotide anlagern
können.

Bei der DNA-Synthese wird der Verzögerungsstrang


diskontinuierlich synthetisiert
Ein besonderes Problem für die DNA-Replikation ergibt sich da-
raus, dass DNA-Polymerasen den neuen Strang nur in der
5’,3’-Richtung synthetisieren können, die DNA-Doppelstränge
aller bekannten Organismen jedoch antiparallel verlaufen. In
. Abb. 44.10A sind die Verhältnisse schematisch dargestellt. Die
Richtung der DNA-Polymerisation durch die DNA-Polymerase
entspricht nur an einem der beiden neu synthetisierten Stränge
der Wanderungsrichtung der Replikationsgabel. Dieser Strang
wird, nachdem einmal ein RNA-primer-Molekül synthetisiert
wurde (. Abb. 44.10A), kontinuierlich in einem Stück syntheti-
siert und als sog. Führungsstrang (Leitstrang, leading strand,
blau) bezeichnet. Beim anderen Strang verläuft die Polymerisa-
tionsrichtung dagegen von der Replikationsgabel weg. Der Japa-
ner Reiji Okazaki fand heraus, dass die DNA-Synthese an diesem
Strang diskontinuierlich in Stücken aus 1.000–2.000 Nucleotiden
erfolgt, sog. Okazaki-Fragmenten. Für ihre Synthese wird jeweils
44 . Abb. 44.8 Die DNA-Polymerase wird über einen Gleitring (clamp) sta- an der Replikationsgabel ein neuer primer synthetisiert und
bil auf dem DNA-Doppelstrang verankert. A Kristallstruktur eines Dimers durch die DNA-Polymerase solange verlängert, bis er an das vor-
der E. coli DNA-Polymerase β-Untereinheit (Abbildung erstellt mit Jmol her synthetisierte Fragment stößt. Der diskontinuierlich synthe-
nach RCSB protein data bank). B Modell zur Verankerung der β-Untereinheit tisierte Strang wird auch als Verzögerungsstrang (Folgestrang,
und DNA-Polymerase auf dem Doppelstrang über den clamp loader. Die
lagging strand, grün) bezeichnet. Die Synthese von Führungs-
DNA-Polymerase beginnt die DNA-Neusynthese erst nach ihrer Anheftung.
(Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Geneh- und Verzögerungsstrang erfolgt gleichzeitig, was den Vorteil hat,
migung von Taylor u. Francis) dass das genetische Material nur kurzzeitig in der deutlich emp-
findlicheren Einzelstrangform existiert.
Die simultane Synthese beider Stränge bedeutet aber auch,
dass in dem Replisom mehr als eine DNA-Polymerase enthalten
sein muss. In Bakterien werden sowohl der Führungs- als auch
44.4 · Elongation – Neusynthese der DNA
553 44
A

. Abb. 44.10 Die Replikation der DNA-Doppel-


helix. A Da die Strangverlängerung in 5’,3’-Rich-
tung erfolgen muss, kann die Replikation nur
von einem der beiden Einzelstränge, dem sog.
Führungsstrang (blau) kontinuierlich ablaufen.
Im antiparallelen sog. Verzögerungsstrang (grün)
erfolgt die Replikation wegen der Synthese-
richtung der DNA-Polymerase diskontinuierlich;
rot = primer. B Modell zur simultanen Synthese
beider Stränge durch ein Replisom (Posaunen-/
trombone-Modell)

Replikationsgabel DNA-Synthese Okazaki-Fragmente Verzögerungsstrang (Folgestrang, lagging strand<kk>) Führungsstrang (Leitstrang,


leading strand<kk>) Gleitring/<k>clamp<kk>
554 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

. Abb. 44.11 Prozessierung der neusynthetisierten DNA-Stränge in Pro-


karyonten. (Einzelheiten s. Text)

der Verzögerungsstrang durch DNA-Polymerase III syntheti-


siert, weshalb das bakterielle Replisom zwei Kopien dieser DNA-
Polymerase enthält (. Abb. 44.10B). Die Verbindung zwischen
Führungsstrang- und Verzögerungsstrang-DNA-Polymerase
und der Helicase wird durch das Tau (τ)-Protein gewährleistet.
Da die DNA antiparallel ist, die beiden DNA-Polymerasen wegen
ihrer stabilen Interaktion aber nur gemeinsam der DNA-Helica-
se folgen können, wurde vorgeschlagen, dass der Verzögerungs-
strang eine Schleife bildet, sodass es zur gleichen Syntheserich-
tung beider Stränge kommt. Wegen der wechselnden Größe der
Schleife wurde dieses Modell auch als Posaunenmodell (trom-
bone model) bezeichnet.

RNase H, 5’,3’-Exonuclease und DNA-Ligase werden


für den Abschluss der DNA-Replikation benötigt
Um bei der Replikation zwei funktionell äquivalente DNA-Dop-
pelstränge zu erhalten, müssen sämtliche RNA-primer entfernt
und die entstandenen Lücken durch DNA aufgefüllt und verbun- . Abb. 44.12 Mechanismus der DNA-Ligasen. (Einzelheiten s. Text)
den werden (. Abb. 44.11). Für die Entfernung der RNA-primer
verfügen Prokaryonten über zwei weitere Enzyme, die Ribonu-
clease H (RNase H) und die DNA-Polymerase I. RNase H verdaut wird. Die Spaltung dieser energiereichen Bindung dient dazu,
spezifisch RNA in RNA-DNA-Hybridmolekülen und entfernt den AMP-Rest auf das 5’-Phosphatende der einen DNA-Kette zu
den größten Teil des RNA-primers. RNase H kann allerdings nur übertragen. Dabei entsteht eine Phosphorsäureanhydridbindung
Phosphodiesterbindungen zwischen Ribonucleotiden spalten zwischen AMP und dem 5’-Phosphatende der DNA. Unter Ab-
und deshalb das letzte, unmittelbar an die DNA gebundene Ri- spaltung von AMP kann nun die Verknüpfung zwischen dem
44 bonucleotid nicht entfernen. Hierfür wird die 5’,3’-Exonucle- 5’-Phosphatende des einen DNA- mit dem 3’-OH-Ende des
aseaktivität der DNA-Polymerase I genutzt. Gleichzeitig fügt nächsten DNA-Fragments erfolgen, womit die Verknüpfung be-
diese Polymerase, beginnend mit dem freien 3’-OH-Ende des endet ist.
vorangegangenen DNA-Stücks Nucleotide komplementär zur
Basensequenz des Matrizenstrangs in die entstandene Lücke ein. Das eukaryontische Replisom enthält
Dadurch entstehen aneinander stoßende DNA-Fragmente im unterschiedliche DNA-Polymerasen
neu synthetisierten Strang, die mit Hilfe der DNA-Ligase mitei- In E. coli synthetisiert die DNA-Polymerase III sowohl den Füh-
nander verknüpft werden. . Abb. 44.12 stellt den allgemeinen rungsstrang als auch den Verzögerungsstrang und deshalb ent-
Mechanismus der DNA-Ligasen dar. ATP (oder NAD+) dient hält das bakterielle Replisom zwei Kopien dieses Enzyms. In
dabei als Donor eines AMP-Restes, der covalent mit der Eukaryonten findet man dagegen eine stärkere Spezialisierung
ε-Aminogruppe eines Lysylrestes des Ligaseproteins verknüpft der DNA-Polymerasen (. Tab. 44.2 und 44.3) und daher enthält
44.5 · Termination – Beendigung der Replikation
555 44
das eukaryontische Replisom drei unterschiedliche Polymera- stoffe der bakteriellen Typ-II-Topoisomerasen (Gyrasehemmer)
sen. Der DNA-Polymerase α/Primase-Komplex besteht aus vier inhibieren daher nicht nur die Initiation der Replikation, son-
Untereinheiten und ist für die Synthese der RNA-primer verant- dern auch die vollständige Verteilung der Tochterchromosomen.
wortlich. Die beiden Primaseuntereinheiten werden für die Her-
stellung der primer am Führungsstrang als auch am Verzöge- Die Replikation linearer Chromosomen
rungsstrang benötigt und synthetisieren einen RNA-primer von führt zu einer Verkürzung
etwa 5–15 Nucleotiden. Dieser primer wird durch die beiden Die beschriebenen Mechanismen der DNA-Replikation sind in
Polymeraseuntereinheiten mit Desoxyribonucleotiden auf 50– perfekter Weise dazu geeignet, die zirkulären Genome vieler
100 Nucleotide verlängert. Aufgrund seiner Primaseaktivität ist Viren und Bakterien zu replizieren. Ein zusätzliches Problem er-
der DNA-Polymerase α/Primase-Komplex die einzige DNA-Po- gibt sich jedoch bei der Replikation linearer DNA-Doppelsträn-
lymerase, die eine DNA-Synthese de novo initiieren kann. Wegen ge. Wie aus . Abb. 44.13 hervorgeht, kann der Führungsstrang
seiner geringen Prozessivität (s. o.) wird der DNA-Polymerase / ausgehend von einem internen RNA-primer kontinuierlich bis
Primase-Komplex allerdings schnell durch die hochprozessiven zum Ende des Elternstranges synthetisiert werden. Anders ist es
DNA-Polymerasen δ und ε ersetzt (polymerase switching). Der aber beim Verzögerungsstrang, da wegen der diskontinuierli-
Führungsstrang wird vermutlich durch DNA-Polymerase ε kon- chen Synthese am Ende des Elternstranges ein RNA-primer ge-
tinierlich verlängert. Der Verzögerungsstrang wird diskontinu- bunden ist, der nach Abschluss der Replikation entfernt wird.
ierlich durch die DNA-Polymerase δ synthetisiert, welche über Die dadurch entstandene Lücke kann aber durch die DNA-Poly-
den Gleitring PCNA stabil mit der DNA verbunden ist. Während merase nicht aufgefüllt werden, da ihr eine freie 3’-OH-Gruppe
diese Interaktion für die Prozessivität von Polymerase δ entschei- zur Anheftung fehlt. Dies führt dazu, dass die Chromosomen mit
dend ist, ist unklar, ob auch die Prozessivität von DNA-Polyme- jeder Replikation um ein Stück kürzer werden, was letztendlich
rase ε durch die Interaktion mit PCNA gewährleistet wird. Die eine Instabilität der Chromosomen und damit eine verminderte
Entfernung der RNA-primer erfolgt ebenso wie bei Prokaryonten Lebensfähigkeit der betreffenden Zelle auslöst. Um dies zu ver-
durch zwei Enzyme: zunächst wird durch RNase H der größte hindern, findet man an den Enden der Chromosomen G-reiche
Teil des primers entfernt und das letzte Ribonucleotid dann repetitive Sequenzen, die als Telomere bezeichnet werden. Telo-
durch das Enzym FEN-1 (flap endonuclease-1) abgespalten. Die mersequenzen codieren für keine Information, sondern dienen
entstandenen Lücken werden durch die DNA-Polymerase δ auf- als Puffer, um einen Informationsverlust in Folge der Verkürzung
gefüllt bevor die DNA-Ligase die Fragmente verbindet. FEN-1 der Chromosomen zu verhindern. Telomerische DNA besteht
übernimmt noch eine weitere Funktion bei der eukaryontischen aus einigen hundert (einfache Eukaryonten wie Hefe) bis einigen
Replikation: Da Polymerase α keine proofreading Aktivität be- tausend (Vertebraten) Basenpaaren. Bei Säugern und damit auch
sitzt, werden die ersten etwa 100 Nucleotide mit einer erhöhten beim Menschen lautet diese Sequenz (5’-TTAGGG-3’)n. Diese
Fehlerrate eingebaut. FEN-1 ist jedoch in der Lage, mögliche G-reiche Sequenz befindet sich am 3‹-Ende jedes parentalen Ein-
Fehlpaarungen (mismatches) zu erkennen und durch seine En- zelstrangs und ragt zwölf bis sechzehn Nucleotide über den kom-
donucleaseaktivität herauszuschneiden. Diese Lücken werden plementären C-reichen Strang hinaus (. Abb. 44.14). Da diese
dann wiederum von DNA-Polymerase δ geschlossen. freien Enden allerdings mit den freien Enden anderer Chromo-
somen fusionieren könnten, sind die Telomere durch telomer-
bindende Proteine maskiert, ein Prozess der auch als telomer
44.5 Termination – Beendigung der Replikation capping bezeichnet wird. Bei jeder Replikation gehen 50–200 Nu-
cleotide dieser telomerischen Sequenz verloren, sodass man
Für die ringförmigen Chromosomen der Prokaryonten und die Telomere auch als eine Art molekulare Uhr ansehen kann, mit
linearen Chromosomen der Eukaryonten folgen Initiation und deren Hilfe Zellen die Zahl ihrer Zellteilungen registrieren kön-
Elongation denselben Prinzipien. Für die Termination der Repli- nen. Auf jeden Fall bieten die Telomerverkürzungen eine Er-
kation existieren zwar in Pro- als auch in Eukaryonten spezifi- klärung dafür, dass die Zahl der möglichen Teilungen somati-
sche Terminationssequenzen, an die Terminationsproteine bin- scher Zellen höherer Eukaryonten wie auch des Menschen auf
den und so einen Stopp der Replikation auslösen können. Aller- 30–50 beschränkt ist.
dings werden für den Abschluss der Replikation bei ringförmi-
gen und linearen Chromosomen unterschiedliche Mechanismen Telomere können durch die Telomerase
benötigt. verlängert werden
Eukaryontische Zellen, die sich häufiger oder unbegrenzt teilen
Typ II Topoisomerasen werden für die Termination können (z. B. Stammzellen oder Tumorzellen), besitzen eine spe-
ringförmiger Chromosomen benötigt zielle Polymerase, die Telomerase, die in der Lage ist, die Telo-
Nach der vollständigen Replikation ringförmiger Chromoso- mere nach Abschluss der Replikation wieder zu verlängern. Für
men, z. B. in Bakterien, sind die beiden Tochterdoppelstränge die Entdeckung dieses Enzyms und die Aufklärung des Reak-
wie zwei Kettenglieder miteinander verknüpft und müssen für tionsmechanismus wurden Eliszabeth Blackburn, Carol Greider
die Verteilung auf die Tochterzellen zunächst getrennt werden. und Jack Szostac 2009 mit dem Nobelpreis für Medizin ausge-
Hierfür ist die Topoisomerase II (s. o.) verantwortlich, die einen zeichnet. Ebenso wie die DNA-Polymerasen benötigt die Telo-
der beiden DNA-Doppelstränge schneidet und den zweiten Dop- merase eine freie 3’-OH-Gruppe, um Desoxyribonucleotide an-
pelstrang durch die entstandene Lücke hindurchführt. Hemm- zufügen. Die Besonderheit der Telomerase ist jedoch, dass sie ein
556 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

. Abb. 44.13 Replikation an den Telomeren der Chromosomen. (Einzelheiten s. Text)

Ribonucleoprotein ist, d. h. sie enthält ein gebundenes RNA- Leukämie). Verkürzte Telomere findet man auch bei Patienten,
Molekül (. Abb. 44.14). Die Sequenz dieses RNA-Moleküls ist die unter Progerie leiden, einer Erkrankung die durch stark be-
komplementär zur telomeren Sequenz und essentiell für die schleunigte Alterung charakterisiert ist. Zwar scheint ursächlich
Telomerenreplikation. Beim Menschen trägt die RNA die Se- eine Mutation im Lamin-A-Gen – ein Strukturprotein der Zell-
quenz 5’-UAACCCUA-3’. Über die terminalen beiden UA- Nu- kernmembran – für die Erkrankung verantwortlich zu sein, die
cleotide bindet die Telomerase an das überhängende Ende (also stark verkürzten Telomere erklären jedoch eindrücklich die
die letzten beiden Nucleotide der Telomersequenz 5’-TA-3’) und Bedeutung der Telomere für die replikative Zellalterung. Hu-
verlängert das 3’-Ende um die zur RNA-komplementäre Sequenz mane somatische Zellen enthalten keine Telomerase, jedoch ist
5’-GGGTTA-3’. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrmals, so- eine solche in den Keimbahnzellen der Testes und der Ovarien
dass eine repetitive G-reiche Sequenz entsteht. Die Telomerase sowie in Stammzellen des Knochenmarks vorhanden. Darüber
ist damit eigentlich eine reverse Transkriptase, deren RNA-Ma- hinaus hat sich eine aktive Telomerase bei allen bisher untersuch-
trize ein intrinsischer Bestandteil des Enzyms ist. An die verlän-
gerten Telomere bindet dann vermutlich die Primase und syn-
thetisiert einen RNA-primer, der von der DNA-Polymerase ver-
längert wird und die so das ursprünglich verkürzte Ende wieder
auffüllt.
Die durch die Telomerase verlängerten 3’-Enden werden bei
der nächsten Replikation zwar verkürzt repliziert (s. o.), jedoch
kann dieser Defekt in der darauf folgenden Replikationsrunde
durch Verlängerung mit der Telomerase wieder behoben werden.
Bei niederen Eukaryonten führt ein Verlust der Telomerasefunk-
tion in Folge von Mutationen zur allmählichen Verkürzung der
Chromosomen und schließlich zum Zelltod.
44
44.6 Pathobiochemie

Eine Mutation im Telomerase-Gen findet man bei Patienten, die


unter Dyskeratosis congenita leiden, einer seltenen Erkran-
kung, die insbesondere durch Haut- und Schleimhautdefekte
und durch Knochenmarkstörungen ausgezeichnet ist. Darüber
hinaus werden Telomer- bzw. Telomerasedefekte mit einer Viel-
zahl weiterer Erkrankungen in Verbindung gebracht, z. B. AML . Abb. 44.14 Mechanismus der für die Replikation der Telomere verant-
(Akute Myeloische Leukämie) und CML (Chronische Myeloische wortlichen Telomerase. (Einzelheiten s. Text)
44.6 · Pathobiochemie
557 44
ten Tumoren nachweisen lassen. Offenbar ist dieses Enzym A
normalerweise reprimiert und wird erst bei der malignen Trans-
formation aktiviert. Daher sind Inhibitoren der Telomerase
attraktive Substanzen für die Behandlung von Tumorerkran-
kungen.

Übrigens
Hemmstoffe der DNA-Replikation werden in
der Tumortherapie eingesetzt B
Einige Antibiotika hemmen die DNA-Replikation bzw. die
Transkription und haben sich deswegen als wertvolle Hilfs-
mittel bei der Aufklärung der molekularen Mechanismen der
Replikation erwiesen und darüber hinaus teilweise Eingang
in die Tumortherapie gefunden:

Mitomycin
Mitomycin (. Abb. 44.15A) verursacht die Bildung covalen-
ter Quervernetzungen zwischen den zwei DNA-Strängen
und verhindert dadurch die Trennung der Stränge, die für
die DNA-Replikation notwendig ist. Da es sowohl bei Mikro-
organismen als auch bei Eukaryonten als Mitosehemmstoff C
wirkt, hat es nur in der Tumortherapie Bedeutung. Ganz ähn-
lich wirkt Cisplatin, das ebenfalls die beiden DNA-Stränge
covalent verbindet.

Actinomycin D
In niedrigen Konzentrationen hemmt Actinomycin D
(7 Kap. 46) die Transkription, in höheren Konzentrationen D
auch die DNA-Replikation. Dabei kommt es zur Interkalation
von Actinomycin D zwischen zwei benachbarten GC-Paaren
der DNA. Dies führt dazu, dass die Stränge der DNA-Doppel-
helix bei der Replikation bzw. Transkription nicht getrennt
werden können. Actinomycin D findet Anwendung in der
Tumortherapie und bei experimentellen Fragestellungen,
bei denen geklärt werden soll, ob ein beobachteter Effekt . Abb. 44.15 Strukturen wichtiger Hemmstoffe der DNA-Replikation.
auf die Neubildung von RNA zurückgeführt werden kann. (Einzelheiten s. Text)

Topoisomerasehemmstoffe
Eine Reihe einfacher Verbindungen sind wirksame Hemm-
stoffe der prokaryontischen DNA-Topoisomerase (Gyrase). schen DNA und Topoisomerase und führen zu vermehrten
Neben Cumarinderivaten (. Abb. 44.15C), z. B. Coumermy- Strangbrüchen.
cin A1 oder Novobiocin, die die ATPase Untereinheit (GyrB)
der Gyrase inhibieren, existieren auch Hemmstoffe, die die Basenanaloga
für den Doppelstrangbruch verantwortliche Untereinheit Eine weitere Möglichkeit, die Replikation zu stoppen, ist die
(GyrA) blockieren. Einer dieser Inhibitoren ist das Chinolon- Verwendung von Basenanaloga, die zwar in den wachsen-
derivat Ciprofloxacin (. Abb. 44.15D), eines der heutzutage den DNA-Strang eingebaut werden können, an denen aber
effizientesten Antibiotika. Gyrase-Inhibitoren beeinträchti- keine Verlängerung stattfinden kann. Beispiele sind Cytara-
gen die bakterielle Replikation auf den Stufen der Initiation bin, das anstelle der Ribose eine Arabinose trägt und das bei
und Termination, aber auch die Transkription und können der Behandlung von Virusinfektionen, z. B. AIDS eingesetzte
deshalb zur Therapie eines breiten Spektrums bakterieller Azidothymidin, das anstelle der OH-Gruppe am C-Atom 3’
Infektionen eingesetzt werden. Humane Typ-I- und Typ-II- der Ribose eine Azidgruppe (N3) trägt.
Topoisomerasen werden als Angriffspunkte/targets in
der Tumortherapie verwendet. Verbindungen wie z. B.
Doxorubicin oder Elipticin stabilisieren den Kontakt zwi-
6

Mitomycin# Actinomycin D# Aminocoumerin# Ciprofloxacin#


558 Kapitel 44 · Replikation – Die Verdopplung der DNA

Zusammenfassung
Die DNA-Replikation ist semikonservativ: Das doppelsträn-
gige Tochter-DNA-Molekül besteht aus einem parentalen
Strang und einem neu synthetisierten Strang.
Die DNA-Replikation beginnt an einem (Prokaryonten) oder
mehreren (Eukaryonten) Replikationsursprüngen.
Für die DNA-Replikation werden benötigt:
4 partiell aufgewundene einzelsträngige DNA als Matrize
4 Helicasen
4 Topoisomerasen
4 Einzelstrangbindeproteine
4 Ribonucleosidtriphosphate für die Synthese des primers
4 Desoxyribonucleosidtriphosphate
4 DNA-Polymerasen
4 DNA-Ligasen

Im wachsenden DNA-Molekül verknüpfen DNA-Polymerasen


Desoxyribonucleotide über 5’,3’-Phosphodiesterbindungen.
Sie benötigen zum Start der DNA-Synthese einen primer, ein
kurzes RNA-Molekül, an das das erste Desoxyribonucleotid
angeknüpft werden kann. Da die Synthese der DNA immer
in 5’,3’-Richtung erfolgt, gibt es einen kontinuierlich synthe-
tisierten Führungsstrang und einen diskontinuierlich syn-
thetisierten Verzögerungsstrang, der aus sog. Okazaki-Frag-
menten besteht. Nach Abbau der primer und Auffüllen der
dadurch entstandenen Lücken werden die DNA-Fragmente
durch eine DNA-Ligase miteinander verknüpft.
Fehler, die während der Replikation nicht korrigiert wurden
oder die durch äußere Einflüsse entstanden sind, werden
durch spezielle DNA-Reparatursysteme behoben, die in
7 Kap. 45.2 besprochen werden.
Telomerasen verlängern bei linearer DNA die Chromoso-
menenden, die Telomere. Sie verhindern damit die mit jeder
Replikation einhergehende Verkürzung der Chromosomen.
Eine hohe Aktivität der Telomerasen wird bei Tumoren ge-
funden.
Die als Hemmstoffe der DNA-Replikation eingesetzten
Substanzen verhindern, z. B. die Entwindung oder die Neu-
synthese der DNA.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

44
559 45

45 DNA-Mutationen und ihre Reparatur


Hans-Georg Koch, Jan Brix, Peter C. Heinrich

Einleitung der nicht in das fortpflanzungsfähige Alter kommt oder in seiner


Fortpflanzungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist.
Durch Replikationsfehler und spontane oder chemische und physika- Ein Grund für die niedrige Mutationsrate ist, dass die Genau-
lische Noxen wird die DNA ständig verändert. Diese Veränderungen igkeit der DNA-Replikation durch die Korrekturaktivität (proof-
ermöglichen eine phänotypische Variation und sind somit die Grund- reading activity) der DNA-Polymerasen gewährleistet wird
lage der Evolution. Gleichzeitig ist für die Erhaltung der Funktion des (7 Tab. 44.3). Darüber hinaus werden spontane Veränderungen
genetischen Materials eine möglichst geringe Mutationsrate erforder- der DNA und Veränderungen, die durch den Kontakt mit muta-
lich. Die Balance zwischen Stabilität und Variabilität der DNA wird durch genen Substanzen oder durch Strahlenexposition entstehen (in-
effiziente DNA-Reparatursysteme gewährleistet, die die meisten, aber duzierte Mutationen), mit Hilfe von DNA-Reparatursystemen
nicht alle Mutationen korrigieren. beseitigt. Für diese DNA-Reparatur steht eine Reihe von Repara-
turenzymen zur Verfügung. Die Bedeutung der DNA-Reparatur
Schwerpunkte erkennt man auch daran, dass einige Krankheiten auf Mutatio-
nen in den DNA-Reparatursystemen zurückzuführen sind
4 Auslöser von Mutationen
(. Tab. 45.3). Dem potentiell pathologischen Effekt von Mutatio-
4 Drei Klassen von Mutationen: Genom-, Chromosomen-
nen steht ihre Bedeutung für die Evolution und die Variabilität
und Genmutationen
von Organismen gegenüber. Die Entstehung der Arten ein-
4 Die verschiedenen DNA-Reparatursysteme: Basen-,
schließlich des Menschen wäre bei einer völlig statischen DNA
Nucleotidexcisions- und mismatch-Reparatur sowie Systeme
unmöglich gewesen.
zur Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen
4 Erkrankungen mit Defekten in DNA-Reparatursystemen
Drei Klassen von Mutationen können
unterschieden werden
Genommutationen Wegen Teilungsfehlern während der Mitose
oder Meiose ändert sich die Gesamtzahl der Chromosomen
45.1 Mutationen – Veränderungen der DNA (. Tab. 45.1). Bei Aneuploidie gewinnt oder verliert ein Orga-
nismus ein Chromosom, was bei diploiden Organismen zur
Das Überleben eines Individuums hängt davon ab, ob seine DNA Trisomie oder Monosomie führt. Sind alle Chromosomen nur
während der oft außerordentlich langen Lebenszeiten seiner Zel- einfach vorhanden, spricht man von Euploidie, während Poly-
len stabil bleibt und bei der DNA-Replikation mit großer Genau- ploidie einen Zustand beschreibt, bei dem alle Chromosomen
igkeit verdoppelt wird. Dennoch kommt es in Folge von Replika- mehr als zweimal vorkommen. Man schätzt, dass beim Men-
tionsfehlern und Umwelteinflüssen zu einer ständigen Verände- schen etwa 10–20 % aller befruchteten Eizellen einen Fehler in
rung des genetischen Materials. Diese spontane Mutationsrate der Chromosomenzahl besitzen und dies eine Ursache für Fehl-
beträgt sowohl bei Eukaryonten als auch bei Prokaryonten etwa geburten ist.
1 ∙ 109, d. h. während eines Zellzyklus wird durchschnittlich eins
von 109 Nucleotiden verändert. Erfolgt diese Mutation in soma- Chromosomenmutationen Hierdurch werden strukturelle Ver-
tischen Zellen, ist sie auf das Individuum beschränkt, erfolgt sie änderungen einzelner Chromosomen beschrieben, die in den
in den Keimbahnzellen, wird sie stabil auf die Nachkommen wei- meisten Fällen auf eine oder mehrere Bruchstellen im Chromo-
tergegeben. Wie in 7 Kap. 48 ausführlich erörtert wird, haben som zurückgehen. Chromosomenfragmente können verloren
derartige Mutationen in den für Aminosäuren/Proteine codie- gehen (Deletion), an falscher Stelle eingebaut (Insertion) oder in
renden Bereichen wegen der Degeneriertheit des genetischen falscher Orientierung eingefügt werden (Inversion), auf andere
Codes vielfach keinerlei Folgen für das betreffende Protein. Ge- Chromosomen übertragen (Translokation) oder verdoppelt wer-
legentlich kommt es zum Austausch ähnlicher Aminosäuren, den (Duplikation).
sodass funktionelle Konsequenzen nicht sichtbar sind. Nur in
den relativ seltenen Fällen, in denen die Mutationen schwerwie- Gen- und Punktmutationen In Genmutationen sind die Verän-
gende strukturelle Änderungen des betroffenen Proteins auslö- derungen auf ein einzelnes Gen beschränkt und betreffen bei
sen, ergeben sich Defekte mit häufig tödlichen Konsequenzen für Punktmutationen nur ein einzelnes Nucleotid. Im Unterschied
den betroffenen Organismus. Solche Mutationen in den Keim- zu den mikroskopisch sichtbaren Genom- und Chromosomen-
zellen können zwar vererbt werden, setzen sich aber meist inner- mutationen sind diese Mutationen nur durch molekularbiologi-
halb einer Art nicht durch, da das betroffene Individuum entwe- sche Methoden zu identifizieren.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_45, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
560 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur

. Tab. 45.1 Beispiele von Mutationen beim Menschen

Name der Krankheit und Häufigkeit Art der Mutation Ursache Phänotyp

Down-Syndrom (1:800) Genom Trisomie 21 Gestörte mentale Entwicklung,


Epikanthus medialis (Mongolenfalte)

Edwards-Syndrom Genom Trisomie 18 Herzfehler, Organfehlbildungen,


(1:10.000–1:3.000) Entwicklungsstörungen

Pätau-Syndrom (1:19.000) Genom Trisomie 13 Mentale Retardierung, Taubheit,


Polydactylie

Familiäres Down-Syndrom Chromosom Translokation von Chromosom 14 auf Gestörte mentale Entwicklung,
(1:15.000) Chromosom 21 bei einem Elternteil Epikanthus medialis

Cri-du-Chat Syndrom Chromosom Deletion an Chromosom 5 (Teil-Mono- Anormale Glottis- und Kehlkopfentwick-
(Katzenschrei-Syndrom; 1:50.000) somie 5) lung; mentale Retardierung

Chorea Huntington Gen Für Glutaminsäure codierendes Triplett Verstärkte Aggregation von Huntingtin,
(1:50.000) (CAG) ist bis zu 120-mal im Huntingtin- Hyperkinesien, Demenz
Gen wiederholt (Triplettexpansion)

Sichelzellanämie Gen An Position 6 der β-Untereinheit von Aggregation von Hämoglobin; sichelartige
(in Malariagebieten bis zu 1:250) Hämoglobin Valin statt Glutamat Verformung der Erythrocyten

Replikationsfehler und die chemische Instabilität 4 Spontane Desaminierung von Cytosin. Es entsteht Uracil,
der DNA sind eine Ursache für Mutationen das mutagen wirkt, da es sich anstatt mit Guanin mit Ade-
Die Replikation der DNA ist trotz der proofreading-Aktivität der nin paart.
DNA-Polymerasen kein fehlerfreier Prozess. Verantwortlich 4 Sauerstoffradikale. Sie führen z. B. zur Hydroxylierung
hierfür ist u. a. die Keto-Enol-Tautomerie der Basen (7 Kap. 3.4). von Guanin zu 8-Hydroxyguanin und damit bei der Repli-
So erlaubt die DNA-Polymerase eine Paarung der Enolform des kation zu einer Fehlpaarung mit Adenin statt Cytosin. Bis
Thymins mit Guanin statt Adenin, was zu einer Mutation im neu heute wurden ca. 100 unterschiedliche radikalische Schädi-
synthetisierten Strang führt. Repetitive Sequenzen erhöhen gungen der DNA-Basen identifiziert.
ebenfalls die Fehlerrate der DNA-Polymerase. Die Gene, die für
das fragile X-Syndrom, die Myotone Dystrophie oder Chorea Die DNA kann durch exogene Noxen
Huntington verantwortlich sind, enthalten eine Trinucleotidse- geschädigt werden
quenz, die mehrfach wiederholt wird. An diesen repetitiven Se- Zusätzlich zu den spontanen Änderungen ist die DNA gegenüber
quenzen kann die DNA-Polymerase bei der Neusynthese ins einer großen Zahl weiterer Noxen anfällig, z. B. ultravioletter
»Stolpern« kommen (polymerase slipping) und den repetitiven Strahlung. Sie führt zur Ausbildung von Thymindimeren
Bereich mehrfach hintereinander ablesen, was zu einer massiven (. Abb. 45.2), die einen Replikationsstopp auslösen. Wegen ihres
Verlängerung des repetitiven Bereichs führt (Triplettexpan- hohen Energiegehalts sind auch radioaktive und Röntgenstrah-
sion). Bei normalen Individuen enthält das Gen für Huntingtin lung besonders schädlich für die DNA, da sie Einzel- und Dop-
einen repetitiven Abschnitt aus etwa 10–35 CAG-Tripletts. Bei pelstrangbrüche auslösen und/oder zur verstärkten Bildung von
Patienten, die unter Chorea Huntington leiden, ist dieser Ab- Radikalen führen können.
schnitt auf etwa 120 Tripletts verlängert (. Tab. 45.1) und das Das nach wie vor als chemischer Kampfstoff eingesetzte
gebildete Protein enthält statt 10–35 an dieser Stelle etwa Senfgas (Cl-CH2-CH2-S-CH2-CH2-Cl) ist eine von vielen Ver-
120 Glutaminreste, was zur Aggregation des Proteins führt. Da bindungen, die die DNA durch Alkylierung schädigen. Durch
durch die Triplettexpansion die Gefahr neuerlicher Lesefehler Anheftung einer Methyl- oder Ethylgruppe ändert sich die Ba-
erhöht wird, verstärken sich in der Regel mit jeder Generation senpaarung; so paart O6-Ethylguanin mit Thymin anstelle von
die Krankheitssymptome (genetische Antizipation). Cytosin. Weitere alkylierende Verbindungen sind z. B. Ethylme-
Der biologischen Stabilität der DNA steht keine gleich- thylsulfonat (EMS), das in der Molekularbiologie zur Auslösung
45 wertige chemische Stabilität gegenüber. Einige Bindungen in zufälliger Mutationen verwendet wird. Formaldehyd und die bei
der DNA sind relativ instabil (. Abb. 45.1). Als Beispiele seien der Erhitzung geräucherter Lebensmittel entstehenden Nitrosa-
genannt: mine schädigen die DNA ebenfalls. Der Kontakt mit salpetriger
4 Spontane Depurinierung. Sie tritt bei normaler Körper- Säure (HNO2) führt zur Desaminierung der DNA, während Hy-
temperatur auf und führt zur thermischen Spaltung der droxylamin eine Hydroxylierung bewirkt.
N-glycosidischen Bindung zwischen Purinbasen und Interkalierende Substanzen, z. B. Ethidiumbromid (s.
Desoxyribosen. Das Phosphodiestergerüst der DNA 7 Abb. 54.2C) oder Acridinorange, lagern sich zwischen zwei
wird dabei nicht zerstört, es entstehen sog. AP-sites übereinanderliegende Basen im Inneren der DNA an und führen
(apurinisch). so zu einem erhöhten Risiko von Strangbrüchen. Gleichzeitig
45.1 · Mutationen – Veränderungen der DNA
561 45

. Abb. 45.1 Instabilität der DNA durch Depurinierung und Desaminierung. (Einzelheiten s. Text)

durch z. B. Hydroxylierung oder Oxygenierung binden diese


Moleküle an die DNA und führen zu einer Verdrängung des pa-
rallelen Stranges. Beispiele sind polyzyklische Aromaten wie das
im Zigarettenrauch vorkommende 3,4-Benzpyren oder das
Schimmelgift Aflatoxin B1.
Die Möglichkeit DNA zu schädigen und damit Replikation
und Zellteilung zu blockieren wird therapeutisch bei der Be-
handlung von Tumorerkrankungen eingesetzt (7 Kap. 44.5).

Zusammenfassung
Das genetische Material eines Organismus ist dynamisch,
d. h. es unterliegt einer permanenten Veränderung. Bei die-
sen als Mutationen bezeichneten Veränderungen können
unterschieden werden:
4 Genommutationen: Änderung der Gesamtzahl der Chro-
mosomen eines Organismus
4 Chromosomenmutationen: Änderungen innerhalb eines
Chromosoms
. Abb. 45.2 Dimerisierung von benachbarten Thyminresten durch 4 Genmutationen: Änderungen innerhalb eines Gens
UV-Licht
Ursachen für Mutationen sind exogene Noxen, z. B. UV-
Strahlung, radioaktive Strahlung oder der Kontakt mit DNA-
bewirken sie einen Replikationsstopp. Ethidiumbromid findet interagierenden Chemikalien. Diese exogenen Noxen kön-
als Farbstoff zur Anfärbung von DNA und RNA in der Moleku- nen punktuelle Veränderungen an der DNA auslösen, aber
larbiologie breite Anwendung. auch zu Strangbrüchen führen. Zusätzlich ist die chemische
Eine besondere Gruppe mutagener Substanzen sind die sog. Instabilität der DNA Ursache für Mutationen, z. B. der spon-
indirekt wirkenden Mutagene. Diese in der Regel großen, che- tante Verlust von Purinresten oder die spontane Desaminie-
misch sehr stabilen und hydrophoben Verbindungen interagie- rung von Cytosin. In beiden Fällen kommt es zu Basenfehl-
ren mit der DNA erst nach Aktivierung durch das körpereigene paarungen.
Biotransformationssystem (7 Kap. 62.3). Nach Aktivierung

Guanin# Cytosin#
562 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur

. Tab. 45.2 Übersicht über DNA-Reparatursysteme

Reparatursystem Beseitigte Schäden

Direkte Reparatur Thymindimere


Basenalkylierung

Basenexcisionsreparatur Basendesaminierung
Depurinierung

Nucleotidexcisionsreparatur DNA-Schäden, die die Topologie der


DNA verändern, z. B. Thymindimere,
modifizierte Basen

Mismatch-Reparatur Replikationsfehler, Basenfehlpaarung . Abb. 45.3 Allgemeine Strategie zur Behebung von DNA-Schäden.
(Einzelheiten s. Text)
Non-homologous end joining DNA-Doppelstrangbrüche

Rekombinationsreparatur DNA-Doppelstrangbrüche
DNA-Schäden können durch Austausch
repariert werden
Reparatur durch Basenaustausch Die Behebung eines DNA-
45.2 DNA-Reparatur Schadens ist relativ unproblematisch, wenn er sich auf einen der
beiden DNA-Stränge beschränkt. In den meisten Fällen, mit Aus-
Das Auftreten spontaner und induzierter Mutationen hätte ka- nahme der o. g. direkten Reparatur, wird der Schaden behoben,
tastrophale Folgen für einen Organismus, wenn nicht jede Zelle indem das geschädigte Nucleotid oder die geschädigte Base zu-
über hochaktive DNA-Reparatursysteme verfügen würde, die sammen mit benachbarten Nucleotiden herausgeschnitten wird.
die auftretenden DNA-Schäden erkennen und reparieren Die notwendigen Schritte (. Abb. 45.3) bestehen in:
(. Tab. 45.2). Diese Systeme zeigen eine ausgeprägte Redun- 4 Erkennung des beschädigten Nucleotids oder der Base
danz, d. h. einzelne Mutationen können prinzipiell durch ver- 4 Excision des beschädigten Nucleotids oder der Base
schiedene Reparatursysteme beseitigt werden. Defekte in diesen 4 Schließen der Lücke durch DNA-Polymerase
Reparatursystemen sind mit schweren Erkrankungen assoziiert 4 Ligation durch DNA-Ligase
(s. . Tab. 45.3).
Während für die Erkennung und Excision der beschädigten Re-
DNA-Schäden können direkt repariert werden gion spezifische enzymatische Aktivitäten notwendig sind, wer-
Direkte Reparatur Die meisten DNA-Reparatursysteme beheben den für die sich anschließenden Schritte dieselben Enzyme be-
den Fehler durch Austausch (s. u.), es existieren aber auch zwei nutzt, die auch für die Verknüpfung der Okazaki-Fragmente
DNA-Reparatursysteme, bei denen die veränderten Basen tat- während der DNA-Replikation verwendet werden. Für das Auf-
sächlich repariert und nicht ausgetauscht werden. Diese Repara- füllen der Lücke wird eine DNA-Polymerase benötigt, für das
tur wird als direkte Reparatur bezeichnet. Ein in vielen Organis- Schließen der Lücke eine DNA-Ligase.
men vorkommendes Enzym ist die Photolyase, die an Thymin-
dimere bindet und diese Licht- und FADH-abhängig spaltet. Die Basenexcisionsreparatur Einer der Reparaturmechanismen ist
Lichtabhängigkeit der Reaktion ist durch einen Flavincofaktor die universell konservierte Basenexcisionsreparatur, die in
bedingt, der ähnlich wie bei photosynthetischen Reaktionszent- . Abb. 45.4 dargestellt ist. Besonderes Merkmal dieses Repa-
ren, durch Elektronentransfer die Spaltung der Thymindimere ratursystems ist, dass zunächst durch eine DNA-Glycosylase
ermöglicht. Obwohl die Photolyase in vielen Pro- und Eukary- die N-glycosidische Bindung zwischen der defekten Base und
onten nachgewiesen wurde, scheint das Enzym humanen Zellen der Desoxyribose gespalten wird. DNA-Glycosylasen bilden
zu fehlen. Auch vielen Amphibien fehlt die Photolyase, was diese eine Familie von Enzymen unterschiedlicher Spezifität, die die
besonders empfindlich gegenüber der durch das Ozonloch ver- einzelnen Typen geschädigter Basen, aber auch das durch Des-
stärkten UV-Exposition macht. aminierung von Cytosin entstehende Uracil erkennen und
Eine direkte Reparatur existiert auch für alkylierte DNA, entfernen. Um die richtige Base einsetzen zu können, muss nun
besonders für O6-Ethylguanin. Das Protein O6-Alkylguanin-Al- das Desoxyribosephosphat entfernt werden, zu dem die durch
45 kyltransferase ist in der Lage, eine Alkylgruppe vom Guanin auf die DNA-Glycosylase herausgeschnittene Base gehörte. Hierfür
einen Cysteinrest im aktiven Zentrum des Proteins zu transferie- ist zunächst eine AP-Endonuclease notwendig (AP, apurinic
ren. Diese Alkylierung ist allerdings irreversibel, sodass diese bzw. apyrimidinic). Die Entfernung von Desoxyribose und
Reaktion von jedem Protein nur einmal katalysiert werden kann. Phosphat erfolgt dann durch eine Phosphodiesterase. Mit
Da das Protein nicht unverändert aus dieser Reaktion hervor- Hilfe von DNA-Polymerase I in E. coli bzw. DNA-Polymerase β
geht, sondern sozusagen »Selbstmord« begeht, ist es streng ge- in Eukaryonten und DNA-Ligasen kann nun die Lücke aufge-
nommen kein Enzym. füllt und geschlossen werden. Allerdings verfügt DNA-Poly-
merase β über keine proof reading-Aktivität (s. 7 Tab. 44.3), so-
dass während der Reparatur erneut ein falsches Nucleotid ein-
45.2 · DNA-Reparatur
563 45

. Abb. 45.5 Mechanismus der Nucleotidexcisionsreparatur. (Einzel-


heiten s. Text)

. Abb. 45.4 Mechanismus der short patch-Basenexcisionsreparatur. keit, das durch spontane Desaminierung von Cytosin entstan-
Nach dem Lokalisieren der beschädigten Stelle (rot), erfolgt durch
dene Uracil zu erkennen.
DNA-Glycosylasen die Excision der Base und anschließend die Entfernung
des zugehörigen Desoxyribosephosphats durch AP-Endonucleasen.
(Einzelheiten s. Text) Nucleotidexcisionsreparatur Eine zweite DNA-Reparaturmög-
lichkeit ist die Nucleotidexcisionsreparatur. Im Unterschied zur
Basenexcisionsreparatur erkennt dieses System nicht veränderte
gebaut werden kann. Neuere Daten deuten auf eine Korrektur- Nucleotide, sondern registriert Konformationsänderungen in
aktivität der AP-Endonuclease hin, die falsch eingebaute dem DNA-Doppelstrang (. Abb. 45.5), z. B. durch Bildung
Nucleotide wieder entfernen kann. Neben dieser sog. short patch- von Thymindimeren. In E. coli wandert ein aus drei Proteinen
Basenexcisionsreparatur, bei der nur das defekte Nucleotid (UvrABC-Komplex) bestehender Komplex an dem DNA-Dop-
entfernt wird, existiert auch eine long patch-Basenexcisions- pelstrang entlang und »ertastet« geringe Abweichungen von der
reparatur, bei der nicht nur das defekte Nucleotid entfernt wird, normalen Topologie. Der DNA-Doppelstrang wird zunächst im
sondern über die 3’,5’-Exonucleaseaktivität der DNA-Poly- Bereich der Mutation durch UvrB in einer ATP-abhängigen Re-
merasen werden 4–6 Nucleotide zusätzlich herausgeschnitten. aktion in die Einzelstränge getrennt und der veränderte Einzel-
Da DNA-Polymerase β über keine Exonuclease (proofreading) strang 8 Nucleotide oberhalb und 4–5 Nucleotide unterhalb der
Aktivität verfügt, werden für die long patch-Basenexcisions- Mutation durch die Nuclease UvrC geschnitten. Das entstandene
reparatur beim Menschen die DNA-Polymerasen δ und ε be- Fragment wird durch die Helicase UvrD aus dem DNA-Doppel-
nötigt. strang entfernt, bevor es durch Nucleasen (ExoVII, RecJ oder
Für die Behebung der durch spontane Depurinierung (s. o.) ExoI) abgebaut wird. Der verbliebene Einzelstrangbereich wird
entstandenen DNA-Schädigungen werden im Prinzip dieselben vorübergehend durch SSBs (7 Tab. 44.2) geschützt, bevor die Lü-
Schritte benötigt, es fällt lediglich die durch die DNA-Glycosyla- cke von etwa 12–13 Nucleotiden durch DNA-Polymerase I
se katalysierte Entfernung der beschädigten Basen weg. Dass aufgefüllt und von DNA-Ligase geschlossen wird.
Glycosylasen Uracil spezifisch in der DNA erkennen, erklärt ver- In Eukaryonten sind Untereinheiten von TFIIH, einem gene-
mutlich auch, warum Uracil natürlicherweise nur in der RNA, rellen Transkriptionsfaktor an der Nucleotidexcisionsreparatur
nicht aber in der DNA vorkommt. Würde Uracil natürlicherwei- beteiligt. Dies erklärt vermutlich, warum in Eukaryonten aktiv
se in der DNA vorkommen, hätte die Glycosylase keine Möglich- transkribierte Gene bevorzugt über diesen Mechanismus repa-
564 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur

riert werden (transkriptionsgekoppelte Reparatur). Die Nucleo-


tidexcisionsreparatur ist auch an der Beseitigung von covalent
verknüpften Nucleotiden beteiligt, die z. B. durch Mitomycin-
oder Cisplatin-Behandlung entstehen (7 Kap. 44.5). Hier erfolgt
die Korrektur sequentiell, um jeweils einen intakten Matrizen-
strang für die Korrektur zur Verfügung zu haben.
Die allgemeine Bedeutung der Nucleotidexcisionsreparatur
wird in einer relativ seltenen hereditären Erkrankung des Men-
schen deutlich, die als Xeroderma pigmentosum bezeichnet
wird (s. . Tab. 45.3). Die von einer gestörten Nucleotidexcisions-
reparatur betroffenen Patienten (»Mondscheinkinder«) sind
sehr empfindlich gegenüber Sonnenbestrahlung, zeigen Störun-
gen ihrer Hautpigmentierung und haben ein im Vergleich zu
Gesunden etwa 2.000fach höheres Risiko zur Bildung von Haut-
tumoren.

Mismatch-Reparatursystem Replikationsfehler, die nicht durch


die 3’,5’-Exonucleaseaktivität der DNA-Polymerase beseitigt
worden sind, können durch das mismatch-Reparatursystem be-
seitigt werden (. Abb. 45.6). Diese Replikationsfehler unterschei-
den sich von den übrigen Mutationen, da hier keine defekte oder
modifizierte Base vorliegt, sondern ein intaktes Nucleotid an der
falschen Stelle eingebaut wurde. Das mismatch-Reparatursystem . Abb. 45.6 Mechanismus der mismatch-Reparatur (Einzelheiten s. Text)
MutS und MutL liegen jeweils als Dimere vor
muss daher erkennen können, welche der beiden Basen die fal-
sche Base ist. Die Erkennung wird über einen unterschiedlichen
Methylierungsgrad von Elternstrang und neusynthetisiertem ßend wird die Endonuclease MutH rekrutiert, die den nicht-
Strang ermöglicht. In E. coli wird DNA nach ihrer Synthese methylierten Strang schneidet. Das fehlerhafte Stück wird durch
durch Methyltransferasen bevorzugt an Adeninresten in der die Helicase UvrD (s. o.) aus dem Doppelstrang entfernt und
Sequenz 5’-GTAC-3’ methyliert. Während einer kurzen Phase durch Nucleasen abgebaut. Im Unterschied zur Nucleotidexci-
nach der Synthese liegt der DNA-Doppelstrang jedoch halb me- sionsreparatur wird die Lücke vermutlich durch DNA-Polyme-
thyliert vor, d. h. der Elternstrang ist methyliert, aber der Toch- rase III aufgefüllt.
terstrang noch nicht. In dieser Phase kann das mismatch-Repa- Die mismatch-Reparatur exisitiert ebenfalls in Eukaryonten
ratursystem die Unterscheidung zwischen Elternstrang mit kor- und wird durch die MSH-(MutS-homologues) und MLH–Pro-
rekter Base und neusynthetisiertem Strang mit defekter Base teine (MutL-homologues) katalysiert. Eine spezifische Markie-
durchführen. In E. coli erfolgt die Erkennung der Basenfehlpaa- rung des Elternstranges durch Methylierung erfolgt in Eukary-
rung durch den tetrameren MutS2-MutL2-Komplex. Anschlie- onten allerdings nicht und deshalb fehlt ihnen ein MutH-homo-

. Tab. 45.3 Erbkrankheiten mit Defekten in der DNA-Reparatur

Name der Krankheit Phänotyp Defektes Enzym oder Prozess

Xeroderma pigmentosum (XP) Hautkrebs, zelluläre UV-Empfindlichkeit, Nucleotidexcisionsreparatur


(»Mondscheinkinder«) neurologische Anormalitäten

Erblicher Dickdarmkrebs 100- bis 1.000-mal erhöhte Mutationsrate, MSH (humanes MutS-Homolog), MLH1
(hereditary nonpolyposis colorectal cancer, betrifft bevorzugt Darmepithel (humanes MutL-Homolog)
HNPCC) Mismatch-Reparatur

Severe combined immune deficiency Immundefizienz non-homologous end joining


45 syndrome (SCID)

Bloom-Syndrom (kongenitales tele- Genominstabilität durch verstärkten Schwester- BLM (Helicase); Rekombination und Rekombina-
angiektatisches Syndrom) chromatidenaustausch tionsreparatur

Erblicher Brustkrebs Brust- und Eierstockkrebs BRCA1 und BRCA2; Rekombinationsreparatur

Fanconi-Anämie Angeborene Fehlbildungen, Leukämie, Genom- BRIP1 (Helicase); Rekombinationsreparatur


instabilität

Ataxia teleangiectatica (AT) Leukämie, Lymphome, zelluläre Empfindlichkeit ATM-Protein, eine Proteinkinase, die durch
gegenüber Röntgenstrahlung, Genominstabilität Doppelstrangbrüche aktiviert wird
45.2 · DNA-Reparatur
565 45

. Abb. 45.7 Schematische Darstellung der Vorgänge bei der Reparatur von Doppelstrangbrüchen. Die Bindung des MRN-Komplexes an freie Chromo-
somenenden löst einen Zellzyklusarrest und eine Hemmung der Telomerase aus. Zur Reparatur des Doppelstrangbruchs existieren zwei Mechanismen. Die
freien Enden können über non-homologous end joining miteinander verknüpft werden (links). Alternativ erfolgt die Reparatur durch Rekombination mit
dem homologen Tochterchromatid und Neusynthese des fehlenden DNA-Stücks (rechts. (Einzelheiten s. Text)

Doppelstrangbrüche Reparatur MRE11 RAD50 NBS1 KU70-KU80 DNA-Proteinkinase XRCC4 DNA-Ligase 4 RAD52 RAD54
RAD51
566 Kapitel 45 · DNA-Mutationen und ihre Reparatur

loges Protein. Wie eukaryontische Zellen zwischen dem Eltern- merer Komplex aus der DNA-Ligase 4 und dem XRCC4-Protein
strang und dem neu synthetisierten Strang unterscheiden, ist (X-ray repair complementing defective repair in Chinese hamster
derzeit unklar. Eine besondere Art von Darmkrebs, der erbliche cells 4), der die beiden DNA-Fragmente verbindet 8 . KU80/
nicht-polypöse colorektale Tumor (hereditary nonpolyposis colo- KU70 und XRCC4 sind auch an der V(D)J-Rekombination be-
rectal cancer, HNPCC) lässt sich auf einen Defekt im mismatch- teiligt (7 Kap. 70), weshalb Mutationen in diesen Proteinen zu
Reparatursystem zurückführen (. Tab. 45.3). Da sich das dem severe combined immune deficiency syndrom (SCID, s. auch
Darmepithel während der gesamten Lebenszeit des Menschen 7 Kap. 31.2), einer massiven Immundefizienz, führen (s. . Tab.
regeneriert, ist die Wahrscheinlichkeit einer somatischen 45.3).
Mutation durch einen Replikationsfehler sehr hoch und
Reparatursysteme sind daher hier von besonderer Bedeutung. Rekombinationsreparatur Im Unterschied zum non-homologous
end joining, kann bei der Rekombinationsreparatur ein DNA-
DNA-Doppelstrangbrüche können durch Doppelstrangbruch fehlerfrei behoben werden. Dies ist möglich,
zwei Reparatursysteme repariert werden da das homologe Chromosom einer diploiden Zelle als Matrize
Non-homologous end joining Bislang wurden DNA-Schäden be- für die Reparatur verwendet wird. Dieser Reparaturmechanismus
sprochen, die nur auf einem der beiden DNA-Doppelstränge ist daher bei Strangbrüchen in den haploiden Keimbahnzellen
auftreten. Dabei ist zumindest auf dem intakten DNA-Strang und in den männlichen X- bzw. Y-Chromosomen nicht möglich.
noch die gesamte genetische Information erhalten. Problemati- Nach Erkennung des Doppelstrangbruchs durch den Pro-
scher sind Schäden, bei denen beide Stränge der DNA-Doppel- teinkomplex MRN, verdaut Mre11 jeweils einen der freien
helix brechen und kein intakter Strang als Matrize für die Repa- DNA-Doppelstränge und erzeugt so kurze Einzelstrangbereiche,
ratur vorhanden ist. Schäden dieser Art entstehen z. B. durch die durch das Einzelstrangbindeprotein RPA 9 stabilisiert wer-
ionisierende Strahlung, Sauerstoffradikale oder nach Behand- den (7 Tab. 44.2). RPA wird dann im Einzelstrangbereich durch
lung mit Topoisomerasehemmern (7 Kap. 44.5). Diese DNA- das Protein RAD51 ersetzt 10 . Die Rekombinase RAD51 ist zu-
Schädigung ist besonders gefährlich, da die freien Enden mit sammen mit RAD52 und der Helicase RAD54 für die Strang-
anderen DNA-Molekülen reagieren und so Chromosomenmuta- inversion 11 , d. h. den Austausch von DNA-Einzelsträngen
tionen durch Translokation oder Deletion hervorrufen können. zwischen zwei homologen Chromosomen, verantwortlich. Nach
Bei fehlender Reparatur dieser Brüche würde bald eine Fragmen- der Stranginversion wird der fehlende DNA-Abschnitt durch
tierung von Chromosomen entstehen. Letztlich wäre die betrof- die DNA-Polymerase neu synthetisiert, die dabei das homolo-
fene Zelle nicht lebensfähig. ge Chromosom als Matrize nutzt 12 . Während des Strang-
Ein Doppelstrangbruch wird durch den Proteinkom- austauschs interagiert Rad51 mit zwei weiteren Proteinen,
plex MRN erkannt ( 1 in . Abb. 45.7). Der trimere Proteinkom- BRCA1 und BRCA2 (breast cancer 1 und 2). Patienten mit Muta-
plex MRN besteht aus der Exonuclease Mre11, der ATPase Rad50 tionen in den entsprechenden Genen tragen ein deutlich erhöh-
und dem Gerüstprotein Nbs1. Dieser Komplex aktiviert über die tes Risiko für Brust-, Ovarial-, oder Prostatatumore (7 Kap. 53).
Proteinkinase ATM (Ataxia teleangiectasia mutated) den Trans- Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Rekombinationsreparatur
kriptionsfaktor p53 2 , sodass vermehrt Cyclininhibitoren gebil- (s. . Tab. 45.3).
det werden und der Zellzyklus stoppt 3 (s. 7 Abb. 43.8). Dies gibt
der Zelle die Möglichkeit zur DNA-Reparatur. Zusätzlich muss
verhindert werden, dass die Telomerase (7 Kap. 44.5) an die durch Zusammenfassung
den Doppelstrangbruch entstandenen freien DNA-Enden bindet Die bei der DNA-Replikation auftretenden Fehler werden
und diese verlängert. In Hefe phosphoryliert ATM nicht nur p53, überwiegend mit Hilfe der 3’-5’-Exonucleaseaktivitäten der
sondern auch den Telomeraseinhibitor Pif1 (petite integration fre- DNA-Polymerasen beseitigt. Darüber hinaus führen chemi-
quency 1) 4 . Über einen bislang unbekannten Mechanismus sche oder physikalische Noxen zur Schädigung der DNA.
hemmt phosphoryliertes Pif1 die Telomerase an Doppelstrang- Solche Schäden werden beseitigt durch:
brüchen 5 , nicht aber an den Chromosomenenden. 4 direkte Reparatur
Der bevorzugte Mechanismus zur Reparatur eines Doppel- 4 Basenexcisionsreparatur
strangbruchs ist das non-homologous end joining. Dieser Prozess 4 Nucleotidexcisionsreparatur oder
ist allerdings sehr fehlerbehaftet, da nur zwei DNA-Fragmente 4 mismatch-Reparatur
miteinander verknüpft werden und kein Kontrollmechanismus
vorhanden ist, um zu überprüfen, ob die beiden DNA-Fragmen- DNA-Doppelstrangbrüche können durch non-homologous
45 te ursprünglich nebeneinander lokalisiert waren. Zusätzlich wer- end joining oder durch Rekombinationsreparatur beseitigt
den vor der Verknüpfung häufig weitere Nucleotide durch die werden.
Exonuclease Mre11 abgespalten. Obwohl dadurch zwangsläufig
an der Bruchstelle eine Mutation auftritt, scheint dieser
Mechanismus eine akzeptable Lösung zum Erhalt der 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Chromosomen darzustellen. Für die Verknüpfung bindet in
Eukaryonten der heterodimere Komplex KU80/KU70 an die
freien DNA-Enden 6 und rekrutiert die DNA-abhängige Pro-
teinkinase DNA-PK 7 . An diesen Komplex bindet ein heterodi-
567 46

46 Transkription und Prozessierung der RNA


Jan Brix, Hans-Georg Koch, Peter C. Heinrich

Einleitung 46.1 Grundlegender Mechanismus


der Transkription
Für die Expression genetischer Information muss DNA in RNA transkri-
biert werden. Die verschiedenen Arten der synthetisierten RNA ermög- Aus RNA-Transkripten werden co- und posttrans-
lichen dann die Proteinbiosynthese. Neben der Aufgabe, die Information kriptional die verschiedenen RNA-Spezies gebildet
für die Aminosäuresequenz der zu synthetisierenden Proteine weiter- Alle kernhaltigen Zellen des menschlichen Organismus tragen
zugeben, hat RNA auch katalytische und regulatorische Eigenschaften. dieselbe genetische Information in ihrer DNA. Trotzdem unter-
Im Unterschied zu doppelsträngiger DNA ist RNA als Einzelstrang funk- scheidet sich eine Nervenzelle deutlich von einer Haut- oder ei-
tionell aktiv und kann durch Ausbildung lokaler Basenpaarungen viel- ner Leberzelle. Die Ursache dafür liegt darin, dass nicht in jeder
seitigere Strukturen als DNA annehmen. Zelle die gesamte genetische Information abgerufen wird. Je nach
Während bei der Replikation ganze Chromosomen kopiert werden, Zelltyp oder Gewebe wird nur ein bestimmtes Repertoire an Ge-
beobachtet man bei der Transkription nur die Vervielfältigung bestimm- nen exprimiert. Die Genexpression beinhaltet das Umschreiben
ter Chromosomenbereiche. Eine Zelle benötigt zu einem definierten von Teilen der genetischen Information in RNA. Dieses Um-
Zeitpunkt in Abhängigkeit von ihrem Differenzierungszustand und ihrer schreiben nennt man Transkription.
biologischen Aktivität nur einen kleinen Teil der auf den Chromosomen Die Transkription hat große Ähnlichkeit mit der DNA-Bio-
liegenden Gene, die die Information für die Proteinbiosynthese enthal- synthese (Replikation, 7 Kap. 44). So sind die grundlegenden
ten (7 Kap. 48). Die für die Transkription verantwortlichen RNA-Polyme- chemischen Mechanismen, die Polarität (Syntheserichtung) so-
rasen benötigen im Unterschied zu den für die Replikation verantwort- wie die Verwendung einer Matrize gleich; ebenso findet man bei
lichen DNA-Polymerasen keinen primer. der Transkription die Phasen der Initiation, Elongation und Ter-
Bei Eukaryonten findet die Transkription im Zellkern statt. Hier müssen mination. Unterschiede zur Replikation bestehen darin, dass bei
die Primärtranskripte noch prozessiert werden, damit die daraus entste- der Transkription kein primer benötigt und generell nur ein Teil
henden RNAs aus dem Zellkern durch die Kernporen ins Cytosol trans- der DNA und auch nur ein DNA-Strang transkribiert wird. Im
portiert werden können und dort für die Proteinbiosynthese zur Verfü- Gegensatz zur DNA wird RNA ständig neu synthetisiert und
gung stehen. Dieser gesamte Prozess ist sehr komplex und muss genau nach Erledigung ihrer Aufgaben wieder abgebaut. DNA hinge-
reguliert werden (7 Kap. 47). Im Unterschied zur DNA ist RNA kurzlebi- gen soll sich während der gesamten Lebenszeit des Menschen
ger und wird wieder abgebaut, sobald das von ihr codierte Translations- nicht verändern; aus diesem Grund gibt es effiziente Mechanis-
produkt nicht mehr benötigt wird. Störungen dieser Vorgänge können men zur Reparatur von Mutationen (7 Kap. 45.2).
zu schwerwiegenden Krankheitsbildern führen. RNA hat in der Zelle viele unterschiedliche Funktionen
(s. auch 7 Tab. 10.3):
Schwerpunkte 4 in Form der messenger-RNA (mRNA) dient sie als Bauplan
für die Proteinbiosynthese,
4 Der Mechanismus der Transkription bei Pro- und Eukaryon-
4 als transfer-RNA (tRNA) bildet sie den Adapter, der für die
ten mit Initiation, Elongation und Termination
Übersetzung des Nucleinsäurecodes in die Aminosäurese-
4 Die Bedeutung der drei eukaryontischen RNA-Polymerasen
quenz benötigt wird (Translation, s. 7 Kap. 48),
für die Synthese von mRNA, rRNA und tRNA
4 als ribosomale RNA (rRNA) ist sie struktureller Bestandteil
4 Die cotranskriptionelle Prozessierung der Prä-mRNA durch
der Ribosomen und dort katalytisch wichtig für die Knüp-
5’-capping, Spleißen und 3’-Polyadenylierung
fung von Peptidbindungen,
4 Export der prozessierten RNA aus dem Zellkern und RNA-
4 in Form der Ribozyme kann RNA als Katalysator dienen,
Abbau
4 eine große Zahl kleiner RNA-Moleküle hat darüber hinaus
4 Hemmstoffe der Transkription
regulatorische Funktionen.

Bis auf die mRNA werden alle RNA-Formen auch als ncRNA
(non-coding RNA) bezeichnet, da sie keine Information für die
Aminosäureabfolge bei der Proteinbiosynthese tragen, sondern
in die Regulation von Transkription und Translation sowie in die
Prozessierung der RNA-Transkripte eingreifen.
In jüngerer Zeit sind im Rahmen des sog. ENCODE (EN-
Cyclopedia Of DNA Elements) Transkriptom-Projekts, das alle

P. C. Heinrich FUBM(Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_46, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
568 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.1 Prinzip der Transkription durch RNA-Polymerasen. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)

RNA-Moleküle einer Zelle identifizieren und sequenzieren rung des DNA-Doppelstrangs sind in . Abb. 46.1 dargestellt.
möchte, eine Vielzahl neuer RNA-Moleküle entdeckt worden, die Damit die RNA-Polymerase das einzelsträngige Transkript her-
insbesondere die Genexpression auf der Ebene der Transkription stellen kann, muss der DNA-Doppelstrang über ein kurzes Stück,
regulieren. die sog. Transkriptionsblase, durch Helicasen entwunden und
dahinter wieder neu verdrillt werden. Auftretende supercoils vor
Die Transkription wird in drei Phasen eingeteilt: und hinter der Transkriptionsblase werden durch Topoiso-
Initiation, Elongation und Termination merasen beseitigt (7 Kap. 44).
Die gesamte RNA einer Zelle wird durch den Prozess der Tran-
skription aus DNA hergestellt. Am Anfang wird ein kleiner Be- Initiation Zunächst muss die Startstelle für die Transkription
reich der DNA-Doppelhelix geöffnet, sodass zwei DNA-Einzel- gefunden werden, sodass nur der für die Funktion des betreffen-
stränge entstehen, die bei der Transkription unterschiedliche den Gens benötigte DNA-Abschnitt transkribiert wird. Hierzu
Funktionen übernehmen (. Abb. 46.1): verfügen pro- und eukaryontische Gene über sog. Promotoren.
4 Der Strang, der als Matrize für die RNA-Synthese dient, Dies sind DNA-Strukturelemente vor der Startstelle der Tran-
wird auch Matrizenstrang (Minusstrang oder antisense skription, die die Bindung der RNA-Polymerasen an den Tran-
strand) genannt. skriptionsstartpunkt ermöglichen und Informationen darüber
4 Die Basensequenz des RNA-Transkripts entspricht der Basen- enthalten, wann und mit welcher Effizienz ein Gen transkribiert
sequenz des zum Matrizenstrang komplementären DNA- wird. Derartige Strukturen der Promotorregionen werden auch
Strangs. Dieser Strang wird als Nicht-Matrizenstrang oder co- als cis-Elemente, spezifisch an sie bindende Proteine als trans-
dierender Strang (Plusstrang oder sense strand) bezeichnet. Elemente bezeichnet.
46 Die für die Transkription verantwortlichen Enzyme sind die Elongation In der Elongation verlängert die RNA-Polymerase
DNA-abhängigen RNA-Polymerasen, die analog zu den DNA- die RNA-Kette mithilfe von Ribonucleosidtriphosphaten, die
Polymerasen in der Lage sind, einen RNA-Strang durch Ribonu- zum Matrizenstrang komplementär sind.
cleosidtriphosphate in 5’,3’-Richtung zu verlängern (vgl.
7 Kap. 44). Die Assoziation dieser RNA-Polymerasen mit der Termination Für die Termination sind spezifische Signale auf der
DNA und die für die Transkription notwendige Entspiralisie- DNA vorhanden, die verhindern, dass große nicht-codierende

Transkriptionsblase RNA-Polymerase DNA-Eintrittskanal aktives Zentrum


46.2 · Transkription bei Prokaryonten
569 46
Bereiche downstream von den codierenden Bereichen transkri-
biert werden.

Transkriptionsregulation Die Regulation der Transkription ist


von besonderer Bedeutung. Die zur Aufrechterhaltung der basa-
len Funktionen von Zellen benötigten Gene werden in der Regel
ständig exprimiert. Man bezeichnet dies auch als konstitutive
Transkription, die betreffenden Gene auch als house-keeping
genes. Die Transkriptionshäufigkeit der regulierten Gene kann
im Vergleich zu den house keeping genes um Größenordnungen
größer oder kleiner sein und wird durch eine Vielzahl intra- und
extrazellulärer Faktoren beeinflusst (7 Kap. 10).

Die durch RNA-Polymerasen katalysierte


chemische Reaktion ist bei pro- und
eukaryontischen Organismen identisch
Chemisch entspricht der Reaktionsmechanismus aller RNA-
Polymerasen demjenigen der DNA-Polymerasen (. Abb. 46.2
und 44.7). Das 3’-OH-Ende eines Nucleotids greift nucleophil die
Phosphorsäureanhydridbindung zwischen dem α- und β-Phos-
phat des eintretenden Ribonucleosidtriphosphats an, sodass die-
ses unter Pyrophosphatabspaltung in die wachsende RNA-Kette
eingebaut wird. Die Sequenz der durch diese Verlängerung ein-
gebauten Ribonucleotide ist komplementär zur Basensequenz
des Matrizenstrangs (in . Abb. 46.2 nicht dargestellt) und ent-
spricht damit derjenigen des codierenden Strangs. Anstelle von
Thymin enthält die RNA Uracil, das aber in gleicher Weise mit
Adenin zwei Wasserstoffbrückenbindungen ausbildet. Die Größe
von RNA-Molekülen variiert zwischen weniger als 100 Basen bei
tRNAs und mehr als 100 kbp bei Prä-mRNAs großer Proteine.

. Abb. 46.2 Mechanismus der RNA-Biosynthese durch RNA-Polymera-


Zusammenfassung sen. Analog zum Mechanismus der DNA-Polymerasen handelt es sich um
Durch den Vorgang der Transkription wird die Kopie eines den nucleophilen Angriff des 3’-OH-Endes eines Nucleotids auf die Phos-
Gens in Form eines einzelsträngigen RNA-Moleküls erzeugt. phorsäureanhydridbindung zwischen dem α- und β-Phosphat des eintre-
tenden Ribonucleosidtriphosphats. B, Nucleinsäure-Base
Die verschiedenen Formen der RNA wie mRNA, tRNA und
rRNA sind für die Proteinbiosynthese Grundvoraussetzung.
Für die RNA-Synthese wird ein partiell einzelsträngiges DNA- den Untereinheiten α2, β, β’, ω. Das core-Enzym allein kann zwar
Molekül als Matrize benötigt, außerdem RNA-Polymerasen RNA in Anwesenheit einer DNA-Matrize synthetisieren, ist je-
und die Nucleosidtriphosphate ATP, GTP, UTP und CTP. Die doch nicht imstande, die richtigen Startstellen für die Transkrip-
Transkription wird in die Phasen Initiation, Elongation und tion zu finden. Hierfür ist die Assoziation mit dem Sigmafaktor
Termination eingeteilt, die durch eine Vielzahl von Faktoren notwendig, der für die Elongation und Termination der RNA-
reguliert werden können. Synthese nach Beginn der RNA-Polymerisation abgespalten wer-
den muss. Die RNA-Polymerase hat eine Fehlerrate von 104 bis
105. Sie ist damit 103fach höher als die der DNA-Polymerase
(7 Kap. 44). Diese hohe Fehlerrate ist jedoch aufgrund der kur-
46.2 Transkription bei Prokaryonten zen Halbwertszeit der RNA weniger folgenreich als der Einbau
eines falschen Nucleotids in die DNA, wo Informationen dauer-
Prokaryonten besitzen eine aus fünf Untereinheiten haft gespeichert sind. Dennoch verfügt die RNA-Polymerase
zusammengesetzte RNA-Polymerase über eine intrinsische Exonucleaseaktivität, die ggf. ein falsch
Die RNA-Polymerase von Prokaryonten ist ein großer Enzym- eingebautes Nucleotid wieder abspalten kann.
komplex. Das Holoenzym kann in das sog. core-Enzym (Mole- . Abb. 46.3 zeigt die bei der Transkription prokaryontischer
külmasse 380 kDa) und den Sigmafaktor (σ-Faktor) getrennt Gene stattfindenden Vorgänge in schematischer Form. Sie begin-
werden. Die Molekülmassen der heute bekannten sieben ver- nen mit der Bindung der RNA-Polymerase an die DNA. Für die
schiedenen σ-Faktoren liegen zwischen 18 und 70 kDa. So ist der Initiation ist das korrekte Auffinden des Transkriptionsstart-
Faktor σ70 für die Synthese der housekeeping-Gene bei E. coli punktes notwendig. Dies wird durch AT (Adenin-Thymin)-rei-
verantwortlich. Das core-Enzym ist ein Pentamer und besteht aus che Regionen im Promotor aller prokaryontischen Gene ermög-

RNA-Transkription# Ribonucleosidtriphosphate#
570 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.3 Transkription prokaryontischer Gene. (Einzelheiten s. Text)

licht, die sich in E. coli bei etwa –10 bp und –35 bp oberhalb reich –35 hat. Zwei Domänen des Sigmafaktors sind für die
(upstream) des Transkriptionsstartpunktes befinden und jeweils gleichzeitige Bindung an den Promotorbereich –10 und –35 ver-
46 6 bp lang sind 1 . Upstream-Bereiche werden durch negative antwortlich. Die RNA-Polymerase selbst bindet mit ihrer C-ter-
Zahlen definiert, downstream-Bereiche durch positive. minalen Domäne (CTD) im Bereich –70. Ist diese Initiations-
Für die Anlagerung der RNA-Polymerase an die Promotor- stelle aufgefunden, 3 lagert die RNA-Polymerase das erste Nu-
region im Bereich –35 bis –70 2 und die Initiation der Trans- cleosidtriphosphat an, und bildet auf diese Weise den Initia-
kription an der korrekten Stelle sorgt der Sigmafaktor, der eine tionskomplex, in dem der DNA-Doppelstrang aufgeschmolzen
hohe Affinität zu Sequenzelementen im Bereich –10 und im Be- wird 4 . Die RNA-Polymerase ist in der Lage, zwei Einzelnucleo-

RNA-Transkription Termination rho-abhängige rho-unabhängige p-Faktor


46.2 · Transkription bei Prokaryonten
571 46
tide so exakt zu positionieren, dass die Polymerisation starten A
kann. Dabei bindet die RNA-Polymerase bevorzugt Adenosintri-
phosphat als erstes Nucleotid, weshalb die meisten Transkripte
mit einem Adeninnucleotid beginnen.
Am Anfang der Transkription bildet die RNA-Polymerase
kurze RNA-Transkripte von weniger als 10 Basen Länge (abor-
tive RNA), bevor sie den Promotorbereich der DNA verlässt und
in die Elongationsphase eintritt. Es werden verschiedene Mecha-
nismen diskutiert, wie sich die RNA-Polymerase in Richtung
Transkriptionsstartpunkt bewegen kann. Das wahrscheinlichste
»scrunching-Modell« geht davon aus, dass die RNA-Polymerase
stationär auf dem Promotorbereich bleibt und die DNA einzel-
strängig in sich hineinzieht, bis der Transkriptionsstartpunkt
erreicht wird (in . Abb. 46.3 nicht gezeigt).
B
Erreichen die Transkripte eine Länge von 10 Basen und
mehr, reicht der Platz innerhalb des katalytischen Zentrums,
in dem die RNA mit dem Matrizenstrang der DNA hybridi-
siert, nicht mehr aus. Der Sigmafaktor liegt direkt über diesem
Bereich und wird von dem >10 Basen langen Transkript ver-
drängt 4 . Die Transkription kann in die Elongationsphase ein-
treten.
Unterschiedliche Sigmafaktoren können die Expression ver-
schiedener Gene bewirken und werden ihrerseits z. B. durch Mo-
difikationen aktiviert oder inaktiviert. Der Faktor σ32 z. B., der
unter Stressbedingungen exprimiert wird, bindet ausschließlich
an die Promotoren von Hitzeschockproteinen. . Abb. 46.4 Inverted repeat als Terminationssignal bakterieller Gene.
Die Elongation beginnt nach Knüpfung von etwa 10 Phos- A In den RNA-Transkripten entsteht durch inverted repeats eine Haarnadel-
struktur. B Die Haarnadelstuktur dient als Terminationssignal
phodiesterbindungen durch Ablösung des Sigmafaktors vom
Initiationskomplex. Die Elongation ist durch das core-Enzym
alleine möglich. Vom Promotor aus liest die RNA-Polymerase
den Matrizenstrang in 3’ 5’-Richtung ab und synthetisiert dabei sich in der Nähe der Terminationsstelle befindet. Rho bildet
die RNA in 5’,3’-Richtung mit einer Geschwindigkeit von ca. eine hexamere offene Ringstruktur, die sich um die RNA le-
50 Nucleotiden pro Sekunde 5 . Dabei sind jeweils etwa gen kann (. Abb. 46.3, 6a ) und sich dabei schließt. Durch
8–10 Nucleotide durch Basenpaarung mit dem Matrizenstrang Kontakt mit der RNA wird der Rho-Faktor aktiviert und
verbunden. bewegt sich unter ATP-Verbrauch mithilfe konzertierter
Falls es zu einer Basenfehlpaarung kommt, kann die RNA- Konformationsänderungen in Richtung der RNA-Poly-
Polymerase die Elongation anhalten und fehlerhaft eingebaute merase. Nach seinem Kontakt mit dem RNA-Polymerase/
Nucleotide am 3’-Ende durch die richtigen ersetzen. Dabei hat DNA/RNA-Hybrid kommt es durch eine Helicaseaktivität
die Polymerase zwei Möglicheiten: des ρ-Faktors zum Zerfall dieses Komplexes und damit zur
4 Beim pyrophosphorolytischen editing wird die Polymerisa- Beendigung der Transkription 7a .
tion einen Schritt rückgängig gemacht und das falsche Nuc- 4 Der zweite Terminationsmechanismus beruht auf der Aus-
leotid nach Anlagerung eines Pyrophosphats abgespalten. bildung von Haarnadelstrukturen in der RNA. Hierzu sind
4 Beim hydrolytischen editing hingegen kann sich die RNA- in den Genen Terminationssignale notwendig, die etwa
Polymerase eine oder mehrere Basen rückwärts bewegen 40 Basenpaare lang sind und die die in . Abb. 46.4 darge-
und die fehlerhafte Sequenz hydrolytisch abspalten. Für stellten Strukturmerkmale aufweisen. Sie enthalten alle auf
diesen Vorgang existiert ein Kanal in der RNA-Polymerase, der DNA eine GC-reiche palindromische repetitive Se-
der diesen Rückwärtsgang möglich macht. quenz (inverted repeat, 7 Kap. 10.2.2), an die sich eine Serie
von AT-Basenpaaren anschließt. Die RNA-Polymerase legt
Für die Termination muss das Ende der bei Prokaryonten häufig bei der Synthese der RNA an diesen Terminationssequen-
polycistronisch angeordneten Gene gefunden werden. Polycis- zen eine Pause ein. Durch intramolekulare Wasserstoff-
tronisch bedeutet, dass mehrere Gene unter der Kontrolle eines brückenbindungen innerhalb der neusynthetisierten RNA
Promotors stehen. Im Prinzip sind für die Termination zwei Me- bildet sich zwischen komplementären Basen eine Haar-
chanismen realisiert, ein Rho-abhängiger und ein Rho-unab- nadelstruktur aus (. Abb. 46.3, 6b). Der Kontakt dieser
hängiger. Struktur mit der RNA-Polymerase führt zu einer Konfor-
4 Im ersten Fall wird der Rho-Faktor (ρ) benötigt. Dieser bin- mationsänderung des Komplexes und zum Zerfall des
det an eine ca. 70 Nucleotide lange RNA-Sequenz (RUT, DNA-RNA-Hybrids und somit zur Termination der Trans-
Rho utilization sequence, cytosinreich und guaninarm), die kription 7b .
572 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

Zur Hemmung der RNA-Polymerase III werden relativ große


Zusammenfassung Mengen des Gifts benötigt (10‒5 bis 10‒4 mol/l) (. Abb. 46.21).
Bei Prokaryonten kommt i.d.R. nur eine RNA-Polymerase vor, Alle drei eukaryontischen RNA-Polymerasen bestehen aus
die für die 5’,3’-Verknüpfung von Ribonucleotiden im wach- mindestens 10–12 Untereinheiten mit einer Molekülmasse von
senden RNA-Molekül verantwortlich ist. Mit Hilfe eines Sigma- insgesamt etwa 500 kDa. Ohne die Anwesenheit sog. allgemei-
faktors bildet sie am Promotor den Initiationskomplex. Für ner/basaler Transkriptionsfaktoren sind sie nicht zur Initiation
die Elongation wird der Sigmafaktor nicht mehr benötigt der Transkription imstande. Die jeweilige Zugehörigkeit eines
und vom Initiationskomplex freigesetzt. Für die Termination allgemeinen Transkriptionsfaktors zu einer RNA-Polymerase
sind der Terminationsfaktor Rho oder Haarnadelstrukturen wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass an die Abkürzung
innerhalb der neu synthetisierten RNA verantwortlich. für den Transkriptionsfaktor (TF) römische Ziffern angehängt
werden, die mit der Nummerierung der RNA-Polymerasen über-
einstimmen. Daran schließt sich ein weiterer Großbuchstabe an,
der den jeweiligen Transkriptionsfaktor identifiziert.
46.3 Transkription bei Eukaryonten Beispiel: TFIIB = allgemeiner/basaler Transkriptionsfaktor B
für die RNA-Polymerase II.
46.3.1 RNA-Polymerasen I–III Da die drei verschiedenen RNA-Polymerasen eukaryonti-
scher Zellen für die Transkription jeweils ganz unterschiedlicher
Eukaryonten besitzen drei verschiedene RNA-Poly- Gruppen von Genen mit unterschiedlichen Promotoren verant-
merasen mit jeweils unterschiedlicher Funktion wortlich sind, ist es nicht erstaunlich, dass sich die Bildung der
Im Gegensatz zu Prokaryonten kommen bei allen Eukaryonten Initiationskomplexe je nach RNA-Polymerase unterscheidet.
drei verschiedene RNA-Polymerasen vor, die sich durch die Zahl
der Untereinheiten, ihre Lokalisation im Zellkern und durch ihre
Funktion unterscheiden (. Tab. 46.1). Die RNA-Polymerase I ist 46.3.2 Der Initiationskomplex
innerhalb des Zellkerns auf den Nucleolus begrenzt. Sie transkri- der RNA-Polymerase II
biert dort das Gen für den 45S-Vorläufer der ribosomalen RNA.
Die RNA-Polymerase II befindet sich im Zellkern und transkri- Von der RNA-Polymerase II erkannte Promotoren
biert die für Proteine codierenden Gene und verschiedene kleine besitzen hoch konservierte Sequenzmotive
RNAs. Die Transkriptionsprodukte werden gewöhnlich als Prä- Die RNA-Polymerase II transkribiert alle für Proteine codieren-
mRNA oder hnRNA (heterogeneous nuclear RNA) bezeichnet. den Gene und kann daher an zahlreiche verschiedene Promoto-
Die Gleichsetzung von Prä-mRNA und hnRNA ist nicht ganz ren binden, die bestimmte Konsensus-Sequenzen aufweisen. Die
korrekt, da hnRNA nicht nur die zahlreichen Prä-mRNAs im RNA-Polymerase II transkribiert daneben auch einige andere
Zellkern, sondern auch alle Zwischenstufen von Spleißproduk- RNAs, z. B. die Pri-miRNAs (7 Abb. 47.13). In . Abb. 46.5 sind
ten einer Prä-mRNA beschreibt. Die RNA-Polymerase III tran- die typischen Strukturelemente von Promotoren proteincodie-
skribiert schließlich alle tRNA-Gene sowie das Gen für die render Gene zusammengestellt:
5S-rRNA und einige weitere kleine RNAs. 4 BRE (TFIIB recognition element)
Die drei RNA-Polymerasen unterscheiden sich in ihrer 4 TATA-Box (Sequenzmotiv TATAAA)
Hemmbarkeit durch α-Amanitin, dem Gift des grünen Knollen- 4 Inr (Initiatorelement)
blätterpilzes (Amanita phalloides, . Abb. 46.21). Während die 4 MTE (motif ten element) und
RNA-Polymerase II bereits durch geringe Konzentrationen die- 4 DPE (downstream promoter element)
ses zyklischen Oktapeptids gehemmt wird (10‒9 bis 10‒8 mol/l),
ist die RNA-Polymerase I unempfindlich gegenüber α-Amanitin. Für seine optimale Funktionsfähigkeit muss ein Promotor min-
destens zwei oder drei dieser fünf Elemente enthalten.

. Tab. 46.1 Eukaryontische RNA-Polymerasen Für die Bildung des eukaryontischen


Initiationskomplexes sind allgemeine (basale)
Typ Vor- Produkt Hemmbar-
Transkriptionsfaktoren notwendig
kommen keit durch
α-Amanitin Im Gegensatz zu den prokaryontischen RNA-Polymerasen sind
eukaryontische RNA-Polymerasen nicht imstande, alleine an
RNA- Nucleolus 45S-Prä-rRNA – DNA zu binden. Sie benötigen für die Bindung an die Promotoren
Polymerase I (18S, 5,8S, 28S)
allgemeine/basale Transkriptionsfaktoren, mit denen sie den Ini-
tiationskomplex bilden, der für die korrekte Bindung der RNA-
46 RNA-
Polymerase II
Nucleus Prä-mRNA (mRNA)
snRNA (U1, U2, U4, U5)
+
Polymerase an der Startstelle der Transkription verantwortlich ist.
snoRNA
Darüber hinaus befinden sich proximal zum Transkriptions-
RNA- Nucleus Prä-tRNA (tRNA) (+) startpunkt weitere Sequenzelemente (in . Abb. 46.5 nicht darge-
Polymerase III rRNA (5S) stellt), eine CAAT-Box und mehrere GC-Boxen, an die zusätz-
snRNA (U6)
liche Transkriptionsfaktoren binden und die die Transkriptions-
snoRNA (U3)
initiation stimulieren können.
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
573 46

. Abb. 46.5 Strukturmerkmale der Promotorregionen der von der RNA-Polymerase II transkribierten Gene. Bei den von der RNA-Polymerase II
transkribierten Genen liegen upstream oder downstream des Transkriptionsstartpunkts an den angegebenen Positionen die verschiedenen Konsensus-
Sequenzelemente. (Einzelheiten s. Text)

Der Initiationskomplex wird aus zahlreichen kondensierte DNA (7 Abb. 10.8) für die Transkription zugäng-
Transkriptionsfaktoren schrittweise aufgebaut lich zu machen und ihre Interaktion mit oft weit entfernten akti-
Die Bildung des Initiationskomplexes (. Abb. 46.6) beginnt mit vierenden oder hemmenden Transkriptionsfaktoren zu ermögli-
der Bindung des TATA-Box-Bindeproteins (TBP) an die TATA- chen, die an enhancer oder silencer-Elemente gebunden sind.
Box (mit der Konsensussequenz TATAAAA) 1 . Das TBP ist Als enhancer bzw. silencer werden distale Sequenzelemente
eine Untereinheit des allgemeinen Transkriptionsfaktors TFIID zwischen –1.000 bis –3.000 bp upstream vom Transskriptions-
und bindet über eine β-Faltblattstruktur in der kleinen Furche start bezeichnet. Sie binden induzierbare und/oder aktivierbare
der DNA-Doppelhelix. Dies ist für Transkriptionsfaktoren unty- Transkriptionsfaktoren, die meist in phosphorylierter Form ver-
pisch – normalerweise binden diese mit einer α-Helix in der gro- stärkend (enhancer) oder hemmend (silencer) auf die basale
ßen Furche der DNA-Doppelhelix. Durch die Bindung von TBP Transkriptionsinitiation wirken (. Abb. 46.6) 5 .
wird die DNA mit einem Winkel von etwa 80° geknickt (in der Aktivierte Transkriptionsfaktoren können ihre Wirkung auf
Abbildung nicht zu sehen) und damit die Wechselwirkungen zweierlei Arten entfalten:
zwischen den AT-Paaren gelockert. 4 Sie binden über Mediatorproteine an den RNA-Polymerase-
Im Anschluss an die Bindung von TFIID lagern sich die allge- komplex und erhöhen dessen Bindungsaffinität zu dem
meinen Transkriptionsfaktoren TFIIA und TFIIB an die BRE- aktivierten Promotor.
Sequenz an und bilden gemeinsam den DAB-Komplex (TFIID/ Prominente Mediatorproteine, die auch als Coaktivatoren
TFIIA/TFIIB)-Komplex 2 . TFIIB bindet dabei neben dem TBP bezeichnet werden, sind die nahe verwandten Proteine CBP
des TFIID auch DNA-Bereiche upstream vom BRE und downstream (cAMP response element binding protein) und p300, deren
von der TATA-Box und stellt damit den Kontakt zur RNA-Poly- molekulare Massen ca. 300 kDa betragen (7 Abb. 47.4).
merase II her, die sich im nächsten Schritt an den Promotorbereich 4 Zusätzlich können einige Transkriptionsfaktoren, aber
anlagert 3 . TFIIB sorgt durch eine asymmetrische Bindung an auch einige Mediatorproteine, aufgrund ihrer intrinsischen
TBP für die Unidirektionalität der Transkription. Histon-Acetyltransferase (HAT)-Funktion das Chromatin
TFIIF bindet dann zusammen mit der RNA-Polymerase II an durch Acetylierung der Histone auflockern und damit
den Initiationskomplex und anschließend noch die Faktoren den Zugang der RNA-Polymerase zur DNA erleichtern
TFIIE und TFIIH 4 . TFIIH besteht aus 10 Untereiheiten und (7 Abb. 47.4B).
hat eine große Molekülmasse, die in etwa der der RNA-Polyme-
rase entspricht (in . Abb. 46.6 nicht maßstabsgerecht dargestellt). Die C-terminale Domäne der RNA-Polymerase II ist
Eine TFIIH-Untereinheit hat Helicaseaktivität (7 Kap. 44) und für die Bildung des Initiationskomplexes wichtig
trennt unter ATP-Verbrauch die Wasserstoffbrücken zwischen Bei der Assemblierung des Initiationskomplexes spielt die
den DNA-Strängen in der Promotorregion. C-terminale Domäne (CTD) der größten Untereinheit der RNA-
Der so gebildete Initiationskomplex hat inklusive der RNA- Polymerase II eine wichtige Rolle. Sie ist mit ca. 80 nm 7-mal
Polymerase II (ca. 600 kDa) eine Molekülmasse von ca. 2.200 kDa länger als der Rest des Enzyms und damit in der Lage, diverse
und kann in vitro gereinigte DNA transkribieren. Für die Tran- Faktoren der Elongations- und der Prozessierungmaschinerie
skription in vivo ist darüber hinaus noch eine große Zahl weiterer für die RNA zu binden. Diese Faktoren sind an der CTD ideal
Proteine notwendig, die einen Mediatorproteinkomplex 5 positioniert, da sich die CTD in der Nähe des RNA-Polyme-
bilden. Sie werden u. a. dafür benötigt, um die in Nucleosomen raseausgangskanals für RNA befindet (s. . Abb. 46.1).
574 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

46 . Abb. 46.6 Aufbau des Initiationskomplexes der RNA-Polymerase II. BRE, TF II B recognition element, CSC, cap synthesizing complex; CTD, C-terminale
Domäne; Inr, Initiatorelement; in der Abbildung sind die DNA-Sequenzmotive MTE, DPE nicht und BRE vereinfacht dargestellt. (Einzelheiten s. Text)

Spleiß-Faktoren snRNPS
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
575 46
Die CTD besteht aus einer repetitiven Sequenz des Hepta-
peptids –Tyr–Ser–Pro–Thr–Ser–Pro–Ser–. Dieses Heptapeptid
ist bei so unterschiedlichen Organismen wie der Hefe und dem
Menschen in gleicher Weise vorhanden. Die humane RNA-Poly-
merase II enthält 52 (!) Kopien dieses Heptapeptids, niedere Eu-
karyonten verfügen über eine etwas geringere Anzahl. Seine
Deletion ist letal.
Die CTD wird später beim Eintritt in die Elongationsphase
durch cyclinabhängige Kinasen phosphoryliert (. Abb. 46.6, 6 ),
was der Rekrutierung von verschiedenen Proteinkomplexen für
die Elongation der Transkription und der Modifikation von Prä-
mRNA dient. . Abb. 46.7 Transkriptionsphasen und die verschiedenen rekrutierten RNA-
Prozessierungsfaktoren der RNA-Polymerase II in Abhängigkeit des Phospho-
rylierungszustandes des Heptapeptids der CTD. (Einzelheiten s. Text). (Adap-
46.3.3 Elongation und Termination der Transkrip- tiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)

tion und Prozessierung der Prä-mRNA


Schließlich werden an der CTD Faktoren gebunden, die an
Für die Elongation der Transkription der für Proteine codieren- der Polyadenylierung am 3’-Ende der mRNA beteiligt sind 9 .
den Gene sind viele Komponenten des Initiationskomplexes Anschließend zerfällt der Komplex und die fertig prozessierte
nicht mehr notwendig. Dafür muss die Polymerase jetzt mit Pro- mRNA, die Spleißfaktoren und die Komponenten der Poly-
teinen interagieren, die folgende Aufgaben haben: adenylierungsmaschinerie werden freigesetzt 10 .
4 Stimulation des Elongationsvorgangs . Abb. 46.7 zeigt zusammenfassend die verschiedenen rekru-
4 Anheftung der 5’-cap-Gruppe tierten RNA-Prozessierungsfaktoren in Abhängigkeit vom Phos-
4 Rekrutierung der Komponenten des Spleißapparats (s. u.) phorylierungszustand der CTD.
4 Termination der Transkription und die Anheftung der für
mRNA typischen Poly(A)-Sequenz Die Elongation findet in Anwesenheit
von Histonen statt
Auch hier spielt die C-terminale Domäne (CTD) der RNA-Poly- Da DNA im Zellkern gebunden an Histone als Chromatin vor-
merase II eine entscheidende Rolle. In jedem der 52 Heptapep- liegt, muss sie von den Histonen abgelöst werden, damit die
tide (Tyr–Ser–Pro–Thr–Ser–Pro–Ser) befinden sich drei Serin- Elongation der Transkription stattfinden kann. Für diese Ablö-
reste, von denen zwei (an den Positionen 2 und 5) durch spezifi- sung der DNA sind verschiedene Mechanismen bekannt. Einer
sche Proteinkinasen phosphoryliert bzw. durch entsprechende dieser Mechanismen ist in . Abb. 46.8 gezeigt. Der Faktor FACT
Phosphatasen dephosphoryliert werden können. (facilitates chromatin transcription) ist ein Heterodimer und
Eine Phosphorylierung der CTD an Ser 5 des Heptapeptids besteht aus Spt16 (suppressor of Ty factors) und SSRP1 (structure
führt dazu, dass sich die Initiationsfaktoren und Mediatoren von specific recognition protein 1). Chromosomale DNA enthält in
der RNA-Polymerase II ablösen und Elongationsfaktoren auf- ihren oktameren Nucleosomenkernen H2A/H2B-Histon-Dime-
grund ihrer höheren Affinität für phosphorylierte Heptapeptid- re und H3/H4-Histontetramere (7 Kap. 10.2). Spt16 bindet an
sequenzen anlagern können (. Abb. 46.6, 6 ). Die für die Phos- H2A/H2B-Dimere und SSRP1 an H3/H4-Tetramere. Das Hete-
phorylierung der CTD verantwortlichen Proteinkinasen gehö- rodimer FACT ist in der Lage, während der Elongationsphase in
ren in die Gruppe der cyclinabhängigen Proteinkinasen (Cdks, einem ersten Schritt ein H2A/H2B-Dimer zu entfernen und nach
7 Kap. 43). Im Einzelnen handelt es sich um die Komplexe aus erfolgtem Durchlauf der RNA-Polymerase II wieder einzubauen.
Cdk7/Cyclin H, Cdk8/Cyclin C und Cdk9/Cyclin T. Cdk7 ist da-
bei eine Untereinheit des Transkriptionsfaktors TFIIH. Im Ge- 5’-capping, Spleißen und 3’-Polyadenylierung
gensatz zu den in 7 Kap. 43 besprochenen Cyclinen A, B, D und erfolgen cotranskriptional
E machen die Cycline H, C und T keine Konzentrationsänderun- Anheftung der 5’-cap-Gruppe mRNA-Moleküle tragen ein me-
gen während des Zellzyklus durch. Für die Dephosphorylierung thyliertes Guaninnucleotid am 5’-Ende, welches auch als 5’-cap
der CTD ist die Proteinphosphatase Fcp1 (TFIIF-assoziierte (Kappe oder Kopfgruppe) bezeichnet wird (. Abb. 46.9B). Die
CTD-Phosphatase 1) erforderlich. Darüber hinaus existieren einzelnen Schritte, die zu dieser Modifikation führen, sind in
weitere Elongationsfaktoren. . Abb. 46.9A dargestellt:
Die Phosphorylierung der CTD an Ser 5 ist auch das Signal 4 Durch eine RNA-Triphosphatase wird am 5’-Nucleosidtri-
zur Bindung von Komponenten des cap-synthesizing complexes phosphatende der Prä-mRNA der γ-Phosphatrest abgespal-
(CSC, 7 ). ten, sodass ein Diphosphat-Ende entsteht.
Eine Phosphorylierung der CTD an Serinen des Heptapep- 4 Eine Guanylyltransferase heftet aus einem GTP unter
tids in Position 2 führt im weiteren Verlauf zur Bindung von Fak- Pyrophosphatabspaltung ein GMP an, wobei eine unge-
toren, die eine Prozessierung der RNA ermöglichen (Spleißfak- wöhnliche 5’ 5’-Triphosphatverknüpfung entsteht.
toren, 8 ). Beim Spleißen werden bestimmte nicht-codierende 4 Methyltransferasen methylieren schließlich mit S-Adeno-
RNA-Bereiche (Introns) herausgeschnitten. sylmethionin (SAM, 7 Kap. 27.2.4) das angeheftete Guanin-
576 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.8 Elongation der RNA-Polymerase II vermittelten Transkription in Anwesenheit von Histonen. Rolle des Elongationsfaktors FACT (SSRP1/
Spt16) bei der Elongation der Transkription von Chromatin. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)

stehenden Prä-mRNA in Kontakt mit der CTD der RNA-Poly-


A B
merase II.
Das capping findet bereits kurz nach dem Beginn der Elon-
gationsphase statt, also etwa nach Synthese der ersten 20 Nuc-
leotide der Prä-mRNA. Danach fallen die für die Anheftung der
cap-Gruppe benötigten Enzymaktivitäten von der CTD ab, da
deren Phosphorylierungsmuster sich ändert (. Abb. 46.6).
Die cap-Gruppe der mRNA hat eine Reihe wichtiger Funk-
tionen:
4 Sie schützt die entstehende mRNA vor dem Abbau durch
Nucleasen.
4 Sie ist ein Signal für den Transport der mRNA durch die
Kernporen ins Cytosol.
4 Sie wird von der kleinen ribosomalen 40 S-Untereinheit
gebunden und ist damit ein wesentliches Element bei der
Initiation der Translation (7 Kap. 48).

Die meisten Gene höherer Eukaryonten sind diskontinuierlich


und müssen gespleißt werden 1977 wurde in den Laboratorien
von Richard Roberts und Phil Sharp unabhängig voneinander
entdeckt, dass Gene eukaryontischer Zellen diskontinuierlich auf
. Abb. 46.9 Biosynthese (A) und Struktur (B) der 5’-cap-Gruppe der der DNA angeordnet sind. Dies ergab sich aus elektronenmikro-
Prä-mRNA. (Einzelheiten zur Biosynthese s. Text). (Adaptiert nach Nelson,
skopischen Untersuchungen von Hybriden zwischen der Oval-
Cox 2011)
bumin-mRNA und dem Ovalbumin-Gen. Wie schematisch in
. Abb. 46.10A dargestellt, fanden sich nach Hybridisierung
nucleotid in Position 7 und gelegentlich auch Ribosereste DNA-Schleifen (A-G), die nicht mit der mRNA in Wechselwir-
46 am 2’-OH der beiden folgenden Nucleotide. kung traten. Aus diesem Ergebnis musste geschlossen werden,
dass das Gen für Hühnerovalbumin nicht-codierende »interve-
Diese drei beteiligten Enzyme bilden den cap synthesizing com- nierende« Sequenzen enthält. Diese nicht-codierenden Sequen-
plex (CSC) und liegen assoziiert mit der phosphorylierten CTD zen werden als Introns (grau in . Abb. 46.10A) bezeichnet, die in
der RNA-Polymerase II vor. Über einen weiteren Proteinkom- der mRNA erscheinenden und damit exprimierten Sequenzen
plex, den cap-binding complex (CBC), bleibt das 5’-Ende der ent- als Exons (rot in . Abb. 46.10B). Die RNA-Polymerase II kann
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
577 46
A B

. Abb. 46.10 Hybridisierung der Ovalbumin-DNA mit seiner mRNA. A Schematische Darstellung des DNA-mRNA-Hybrids; B Transkription des Oval-
bumin-Gens und Spleißen der Prä-mRNA; bp, Basenpaare; Nt, Nucleotide. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)

nicht zwischen Exons und Introns unterscheiden. Deswegen Rest als spätere Verzweigungsstelle von großer Bedeutung ist.
müssen die Introns (hellrot) aus der mit einer 5’-cap-Gruppe Die 5’-Spleißstelle ist durch die Basenfolge AGGUA/GAGU, die
(grün) versehenen Prä-mRNA entfernt werden. Dieser Vorgang 3’-Spleißstelle durch eine pyrimidinreiche Sequenz, gefolgt von
wird auch als Spleißen der Prä-mRNA (pre-mRNA splicing) be- AGG, gekennzeichnet.
zeichnet und beinhaltet die Entfernung der Introns und die ba- . Abb. 46.12 stellt das bei allen Spleißvorgängen in mensch-
sengenaue Verknüpfung der Exons (rot). lichen Zellen zugrunde liegende Prinzip dar. Dieses beruht auf
Häufig können Prä-mRNAs auf verschiedene Weise gespleißt zwei Umesterungen. Die freie 2’-OH-Gruppe des innerhalb des
werden, sodass unterschiedliche mRNAs entstehen, die wieder- Introns lokalisierten Adeninnucleotids greift die Phosphodi-
um in der Translation (7 Kap. 48) mehrere alternative Genpro- esterbindung am 5’-Exon-Intron-Übergang an. Dadurch kommt
dukte hervorbringen können. Diesen Vorgang nennt man alter- es an dieser Stelle zum Bruch des RNA-Strangs; im Intron bildet
natives Spleißen; er wird später noch genauer beschrieben sich durch diesen Vorgang eine Lasso-Struktur (lariat), die
(7 Kap. 47.2.3). durch eine 2’,5’-Phosphodiesterbindung charakterisiert ist. Das
entstandene freie 3’-OH-Ende des ersten Exons greift nun in ei-
Mechanismus des Spleißens Das korrekte Entfernen der nicht- ner zweiten Umesterungsreaktion am 3’-Übergang zum Exon 2
codierenden Sequenzen aus der Prä-mRNA und das Zusammen- an, wodurch das Intron entfernt wird und die beiden Exons ver-
fügen der Exons zur funktionsfähigen mRNA ist ein komplizier- knüpft werden. Das Spleißen erfordert keine Zuführung von
ter Prozess, der mit höchster Genauigkeit ablaufen muss. Auslö- Energie, da die Freie Energie jeder gespaltenen Phosphodiester-
ser für den Spleißprozess und die Rekrutierung der benötigten bindung erhalten bleibt.
Spleißfaktoren (snRNPs) ist die Phosphorylierung der Ser-
2-Reste in den Heptapeptidsequenzen der CTD der RNA-Poly- Aufbau des Spleißosoms Trotz eines einheitlichen Prinzips wird
merase II (. Abb. 46.6, 8 ). das Spleißen der Prä-mRNA in verschiedenen Organismen me-
Von großer Bedeutung für das Spleißen sind dabei die in chanistisch auf unterschiedliche Weise gelöst. Im Prinzip ist für
. Abb. 46.11 dargestellten Sequenzen an den Exon/Intron-Über- die Katalyse des Spleißvorgangs kein spezifisches Protein not-
gängen sowie im Intron. Vom Intron aus gesehen unterscheidet wendig. Vielmehr hat die RNA selbst die nötige katalytische Ak-
man eine 5’- und eine 3’-Spleißstelle sowie eine spezifische tivität. Die Raumstruktur der RNA, die durch die Basensequenz
Sequenz im Inneren des Introns, innerhalb derer ein Adenin (A)- und durch die innerhalb eines Strangs vorkommenden Basen-

. Abb. 46.11 Konservierte Sequenzen an den Exon/Intron-Übergängen und in den Introns. (Einzelheiten s. Text)

5’-Spleißstelle 3’-Spleißstelle
578 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.12 Mechanismus des Spleißens. Y, beliebige Pyrimidinbase. (Einzelheiten s. Text)

paarungen definiert ist, bildet eine wesentliche Voraussetzung auch U2AF sind als non-snRNPs RNA-frei 2 . Auch bei U2
für das richtige Auffinden der Spleißstellen. Ein derartiges pro- sind für das korrekte Auffinden der Verzweigungsstelle Ba-
teinfreies Spleißen von RNA-Molekülen ist allerdings bisher nur senpaarungen zwischen der Prä-mRNA und dem RNA-An-
bei einfachen Eukaryonten nachgewiesen worden. Es hat sich teil von U2 notwendig. Allerdings bleibt dabei das für die
damit gezeigt, dass auch RNA-Moleküle katalytische Eigenschaf- spätere Umesterung benötigte »A« (rot) ungepaart.
ten besitzen, diese also nicht auf die Proteine beschränkt sind. In 4 Jetzt lagern sich die U4-, U5- und U6-snRNPs an den Kom-
Analogie zu den als Proteine vorliegenden Enzymen nennt man plex an 3 . U4 und U6 werden dabei durch komplementäre
katalytisch aktive RNA-Moleküle auch Ribozyme (7 Kap. 7.4). Basenpaarung ihrer RNA-Komponenten zusammengehal-
Bei höheren Eukaryonten ist für das korrekte Spleißen der ten, U5 ist nur durch eine schwächere Protein-Protein-
Prä-mRNA allerdings ein sehr komplexer Apparat notwendig, Wechselwirkung assoziiert.
bei dem Ribonucleoproteine, d. h. Komplexe aus Proteinen und 4 U1 wird abgespalten und an der 5’-Spleißstelle durch U6 er-
RNA, benötigt werden. Diese Komplexe lagern sich zu dem sog. setzt.
Spleißosom zusammen. . Abb. 46.13 zeigt schematisch die am 4 U4 wird vom Komplex freigesetzt und eine Interaktion von
Spleißosom stattfindenden Vorgänge. Für das Spleißen werden U6 mit U2 durch RNA-RNA-Basenpaarung ermöglicht.
kleine RNA-Moleküle, die snRNAs (small nuclear RNAs), benö- Diese Konstellation ist notwendig, damit die beiden Spleiß-
tigt. Diese liegen im Komplex mit Proteinen vor und werden als stellen, d. h. die 2’-OH-Gruppe des Adenin-Nucleotids an
snRNPs (small nuclear ribonucleoproteins, sprich »snörps«) be- der Verzweigungsstelle und das 5’-Ende des Introns mitein-
zeichnet. ander reagieren können (1. Umesterung 4 ).
Die Entfernung eines Introns zwischen zwei Exons (Exon 1 4 Die 2. Umesterung wird durch das U5-snRNP katalysiert,
und 2 in . Abb. 46.13) erfolgt in folgenden Schritten: welches die beiden Exons in unmittelbare Nachbarschaft
4 An das 5’-Ende des Introns lagert sich das U1-snRNP an 1 . bringt. Dadurch wird der nucleophile Angriff der freien
Die notwendige Genauigkeit dieser Anlagerung wird durch 3’-OH-Gruppe von Exon 1 auf die Phosphodiesterbindung
Basenwechselwirkungen zwischen der Konsensus-Sequenz am Übergang vom Intron zum Exon 2 ermöglicht 5 .
auf der Prä-mRNA und dem RNA-Anteil von U1 gewähr- 4 Der Spleißvorgang wird dadurch abgeschlossen, dass das
46 leistet. zum Lasso verknüpfte Intron zusammen mit den Spleißfak-
4 Nachdem BBP (branch point binding protein, kein snRNP) toren abdissoziiert 6 . Die Intron-RNA wird abgebaut oder
an die Verzweigungsstelle und das Protein U2AF (U2 auxi- prozessiert, wobei die Spleißfaktoren freigesetzt und für den
liary factor, kein snRNP) an das 3’-Ende des Introns gebun- nächsten Spleißzyklus bereitgestellt werden. Bestimmte In-
den haben, kann das U2-snRNP das BBP verdrängen und tronbereiche können für snRNAs, miRNAs oder andere re-
an der Verzweigungsstelle assemblieren. Sowohl BBP als gulative RNAs codieren (7 Kap. 47.2.5).
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
579 46

. Abb. 46.13 Mechanismus des Spleißens in höheren Eukaryonten durch das Spleißosom. BBP, branch point binding protein; U2AF, U2-auxiliary factor;
Y, beliebige Pyrimidinbase; , Pseudouridin. (Einzelheiten s. Text)
580 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

Poly(A)-Signal-
sequenz

mRNA-Spaltung
Poly(A)-Signalsequenz
mRNA

uncapped 5’-Ende
Xrn2

Poly(A)-Polymerase (PAP)
n PPi

Poly(A)-Bindeprotein (PABP II)


Xrn2

. Abb. 46.14 Mechanismus der Polyadenylierung der mRNA und »Torpedomodell« der eukaryontischen Transkriptionstermination. (Einzelheiten s. Text).
(Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)

Übrigens nen katalysieren können und allgemein als Ribozyme be-


RNAs können als Ribozyme enzymatische zeichnet werden. So sind beispielsweise die 23S-rRNA der
Eigenschaften aufweisen pro- und die 28S-rRNA der eukaryontischen Ribosomen in
1982 entdeckten Thomas Cech und Mitarbeiter, dass be- der Lage, im Rahmen der Proteinbiosynthese als Peptidyl-
stimmte RNA-Moleküle in dem Protozoon Tetrahymena ther- transferase Peptidbindungen zu knüpfen (7 Kap. 48.1.4).
mophila in der Lage sind, sich selbst zu spleißen, ohne Zuhil- Auch bei der Frage nach der Entstehung des Lebens liefern
fenahme von Proteinen. Man spricht hier von autokatalyti- die katalytischen Eigenschaften der RNA einen wichtigen

46 schem Spleißen oder self-splicing. Für diese Entdeckung wur-


de Thomas Cech gemeinsam mit Sidney Altman 1989 mit
Beitrag: Man geht davon aus, dass erste Lebensformen ein-
mal in einer RNA-Welt entstanden sein könnten, in der Ribo-
dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. zyme wichtige Reaktionen katalysiert haben (RNA-Welt-Hy-
Heute weiß man, dass jede Zelle zahlreiche katalytisch aktive pothese). Erst im Laufe der Evolution wurden nach dieser
RNA-Moleküle besitzt, die die unterschiedlichsten Reaktio- Theorie die enzymatischen Aktivitäten von Proteinen über-
6 nommen.
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
581 46
Das Spleißen erfolgt cotranskriptional. Die Anheftung der für
den Spleißvorgang benötigten snRNPs sowie einer großen Zahl
weiterer Proteine (insgesamt etwa 150!) zum Spleißosom wird
vom Phosphorylierungs-/Dephosphorylierungsmuster der C-
terminalen Domäne (CTD) der RNA-Polymerase II gesteuert.
Durch die erreichte räumliche Nähe von primär transkribierter
RNA und den snRNPs wird eine schnelle Reaktion aller beteilig-
ten Komponenten sichergestellt; abgespaltene snRNPs können . Abb. 46.15 Transkription durch die RNA-Polymerase I. (Einzelheiten
dann leicht in den nächsten Spleißzyklus eintreten. s. Text)
Zur spezifischen Erkennung von RNA besitzen viele RNA-
bindende Proteine ein RRM (RNA-recognition motif), das aus
80‒90 Aminosäuren besteht und ein viersträngiges antiparalleles pe trägt. Die Transkription findet über die gesamte zu transkri-
Faltblatt ausbildet. Im Gegensatz zu DNA-bindenden Proteinen, bierende Sequenz mit unterschiedlicher Geschwindigkeit statt;
die oft in der großen Furche der DNA-Doppelhelix binden, in- in den Terminationsregionen scheint sie sich zu verlangsamen
teragieren RNA-bindende Proteine mit flexiblerer einzelsträngi- und damit der Xrn2 die Gelegenheit zu geben, die RNA-Polyme-
ger RNA. Ein typisches Beispiel für ein derartiges Protein ist der rase einzuholen. Erreicht die Exonuclease Xrn2 die Transkrip-
U1-snRNP-Komplex. tionsblase auf der DNA, kommt es zum Abbruch der Transkrip-
tion und zum Zerfall des DNA-RNA-Polymerasekomplexes.
An das 3’-Ende der Prä-mRNA wird eine Poly(A)-Sequenz ange-
hängt Der letzte cotranskriptionale Vorgang führt zu einer Spal-
tung der synthetisierten Prä-mRNA an ihrem 3’-Ende, das an- 46.3.4 Transkription durch die
schließend einer weiteren Modifikation unterzogen wird (. Abb. RNA-Polymerasen I und III
46.14, links). Diese besteht in der Anheftung von 50 bis mehr als
200 Adenylresten, dem sog. Poly(A)-Ende bzw. Poly(A)-Schwanz. Die RNA-Polymerase I transkribiert die Gene der ribosoma-
Das Signal für die Polyadenylierung ist eine spezifische Sequenz len RNA. Der zugehörige Promotor besteht aus zwei Teilen,
in der naszierenden Prä-mRNA, die aus den sechs Basen AAU- einem sog. core-Promotor im Bereich der Startstelle der Tran-
AAA besteht und als Polyadenylierungssequenz bezeichnet wird. skription und einem Kontrollelement UCE (upstream control
Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Phosphorylierungsmuster der element), das 100–150 Basenpaare upstream der Startstelle gele-
C-terminalen Domäne der RNA-Polymerase II erneut geändert. gen ist (. Abb. 46.15). Beide Promotorregionen sind, anders als
Dies löst folgende Vorgänge aus: der Promotor der RNA-Polymerase II, reich an GC-Basenpaa-
4 Spaltung der Prä-mRNA 10–30 Nucleotide downstream von ren. Der Transkriptionsfaktor UBF1 (upstream binding factor 1)
der Polyadenylierungssequenz durch den Endonuclease- bindet zunächst an das UCE-Kontrollelement und wandert von
komplex aus CstF (cleavage stimulation factor) und CPSF dort zum core-Promotor. In der Folge werden der Transkrip-
(cleavage and polyadenylation specificity factor) tionsfaktor SL1 und die RNA-Polymerase I rekrutiert; sie bilden
4 Ablösung von CstF gemeinsam den Initiationskomplex.
4 Bindung der Polyadenylatpolymerase (PAP) am 3’-Ende
und Polyadenylierung Die Prozessierung der Primärtranskripte ribosomaler RNA Die
4 Anlagerung des Poly(A)-Bindeproteins PABP II (Poly(A) Bildung ribosomaler RNA-Moleküle bei Eukaryonten entspricht
tail binding protein II) und Freisetzung von PAP und CPSF im Prinzip derjenigen bei Prokaryonten. Gene für rRNA finden
sich in vielen hundert Kopien im Genom und sind in Form gro-
Die Poly(A)-Sequenz der mRNA schützt die entstehende RNA ßer Vorläufermoleküle vorhanden.
vor dem Abbau durch Nucleasen und bestimmt somit die Halb- E. coli besitzt drei verschiedene rRNAs: 5S-, 16S- und 23S-
wertszeit der mRNA. rRNA, die aus langen Vorläufermolekülen mit Hilfe von ver-
schiedenen RNasen entstehen. Weitere Verkürzungen und Me-
Die Termination der Transkription in Eukaryonten ist erst ansatz- thylierungen erfolgen erst, wenn die rRNAs bereits mit riboso-
weise aufgeklärt Im Unterschied zur Transkriptionstermination malen Proteinen assembliert sind: Die 5S- und die 23S-rRNA
bei Prokaryonten sind die Vorgänge, die zur Termination der bilden gemeinsam mit ca. 34 verschiedenen Proteinen die große
Transkription bei Eukaryonten führen, noch nicht vollständig 50S-Untereineit des prokaryontischen Ribosoms, die 16S-rRNA
verstanden. Nach dem sog. »Torpedomodell« wird trotz der Wir- gemeinsam mit 21 verschiedenen Proteinen die kleine 30S-Un-
kung der Endonuclease CstF und resultierender Abspaltung der tereinheit. Gemeinsam bilden kleine 30S- und große 50S-Unter-
mRNA (. Abb. 46.14, links) die RNA-Transkription fortgesetzt. einheit das prokaryontische 70S-Ribosom mit einer molekularen
Die Exonuclease Xrn2 (5’,3’-Exoribonuclease 2) sorgt dafür, Masse von 2,5 MDa (. Abb. 46.16, oben).
dass die nach dem Polyadenylierungssignal abgeschnittene, aber Bei Eukaryonten findet man im Vergleich dazu in der großen
weitertranskribierte RNA (. Abb. 46.14, rechts) in 5’,3’-Richtung ribosomalen Untereinheit 28S-, 5S-, 5,8S-rRNA, die zusammen
wieder abgebaut wird – und zwar schneller, als die RNA-Poly- mit 50 Proteinkomponenten die große Untereinheit bilden. 18S-
merase II auf der DNA entlangläuft. Dieser exonucleolytische rRNA und ca. 33 Proteinkomponenten assemblieren zur kleinen
Abbau ist möglich, da das 5’-Ende der RNA hier keine cap-Grup- Untereinheit. Beide Untereinheiten assoziieren im Laufe der
582 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.16 Bausteine der pro- und eukaryontischen Ribosomen. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Lodish 2001)

Translation (7 Kap. 48) zum eukaryontischen 80S-Ribosom mit


einer molekularen Masse von 4,2 MDa (. Abb. 46.16, unten).
Die 28S-, 5,8S- und 18S-rRNA Bausteine der eukaryonti-
schen Ribosomen werden aus einer 45S-Vorläufer rRNA prozes-
siert. Es finden in einer konzertierten Reaktion verschiedene
Prozesse statt (. Abb. 46.17):
4 die für die eukaryontische rRNA charakteristischen 18S-,
28S- und 5,8S-rRNA-Moleküle werden sequentiell zurecht-
geschnitten (rote Pfeile),
4 an den 2’-OH-Gruppen der Ribosereste finden umfangrei-
che Modifikationen wie Methylierungen, die in den späte-
ren rRNA-Molekülen erhalten bleiben, sowie Umwandlun- . Abb. 46.17 Entstehung von 18S-, 28S- und 5,8S-rRNA durch Prozessie-
rung eukaryontischer nucleolärer 45S Prä-rRNA. Die roten Pfeile markieren
gen von Uridinen zu Pseudouridinen statt.
die verschiedenen Spaltstellen im Verlauf der Prozessierung. Die 5S-rRNA
wird von der RNA-Polymerase III synthetisiert und ist deshalb nicht abgebil-
Die beschriebenen Spalt- und Modifikationsprozesse der rRNA det. (Einzelheiten s. Text)
finden in sog. 90S Prä-Ribosomen statt. Diese bestehen aus ribo-
somalen Proteinen und snoRNAs (small nucleolar RNAs), die die
Modifikationen und z. T. die Spaltprozesse katalysieren. Die RNA-Polymerase II. Einige der Promotoren für die tRNA- und
Komplexe aus snoRNAs und diesen Proteinen nennt man 5S-rRNA-Gene liegen innerhalb der codierenden Sequenz down-
snoRNPs (small nucleolar ribonucleoproteins, sprich »snorps«). stream des Transkriptionsstartpunkts (. Abb. 46.18). Dagegen sind
Die snoRNAs enthalten 10‒21 Nucleotide lange RNA-Sequen- die Promotoren für die snRNA wie die Promotoren anderer Gene
zen, die 100 % komplementär zu bestimmten Sequenzen der zu upstream des Startpunktes der Transkription lokalisiert.
prozessierenden rRNA sind. Die Promotoren der RNA-Polymerase III, die die Transkrip-
Die eukaryontische 5S-rRNA wird durch die RNA-Polyme- tion von tRNA regulieren, enthalten zwei downstream gelegene
rase III synthetisiert und auf ähnliche Weise wie die tRNAs pro- Regionen (BoxA und BoxB). Die für die 5S-rRNA codierenden
zessiert (s. u.). Gene enthalten die BoxA und BoxC (in der Abbildung nicht ge-
46 zeigt).
Die RNA-Polymerase III ist hauptsächlich Wie die RNA-Polymerasen II und I benötigt auch die RNA-
für die Transkription der tRNA zuständig Polymerase III Transkriptionsfaktoren. So sind TFIIIB und
Die RNA-Polymerase III ist neben der tRNA-Synthese auch für TFIIIC am Initiationskomplex für die Transkription von tRNA-
die Transkription der 5S-rRNA sowie der snRNAs und der Genen beteiligt. TFIIIB enthält ein TBP (TATA-Bindeprotein) als
snoRNAs zuständig. Sie ist deutlich einfacher reguliert als die Untereinheit, bindet in der Nähe des Trankriptionsstartpunkts
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
583 46
RNA-Polymerase II ähnliche Signale verantwortlich wie bei pro-
karyontischen Genen.

Weitere Arten von RNA haben spezielle Funktionen


Die Anzahl neu entdeckter RNAs mit speziellen Funktionen
. Abb. 46.18 Transkription durch die RNA-Polymerase III. Dargestellt nimmt ständig zu. Die oben beschriebenen snRNAs (Spleißen
ist die Situation bei der Transkription von tRNA. Nicht gezeigt ist TFIIIA, das von Prä-mRNA) und snoRNAs (rRNA-Prozessierung) (vgl.
an BoxA und BoxC bindet, und bei der Transkription von 5S-rRNA invol-
. Tab. 46.1) müssen auch aus einem Vorläufermolekül prozes-
viert ist (Einzelheiten s. Text).
siert werden. SnoRNAs befinden sich oft in den Introns anderer
Gene und können nach deren Spleißen ihrerseits direkt in ihre
häufig an eine TATA-Box und rekrutiert die RNA-Polymera- funktionellen Teile gespalten werden. snRNA Moleküle werden
se III. TFIIIC hingegen bindet die downstream gelegenen BoxA als Prä-snRNAs durch die RNA-Polymerase III synthetisiert und
und BoxB, der bei der Transkription von 5S-rRNA beteiligte anschließend prozessiert.
TFIIIA an BoxA und die ebenfalls downstream gelegene BoxC. MicroRNAs (miRNAs) sind eine eigene Klasse von RNA-Mo-
lekülen, die in die Genregulation eingreifen können: Sie sind
Prozessierung der tRNA-Primärtranskripte In den meisten Zellen nicht-codierend, aber komplementär zu bestimmten mRNA-Re-
finden sich 41 unterschiedliche tRNA-Moleküle, die in multiplen gionen. Dadurch können sie deren Translation direkt oder durch
Kopien im Genom codiert sind. Die tRNAs entstehen aus länge- Initiieren des Abbaus der mRNA mit Hilfe von Enzymkomplexen
ren RNA-Transkripten, die von Nucleasen prozessiert werden regulieren (7 Kap. 47.2.5). Bis zu 1 % des menschlichen Genoms
müssen (. Abb. 46.19). Die Endonuclease RNase P entfernt Poly- codiert für miRNA. Es gibt Schätzungen, dass ca. 30 % der Gene
ribonucleotide am 5’-Ende der tRNA-Vorläufermoleküle und ist beim Menschen durch miRNAs reguliert werden können. Micro-
ein ubiquitär vorkommendes Enzym. Es benötigt zu seiner Funk- RNAs entstehen ebenfalls aus Vorläufermolekülen.
tion ein spezifisches RNA-Molekül, welches durch die Bindung an
das RNA-Substrat und damit dessen korrekte Ausrichtung für die
katalytische Aktivität essentiell ist und sogar in Abwesenheit des 46.3.5 Inhibitoren der Transkription
Proteinanteils wirkt. Damit gehört die RNase P zu den Ribozy-
men. Nach der Entfernung von zwei Nucleosidmonophosphaten Eine Reihe von Hemmstoffen der Transkription, darunter auch
am 3’-OH-Ende durch die RNase D erfolgt schließlich die Anhef- einige Antibiotika, haben sich als wertvolle Hilfsmittel bei der
tung der für alle tRNA-Moleküle typischen CCA-Sequenz durch Aufklärung der molekularen Mechanismen dieses Vorgangs er-
die tRNA-Nucleotidyltransferase. Dann erfolgen die für die wiesen. Darüber hinaus haben sie auch Eingang in die Therapie
tRNA spezifischen Methylierungen und die Modifikationen von gefunden.
Uridinen zu Pseudouridinen, schließlich werden Teile der tRNA
in einem Spleißprozess herausgeschnitten. Actinomycin D Das Antibiotikum Actinomycin D (. Abb. 46.20)
Für die Termination der Transkription eukaryontischer Gene hemmt in niedrigen Konzentrationen die Transkription, in hö-
sind bei der RNA-Polymerase I und III im Unterschied zur heren auch die Replikation. Der planare Teil des Moleküls (gelb)

. Abb. 46.19 Prozessierung von eukaryontischer tRNA (Beispiel Tyrosin-tRNA). Durch Prozessierung der primären Transkripte von tRNA-Genen durch RNase P,
RNase D, tRNA-Nucleotidyltransferase und Spleißen entstehen die tRNAs. D, Dihydrouridin; Ψ, Pseudouridin; mC, mG, methylierte Basen. (Einzelheiten s. Text).
(Adaptiert nach Nelson, Cox 2011)
584 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

A α-Amanitin, ein zyklisches Oktapeptid (. Abb. 46.21), ist ein


spezifischer Inhibitor der eukaryontischen RNA-Polymerase II
(in höheren Dosen auch der RNA-Polymerase III) (. Tab. 46.1).
Es bindet im aktiven Zentrum der RNA-Polymerase II, blockiert
den NTP-Eintrittskanal (. Abb. 46.1) und ist für die Giftwirkung
des grünen Knollenblätterpilzes verantwortlich. Bei der Knollen-
blätterpilzvergiftung steht im Vordergrund, dass es zunächst in
der Leber die Transkription hemmt. Es kommt aus diesem Grund
zu einer akuten Zerstörung des Leberparenchyms. Auf die RNA-
Polymerase I, bakterielle Polymerasen und natürlich auf die
RNA-Polymerase des Knollenblätterpilzes hat α-Amanitin keine
Wirkung.
Eine Reihe einfacher von 4-Oxochinolin-3-Carbonsäure ab-
stammender Verbindungen sind wirksame Hemmstoffe der pro-
karyontischen DNA-Gyrase (7 Kap. 10). Wegen der Wirkung
B
derartiger Gyrasehemmstoffe auf die bakterielle Replikation
und Transkription werden diese zur Therapie eines breiten Spek-
trums bakterieller Infekte (z. B. Tuberkulose, Meningokokkenin-
fektionen) eingesetzt.

46.3.6 mRNA Export aus dem Zellkern

Die reifen mRNA-Moleküle müssen zur Protein-


biosynthese ins Cytosol transportiert werden
Der Export von mRNA, aber auch aller anderen extranucleären
RNAs aus dem Zellkern muss sehr selektiv sein. Es dürfen nur
diejenigen RNA-Moleküle exportiert werden, die korrekt prozes-
siert worden sind; ein Export nicht korrekt prozessierter RNA-
Moleküle könnte die Proteinbiosynthese (7 Kap. 48) stören. Die
Menge der korrekt prozessierten RNA ist wesentlich geringer als
die der nicht-funktionsfähigen RNA. Dies wird besonders deut-
lich am Beispiel der proteincodierenden mRNA. Bei einem
durchschnittlichen Vertebraten-Gen ist die Menge an nicht für
Proteine codierenden Sequenzen, also an Introns, viel größer als
diejenige an codierenden Sequenzen (7 Kap. 10). Dies bedeutet,
dass während des Spleißvorgangs wesentlich mehr Intron-RNA
als gespleißte und mit cap-Gruppen und Poly(A)-Sequenz aus-
gestattete mRNA entsteht.
. Abb. 46.20 Actinomycin D interkaliert zwischen zwei benachbarten Für den mRNA-Export aus dem Zellkern sind folgende Vor-
GC-Paaren. A Strukturformel (Sar: Sarkosin (Methylglycin)), L-Pro: L-Prolin,
gänge von Bedeutung:
L-Thr: L-Threonin, D-Val: D-Valin, L-meVal: methyliertes L-Valin. B Raumstruk-
tur des Komplexes von Actinomycin D mit DNA. Der planare Teil (gelb unter- 4 Die reife mRNA muss Transport-kompetent mit spezi-
legt) interkaliert mit GC-Paaren doppelsträngiger DNA, die cyclischen fischen Proteinen markiert werden. Hierfür stehen eine
Peptide sind rot dargestellt. PDB ID: 2D55 Reihe von Proteinen zur Verfügung, die im Wesentlichen
nach capping, Spleißen und Polyadenylierung an die ent-
stehende mRNA gebunden werden (. Abb. 46.22) und
schiebt sich zwischen GC-Paare doppelsträngiger DNA. Die sich nucleäre Exportsignale (NES) tragen können (7 Kap. 12.2)
dadurch ergebende Verformung der DNA führt zur Hemmung 4 Gleichzeitig binden an nicht funktionsfähige RNA Reten-
der Transkription. Aus dem Wirkungsmechanismus wird ver- tionsfaktoren, die einen Export verhindern. Diese erken-
ständlich, dass Actinomycin D Replikation und Transkription nen z. B. zu kurze oder fehlende Poly(A)-Sequenzen
sowohl bei Pro- als auch bei Eukaryonten hemmt. (. Abb. 46.22, links)
46
Rifampicin Die prokaryontische RNA-Polymerase wird selektiv An die als Export-kompetent markierte mRNA lagern sich die
von Rifampicin gehemmt, da es an die katalytische β-Untereinheit für die Wechselwirkung mit dem Kernporenkomplex notwendi-
dieses Enzyms bindet. Da das entsprechende Enzym der Eukary- gen Proteine an. Für den Export der mRNA sind neben den cap-
onten unbeeinflusst bleibt, wird Rifampicin zur Therapie bakte- und Poly(A)-Bindungsproteinen (CBP und PABP II) u. a. die
rieller Infektionen angewandt. nucleären RNA-Exportfaktoren Nxf1 (nuclear RNA export fac-
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
585 46

A B

. Abb. 46.21 α-Amanitin. A Grüner Knollenblätterpilz (© Ak_ccm.com/CC-licence 3.0 by-sa); B α-Amanitinstruktur, vereinfachte Darstellung des
zyklischen Oktapeptids, die roten Striche kennzeichnen die acht Peptidbindungen

tor), TAP (Tip associated protein) und REF (RNA export factor) not- stimmend sind. Man unterscheidet drei verschiedene mRNA-
wendig. Erst nach Bildung eines derartigen messenger-Ribonuc- Abbauwege.
leoprotein-(mRNP)-Komplexes kann der Export durch die
Kernpore erfolgen (. Abb. 46.22, rechts). Die nucleären RNA- Deadenylierungsabhängiger mRNA-Abbau Dieser häufigste
Exportfaktoren werden nach mRNA-Export aus dem Kern wie- mRNA-Abbauweg beginnt mit einer Deadenylierung, d. h. der
der reimportiert (shuttle). schrittweisen Verkürzung der 3 -Poly(A)-Sequenz (. Abb. 46.23,
Der RNA-Transport durch die Kernporen ist unidirektional, links). Dieser Vorgang verläuft initial sehr langsam und nimmt
was aus der Beobachtung hervorgeht, dass markierte, in den Zell- mit steigender Verkürzung der Poly(A)-Sequenz an Geschwin-
kern injizierte RNA diesen rasch verlassen kann, während markier- digkeit zu. Das hierfür verantwortliche Enzym ist eine Poly(A)-
te cytoplasmatische RNA nicht in den Zellkern aufgenommen wird. Ribonuclease (PARN). Eine Verkürzung der Poly(A)-Sequenz
Während oder unmittelbar nach dem Export durch die Kern- auf wenige Nucleotide liefert das Signal zur Entfernung der 5’-
poren erfolgt die Bindung der mRNA an cytosolische RNA-Bin- cap, was anschließend den raschen mRNA-Abbau durch die
deproteine. Diese sind wichtige Cofaktoren bei der Translation 5’ 3’-Exonuclease Xrn1 (exoribonuclease 1) auslöst. Bei der Re-
(7 Kap. 48) und dienen der cytoplasmatischen Lokalisation der gulation des mRNA-Abbaus spielt auch das PABP (Poly(A) bin-
mRNA oder führen sie dem Abbau zu. ding protein) eine wichtige Rolle (in der Abbildung nicht gezeigt).

Deadenylierungsunabhängiger mRNA-Abbau/decapping path-


46.3.7 Abbau von mRNA way Dieser Abbauweg ist eine zweite Möglichkeit, die zum
mRNA-Abbau führt. Hier sind offenbar bestimmte Sequenzen
Die Genexpression eukaryontischer Zellen wird am 5’-Ende der mRNA für eine Abspaltung der cap-Gruppe
nicht nur von der Geschwindigkeit der RNA-Biosyn- durch ein decapping-Enzym verantwortlich (. Abb. 46.23, Mitte).
these, sondern auch von deren Abbau bestimmt Nach Abspaltung der cap-Gruppe erfolgt ein schneller Abbau
Der Abbau der mRNA findet im Cytosol statt und wird durch die 5’,3’-Exonuclease.
durch eine Reihe unterschiedlicher Ribonucleasen (RNasen)
katalysiert. Da viele Untersuchungen gezeigt haben, dass Endonucleolytischer mRNA-Abbau Ein dritter Abbauweg findet
mRNA-Moleküle mit jeweils unterschiedlicher Geschwindig- sich bei mRNAs, die ein durch Mutation entstandenes nonsense-
keit abgebaut werden, muss man davon ausgehen, dass gewisse Codon enthalten und damit zu einem vorzeitigen Abbruch der
Strukturmerkmale für die Geschwindigkeit ihres Abbaus be- Translation (7 Kap. 48) führen können, wenn eines der drei
586 Kapitel 46 · Transkription und Prozessierung der RNA

. Abb. 46.22 Export von mRNA aus dem Zellkern. Exportfaktoren (grüne Symbole) ermöglichen den Transport von korrekt prozessierter mRNA (rechts),
Retentionsfaktoren (rote Symbole) verhindern den Transport von nicht korrekt prozessierter mRNA (links). (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Watson 2010,
© Pearson Studium)

Stopp-Codons entstanden ist (premature termination codons,


PTCs). Dieser Abbauweg wird auch nonsense-mediated mRNA Zusammenfassung
decay, NMD-pathway, genannt: Nach einer endonucleolytischen Eukaryonten verfügen über drei RNA-Polymerasen, die für
Spaltung der fehlerhaften mRNA können die beiden mRNA- die 5’,3’-Verknüpfung von Ribonucleotiden zu RNA-Poly-
Fragmente durch Xrn1 bzw. das Exosom vom freien 5’- bzw. frei-
46 en 3’-Ende her abgebaut werden.
meren verantwortlich sind:
4 die RNA-Polymerase I für die Synthese des Vorläufers
Alle Nucleasen, die in den Prozess des mRNA-Abbaus ein- von ribosomaler RNA
greifen, sind in diskreten sog. cytosolischen P-bodies lokalisiert. 4 die RNA-Polymerase II hauptsächlich für die Synthese
von Prä-messenger-RNA
6
46.3 · Transkription bei Eukaryonten
587 46

. Abb. 46.23 Abbauwege von mRNA. (Einzelheiten s. Text)

4 die RNA-Polymerase III hauptsächlich für die Synthese tRNA-Vorläufermoleküle werden mit Hilfe der RNaseP – ei-
von Vorläufern von Transfer-RNA nem Ribozym – verkürzt, am 3’-Ende mit der Sequenz-CCA
versehen und methyliert.
Für die Bildung der Initiationskomplexe sind Promotoren rRNA-Vorläufermoleküle werden methyliert und mit Hilfe
verantwortlich. Sie stellen regulatorische DNA-Abschnitte von Nucleasen in einem Präribosomkomplex zu den reifen
dar, an die die RNA-Polymerasen zusammen mit Transkrip- rRNA-Molekülen prozessiert.
tionsfaktoren binden. Damit wird der Startpunkt der Trans- Prinzipiell liegen mit Ausnahme der tRNA alle RNA-Formen
kription festgelegt. immer als RNA-Proteinkomplexe (Ribonucleoproteine, RNPs)
Der Initiationskomplex der RNA-Polymerase II besteht aus vor.
allgemeinen/basalen Transkriptionsfaktoren, Mediatorpro- Hemmstoffe der Transkription verhindern entweder die Ent-
teinen, Coaktivatoren, induzierbaren und/oder aktivierbaren windung der DNA (z. B. Gyrasehemmer) oder sie inaktivieren
Transkriptionsfaktoren. Die C-terminale Domäne (CTD) der die RNA-Polymerasen (Rifampicin).
RNA-Polymerase II spielt dabei eine bedeutende Rolle. Für die Proteinbiosynthese werden die tRNAs, rRNAs und
Durch die Änderung der Phosphorylierung der C-terminalen mRNAs mit Hilfe von Transportproteinen über die Kernporen
Domäne der RNA-Polymerase II wird die Elongation eingelei- ins Cytosol exportiert. Nach Abschluss der Proteinbiosynthe-
tet, die mit den meisten allgemeinen Transkriptionsfaktoren se werden mRNAs im Cytosol durch spezielle RNA-Abbau-
einhergeht. Cotranskriptional erfolgt dann die mechanismen degradiert.
4 Anheftung der cap-Gruppe,
4 das Entfernen von Introns durch Spleißen und
4 die Synthese des Poly(A)-Schwanzes. 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
6

mRNA-Abbau de-adenylierungs-abhängiger de-adenylierungs-unabhängiger decapping pathway<k> endonucleolytischer Weg 3’,5’-Exo-


nuclease (PARN) decapping enzyme<k> 5’,3’-Exonuclease
47 Regulation der Transkription –
Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression
Jan Brix, Hans-Georg Koch, Peter C. Heinrich

Einleitung 4 In Anwesenheit eines Repressorproteins bindet dieses an


den Operator und blockiert die Bindungsstelle der RNA-
Obwohl fast alle Zellen des menschlichen Körpers die gleiche genetische Polymerase. Es kann keine Transkription stattfinden.
Informationen enthalten, werden in verschiedenen Zelltypen wie z. B. 4 Nach Ablösung des Repressors findet in Abwesendheit
Leber-, Muskel- oder Nervenzellen ganz unterschiedliche Proteine eines Aktivatorproteins nur eine basale Transkription statt,
exprimiert. Bestimmte Gene werden nur während der Entwicklung des da die Affinität der RNA-Polymerase an den Promotor nur
Organismus, andere wiederum nur auf geeigneten Hormon- oder schwach ist. Der Repressor kann z. B. durch Bindung eines
Cytokinstimulus hin transkribiert. Daneben gibt es Gene, die ständig in Induktors inaktiviert werden und sich von der Operator-
nahezu allen Zelltypen aktiviert sind, sog. housekeeping-Gene. region ablösen.
Die Regulation der Genexpression erfolgt in erster Linie auf Ebene der 4 Nach Bindung eines Aktivatorproteins besitzt die RNA-
Initiation der Transkription. Die hierfür verantwortlichen Prozesse wer- Polymerase maximale Affinität für den Promotor. In Ab-
den in diesem Kapitel beschrieben. Die grundlegenden Prinzipien der wesenheit des Repressors und Anwesenheit eines Aktivator-
Genregulation werden eingangs anhand von Prokaryonten erklärt. In proteins rekrutiert der Aktivator die RNA-Polymerase, in-
Eukaryonten ist die Genexpression durch zusätzliche Mechanismen wie dem er gleichzeitig an die Aktivatorbindungsstelle auf der
z. B. alternatives Spleißen und RNA-Interferenz reguliert. DNA und an die RNA-Polymerase bindet. Es findet eine
Da in Eukaryonten die Gene – mit Ausnahme der wenigen mitochon- maximale Transkription statt.
drialen Gene – auf der DNA im Zellkern lokalisiert sind, die Proteinbio-
synthese aber im Cytoplasma abläuft, ergeben sich vielfältige Möglich- Ein bekanntes Beispiel ist das lac-Operon in E. coli. Dieses
keiten der Genregulation. Operon kontrolliert die Transkription von drei für den Abbau
von Lactose wichtigen Genen, der β-Galactosidase (lacZ), der
Schwerpunkte Lactosepermease (lacY) und der Lactosetransacetylase (lacA).
Als Repressor dient der lac-Repressor, der in einer aktiven, d. h.
4 Das Operon-Modell zur Regulation der Genexpression in
DNA-bindenden Form und nach Bindung des Induktors Lactose
Prokaryonten
in einer strukturell veränderten inaktiven Form vorkommt.
4 Regulation der Genexpression in Eukaryonten: Transkrip-
Aktivator des lac-Operons ist das catabolite activating pro-
tionsfaktoren und das enhanceosome
tein (CAP), das an die DNA bindet und die RNA-Polymerase
4 Epigenetik: Histonmodifikationen und DNA-Methylierung
rekrutiert. CAP wird erst in Abwesenheit von Glucose (Hunger-
steuern die eukaryontische Genexpression
signal) durch die Bindung des second messengers cAMP aktiviert
4 RNA-Interferenz : Regulation der mRNA -Stabilität durch
und kann sich dann an die CAP-Aktivatorbindungsstelle anlagern.
inhibitorische RNA
4 Alternatives Spleißen und mRNA-editing

47.2 Regulation der Transkription


bei Eukaryonten

47.1 Kontrolle der Transkription Der in 7 Kap. 47.1 geschilderte Mechanismus der prokaryonti-
bei Prokaryonten schen Regulation der Genexpression, d. h. die Regulation durch
Bindung von Proteinen an spezifische DNA-Sequenzen, findet
Bei Prokaryonten wird die Genexpression überwiegend über sich auch bei Eukaryonten. Wegen der Komplexität der DNA
die Transkription reguliert. Das von Francois Jacob und Jaques z. B. durch ihre Verpackung als Chromatin und wegen der Kom-
Monod erstmalig formulierte Operonmodell beschreibt einen partimentierung der eukaryontischen Zellen sind hier allerdings
bis heute gültigen Mechanismus der Genregulation in Prokary- zur Regulation der Genexpression zusätzliche Mechanismen er-
onten. Im Prinzip beruhen alle Varianten dieses Modells dar- forderlich. Da Prokaryonten keinen Zellkern besitzen, können
auf, dass mehrere Gene unter der Kontrolle eines Promotors Transkription und Translation gleichzeitig ablaufen. Zudem liegt
47 stehen. In unmittelbarer Nähe zu diesem Promotor befindet die Halbwertszeit der mRNA bei Prokaryonten im Bereich von
sich eine Operatorregion, an die Repressor- und Aktivator- Minuten, weswegen jede Regulation der Transkription unmittel-
proteine binden und die Transkriptionsrate beeinflussen kön- bar die Biosynthese der entsprechenden Proteine, d. h. die Gen-
nen (. Abb. 47.1). expression, beeinflusst.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_47, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
589 47
Alle genannten Vorgänge sind in unterschiedlichem Ausmaß an
der Regulation der Genexpression beteiligt.

47.2.1 Aktivierung und Inaktivierung


der Genexpression

Durch DNA-Methylierung kann die Transkription


von Genen inhibiert werden
Bei Prokaryonten und einzelligen Eukaryonten gleichen sich alle
Nachkommen einer Zelle bezüglich Genexpression und Ausstat-
tung mit Proteinen. Anders liegen dagegen die Verhältnisse bei
höheren mehrzelligen Organismen. Diese entstammen alle einer
befruchteten diploiden Eizelle. Durch Replikation wird jeweils
das gesamte genetische Material auf alle Tochterzellen dieser Ei-
zelle, d. h. auf jede Zelle des differenzierten mehrzelligen Orga-
nismus weitergegeben. Dass tatsächlich im Zellkern einer soma-
tischen Zelle noch die gesamte Information für den jeweiligen
Organismus enthalten ist, sieht man beispielsweise daran, dass es
möglich ist, einer befruchteten Eizelle eines Frosches den Zell-
kern zu entnehmen und durch den Zellkern einer beliebigen so-
matischen Zelle zu ersetzen. Auch dann entsteht aus der befruch-
teten Eizelle ein lebensfähiger Frosch.
Ungeachtet dieser Tatsache ist klar, dass sich die Vielfalt der
verschiedenen Zellen eines höheren Organismus nur dadurch
erklären lässt, dass während des Differenzierungsvorgangs spe-
zifische Gene an- und andere abgeschaltet werden. So findet sich
z. B. Hämoglobin ausschließlich in den Erythrocyten und eini-
gen ihrer Vorläuferzellen, nicht dagegen in den anderen Zellen
. Abb. 47.1 Operonmodell. Regulation der prokaryontischen Transkrip- des Organismus. Man weiß heute, dass dies nicht auf einem Ver-
tion. (Einzelheiten s. Text) lust des Hämoglobin-Gens in den Nicht-Hämoglobin-produzie-
renden Zellen beruht. Vielmehr werden in ihnen die für die Hä-
moglobinbiosynthese zuständigen Gene abgeschaltet. Offen-
Anders liegen die Verhältnisse bei Eukaryonten. Sie besitzen sichtlich entwickelt jede differenzierte Zelle ein spezifisches
einen Zellkern, in dem mit Ausnahme der mitochondrialen Muster von an- bzw. abgeschalteten Genen, das bei der Zelltei-
DNA die gesamte DNA der Zelle kondensiert vorliegt. Hier er- lung unverändert an die Nachkommen weitergegeben wird.
folgen die Transkription und die Prozessierung der primären Eine Möglichkeit hierfür besteht in der Erzeugung spezifi-
Transkripte. Die Translation der mRNA in ein Polypeptid (Pro- scher Methylierungsmuster im Genom von sich differenzieren-
teinbiosynthese) findet im Cytosol statt, weswegen ein Export den Zellen. Der hierbei zugrunde liegende Mechanismus ist in
der mRNA durch die Kernporen notwendig ist. . Abb. 47.2A schematisch dargestellt. Die Inaktivierung eines
Für die Expression eines zell- oder gewebespezifischen Gens beginnt danach mit der Methylierung am C-Atom 5 eines
Phänotyps und für die Anpassung sämtlicher Leistungen von Cytosinrestes in einer regulatorischen Sequenz eines Gens
Zellen an geänderte Umweltbedingungen ist die Möglichkeit, die (1. Methylierung). Wesentlich dabei ist, dass auf den Cytosinrest
Expression spezifischer Gene entsprechend zu regulieren, eine immer ein Guanin folgt. Für die Weitergabe dieses Methylie-
entscheidende Voraussetzung. Änderungen der Genexpres- rungsmusters während der Replikation bedarf es einer spezifi-
sion spielen darüber hinaus bei der Reaktion von Zellen auf schen Methyltransferase (2. Methylierung), die die palindrom-
Stress, toxische Verbindungen, Infektionen oder bei der malig- artige CG-Sequenz im komplementären Strang erkennt und den
nen Transformation in Tumorzellen eine entscheidende Rolle. C-Rest nur dann methyliert, wenn der parentale Strang eine
Im Prinzip können Änderungen der Genexpression erfolgen entsprechende Methylgruppe trägt. Tatsächlich können Ände-
(. Tab. 47.1) rungen des Methylierungsmusters während Differenzierungs-
4 durch Aktivierung/Inaktivierung von Genen prozessen festgestellt werden. Es wurde nachgewiesen, dass sehr
4 durch Beeinflussung der Transkriptionsinitiation, viele inaktive Gene stärker methyliert sind als aktive Gene.
-elongation und -termination Ein wichtiges Werkzeug zum Studium der Methylierungs-
4 bei der Prozessierung der Prä-mRNA muster der DNA ist die Base 5-Azacytosin (. Abb. 47.2B). Wird
4 beim Transport der mRNA ins Cytoplasma sie anstelle des normalen Cytosins in DNA eingebaut, wird die
4 durch Abbau der mRNA oder Methylierung an dieser Stelle wegen des in Position 5 anstatt ei-
4 bei der Translation der mRNA nes C-Atoms befindlichen N-Atoms verhindert. Nach Behand-
590 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression

. Tab. 47.1 Regulationsmechanismen der Transkription eukaryontischer Gene

Regulierter Schritt Mechanismus Vorkommen (Beispiele)

Aktivierung/Inaktivierung Inaktivierung durch Methylierung an CG-Inseln genomic imprinting


von Genen im Promotor Viele differenzierungsabhängige Gene

Initiation der Transkription Aktivierung des Transkriptionskomplexes durch Aktivierung der Transkription durch Steroidhormon/
ligandenaktivierte Transkriptionsfaktoren Steroidhormonrezeptorkomplexe u. a.
Chromatin-remodelling (Ablösung der Histone von der
DNA durch Histonmodifikationen)

Hemmung der Transkription Hemmung des Importes von Transkriptionsfaktoren Hemmung von NF-κB durch IκB
in den Zellkern
Hemmung der Bindung von Transkriptionsfaktoren Hemmung des Transkriptionsfaktors p53 durch Bin-
an DNA dung des SV40 (Simian Virus)-T-Antigens

mRNA-editing Posttranskriptionale Basenmodifikation in der mRNA Erzeugung der Isoformen des Apolipoproteins B

Alternatives Spleißen Verwendung alternativer Spleißstellen Calcitonin/CGRP-Gen, Immunglobulin-Gene, ras-Gen

Transport und Lokalisierung RNA-Bindungsproteine für den Transport spezifischer cap-Bindungsprotein


der RNA RNAs

Abbau der RNA Verhinderung des endonucleolytischen Abbaus durch Stabilität der Transferrinrezeptor-mRNA
RNA-Bindungsproteine

lung von embryonalen Zellen mit 5-Azacytosin kommt es in gene sind für die bei Drosophila auftretenden Entwicklungsmus-
vielen Fällen zu einer verstärkten Genexpression. Dieser Befund ter verantwortlich. Interessanterweise sind homöotische Gene
bestätigt die Annahme, dass Gene durch Methylierung abge- bei allen segmentierten eukaryontischen Mehrzellern vom Re-
schaltet werden. genwurm bis zum Menschen nachgewiesen worden. Diese Hox-
Unterschiede im Methylierungsmuster sind auch für das Gene haben aber nicht nur wichtige Funktionen bei der Embryo-
genomic imprinting verantwortlich. Man versteht hierunter das genese, wo sie die Aktivität funktionell zusammenhängender
Phänomen, dass gleiche Allele paternaler und maternaler Gene Gene steuern können, sondern auch bei der Kontrolle der Zell-
unterschiedlich exprimiert werden. So wird beispielsweise nur proliferation.
das väterliche Allel für IGF-2 (insulin-like growth factor 2) tran- Die Expression von Hox-Genen ist in verschiedenen Tumo-
skribiert, nicht jedoch das der Mutter. In den Oocyten ist das ren stark verändert, sodass man annimmt, dass diese Gene an der
IGF-2-Gen methyliert, nicht jedoch in den Spermatocyten. Da Tumorentstehung und auch an der Tumorprogression beteiligt
dieses Methylierungsmuster auf alle von der befruchteten Eizelle sind.
abstammenden Zellen weitergegeben wird, ist im ausdifferen-
zierten Organismus nur das paternale Allel für IGF-2 aktiv. Durch reversible Acetylierung von Histonen
Die DNA-Methylierung ist allerdings nicht der einzige Me- können Gene für die RNA-Polymerase II zugänglich
chanismus zur Ausprägung von Differenzierungsmustern. So ist gemacht werden
z. B. das gesamte Genom der Fruchtfliege Drosophila melanogas- Die Nucleosomenstruktur der eukaryontischen DNA, die in
ter frei von Methylcytosin. Bei ihr müssen also gänzlich andere 7 Kap. 10 ausführlich beschrieben ist, verhindert die Initiation
Differenzierungsmechanismen realisiert sein. Drosophila zeigt der Transkription durch die RNA-Polymerase II. Berücksichtigt
Mutationen einzelner Gene, die dazu führen, dass ein Teil (ein man, dass das Chromatin in vivo noch stärker kondensiert ist,
Segment) des Organismus in einen anderen umgewandelt wird. wird leicht vorstellbar, dass vor der Initiation der Transkription
Bei der als Antennapedia bezeichneten Mutation bilden Zellen, Umstrukturierungen im Chromatin vorkommen müssen.
die normalerweise für die Antennenbildung verantwortlich sind, Diese Umstrukturierungen (Chromatin-remodelling) be-
ein zusätzliches Beinpaar aus. Derartige Mutationen werden treffen vor allem reversible Modifikationen von Aminosäureres-
auch als homöotische Mutationen (griech. homeosis: Wechsel, ten der verschiedenen Histonproteine (. Abb. 47.3). Meist erfol-
Umwandlung) bezeichnet. Sie betreffen Gene, die für regulatori- gen diese in deren N-terminalen Schwanzregionen (7 Kap. 10).
sche Proteine codieren, welche ihrerseits eine große Zahl nach- Als Modifikationen kommen vor:
geordneter Gene steuern und auf diese Weise für die Ausbildung 4 Acetylierung/Deacetylierung von Lysinresten
von Differenzierungsmustern verantwortlich sind. 4 Phosphorylierung/Dephosphorylierung von Serin- und
47 Alle homöotischen Proteine verfügen über eine meist im C- Threoninresten
terminalen Bereich gelegene hoch konservierte Region, die auch 4 ein-, zwei-, oder dreifache Methylierung/Demethylierung
als Homöobox bezeichnet wird und eine DNA-bindende Domä- von Lysin- oder Argininresten
ne darstellt. Die von homöotischen Genen gesteuerten Struktur- 4 Ubiquitinierung an Lysinresten
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
591 47
A

. Abb. 47.2 A Methylierung an CG-Paaren als Signal zur Inaktivierung von Genen, B Strukturen von Cytosin, 5-Methylcytosin und Azacytosin.
(Einzelheiten s. Text)

In der Schwanzdomäne von Histon H3 z. B. bewirkt eine Phos- regionen von Histonproteinen besonders wichtig. Durch die
phorylierung an Ser 10 oder eine Acetylierung an Lys 9 eine Ak- Acetylierungen werden die positiven Ladungen in den Histonpro-
tivierung der Transkription, eine zwei- oder dreifache Methylie- teinen maskiert, die für die Wechselwirkungen mit der DNA
rung an Lys 27 dagegen eine Hemmung. Eine einfache Methylie- verantwortlich sind. Das Ergebnis ist eine weniger dichte Pa-
rung an Lys 27 scheint wiederum transkriptionsaktivierend zu ckung des Chromatins, die in einem bestimmten Genabschnitt
wirken (. Abb. 47.3). zu einer besseren Zugänglichkeit der DNA für Komponenten der
Die Gesamtheit der Histonmodifikationen nennt man auch Transkriptionsmaschinerie wie RNA-Polymerasen und Tran-
Histon-Code. Diese Modifikationen können die Chromatin- skriptionsfaktoren führt.
struktur verändern und damit die Transkription beeinflussen. Eine äußerst wichtige Rolle bei dem Chromatin-remodelling
Zusammen mit dem DNA-Methylierungsmuster werden diese eines bestimmten zu transkribierenden Genabschnitts spielen
als epigenetischer Code bezeichnet. Während der genetische die Histon-Acetyltransferasen (HATs). Sie benutzen Acetyl-CoA
Code in jeder Zelle eines Menschen gleich ist, ist der epigeneti- als Substrat und sind meist sehr komplex aufgebaut. Besonders
sche Code zell- und gewebespezifisch und kann die Transkrip- gut untersucht sind die Histon-Acetyltransferasen der p300/CBP
tion einzelner Gene oder ganzer Gruppen von Genen steuern. (cAMP-response element binding protein)-Familie. . Abb. 47.4A
zeigt den schematischen Aufbau des multifunktionalen p300-
Histonacetylierung/-deacetylierung Für die Initiation der Proteins. In seinem mittleren Teil befinden sich die katalytische
Transkription ist die Acetylierung von Lysinresten der Schwanz- Acetyltransferasedomäne und eine sog. Bromodomäne. Letz-
592 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression

. Abb. 47.3 Acetylierung, Phosphorylierung und Methylierung von Histonproteinen am Beispiel des Histons H3. (Einzelheiten s. Text)

tere weist eine hohe Affinität für acetylierte Histonschwanzdo- lierbarkeit des Lysin 9 (. Abb. 47.3) und zu einer Umstrukturie-
mänen auf. rung des Chromatins. Dies führt zu einer verstärkten Transkrip-
. Abb. 47.4B zeigt die Funktion der HATs: p300-HAT-Prote- tion der dort lokalisierten Gene. Eine Reihe von Proteinkinasen ist
in bindet mit seiner Transaktivierungsdomäne an DNA-gebun- zur Phosphorylierung dieses Serinrests imstande, darunter die
dene Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren und kann durch seine Proteinkinase A (7 Kap. 35), die Mitogen-aktivierte Kinase 1 und
Acetyltransferaseaktivität Histon-H3-Schwanzregionen benach- die IκB-Kinase. Somit existiert über diesen Mechanismus eine Ver-
barter Nucleosomen acetylieren. Das p300 wandert entlang der bindung zwischen extrazellulären Signalmolekülen und der Phos-
Nucleosomenkette weiter (in . Abb. 47.4B nicht gezeigt) und phorylierung von Histonen. Für die Dephosphorylierung der His-
bindet mit seiner Bromodomäne jeweils die acetylierten tonproteine ist die Proteinphosphatase PP1 verantwortlich.
Schwanzregionen des Histons H3. Dadurch wird das Acetylie-
rungsmuster in Transkriptionsrichtung schrittweise auf alle am
A
Chromatin-remodelling beteiligten Histone in den Nucleosomen
übertragen. Es begleitet und ermöglicht damit den Transkrip-
tionsprozess durch Auflockerung der Chromatinstruktur: An-
fangs kann die RNA-Polymerase II mit Hilfe des basalen Tran-
skriptionsapparats die Transkription initiieren, im weiteren Ver-
lauf der Transkription ermöglicht die Auflockerung des Chroma-
tins die Elongation (RNA-Polymerisation) sowie begleitende
RNA-Modifikationsschritte wie das Spleißen.
Durch die Aktivität von Histondeacetylasen (HDACs) wer-
den die durch die Histonacetylierung verursachten Änderungen
der Chromatinstruktur wieder rückgängig gemacht und das
Chromatin damit in einen höher kondensierten inaktiven Zu-
. Abb. 47.4A Domänenstruktur des p300/CBP-Proteins mit Bindungs-
stand versetzt. stellen für ausgewählte Transkriptionsfaktoren mit regulatorischen Funk-
tionen. NHR, nuclear hormone receptor; c-Myb, myeloblastosis viral oncogene
Histonphosphorylierung/-dephosphorylierung Die reversible homolog; CREBP, cAMP response element binding protein; c-Jun, ju-nana (ja-
Phosphorylierung von Histonen an Serinresten hat unterschied- panisch für 17, wurde erstmalig in Hühner Sarcoma Virus 17 gefunden),
47 liche Konsequenzen je nachdem, ob sie während der Interphase STAT, signal transducer and activator of transcription; PCAF, P300/CBP-asso-
ciated factor; p53, Tumor Suppressor p53; MyoD, myogenic factor D; c-Fos,
oder während der Mitose erfolgt. Von besonderem Interesse für Finkel-Biskis-Jinkins murine osteogenic sarcoma virus; TFIIB, Transkriptions-
die Regulation der Transkription ist dabei das Histon H3. Die faktor IIB; SCR-1, steroid receptor coactivator-1; ARP, actin related protein.
Phosphorylierung von Serin 10 führt zu einer verstärkten Acety- (Einzelheiten s. Text)

Lysin 9# Serin 10# Lysin 27# Histon-Acetyl-Transferase Proteinkinasen Histon-Methylase


47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
593 47
B

. Abb. 47.4B Beziehungen des p300-Proteins zum Initiationskomplex der RNA-Polymerase II. (Adaptiert nach Watson 2010, © Pearson Studium)

Histon-Acetyltransferase
594 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression

. Tab. 47.2 Enhancer und induzierbare/aktivierbare Transkriptionsfaktoren (Auswahl)

Auslöser DNA-Bindungsprotein Enhancer-Bezeichnung Consensussequenz

Glucocorticoide GR (Glucocorticoidrezeptor) GRE AGAACANNNTGTTCT

Cyclo-AMP (cAMP) CREBP-1 (cAMP response element-binding protein) CRE TGACGTCA

Serum SRF (serum-response factor) SRE GGTATATACC

Hitzeschock HSF-1 (heat shock transcription factor) HSRE GAANNTTCNNGAA

GRE: glucocorticoid responsive element; CRE: cAMP responsive element; SRE: serum response element; HSRE: heat shock responsive element.

Histonmethylierung Die Methylierung von Histonproteinen hancer-Sequenzen binden. All diesen Transkriptionsfaktoren ist
führt zur Anlagerung von Proteinen, welche die Chromatinkon- gemeinsam, dass sie eine DNA-Bindungsdomäne und eine Trans-
densation und damit die Inaktivierung von Genen begünstigen. aktivierungsdomäne aufweisen. Viele Faktoren, die die Trans-
Diese Proteine verfügen hierzu über eine Bindungsdomäne für kription aktivieren, enthalten darüber hinaus eine weitere Do-
methylierte Histonproteine, die als Chromodomäne bezeichnet mäne zur Bindung eines niedermolekularen Liganden (Ligan-
wird. Die Methylierung erfolgt an Arginin- oder Lysinresten. Die denbindungsdomäne), der den Transkriptionsfaktor aktiviert.
für die Methylierung verantwortlichen Methyltransferasen be- Hierzu gehören z. B. Steroidhormonrezeptoren (7 Kap. 35).
nutzen S-Adenosylmethionin als Substrat. Lange Zeit dachte
man, die Modifizierung von Histonen durch Methylgruppen und Das enhanceosome stellt den Gesamtkomplex
damit die Inaktivierung von Genen sei irreversibel. Erst in jüngs- in der Initiationsphase der Transkription dar
ter Zeit sind Demethylasen entdeckt worden, die methylierte Der Komplex aus enhancer-Elementen und daran bindenden
Histone demethylieren können. Ihr genauer Wirkmechanismus Transkriptionsfaktoren stimuliert die Initiation der Transkrip-
ist aber noch Gegenstand aktueller Forschung. tion. Der Gesamtkomplex wird als enhanceosome bezeichnet
(. Abb. 47.5). . Tab. 47.2 stellt einige wichtige enhancer-Elemen-
Histonubiquitinierung Die Ubiquitinierung an Lysin beeinflusst te und die zugehörigen Transkriptionsfaktoren zusammen. Das
ebenfalls die Chromatinstruktur und nimmt damit Einfluss auf enhanceosome enthält nicht nur transkriptionsstimulierende Ele-
die Transkriptionsrate. In 7 Kap. 50 wird beschrieben, dass meh- mente (enhancer), an die Transkriptionsaktivatoren binden, son-
rere angehängte Ubiquitinmoleküle ein Protein für einen Abbau dern auch transkriptionshemmende Elemente (silencer), an die
durch das Proteasom markieren können. Eine einfache Ubiqui- sich Repressorproteine anlagern.
tinierung am Histon wirkt hier nicht als Signal für den Abbau des . Abb. 47.5A zeigt ein Modell des enhanceosome des Interfe-
Histons. ron β-Gens. Mediatorproteine wie p300 binden mit ihren Trans-
aktivierungsdomänen an diverse trans-aktivierende Transkrip-
tionsfaktoren wie c-jun und ATF-2, IRFs, p50 und p65, die ihrer-
47.2.2 Struktur und Wirkung seits an cis-aktivierende Elemente (enhancer) auf der DNA gebun-
von Transkriptionsaktivatoren den sind. p300 interagiert dann vermittelt über einen weiteren
Mediatorproteinkomplex mit der C-terminalen Domäne (CTD)
Bei Untersuchungen zum Transkriptionsmechanismus viraler der RNA-Polymerase II. Weitere Bestandteile dieses enhance-
Gene wurden erstmalig Kontrollelemente identifiziert, die zu ei- osomes sind die in . Abb. 47.5 vereinfacht und schematisch dar-
ner vielfachen Steigerung der Transkriptionsrate dieser Gene gestellten basalen Transkripionsfaktoren (vgl. 7 Abb. 46.6). In
führte. Schließlich ergaben weitere Untersuchungen, dass in diesem Zustand ist eine maximale Transkription des Interferon-
allen regulierbaren eukaryontischen Genen sog. enhancer β-Gens möglich.
(Verstärker)-Sequenzen vorkommen, die auch als cis-aktivieren- In . Abb. 47.5B ist die Röntgenstruktur des Interferon-β-
de Elemente bezeichnet werden. Enhancer liegen meist einige enhanceosomes dargestellt, die aus verschiedenen Einzelstruktu-
hundert bis tausend Basenpaare upstream der Promotorregion, ren zusammengesetzt wurde. Im unteren Teil sind die DNA-Se-
können jedoch in Einzelfällen auch downstream oder innerhalb quenzen (enhancer) gezeigt, die von den jeweiligen Transkrip-
eines Gens, sowohl in Exons als auch in Introns, lokalisiert sein. tionsfaktoren/-aktivatoren erkannt werden.
Ihre Wirkung ist unabhängig von der Orientierung der enhancer- DNA-bindende Proteine können verschiedene Domänen-
Sequenzen. Enhancer sind kurze DNA-Sequenzen von höchstens strukturen aufweisen:
20 bp, die häufig palindromische oder Tandemsequenzen auf- 4 Zinkfinger-Domänen
weisen. Dies erklärt, dass Transkriptionsfaktoren als Homo- oder 4 Leucin-zipper-Domänen
47 Heterodimere wirken (. Tab. 47.2). 4 Helix-turn-Helix-Domänen
Die Steigerung der Transkriptionsrate durch enhancer findet
nur dann statt, wenn induzierbare oder regulierbare Transkrip-
tionsfaktoren (sog. trans-aktivierende Elemente) an die en-
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
595 47
In vielen regulatorischen DNA-Bindeproteinen Schleifen sind aus α-Helices und β-Faltblattstrukturen aufgebaut
kommen Zinkfinger-Domänen vor und in der Lage, in der großen Furche der DNA-Doppelhelix
Ein in vielen DNA- (und RNA)-bindenden Proteinen anzutref- basenspezifische Kontakte auszubilden.
fendes Motiv ist das sog. Zinkfinger-Motiv, dessen Struktur in Man unterscheidet Cys2/His2- und Cys2/Cys2-Zinkfinger.
. Abb. 47.6 dargestellt ist und die einen Teil der Zinkfinger-Do- Letztere kommen bevorzugt bei den Steroidhormonrezeptoren
mäne darstellt. Die Fingerstruktur entsteht dadurch, dass Cystei- vor. Diese Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren werden durch
nyl- oder Histidylreste in der Peptidkette so positioniert sind, induzierbare Liganden aktiviert und besitzen typischerweise
dass sie durch ein Zink-Ion komplexiert werden können. Dabei zwei Zinkfinger des Typs Cys2/Cys2 (. Abb. 47.6).
entsteht eine schleifenförmige Struktur, der Zinkfinger. Diese
Der Leucin-zipper gewährleistet eine spezifische
DNA-Bindung und Dimerisierung des Bindeproteins
A In vielen DNA-Bindeproteinen kommt als wichtiges Motiv der
sog. Leucin-zipper (zipper = Reißverschluss) vor (. Abb. 47.7).
Als Monomere enthalten Leucin-zipper-Proteine zwei Domä-
nen. Die eine bildet eine besonders leucinreiche α-Helix, die an-
dere eine Region aus meist basischen Aminosäuren, die die se-
quenzspezifische Bindung an DNA ermöglicht. Das Besondere
an Leucin-zipper-Proteinen ist ihre Fähigkeit zur Dimerisierung,
welche durch die leucinreichen α-Helices aufgrund hydrophober
Wechselwirkungen zwischen den Leucinresten ermöglicht wird.
Leucin-zipper-Proteine können sowohl als Homo- wie auch als
Heterodimere vorkommen, was eine große Zahl von Kombina-
tionen erlaubt.

. Abb. 47.5 Das enhanceosome für Interferon-β. A Modell des β-Interferon-enhanceosomes und B Röntgenstrukturanalyse von Komponenten des β-Interferon-
enhanceosomes. Unter der Röntgenstruktur dargestellt sind die DNA-Sequenzen (enhancer), die durch die jeweiligen Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren erkannt
werden. Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren: c-Jun, japanisch für 17 (wurde erstmalig in Hühner Sarcoma Virus 17 gefunden); ATF-2, activating transcription factor 2;
HMG1, high mobility group 1; IRF3A, IRF7B, IRF3C, IRF7D, interferon regulatory transcription factor 3A, 7B, 3C, 7D; NFκB (p50, p65), nuclear factor kappa-light-chain-
enhancer of activated B cells; IFN-β, Interferon-β PDB, 1T2K, 2O6I und 26OG, kombiniert dargestellt mit ProteinWorkshop 2.0
596 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression

. Abb. 47.8 Aufbau von DNA-Bindeproteinen mit Helix-turn-Helix-Moti-


ven. Dargestellt ist das an der Muskeldifferenzierung beteiligte MyoD-Dimer.
Die DNA-bindenden basischen Regionen der beiden Monomere sind gelb bzw.
. Abb. 47.6 Zinkfinger-Protein: DNA-Bindungsdomäne des Glucocorti- orange, die Helix-turn-Helix-Regionen rot bzw. braun dargestellt. Die DNA-Dop-
coidrezeptors. Wechselwirkung zwischen DNA und dem hormonakti- pelhelix ist blau-grau (PDB: 1MDY, dargestellt mit ProteinWorkshop 2.0)
vierten Rezeptordimer. Die DNA-Doppelhelix ist blau und grau dargestellt,
das Rezeptordimer ist grün und orange. Oben rechts ist ein Zinkfinger-Motiv,
bestehend aus einem durch vier Cysteinseitenketten komplexierten zentra- In vielen DNA-Bindeproteinen finden sich
len Zn2+-Ion, dargestellt (PDB: 1R4O, erstellt mit ProteinWorkshop 2.0)
Helix-turn-Helix-Motive
Die monomere Struktur der DNA-Bindeproteine mit dem Helix-
turn-Helix-Motiv ist in gewisser Weise mit dem Leucin-zipper-
Motiv verwandt und besteht aus zwei α-Helices, die über eine
flexible Schleife miteinander verbunden sind (. Abb. 47.8). Die
DNA-Bindungsregion ist eine aus basischen Aminosäuren beste-
hende α-Helix. Die nicht an der DNA-Bindung beteiligte α-Helix
ermöglicht eine Dimerisierung, ähnlich der leucinreichen Helix
im Leucin-zipper (. Abb. 47.8). DNA-Bindeproteine mit Helix-
turn-Helix-Motiven spielen u. a. bei der Muskeldifferenzierung
eine bedeutende Rolle.

47.2.3 Alternatives Spleißen

Durch alternatives Spleißen können aus einer


Prä-mRNA verschiedene mRNAs gebildet werden,
die für unterschiedliche Proteine codieren
Ein völlig anderer Mechanismus zur Regulation der Genexpres-
sion eukaryontischer Organismen wurde durch die Beobachtung
entdeckt, dass das Spleißen der Primärtranskripte eukaryonti-
scher Gene in sehr vielen Fällen zu unterschiedlichen mRNA-
Spezies und damit auch unterschiedlichen Proteinen führt. Die
Anwesenheit mehrerer Introns in der Prä-mRNA ermöglicht es,
Exons verschiedener Gene nach dem Baukastenprinzip durch
alternatives Spleißen in unterschiedlicher Weise zusammenzu-
setzen (exon shuffling). Dieser Vorgang beruht auf der Verwen-
. Abb. 47.7 Der Leucin-zipper als DNA-Bindeprotein. Aufbau eines Leu- dung unterschiedlicher Spleißstellen. Untersuchungen mit micro-
cin-zipper-Dimers am Beispiel des CCAAT/enhancer-binding proteins alpha.
arrays (7 Kap. 54) haben ergeben, dass ca. 75 % der menschlichen
Hervorgehoben in rot sind die basischen Aminosäureseitenketten der DNA-
Gene alternativ gespleißt werden können.
47 Bindungssequenz, in grün die reißverschlussartig interagierenden Leucin-
seitenketten (PDB: 1NWQ, dargestellt mit ProteinWorkshop 2.0) Über die biologische Bedeutung der diskontinuierlichen An-
ordnung der Gene höherer Eukaryonten gibt es viele Spekulatio-
nen. Der allergrößte Teil der primären RNA-Transkripte wird
durch Spleißen wieder entfernt, sodass nur ein kleiner Teil der
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
597 47
Die Prä-mRNA dieses Gens muss für die sezernierte Form
des IgM so gespleißt werden, dass das Exon, das für die TMD
codiert, entfernt wird. Eine alternative Möglichkeit ist die Ver-
wendung einer verborgenen Spleißstelle im Cμ4-Exon, was
unter Verlust der SC-Domäne zu einer mRNA führt, die an ih-
rem 3’-Ende für die Transmembrandomäne und die cytoplasma-
tische Domäne codiert. Damit entsteht ein Translationsprodukt,
welches in der Plasmamembran verankert ist. Da zwei verschie-
dene mRNAs entstehen, müssen auch zwei Polyadenylierungs-
signale vorhanden sein (pA1, pA2).
. Abb. 47.9 Alternatives Spleißen: Entstehung von Calcitonin und CGRP
Eine sehr eindrucksvolle Transkriptionsregulation findet
(calcitonin gene-related peptide)-mRNA. E, Exon. (Einzelheiten s. Text) sich bei der Prozessierung der Prä-mRNA für das p21-Ras (rat
sarcoma)-Proto-Onkogenprodukt (. Abb. 47.11). Unter norma-
len Bedingungen wird nur ein kleiner Teil der primären Tran-
transkribierten Prä-mRNA den Zellkern verlässt. Eine mögliche skripte des Ras-Proto-Onkogens so gespleißt, dass eine mRNA
Erklärung ist, dass bei dieser Prä-mRNA-Prozessierung spezifi- für ein stabiles Ras-Protein entsteht. Der größte Teil der primä-
sche Signale entstehen, die den Transport der mRNA aus dem ren Transkripte wird hingegen derart gespleißt, dass sie ein Ex-
Zellkern in das Cytosol regulieren. Dies konnte gezeigt werden, tra-Exon zwischen den Exons 3 und 4 erhalten. Dieses enthält ein
da viele, allerdings nicht alle Gene zumindest ein Intron im Pri- weiteres Stoppcodon für die Translation, was zu verkürzten und
märtranskript enthalten müssen, damit ihre mRNA aus dem damit funktionell inaktiven Formen des Ras-Proteins (p19-Ras)
Zellkern transportiert werden kann. führt. Man nimmt an, dass die Regulation des in diesem Fall
Ein Beispiel für das alternative Spleißen ist das Calcitonin/ vorliegenden Exon-skipping (Überspringen eines Exons) die
CGRP (calcitonin gene-related peptide)-Gen. Wie in . Abb. 47.9 Menge des aktiven p21-Ras-Proteins bestimmt.
dargestellt, entsteht aus der in der Schilddrüse gebildeten Prä-
mRNA durch Spleißen der Exons 1, 2, 3 und 4 die mRNA für Cal- Um eine hohe Spezifität und eine Regulation
citonin. In den Neuronen des zentralen und peripheren Nervensys- der Spleißvorgänge zu gewährleisten, gibt es
tems entsteht dagegen aus der gleichen Prä-mRNA durch Spleißen verschiedene Mechanismen
der Exons 1, 2, 3, 5 und 6 das CGRP, das als Neurotransmitter dient. Spleißfaktoren binden nach Erkennung der korrekten Sequenz
Ein weiteres Beispiel für alternatives Spleißen – von beson- bereits während der Prä-mRNA-Synthese zuerst an die 5’-Spleiß-
derer Bedeutung für die Immunantwort – ist die Produktion von stelle und dann an die 3’-Spleißstelle der Exons. Sie sind wie der
Immunglobulinen, die entweder membranverankert oder sezer- CSC (cap synthesizing complex)-Komplex und Enzyme zur Poly-
niert vorliegen können. Sie entstehen aus einer Prä-mRNA durch adenylierung über die carboxyterminale Domäne der RNA-Po-
die alternative Wahl von Spleißstellen (. Abb. 47.10). Das Gen lymerase II gebunden (7 Kap. 46.3).
für die schwere Kette des IgM (7 Kap. 70) codiert für eine Signal- Essentielle Spleißfaktoren wie SR (serine-arginine rich)-Pro-
sequenz (S) und enthält das Exon für die variable Region der teine binden an sog. exonic splicing enhancer (ESE)-Regionen in
schweren Kette (VDJ, VDJ-segments). Darauf folgen vier Exons den Exons und sorgen auf diese Weise dafür, dass Komponenten
für den konstanten Teil der schweren Kette (Cμ1 bis Cμ4). Cμ4 des Spleißosoms rekrutiert werden können, beispielsweise das
trägt am 3’-Ende eine sog. SC-Sequenz, die für das carboxyter- U2AF-Protein an die 3’-Spleißstelle und U1 an die 5’-Spleißstel-
minale Ende der sezernierten IgM-Form codiert. Zwei weitere le (7 Abb. 46.13). Diese Spleißfaktoren werden nur in bestimm-
3’-gelegene Exons codieren für eine Transmembrandomä- ten Zelltypen exprimiert und sorgen damit für ein zelltypspezi-
ne (TMD) und eine cytoplasmatische Domäne (CD). fisches Spleißmuster.

. Abb. 47.10 Alternatives Spleißen: Entstehung von membrangebundenen bzw. sezernierten IgM-Molekülen. S: Signalsequenz; VDJ: VDJ-Gen für den
variablen Teil des Immunglobulins; Cµ1–Cµ4: Exons der konstanten Kette; SC: Sequenz für die sekretorische Domäne; TMD: Sequenz der Transmembrando-
mäne; pA1, pA2: Polyadenylierungssignale. (Einzelheiten s. Text)
598 Kapitel 47 · Regulation der Transkription – Aktivierung und Inaktivierung der Genexpression

. Abb. 47.11 Alternatives Spleißen: Entstehung des p21-Ras-Proteins und des p19-Ras-Proteins durch Exon-skipping IDX, alternatives Exon.
Das zweite Translations-Stopp-Signal des p19-Ras-Proteins in Exon E4A ist für die Proteinbiosynthese bedeutungslos. (Einzelheiten s. Text)

Neben den erwähnten ESE-Regionen gibt es exonic splicing 4 dem im Darm synthetisierten Apolipoprotein B48 mit einer
silencer (ESS)-Regionen, die die Bindung von Spleißosomkom- Molekülmasse von 241 kDa
ponenten hemmen. Weiterhin findet man auch entsprechende
Regionen in den Introns: ISE (intronic splicing enhancer) und Beide Apolipoproteine werden durch dasselbe Gen codiert, dem-
ISS (intronic splicing silencer). entsprechend ist auch die mRNA für beide Isoformen zunächst
identisch. Durch eine nur in Enterocyten vorkommende spezifi-
sche Cytosindesaminase wird im Codon CAA in Position 6 666
47.2.4 mRNA-editing der Apolipoprotein-B-mRNA ein Cytosin zu einem Uracil des-
aminiert. Hierdurch entsteht das Translations-Stoppcodon UAA
mRNA-editing ermöglicht die Bildung und damit im Darm eine entsprechend verkürzte Form des Apo-
unterschiedlicher Proteine aus einer mRNA lipoproteins B.
Unter dem Begriff des mRNA-editing versteht man eine weitere
Modifikation der fertigen, d. h. gespleißten mRNA durch Vor-
gänge, die zu einer Veränderung der Basensequenz führen. So 47.2.5 Kontrolle der mRNA-Stabilität
kommt es bei niederen Eukaryonten durch Einfügen von Basen
nach der Transkription mitochondrialer Gene zu Rasterverschie- Eine Regulation der Genexpression kann nicht nur über
bungen und damit zu einer Änderung der Basensequenz der Genaktivierung/-inaktivierung, Regulation der Transkriptions-
mRNA im Vergleich zur genomischen Sequenz. Auch beim Men- initiation, alternatives Spleißen oder mRNA-editing erfolgen,
schen ist mRNA-editing nachgewiesen worden (. Abb. 47.12). sondern auch durch Veränderung der Stabilität der mRNA. Hier
Das Apolipoprotein B (7 Kap. 24) kommt in zwei Formen vor: soll auf zwei Mechanismen eingegangen werden, nämlich auf die
4 dem in der Leber synthetisierten Apolipoprotein B100 mit Bedeutung AU-reicher Elemente (adenine-uracil-rich elements,
einer Molekülmasse von 513 kDa und AREs) für den Abbau kurzlebiger mRNAs und auf die RNA-In-
terferenz (RNAi).

ARE-Bindeproteine sind für die Stabilität


kurzlebiger mRNA-Moleküle verantwortlich
Die mRNAs für eine Reihe von Wachstumsfaktoren und Cytoki-
nen zeichnen sich durch sehr kurze Halbwertszeiten aus. Als ge-
meinsames Merkmal zeigen sie an ihrem 3’-Ende AU-reiche
Sequenzen (AUUUA). mRNAs, die über diese Elemente verfü-
gen, werden außerordentlich rasch deadenyliert und durch eine
3’,5’-Exonuclease abgebaut. Dieser Abbau erfolgt in einem gro-
ßen, als Exosom bezeichneten hexameren Proteinkomplex (s.
auch 7 Abb. 46.23). Während die Hauptaufgabe cytosolischer
Exosomen im mRNA-Abbau besteht, sind die im Zellkern vor-
kommenden Exosomen primär an der Reifung der rRNA und
47 der Herstellung der snRNA beteiligt.
Für den Abbau von mRNAs mit AREs in cytosolischen Exo-
. Abb. 47.12 Entstehung von Apo B100 und Apo B48 durch mRNA- somen sind ARE-Bindeproteine verantwortlich. Diese ermögli-
editing. (Einzelheiten s. Text) chen die Wechselwirkung zwischen mRNA und den Proteinen
47.2 · Regulation der Transkription bei Eukaryonten
599 47
des Exosoms. Man kennt bis heute wenigstens 12 ARE-Binde-
proteine, die durch Interaktion mit den AREs mRNA-Stabilität
erhöhen oder erniedrigen können.

Durch RNA-Interferenz können mRNA-Moleküle


gezielt abgebaut werden
Die Genexpression kann ausgeschaltet werden, wenn doppel-
strängige RNA-Moleküle in Zellen eingebracht werden, von de-
nen ein Strang komplementär zur codierenden Sequenz und
damit zur mRNA des auszuschaltenden Gens ist. Dieses Verfah-
ren wird in der Gentechnik zur experimentellen Inaktivierung
von Genen benutzt (7 Kap. 55). Tier- und Pflanzenzellen nutzen
dieses Phänomen zur Regulation ihrer Genexpression. Die zu-
grunde liegenden Mechanismen beruhen auf der Existenz sog.
micro-RNAs (miRNAs), die an der Regulation der Genexpres-
sion beteiligt sind (. Abb. 47.13):
4 Im Genom tierischer und pflanzlicher Zellen kommen
Gene vor, die für die sog. Pri-miRNA (primary micro RNA)
codieren. Beim Menschen hat sich bisher eine größere Zahl
derartiger Gene nachweisen lassen. Sie werden von der
RNA-Polymerase II transkribiert, codieren jedoch nur zum
Teil für Proteine. In den für Proteine codierenden Genen
befinden sich die Sequenzen für die Pri-miRNAs in den
Introns.
4 Die durch die RNA-Polymerase II erzeugten Pri-miRNA-
Transkripte bilden doppelsträngige Schleifen von etwa
70 Nucleotiden Länge 1 .
4 Durch einen Proteinkomplex, der aus dem RNA-Bindepro-
tein Pasha 2 und der RNase-III Drosha 2 besteht, wird
der doppelsträngige RNA-Bereich herausgeschnitten. Nach
anschließender Bindung dieser Prä-miRNA durch
Exportin 5 3 wird diese über die Kernporen ins Cytosol
transportiert.
4 Ein als Dicer bezeichneter cytoplasmatischer Enzymkom- . Abb. 47.13 mRNA-Abbau durch RNA-Interferenz. (Einzelheiten s. Text)
plex mit RNase-Aktivität 4 entfernt nun weitere Nucleoti-
de, sodass ein Stück doppelsträngiger RNA aus ungefähr
21 bp entsteht, bei dem die 3 -Enden etwas überhängen. atrophischen rechten Ventrikeln, seine fehlende Expression zu
Dieses Produkt wird als miRNA-Duplex bezeichnet 5 . einer entsprechenden Hypertrophie.
4 Die Duplex-miRNA wird durch eine Helicase in die zwei
Einzelstränge getrennt, von denen einer mit dem RISC-
Komplex (RNA-induced silencing complex) 6 assoziiert. Zusammenfassung
Dieser bindet dann die zur miRNA komplementäre mRNA Die Regulation der Transkription erfolgt durch unterschied-
7 . Da der RISC-Komplex über eine RNase-Aktivität ver- liche Mechanismen:
fügt, kommt es zum Abbau der mRNA, womit deren Trans- 4 Aktivierung/Inaktivierung von Genen. Wichtige Mecha-
lation verhindert wird. nismen hierbei sind die Methylierung der DNA oder
reversible Modifikationen von Histonproteinen.
Man nimmt inzwischen an, dass etwa 20 % der menschlichen 4 Beeinflussung der Transkriptionsinitiation. Hierfür sind
Gene in ihren Introns die Information für miRNAs enthalten. Es v. a. Transkriptionsfaktoren/-aktivatoren verantwortlich,
scheint sicher zu sein, dass viele von ihnen entwicklungsge- zu denen beispielsweise nucleäre Rezeptoren gehören.
schichtlich von Bedeutung sind. So induzieren beispielsweise bei 4 Prozessierung der Prä-mRNA, z. B. durch alternatives
der Entwicklung des Herzens die Transkriptionsfaktoren Spleißen oder durch mRNA-editing.
MyoD (myogenic factor D) und Mef2 (myocyte enhancer factor-2) 4 RNA-Transport aus dem Zellkern ins Cytoplasma.
die Transkription der miRNA-1-1 im Herzmuskel. Diese bindet 4 Stabilisierung oder Abbau der RNA.
und inaktiviert über den RISC-Komplex die mRNA des Tran- 4 RNA-Interferenz.
skriptionsfaktors Hand 2 (heart and neural crest derivatives ex-
pressed 2), der die Proliferation der Kardiomyocyten im rechten
Ventrikel stimuliert. Überexpression von miRNA-1-1 führt zu 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
48 Translation – Synthese von Proteinen
Matthias Müller, Lutz Graeve

Einleitung

Die Information für die Identität eines Proteins, d. h. seine spezifische


Aminoäuresequenz, ist in der Nucleotidsequenz der codierenden mRNA
festgelegt. Bei der Biosynthese eines Proteins wird die Sprache der
mRNA in die des Proteins übersetzt. Deswegen wird die Biosynthese von
Proteinen als Translation bezeichnet. Da es sich bei Protein und Nuclein-
säure um zwei chemisch nicht verwandte Polymere handelt, stellt die
Umsetzung der Information einer mRNA in die Aminosäuresequenz ei-
nes Proteins molekular gesehen einen komplexen Vorgang dar. Die
Translation verläuft deswegen grundlegend anders als die Transkription,
bei der aufgrund gleichartiger Bausteine von DNA und RNA die Nucleo-
tidsequenz der DNA 1:1 in die komplementäre RNA-Sequenz umge-
schrieben werden kann (7 Kap. 46). Durch mehrere Qualitätssiche-
rungsmechanismen wird eine hohe Genauigkeit der Translation sicher-
gestellt (durchschnittlich ein Fehler pro 5–50×103 eingebauter Amino-
säuren.

Schwerpunkte

4 Der genetische Code


4 Wobble-Phänomen bei tRNAs
4 Funktionen von Aminoacyl-tRNA-Synthetasen
4 Struktur und Funktion von Ribosomen
4 Initiations-, Elongations- und Terminationsphase des Trans-
lationsvorgangs
4 Einbau von Selenocystein
4 Translationsgerichtete Antibiotika
. Abb. 48.1 Der genetische Code. Je nach Anzahl synonymer Codons sind
4 Regulation der Translation
die Aminosäuren mit unterschiedlichen Farben markiert. GUG kann in man-
chen Organismen für das Startmethionin codieren. (Einzelheiten s. Text)

48.1 Der genetische Code und dargestellt. Die drei Spalten führen die jeweils vier alternativen
seine molekularen Übersetzer Basen in der ersten, zweiten und dritten Position eines Codons
auf, wobei die Positionen 1 bis 3 immer in 5’,3’-Richtung einer
48.1.1 Der genetische Code mRNA angegeben werden. Die Kombination aller vier Basen in
allen drei Positionen ergibt die insgesamt 64 möglichen Basen-
Der genetische Code ist das Wörterbuch für die tripletts.
Übersetzung der Nucleinsäure in die Proteinsprache
Bei der Translation eines Proteins wird die codierende Informa- Start- und Stoppcodons legen das Leseraster
tion einer mRNA in Einheiten von jeweils drei aufeinanderfol- einer mRNA fest
genden Nucleotiden, den Tripletts oder Codons, gelesen. Da Die drei Codons UAA, UGA und UAG codieren nicht für Ami-
RNA aus vier unterschiedlichen Nucleotiden (»Buchstaben«) nosäuren, sondern fungieren als Stoppsignale für die Translation
aufgebaut ist, kann sie 43 = 64 Codons (»Worte«) bilden. Das (Stoppcodons oder Terminationscodons). Die restlichen
Wörterbuch, in dem die Zuordnung der 64 Codons zu den 20 61 Tripletts codieren für 20 Aminosäuren, die 21. proteinogene
klassischen proteinogenen Aminosäuren festgeschrieben ist, ist Aminosäure Selenocystein wird von dem Stoppcodon UGA co-
der genetische Code. diert, das in diesem speziellen Fall über einen ungewöhnlichen
48 Der genetische Code wurde in den 60er Jahren des letzten Mechanismus dechiffriert wird (7 Kap. 48.3.1). AUG spezifiziert
Jahrhunderts experimentell entschlüsselt und ist in . Abb. 48.1 die Aminosäure Methionin und fungiert gleichzeitig als Start-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_48, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
601 48
48.1.2 Struktur und Funktion von Transfer-RNA

Transfer-RNAs fungieren als Adaptoren, die direkte


molekulare Kontakte mit den Bausteinen der mRNA
und des Proteins eingehen können
Zur molekularen Erkennung der in einer mRNA gespeicherten
Information hybridisieren die mRNA-Codons über H-Brücken
. Abb. 48.2 Überlappende Leseraster einer mRNA. Dargestellt ist ein Se-
mit einer weiteren RNA-Spezies, der Transfer-RNA (tRNA). Die
quenzabschnitt einer mRNA mit der zugehörigen Aminosäuresequenz in blau.
Eine Verschiebung des Leserasters um eine Base nach rechts (+1) hätte eine tRNA-Moleküle tragen an exponierter Stelle eine zu einem Co-
neue Aminosäuresequenz (rot) mit einem vorzeitigen Stoppcodon zur Folge don der mRNA komplementäre Basensequenz, die als Anti-
codon bezeichnet wird. Am anderen Ende sind tRNAs mit der
zum jeweiligen Codon der mRNA korrespondierenden Amino-
codon einer mRNA, sodass die Proteinsynthese immer mit Me- säure covalent verknüpft.
thionin beginnt (7 Kap. 48.2.1). Transfer-RNAs bestehen aus durchschnittlich 70–80 Nucleo-
Die Reihenfolge der Codons einer mRNA, ausgehend von tiden. Wie in . Abb. 48.3A dargestellt, besitzen tRNA-Moleküle
einem bestimmten Startpunkt bis zu einem Stoppcodon, wird als vier komplementäre Basenabschnitte, zwischen denen sich intra-
Leseraster bezeichnet, der die komplette Aminosäuresequenz molekulare H-Brücken ausbilden. In zweidimensionalen Dar-
des zugehörigen Proteins codiert. Prinzipiell könnte bei Ver- stellungen ähneln diese gepaarten Bereiche den Stielen und die
schiebung des Startpunktes um ein oder zwei Nucleotide die In- dazwischenliegenden, nicht-gepaarten Schlaufen eines tRNA-
formation einer spezifischen mRNA auch in zwei oder drei über- Moleküls den Blättern eines Kleeblattes. Der Hauptstiel oder Ak-
lappenden Leserastern in Proteine mit entsprechend unter- zeptorarm enthält das 5’-Ende der tRNA und am nicht-gepaar-
schiedlicher Aminosäuresequenz translatiert werden. Wie ten 3’-Ende die bei allen tRNAs identische Sequenz CCA, deren
. Abb. 48.2 verdeutlicht, bricht in diesen Fällen aber in der Regel Adenin an seiner freien 3’-OH-Gruppe mit einer Aminosäure
der sog. offene Leserahmen (open reading frame, ORF) durch verestert ist (s. u.). Die dem 3’-Ende gegenüberliegende Schlaufe
Auftauchen eines Stoppcodons vorzeitig ab. Retrovirale mRNA des Anticodonarms enthält die drei Nucleotide des Anticodons.
wird dagegen tatsächlich durch eine gezielte Verschiebung des Die dreidimensionale Strukturwiedergabe einer tRNA
Leserasters am Ribosom in zwei unterschiedliche Proteine trans- (. Abb. 48.3B) verdeutlicht, dass die gepaarten Molekülanteile
latiert. Eine Verschiebung des Leserasters mit vorzeitigem Ket- doppelhelicale Bereiche bilden und dass die Raumstruktur die
tenabbruch erfolgt meistens auch dann, wenn im Rahmen von sog. L-Form einnimmt. Sie gleicht einem auf den Kopf gestellten
Mutationen zusätzliche Nucleotide in die DNA eingefügt (Inser- großen Buchstaben L.
tionen) oder entfernt (Deletionen) werden. Wie weiter unten näher erläutert, spielen häufig vorkom-
mende, ungewöhnliche Basen für die Funktion von tRNAs eine
Der genetische Code ist redundant (»degeneriert«) wichtige Rolle. Hierzu gehört das durch Desaminierung aus Ade-
und universell nin entstehende Inosin (s. u.), das mit dem großen griechischen
Wie . Abb. 48.1 zeigt, werden außer Tryptophan und Methionin Buchstaben Psi (Ψ) abgekürzte Pseudouridin, das über eine un-
alle anderen Aminosäuren von zwei, drei, vier oder sogar sechs gewöhnliche N-glycosidische Bindung mit der Ribose verknüpft
unterschiedlichen Tripletts codiert. Damit ist die Zuordnung von ist (7 Abb. 3.16) und Dihydrouridin, ein im Pyrimidinring redu-
Codons zu den meisten Aminosäuren mehrdeutig, eine Tatsache, ziertes Uridin. Diese und weitere chemische Modifikationen (s.
die dazu geführt hat, den genetischen Code als degeneriert zu 7 Übrigens »Taurin und die Leistungsfähigkeit von Mitochondrien« )
bezeichnen, was im Sinn von redundant zu verstehen ist. Unter- finden erst nach Synthese des tRNA-Moleküls, also posttran-
schiedliche Codons, die für eine einzige Aminosäre codieren, skriptional statt (7 Kap. 46.3.4).
werden alternative oder synonyme Codons genannt. Wie
. Abb. 48.1 z. B. anhand von Glycin verdeutlicht, unterscheiden Das Wobble-Phänomen erklärt,
sich synonyme Codons häufig nur in der Base der 3. Position warum Organismen mit weniger als 61 Anticodons
(s. u.). Synonyme Codons werden von den einzelnen Organis- (= tRNAs) auskommen
men mit unterschiedlicher Häufigkeit genutzt (codon usage). Die Redundanz des genetischen Codes bedeutet, dass mehrere
Bis auf wenige Ausnahmen ist der genetische Code univer- Codons für ein und dieselbe Aminosäure codieren können. Um-
sell, d. h. er wird von allen lebenden Organismen benutzt. In gekehrt bedeutet dies, dass dieselbe Aminosäure auf mehrere
Mitochondrien, die einen eigenen Translationsapparat besitzen, tRNAs mit unterschiedlichen Anticodons (isoakzeptierende
codiert UGA häufig für Tryptophan. Solche Abänderungen des tRNAs) geladen werden kann. Zellen besitzen allerdings weniger
genetischen Codes traten sehr wahrscheinlich spät in der Evolu- tRNAs als Codons vorhanden sind, Bakterien z. B. 31, der
tion auf. Voraussetzung für den Erhalt essentieller, zellulärer Mensch 48. Dies liegt daran, dass ein bestimmtes Anticodon mit
Funktionen war nämlich eine absolute Qualitätssicherung bei mehreren Codons interagieren kann, weil zwischen Codon und
der Neusynthese von Proteinen. Diese verlangte aber eine ein- Anticodon auch Basenpaarungen vorkommen, die von den stan-
deutige Erkennung und Umsetzung der in der DNA einer leben- dardgemäßen G-C- und A-U-Wechselwirkungen abweichen.
den Zelle gespeicherten Erbinformation. So gesehen ist es ver- Man spricht davon, dass in diesen Fällen der Standard »wackelt«
ständlich, dass der genetische Code konserviert geblieben ist. (engl. to wobble).
602 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

. Abb. 48.3 Struktur einer tRNA. A Sequenz und zweidimensionale Kleeblattstruktur. (Adaptiert nach Alberts 2008, mit freundlicher Genehmigung
von Taylor u. Francis). B Dreidimensionale L-Form einer tRNA. Pfeil: H-Brücken zwischen ausgeklappten Basen von Schlaufenregionen, welche die L-Form
stabilisieren. PDB: 1EVV. Ψ: Pseudouridin; D: Dihydrouridin

Solche abweichenden Basenpaarungen kommen vor allem


zwischen der 3. Position des Codons und der 1. Position des An- . Tab. 48.1 Standardgemäße und davon abweichende Basenpaa-
ticodons (beide in 5’,3’-Richtung angegeben) vor, die deswegen rungen in der Wobble-Position (Wobble-Hypothese)

auch als die Wobble-Positionen bezeichnet werden. . Tab. 48.1


Erste Base des Anticodons Mögliche Basen in Position drei
fasst die möglichen Basenpaarungen in den Wobble-Positionen des Codons
von Codon und Anticodon zusammen. Es wird deutlich, wie
wichtig in diesem Zusammenhang Inosin ist, das in der Wobble- A U
Position des Anticodons mit C, U und A im Codon paaren kann. C G
Wenn Uridin in der Wobble-Position des Anticodons vorkommt,
U (modifiziert) A oder G
ist es häufig chemisch modifiziert (s. 7 »Übrigens: Taurin und die
Leistungsfähigkeit von Mitochondrien«). G C oder U

I (Inosin) A, C oder U

Übrigens
Taurin und die Leistungsfähigkeit von Mitochondrien
Modifikationen von Uridin, wie sie an Position 1 des Antico- 48.1.3 Aminoacyl-tRNA-Synthetasen
dons von tRNAs häufig anzutreffen sind, können bei mito-
chondrialen tRNAs auch mit Taurin (7 Kap. 27.2.4) erfolgen Aminoacyl-tRNA-Synthetasen aktivieren
(. Abb. 48.4). Bestimmte Mutationen mitochondrialer tRNAs Aminosäuren für die Proteinsynthese
sind beschrieben worden, die zu einer Beeinträchtigung die- durch covalente Kopplung an tRNAs
ser Taurinomethylierung und damit der mitochondrialen Für jede der 20 proteinogenen Aminosäuren gibt es eine spezifi-
Translation führen. Aus der Tatsache, dass diese Mutationen sche Aminoacyl-tRNA-Synthetase. Diese Enzyme koppeln tRNA
zu mitochondrialer Dysfunktion mit neuromuskulärer Symp- und Aminosäure in einer zweistufigen Reaktion (. Abb. 48.5):
tomatik (mitochondriale Encephalomyopathien) führen, 4 Zunächst aktivieren sie die Aminosäure, indem sie deren
kann geschlossen werden, dass Taurin für die Aufrechterhal- Carboxylgruppe unter Hydrolyse von ATP an AMP kop-
tung normaler mitochondrialer Funktionen benötigt wird. peln. Das dabei entstehende Pyrophosphat wird hydroly-
Dies könnte eine Erklärung für die leistungssteigernde Wir- siert und verschiebt das Gleichgewicht der Reaktion in
kung sein, die für Taurin propagiert, bisher aber nicht ein- Richtung Bildung des Aminoacyladenylats, welches als
deutig belegt werden konnte. Die Deutsche Gesellschaft für Carbonsäure-Phosphorsäure-Anhydrid zu den energie-
Ernährung rät wegen fehlender Unbedenklichkeitsnachweise reichen Verbindungen gehört. Nach demselben Mechanis-
48 derzeit von einer zusätzlichen Taurinaufnahme ab. mus werden Fettsäuren durch die Acyl-CoA-Synthetase
aktiviert (7 Kap. 21.2.1).
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
603 48

. Abb. 48.4 Mit Taurin modifiziertes Uridin und Thiouridin

4 Anschließend binden sie die zugehörige tRNA und veres-


tern deren endständiges Adenosin mit der Carboxylgrup-
pe der aktivierten Aminosäure. Dabei gibt es zwei Klassen
von Aminoacyl-tRNA-Synthetasen: Klasse I überträgt Ami-
nosäuren auf die 3’-Hydroxylgruppe, Klasse II zuerst auf die
2’-Hydroxylgruppe und anschließend durch Transesterifi-
zierung auf die 3’-Hydroxylgruppe.

Den Aminoacyl-tRNA-Synthetasen obliegt


die Auswahl der korrekten Paare von tRNA
und Aminosäuren
Neben der rein chemischen Acylierung von tRNAs haben Ami-
noacyl-tRNA-Synthetasen die wichtige Funktion, die richtigen
Paare von tRNAs und Aminosäuren auszuwählen. So gesehen
sind sie neben den tRNAs die primären »Dolmetscher« bei der
Übersetzung der Nucleinsäuresprache in die der Proteine. Die
. Abb. 48.5 Reaktionsmechanismus von Aminoacyl-tRNA-Synthetasen
molekularen Details sind in . Abb. 48.6 schematisch dargestellt.
4 Aminoacyl-tRNA-Synthetasen haben für ihre zugehörigen
(engl. cognate) Aminosäuren spezifische Bindungsstellen
im aktiven Zentrum (Aminoacylierungsstelle). Strukturver-
wandte Aminosäuren können dort mit geringer Affinität
ebenfalls gebunden werden. Tritt dies ein, werden sie durch
Hydrolyse des Acyladenylats vor Übertragung auf die tRNA
wieder entfernt (Prätransfer-Korrektur, pretransfer
editing).
4 Zugehörige tRNAs werden von den Aminoacyl-tRNA-Syn-
. Abb. 48.6 Reaktionsfolge und Qualitätskontrolle von Aminoacyl-
thetasen v. a. über ihr Anticodon und bestimmte Nucleoti- tRNA-Synthetasen. Links: Bindung einer Aminosäure (AA) in der Amino-
de im Akzeptorarm erkannt und gebunden. acylierungsstelle (rot) und Bildung des Acyladenylats (AA-AMP); Mitte:
4 Auch nach Acylierung der tRNA kann noch eine Korrektur Transfer der Aminosäure auf die gebundene tRNA (Aminoacylierung der
erfolgen. Dazu schwenkt das flexible, weil nicht gepaarte, tRNA); rechts: Translokation der gebundenen Aminosäure in die Korrektur-
stelle (grün)
3’-Ende des Akzeptorarms der tRNA die gebundene
Aminosäure in eine zweite Bindestelle des aktiven Zent-
rums, die Korrekturstelle (editing pocket). Diese ist so
ausgelegt, dass sie die korrekte Aminosäure nicht aufneh- 48.1.4 Aufbau und Funktion von Ribosomen
men kann, während kleinere, strukturähnliche Amino-
säuren gebunden und dann hydrolysiert werden (Post- Ribosomen sind die enzymatische Maschinerie einer Zelle, an
transfer-Korrektur). der Aminosäuren zu Polypeptiden (Proteinen) polymerisieren,
mit anderen Worten Ribosomen sind die Orte der Translation.
Diese Korrekturmechanismen tragen gemeinsam mit Kontroll- Ribosomen bestehen aus zwei ribosomalen Untereinheiten. In
mechanismen während der Elongation (7 Kap. 48.2.2) dazu bei, der kleinen Untereinheit erfolgt die Decodierung der mRNA
dass die Translation von Proteinen in der Zelle mit einer hohen durch die Aminoacyl-tRNAs, während in der großen die Peptid-
Genauigkeit (durchschnittlich ein Fehler auf 5.000–50.000 ein- bindungen zwischen den Aminosäuren geknüpft werden. Prote-
gebauter Aminosäuren) abläuft. ine werden an den Ribosomen vom N- zum C-Terminus synthe-
tisiert. Die Synthesegeschwindigkeit beträgt in eukaryontischen
Zellen 3–5 Aminosäuren pro Sekunde, in Prokaryonten ca. 20.

5-Taurinomethyl-Uridin# 5-Taurinomethyl-2-Thiouridin# Adenin# Aminoacyladenylat# Aminoacyl-tRNA#


604 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

der kleinen, und aus der 23S (28S) r-RNA im Fall der großen
. Tab. 48.2 Zusammensetzung von Ribosomen Untereinheit.
70Sa-Ribosomen 80S-Ribosomen
Die kleinen und großen Untereinheiten
(Prokaroynten) (Eukaryonten)
der Ribosomen bilden drei charakteristische
Unterein- Groß (50S) Klein (30S) Groß (60S) Klein (40S) Bindestellen für tRNAs aus
heiten 1.600 kDa 900 kDa 2.800 kDa 1.400 kDa Auch die drei Bindestellen der Ribosomen für tRNAs werden
rRNAs 23S 16S 28S/5.8Sb 18S weitgehend von den rRNAs gebildet: die sog. A-Stelle bindet die
5S 5S neu eintretende Aminoacyl-tRNA, die P-Stelle hält die mit der
Proteinec 34 21 50 33 neu synthetisierten Peptidkette verknüpfte Peptidyl-tRNA und
a
die E-Stelle ist der Ort, an den die Exit-tRNA nach Entfernung
Svedberg Einheit; gibt das Sedimentationsverhalten in Abhängig-
der Aminosäuren gelangt. Alle drei tRNA-Bindestellen werden
keit von Masse und Form an (7 Kap. 6.2).
b Nur bei Vertebraten. auf Seiten der kleinen Untereinheit von der 16S (18S)-rRNA und
c Zahl schwankt geringfügig zwischen Species bzw. Organismen. auf Seiten der großen Untereinheit von der 23S (28S)-rRNA ge-
bildet, sodass man von den jeweiligen »Halbstellen« auf den bei-
den Untereinheiten spricht. Die Halbstellen interagieren mit
Ribosomen sind Ribonucleoproteinpartikel, unterschiedlichen Teilen der tRNAs: die der kleinen Untereinheit
die zu ca. 60 % ihrer Masse aus RNA bestehen nehmen die Anticodonschlaufen der tRNAs auf und vermitteln
Die ribosomalen RNAs (rRNAs) sind nicht nur quantitativ, son- deren Interaktion mit der mRNA. Die Halbstellen der großen
dern auch funktionell der wichtigere Teil der Ribosomen. Der ribosomalen Untereinheit umschließen dagegen die Akzeptorar-
Aufbau von Ribosomen geht aus . Tab. 48.2 hervor. Eukaryonti- me der tRNAs. Sie sind räumlich so angeordnet, dass die CCA-
sche Ribosomen sind aufgrund von mehr Proteinen und zusätz- Enden der beiden tRNAs in den A- und P-Stellen unmittelbar
lichen rRNA-Segmenten größer (80S-Ribosomen) als die von nebeneinander zu liegen kommen (. Abb. 48.7B, D).
Bakterien (70S-Ribosomen). Ihr ähnlicher struktureller Aufbau
weist jedoch auf einen gemeinsamen evolutionären Ursprung Die große ribosomale Untereinheit besitzt
hin. das Peptidyltransferasezentrum und den
Die Ribosomen einer eukaryontischen Zelle sind sowohl frei Proteinaustrittskanal
im Cytosol lokalisiert als auch am endoplasmatischen Retikulum Der Bereich der 23S (28S)-rRNA um die A- und P-Stellen der
gebunden. Die Synthese dieser Ribosomen erfolgt im Nucleolus. großen Untereinheit wird als Peptidyltransferasezentrum be-
Mitochondrien hingegen synthetisieren einen eigenen Satz von zeichnet, in dem die Peptidbindung zwischen zwei benachbarten
Ribosomen, die aufgrund der endosymbiontischen Entstehung Aminosäuren geknüpft wird (. Abb. 48.7D). Wie bei einem typi-
von Mitochondrien den bakteriellen 70S-Ribosomen sehr ähn- schen Enzym ermöglicht die sterische Anordnung der A- und
lich sind. P-Stellen tRNAs im Peptidyltransferasezentrum eine optimale
Trotz unterschiedlicher Nucleotidsequenzen bilden die bei- Ausrichtung der miteinander reagierenden Aminosäuren, sodass
den großen rRNAs von Pro- und Eukaryonten ähnliche dreidi- das Ribosom die Bildung der Peptidbindung ungefähr um den
mensionale Strukturen aus, die das Kerngerüst der beiden ribo- Fakor 105 beschleunigt. Obgleich im Peptidyltransferasezentrum
somalen Untereinheiten ausmachen und im Wesentlichen deren auch zwei ribosomale Proteine mit den tRNAs von A- und P-
globuläre Form bestimmen. Die Raumstruktur der rRNAs Stelle interagieren, ist es vor allem die 23S bzw. 28S-rRNA, die für
kommt wie bei der tRNA v. a. durch die Ausbildung zahlreicher die Katalyse verantwortlich ist. Diese rRNAs werden deswegen
Stiel-Schlaufen-Strukturen, d. h. von intramolekularen Doppel- als Ribozyme bezeichnet.
helices zwischen komplementären Basenabschnitten eines Am Peptidyltransferasezentrum der großen ribosomalen Un-
rRNA-Stranges, zustande. In . Abb. 48.7A–D sind diese doppel- tereinheit beginnt auch der etwa 10 nm lange und 1 nm breite
helicalen Abschnitte durch die großen spiralförmig angeordne- Austrittskanal, durch den die naszierende (neusynthetisierte)
ten Bänder wiedergegeben, in denen teilweise die verbrückten Polypeptidkette das Ribosom verlässt (. Abb. 48.7D). Die Kanal-
Basenpaare zu sehen sind. Zusätzlich sind an der Ausbildung der wand wird überwiegend von rRNA, aber auch den Schlaufen von
Raumstruktur direkte RNA-RNA-Wechselwirkungen beteiligt. 4 ribosomalen Proteinen gebildet, die von der Ribosomenoberflä-
Die bedeutendste ist das sog. A-minor-motif bei dem nicht- che nach innen vordringen und an einer Stelle den Kanal abkni-
gepaarte Adeninnucleotide H-Brücken mit der kleinen Furche cken lassen. Die Austrittstelle an der großen ribosomalen Unter-
(minor groove) von Basenpaaren benachbarter RNA-Doppel- einheit wird von mehreren ribosomalen Proteinen flankiert.
helices (. Abb. 48.7E) ausbilden.
Die ribosomalen Proteine sind größtenteils auf der Oberflä- Die kleine ribosomale Untereineinheit
che der beiden Untereinheiten lokalisiert (. Abb. 48.7B, C). Eini- beherbergt die Bindestelle für die mRNA
ge besitzen lange Fortsätze aus basischen Aminosäuren, mit de- und das Decodierzentrum
nen sie in die globuläre Struktur der ribosomalen RNAs vordrin- Die 16S (18S)-rRNA und die Proteine der kleinen ribosomalen
gen. Die beiden Kontaktflächen der ribosomalen Untereinheiten Untereinheit bilden eine charakteristische Raumstruktur, die in
48 sind jedoch weitgehend proteinfrei und bestehen im Wesentli- älteren elektronenmikroskopischen Darstellungen an den Um-
chen aus der 16S-rRNA (18S-rRNA bei Eukaryonten) im Falle riss eines Kükens erinnerte und seit dieser Zeit mit Kopf, Nacken,
48.1 · Der genetische Code und seine molekularen Übersetzer
605 48

A B

. Abb. 48.7 Röntgenkristallstruktur von 70S-Ribosomen des thermophi-


len Bakteriums Thermus thermophilus. In der kleinen ribosomalen Unterein-
heit sind die 16S-rRNA türkis und die Proteine dunkelblau, in der großen Un-
tereinheit ist die 23S-rRNA grau und die Proteine violett wiedergegeben.
A Blick auf den Rücken der kleinen Untereinheit, mit der darunterliegenden
großen Untereinheit. Ko: Kopf, N: Nacken, P: Plattform, Sch: Schulter, Kö: Kör-
per, Sp: Sporn. B Die kleine Untereinheit wurde aus ihrer Position in A um
180° nach rechts aufgeklappt, sodass ihre Kontaktfläche zur großen Unterein-
heit sichtbar wurde. Die drei tRNAs der A- (gold), P- (orange) und E-Stellen
(rot) blicken mit ihren Akzeptorarmen, die im Fall der tRNAs von A- und P- E
Stelle an ihren unmittelbar nebeneinander liegenden 3’-CAA-Enden zu er-
kennen sind (Pfeile), auf den Betrachter. (Die A-, P- und E-Stellen werden wei-
ter unten im Text ausführlich besprochen.) C Untereinheitenkontaktfläche
der großen ribosomalen Untereinheit. Position wie in A nach Entfernung der
kleinen Untereinheit. Die drei tRNAs sind mit ihren Anticodonarmen auf den
Betrachter gerichtet. Die meisten ribosomalen Proteine sind auf den Oberflä-
chen und weniger auf den Kontaktflächen der beiden Untereinheiten lokali-
siert. D Bei dieser Darstellung wurde die kleine Untereinheit aus der Position
in B um ca. 60° kopfüber auf den Betrachter zugedreht. Teile beider Unterein-
heiten wurden entfernt, um den Blick ins Innere mit dem Peptidyltransferase-
zentrum (PTZ) und dem Proteinaustrittskanal (PK) frei zu legen. Der Knick des
Proteinkanals ist in dieser Projektion nicht sichtbar. Der Verlauf der mRNA
zwischen den beiden Untereinheiten ist angezeigt. E A-minor-motif, über das
viele intramolekulare Kontakte der großen rRNAs gebildet werden. H-Brücken
zwischen einem Adeninnucleotid (oben) und einem A-U-Basenpaar (unten).
Die gestrichelte Linie markiert die Flanke des A-U-Basenpaares, die in der
kleinen Furche einer Doppelhelix liegt (7 Abb. 10.3) Typisch sind die Betei-
ligung von Ring-N-Atomen und der 2’-OH-Gruppe von Ribose (grün) an den
H-Brücken. Adenin, rot; Uracil, blau; Ribose, schwarz. Derartige Wechselwir-
kungen spielen auch bei der Erkennung eines korrekten Codon-Anticodon-
Paares durch die 16S (18S)-rRNA eine entscheidende Rolle. (A–C Adaptiert
nach Yusupov et al. 2001; D Adaptiert nach Noller et al. 2002)
606 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

Schulter, Plattform, Körper und Sporn bezeichnet werden 48.2.1 Initiation


(. Abb. 48.7A, B). Die Nackenstruktur besteht aus einer einzigen
RNA-Helix, um die Kopf und Körper gegeneinander verdrehbar Zu Beginn der Initiation bilden 40S-ribosomale
sind. Außerdem bindet die mRNA in einer kanalförmigen Struk- Untereinheit, Methionyl-tRNAiMet und
tur um den Nacken. Die A-, P- und E-Halbstellen der kleinen Initiationsfaktoren einen 43S-Präinitiationskomplex
ribosomalen Untereinheit, in denen die drei tRNAs mit der Während der Initiationsphase interagieren Ribosom, mRNA und
mRNA interagieren (das sog. Decodierzentrum des Ribosoms), tRNA mit einer Reihe von Proteinen, die als Initiationsfaktoren
werden von rRNA-Anteilen von Kopf und Körper oberhalb und (eIFs für eukaryontische Initiationsfaktoren) bezeichnet werden.
unterhalb des mRNA-Kanals gebildet. Der Ablauf der Initiation in eukaryontischen Zellen ist in . Abb.
48.8 schematisch dargestellt. Zur erfolgreichen Initiation der
Translation muss das 80S-Ribosom in seine 40S- und 60S-Unter-
Zusammenfassung einheiten dissoziieren, ein Prozess, an dem mehrere Initiations-
Bei der Translation wird die Basensequenz einer mRNA in faktoren wie eIF3 und eIF6 beteiligt zu sein scheinen. Die 40S-
die Aminosäuresequenz eines Proteins übersetzt. Untereinheit bindet dann eIF1 in der Nähe der P-Stelle, eIF1A,
Der genetische Code ordnet den 64 möglichen Codons der wahrscheinlich die A-Stelle besetzt, eIF3 und den sog. ternä-
(Basentripletts) 20 proteinogene Aminosäuren zu. ren Komplex (. Abb. 48.8A). Dieser besteht aus der mit Methio-
Die tRNAs sind molekulare Adaptoren, die mit ihren spezifi- nin beladenen spezifischen Initiator tRNAiMet, dem Initiations-
schen Anticodons an die Codons der mRNA binden und faktor eIF2 und dem an eIF2 gebundenen GTP (Methionyl-
gleichzeitig die zugehörige Aminosäure in aktivierter Bin- tRNAiMet/eIF2/GTP). Die Bindung von Methionyl-tRNAiMet an
dung tragen. In den Wobble-Positionen von Codon und An- die 40S-Untereinheit wird nur dann durch eIF2 vermittelt, wenn
ticodon kommen auch nicht-standardgemäße Basenpaarun- es GTP gebunden hat. 40S-Untereinheit, ternärer Komplex und
gen vor, die häufig von Inosin oder modifizierten Basen der die Initiationsfaktoren eIF1, eIF1A und eIF3 bilden den 43S-
tRNAs ausgehen. Präinitiationskomplex.
Zusammen mit dem Startcodon für Methionin legen drei
Stoppcodons den Leseraster (= offenen Leserahmen) einer Mithilfe von eIF3 und dem eIF4-Komplex bindet der
mRNA fest. Überlappende Leseraster, die um ein bis zwei Ba- 43S-Präinitiationskomplex an die mRNA
sen vesetzt sind, führen in der Regel zum vorzeitigen Auftre- Der Multienzymkomplex eIF4 bindet auf der Rückseite der 40S-
ten eines Stoppcodons. Untereinheit an eIF3, an die 5’-cap-Struktur (7 Kap. 46.3.3) der
Die Translation läuft an Ribosomen ab. Ribosomen von Eu- mRNA und an das PolyA-Bindeprotein I (PABP), das mit dem
karyonten bestehen aus 40S- und 60S-Untereinheiten, die 3’-PolyA-Ende der mRNA assoziiert und damit zusätzlich die
aus Proteinen und zum größeren Teil aus den rRNAs aufge- Bindung der mRNA an die 40S-Untereinheit vermittelt (. Abb.
baut sind. Sie besitzen drei simultane Bindestellen für tRNAs 48.8B). Auf diese Weise kommt es zu einem Ringschluss der
(A-, P-, E-Stelle) und das Peptidyltransferasezentrum, wo mRNA. Der so erweiterte Komplex wird als 48S-Präinitiations-
rRNA-abhängig die Peptidbindungen zwischen benachbar- komplex bezeichnet.
ten Aminosäuren ausgebildet werden.
Zur Qualitätskontrolle der Translation tragen entscheidend Der 48S-Präinitiationskomplex durchsucht die
die Aminoacyl-tRNA-Synthetasen bei, die die korrekten mRNA vom 5’-Ende her nach dem Start-AUG-Codon
tRNA-Aminosäure Paare aussuchen. Viele mRNAs enthalten an ihrem 5’-Ende lange, nicht-transla-
tierte Abschnitte (5’-UTRs = untranslated regions), die häufig
helicale Sekundärstrukturen ausbilden. Diese werden während
der Suche (scanning) nach dem Startcodon durch eine ATP-ab-
48.2 Translationsmechanismus hängige Helicase-Aktivität des eIF4-Komplexes entwunden
(. Abb. 48.8B). Die Durchforstung der mRNA Sequenz nach
Bei der Translation, d. h. der Biosynthese eines dem Startcodon wird kooperativ von eIF1 und eIF1A unterstützt,
Proteins am Ribosom, werden die drei Phasen Initia- die den mRNA-Kanal der 40S-Untereinheit bis zum Erscheinen
tion, Elongation und Termination unterschieden des Startcodons in der P-Halbstelle offenhalten und eine uner-
Während der Initiation wird sichergestellt, dass die Protein- wünschte Basenpaarung der tRNAiMet mit anderen Codons der
synthese mit demjenigen AUG-Codon beginnt, das den Start mRNA verhindern. Das Startcodon findet sich häufig im Se-
eines Proteins markiert und damit das richtige Leseraster fest- quenzkontext GCC(A/G)CCAUGG (Kozak-Sequenz). Sobald
legt. Die Elongation ist die eigentliche Synthesephase, in der die das Start-AUG-Codon in der P-Halbstelle eine perfekte Basen-
Peptidbindung zwischen zwei benachbarten Aminosäuren paarung mit Methionyl-tRNAiMet erlaubt, kommt es zur GTP-
geknüpft wird, wobei die naszierende Polypeptidkette immer Hydrolyse im ternären Methionyl-tRNAiMet/eIF2/GTP-Komplex
C-terminal über eine tRNA am Ribosom gebunden bleibt. Aus- (. Abb. 48.8C). In seiner GDP-gebundenen Form verlässt eIF2
gelöst durch ein Stoppcodon wird in der Phase der Termination den Präinitiationskomplex und steht nach Austausch von GDP
die Esterbindung zwischen Protein und tRNA hydrolytisch ge- gegen GTP, den der Faktor eIF2B (GEF = guanine nucleotide ex-
48 spalten und damit das neu entstandene Protein vom Ribosom change factor 7 Kap. 33.4.4) katalysiert, für die erneute Bildung
abgelöst. eines ternären Komplexes zur Verfügung.
48.2 · Translationsmechanismus
607 48
A

D C

. Abb. 48.8 Initiationsphase der eukaryontischen Translation. Die Initiation umfasst die Erkennung des Startcodons auf der mRNA und den Zusammenbau
eines Ribosoms mit der Start-Methionyl-tRNA in der P-Stelle (Einzelheiten s. Text). Die Projektion von kleiner und großer ribosomaler Untereinheit entspricht
ungefähr der von . Abb. 48.7D, sodass die Kontaktfläche der 40S-Untereinheit mit den A-, P- und E-Halbstellen nach unten und ihre Rückseite nach oben ge-
richtet sind. Der schwarze Pfeil in B gibt die Laufrichtung der mRNA an. Die Codons sind in 5’,3’-Richtung eingezeichnet, sind also von rechts nach links zu lesen.
Ein weiterer, nicht dargestellter Initiationsfaktor (eIF5) ist an der Bindung des ternären Komplexes aus Methionyl-tRNAiMet, eIF2 und GTP an die 40S-Unterein-
heit sowie an dessen Entfernung nach GTP-Hydrolyse beteiligt. PABP: PolyA-Bindeprotein I (7 Abb. 46.22). Weitere Details zu eIF4 s. 7 Kap. 48.3.3

43S-Präinitiationskomplex# 48S-Präinitiationskomplex#
608 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

Nach der festen Bindung der Methionyl-tRNAiMet


an das Start AUG-Codon wird die große . Tab. 48.3 Strukturell bzw. funktionell homologe Translations-
60S-Untereinheit angefügt faktoren von Pro- und Eukaryonten. (Nach Rodnina u. Wintermeyer
2009)
Im nächsten Schritt assoziiert eIF5B ebenfalls in GTP-gebunde-
ner Form über Methionyl-tRNAiMet und eIF1A mit der 40S-Un- Eukaryonten Prokaryonten
tereinheit (. Abb. 48.8D). Durch eIF5B wird die Bindung der
großen 60S-ribosomalen Untereinheit an den 48S-Komplex sti- Initiation eIF1A IF1
muliert, wobei eIF1 und eIF3 entfernt werden. Die Freigabe der eIF1 IF3
A-Stelle durch Entfernung von eIF1A wird ebenfalls durch eIF5B
eIF2 (α,β.γ)
vermittelt. Umgekehrt bewirkt die 60S-Untereinheit die GTP-
Hydrolyse von eIF5B, was zur Dissoziation von eIF5B/GDP eIF2B (α,β,γ,δ,ε)

führt. Am Ende dieses vielstufigen Prozesses steht die Bildung eIF3 (13 Untereinheiten)
des Initiationskomplexes, d. h. eines neu zusammengefügten eIF4 (A,B,E,G,H)
80S-Ribosoms mit dem Startcodon der mRNA und der daran
eIF5
gebundenen Methionyl-tRNAiMet in seiner P-Stelle (. Abb.
48.8E). eIF5B IF2

eIF6
Charakteristisch für die Initiation an prokaryonti-
Elongation eEF1A EF-Tu
schen Ribosomen sind eine vereinfachte Erkennung
des Startcodons und die Verwendung von Formyl- eEF1B (2–3 Untereinheiten) EF-Ts
methionin als Startaminosäure eEF2 EF-G
Prokaryontische mRNAs besitzen eine Konsensussequenz im Termination eRF1 RF1a
nicht-translatierten Bereich vor dem Startcodon, die als Shine-
RF2a
Dalgarno-Sequenz bezeichnet wird. Diese bindet an einen kom-
plementären Abschnitt der 16S-rRNA an der Plattform der 30S- eRF3 RF3
Untereinheit (. Abb. 48.7B), sodass kein eIF4-Komplex, eIF3 a RF1 erkennt UAA und UAG, RF2 UAA und UGA, während in Eukary-
oder PABP für die Bindung der mRNA benötigt werden. Außer- onten eRF1 mit allen drei Stoppcodons interagiert. Prokaryonten
dem bindet die prokaryontische Start-tRNA, die mit formylier- besitzen außerdem einen Ribosome Recycling Factor (RRF), der
tem Methionin (Formylmethionyl-tRNAfMet) beladen wird, di- gemeinsam mit EF-G die Dissoziation der Ribosomen in Unterein-
heiten vermittelt.
rekt und nicht in einem ternären Komplex an die kleine riboso-
male Untereinheit. Mit dem Fehlen eines eIF2-Homologen kann
die prokaryontische Translation auch nicht über Phosphorylie-
rung reguliert werden (7 Kap. 48.3.3). Dies ist auch nicht nötig, 48.2.2 Elongation
da durch die direkte Kopplung von Transkription und Transla-
tion in Prokaryonten (naszierende mRNAs werden sofort trans- Die Elongationsphase der Translation umfasst die
latiert) eine Regulation über die Transkriptionshäufigkeit selbst Erkennung des A-Stellen-Codons durch die zugehö-
erfolgt. Einen Vergleich der eu- und prokaryontischen Initia- rige Aminoacyl-tRNA, die Herstellung einer Peptid-
tionsfaktoren gibt . Tab. 48.3. bindung und die Translokation der Peptidyl-tRNA
von der A-Stelle in die P-Stelle des Ribosoms
Proteine werden häufig an Polysomen synthetisiert Die ersten und letzten Schritte der Elongation werden durch En-
Werden Ribosomen intakter Zellen über Dichtegradientenzent- zyme beschleunigt, die als Elongationsfaktoren (EFs) bezeichnet
rifugation (7 Kap. 6.2) isoliert, so hat ein Teil von ihnen eine werden (. Tab. 48.3). Anhand der gleichen Anzahl an Elonga-
wesentlich höhere Sedimentationskonstante als 70S oder 80S. tionsfaktoren in Pro- und Eukaryonten wird deutlich, dass an-
Dabei handelt es sich um Verbände unterschiedlich vieler Ribo- ders als bei der Initiation die Elongationsschritte der Translation
somen, die jeweils auf einem mRNA-Strang sitzen und als Poly- im Laufe der Evolution nicht wesentlich verändert wurden.
ribosomen oder Polysomen bezeichnet werden. Polysomen ent-
stehen, wenn Ribosomen nacheinander mit demselben mRNA- Elongationsfaktor eEF1A koppelt den Fortgang
Molekül Initiationskomplexe bilden, bevor das erste Ribosom die der Elongation an die korrekte Erkennung
Translation beendet hat. Die Ribosomen eines Polysoms tragen der mRNA-Codons
also unterschiedlich lange naszierende Ketten desselben Proteins. Sobald sich ein Initiationskomplex neu gebildet hat, steht seine
Die Fixierung der cap-Struktur einer mRNA in der Nähe ihres A-Stelle für die Bindung einer Aminoacyl-tRNA zur Verfü-
PolyA-Endes über den eIF4-Komplex und PABP (. Abb. 48.8E) gung (. Abb. 48.8E). Ähnlich wie bei der Initiation Methionyl-
erleichtert es den bei der Termination getrennten ribosomalen tRNAiMet im Komplex mit eIF2 und GTP angeliefert wird, bilden
Untereinheiten, unmittelbar einen neuen Initiationskomplex zu für die Elongationsschritte alle Aminoacyl-tRNAs ternäre Kom-
bilden. plexe mit dem Elongationsfaktor eEF1A und GTP. Die Bindung
48 der ternären Komplexe an die Ribosomen erfolgt zum einen über
die Aminoacyl-tRNA an der A-Stelle, zum andern über den
48.2 · Translationsmechanismus
609 48
Elongationsfaktor eEF1A (. Abb. 48.9A) an der kleinen riboso- Hybridzustände werden aber nur stabilisiert, wenn der Elonga-
malen Untereinheit (in der Nähe der Schulter; . Abb. 48.7B). tionsfaktor eEF2 im Komplex mit GTP an das Ribosom bindet.
Wenn die Interaktion einer Aminoacyl-tRNA mit der A- GTP-Hydrolyse durch eEF2 hat dann eine Konformationsände-
Stelle in der kleinen Untereinheit zu einer korrekten Basenpaa- rung in der kleinen ribosomalen Untereinheit zur Folge, die mit der
rung zwischen mRNA und tRNA führt, kommt es im Sinne eines Translokation der mRNA und ihrer gebundenen tRNA Komplexe
induced fit (7 Kap. 7.1) zu weiteren Wechselwirkungen zwischen um ein Codon weiter einhergeht. Gleichzeitig wird die Verdrehung
der rRNA der kleinen ribosomalen Untereinheit und dem Co- der beiden Untereinheiten gegeneinander zurückgestellt. Als Er-
don-Anticodon-Paar (über A-minor-motif-Interaktionen, . Abb. gebnis befinden sich die Peptidyl-tRNA in der P/P-Stelle und die
48.7E). Daraus resultiert eine Konformationsänderung der ribo- deacylierte tRNA in der E/E-Stelle (. Abb. 48.9E). Nach Verlassen
somalen Bindestelle für eEF1A, wodurch die GTP-Hydrolyse von eEF2/GDP kann an die freie A-Stelle ein neuer ternärer Kom-
durch eEF1A ausgelöst wird. In der GDP-gebundenen Form ver- plex aus der nächsten Aminoacyl-tRNA und eEF1A/GTP binden,
lässt der Elongationsfaktor dann das Ribosom, sodass jetzt der wobei gleichzeitig die deacylierte tRNA die E-Stelle verlässt.
Akzeptorarm des Aminoacyl-tRNA-Moleküls mit der gebunde- Eine Besonderheit von Elongationsfaktor eEF2 ist das Vor-
nen Aminosäure in unmittelbare Nähe zum Start-Methionin im kommen eines modifizierten Histidinrests, dem sog. Diphtha-
Peptidyltransferasezentrum der großen ribosomalen Unterein- mid. Dieses kann durch das Toxin des Diphtherie-Erregers,
heit zu liegen kommt (. Abb. 48.9B). Über diese Kaskade von Corynebacterium diphtheriae, ADP-ribosyliert werden (7 Kap.
Vorgängen trägt der Elongationsfaktor eEF1A zur hohen Genau- 49.3.6), wodurch eEF2 inaktiviert und die Translation der befal-
igkeit der Translation bei, indem er sicherstellt, dass Peptidbin- lenen Zellen blockiert wird.
dungen nur dann geknüpft werden können, wenn die korrekte
Aminosäure in der A-Stelle gebunden hat.
48.2.3 Termination
Das aus rRNA aufgebaute Peptidyltransferase-
zentrum der großen ribosomalen Untereinheit Stoppcodons führen zur Bindung von
katalysiert die Ausbildung der Peptidbindung Terminationsfaktoren, welche die fertige Poly-
Die A- und P-Stellen der 23S (28S)-rRNA der großen ribosoma- peptidkette hydrolytisch vom Ribosom freisetzen
len Untereinheit bilden das Peptidyltransferasezentrum (PTZ) Erscheint eines der drei Stoppcodons (. Abb. 48.1) in der A-
(7 Kap. 48.1.4). Nach Einlagerung des Akzeptorarms der Amino- Stelle der kleinen ribosomalen Untereinheit, bindet in eukaryon-
acyl-tRNA der A-Stelle kommt es zu einer Konformationsände- tischen Zellen der Terminationsfaktor eRF1 (eukaryontischer
rung im PTZ. Diese bringt die beiden terminalen Adeninnucleo- release factor 1) und unterbricht damit den Elongationsprozess
tide von Aminoacyl- und Peptidyl-tRNA in die optimale Posi- (. Abb. 48.11). Die Bindung von eRF1 ist möglich, weil seine
tion, aus der heraus ein nucleophiler Angriff der α-Aminogruppe Raumstruktur der eines tRNA-Moleküls ähnelt (sog. molecular
der Aminoacyl-tRNA auf das veresterte Carboxyl-C-Atom der mimicry). Entsprechend interagiert der Terminationsfaktor eRF1
Peptidyl-tRNA erfolgen kann (. Abb. 48.10). Das Ergebnis dieser auch mit dem Peptidyltransferasezentrum der großen Unterein-
Reaktion ist die Ausbildung einer neuen Peptidbindung, mit der heit (über das spezifische Aminosäuremotiv Gly-Gly-Gln) und
beim ersten Elongationsschritt das Startmethionin und später katalysiert dort die Hydrolyse der Peptidyl-tRNA. Reguliert wird
dann das wachsende Peptid der Peptidyl-tRNA auf die Amino- dieser Prozess durch einen zweiten Terminationsfaktor eRF3,
säure der Aminoacyl-tRNA übertragen wird (. Abb. 48.9C). Die der im Komplex mit GTP und eRF1 an das Ribosom bindet. Erst
katalytische Wirkung des Ribosoms bei der Herstellung dieser nachdem eRF3 sein gebundenes GTP zu GDP und Pi gespalten
Peptidbindung besteht im Wesentlichen in der exakten Positio- hat, katalysiert eRF1 die hydrolytische Trennung zwischen tRNA
nierung der Reaktanten durch Wechselwirkungen mit der und der naszierenden Polypeptidkette, die dadurch vom Ribo-
23S (28S)-rRNA. Die 2’-OH-Gruppe der terminalen Ribose der som abgelöst wird. Zurück bleibt ein Ribosom mit einer deacy-
Peptidyl-tRNA ist sehr wahrscheinlich am Protonentransfer lierten tRNA in der P-Stelle, das durch die Vermittlung von Ini-
während der Reaktion beteiligt (. Abb. 48.10). tiationsfaktoren (. Abb. 48.8A) in seine Untereinheiten getrennt
und von mRNA und tRNA abgelöst wird. In prokaryontischen
Mithilfe von Elongationsfaktor eEF2 translozieren Zellen läuft der Terminationsvorgang nach einem teilweise an-
die mRNA-tRNA-Komplexe von den A- und P-Stellen deren Mechanismus ab (. Tab. 48.3).
in die P- und E-Stellen
Bei der Peptidyltransferase-Reaktion wird das um eine Aminosäu-
re verlängerte Peptid, oder allgemein die naszierende Polypeptid- Zusammenfassung
kette, auf die Aminoacyl-tRNA in der A-Stelle übertragen und in Die Initiationsphase der Translation führt die zwei Unterein-
der P-Stelle bleibt eine deacylierte tRNA zurück (. Abb. 48.9C). In heiten eines Ribosoms mit einer mRNA zusammen und posi-
diesem Zustand ist die kleine Untereinheit gegenüber der großen tioniert das Startcodon mit der Start-Methionyl-tRNA in der
geringfügig verdrehbar, sodass es zu einer Verlagerung der neuen P-Stelle.
Peptidyl-tRNA in die P-Halbstelle und der deacylierten tRNA in Polysomen entstehen durch multiple Initiationsvorgänge
die E-Halbstelle der großen Untereinheit kommen kann, ohne dass auf einem mRNA-Molekül.
dabei die beiden tRNAs die ursprünglichen Halbstellen in der klei- 6
nen Untereinheit verlassen (. Abb. 48.9D). Diese sog. A/P- und P/E-
610 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

D C

. Abb. 48.9 Elongationszyklus der Translation. Die A-, P- und E-Stellen von kleiner (oben) und großer ribosomaler Untereinheit sind markiert. A Bindung
von Valyl-tRNAVal an die A-Stelle eines Initiationskomplexes mit Hilfe von eEF1A/GTP. B Verlagerung des Akzeptorarms der Valyl-tRNAVal in das Pepti-
dyltransferasezentrum, das von den A- und P-Stellen der großen ribosomalen Untereinheit gebildet wird. C Bildung eines Met-Val-Dipeptids an der A-Stel-
len-tRNA. D Drehung der kleinen gegenüber der großen ribosomalen Untereinheit in Pfeilrichtung mit Ausbildung von A/P- und P/E-Zwischenpositionen
nach Bindung von eEF2/GTP. E Nach GTP-Hydrolyse durch eEF2 erfolgt Rückstellung der kleinen ribosomalen Untereinheit mit Translokation von mRNA
und den A- und P-Stellen-tRNAs um ein Codon weiter. Nach Bindung von Lysyl-tRNALys beginnt der Elongationszyklus erneut wie in A gezeigt, allerdings
jetzt mit dem AAA-Codon der mRNA in der A-Stelle. Die Codons sind in 5’,3’-Richtung eingezeichnet, sind also von rechts nach links zu lesen. (Einzelheiten
s. Text)

Bei der Elongation werden die von der mRNA codierten Elongationsfaktoren trägt zur hohen Genauigkeit der Trans-
Aminoacyl-tRNAs ausgesucht, eine neue Peptidbindung ge- lation bei.
knüpft und das Ribosom um ein Codon auf der mRNA trans- Bei der Termination erkennen Terminationsfaktoren die
loziert. Die GTP-abhängige Kontrolle von Codon-Anticodon- Stoppcodons und bewirken die hydrolytische Freisetzung
Paarungen am Ribosom durch bestimmte Initiations- und der neusynthetisierten Polypetidkette.
48 6

GTP-Hydrolyse tRNA_i__^Met deacylierte


48.3 · Modifikation der Translationsaktivität
611 48

. Abb. 48.10 Ausbildung einer Peptidbindung im Peptidyltransferasezen- . Abb. 48.11 Termination des Translationsvorganges in eukaryon-
trum. Dargestellt sind die beiden terminalen Adeninnucleotide von Amino- tischen Zellen (Einzelheiten s. Text). Die naszierende Polypeptidkette
acyl- und Peptidyl-tRNAs. Die terminale 2’-OH-Gruppe der Peptidyl-tRNA, die verlässt das Ribosom durch eine Austrittsstelle an der Unterseite der
vermutlich am Katalysemechanismus beteiligt ist, ist farblich hervorgehoben großen ribosomalen Untereinheit (. Abb. 48.7D)

48.3 Modifikation der Translationsaktivität


Übrigens
Aus der Presse-Mitteilung der Königlich-Schwedischen 48.3.1 Suppression von Stoppcodons
Akademie der Wissenschaften vom 7. Oktober 2009
This year’s Nobel Prize in Chemistry awards Suppressor-tRNAs bauen Aminosäuren an der Stelle
Venkatraman Ramakrishnan eines Stoppcodons in Proteine ein
MRC Laboratory of Molecular Biology, Cambridge, United Treten Stoppcodons als Resultat von Mutationen im Leseras-
Kingdom ter einer mRNA auf (nonsense mutations, 7 Kap. 48.1.1), führt
Thomas A. Steitz dies zur vorzeitigen Termination und damit zur Freisetzung
Yale University, New Haven, CT, USA von nicht-funktionellen Proteinfragmenten. Von Bakterien ist
Ada E. Yonath bekannt, dass sie solche Mutationen supprimieren können, falls
Weizmann Institute of Science, Rehovot, Israel sie durch eine zweite Mutation spezifische tRNAs erworben
haben, deren Anticodon komplementär zu dem entsprechen-
… for having shown what the ribosome looks like and how it
den Stoppcodon geworden ist. Werden solche tRNAs trotz
functions at the atomic level. All three have used a method
verändertem Anticodon mit Aminosäuren beladen, bezeich-
called X-ray crystallography to map the position for each and
net man sie als Suppressor-tRNAs. Erstaunlicherweise haben
every one of the hundreds of thousands of atoms that make up
alle Zellen diesen Mechanismus etabliert, um die Aminosäure
the ribosome …
Selenocystein in bestimmte Proteine (7 Kap. 60.2.9) einzu-
An understanding of the ribosome’s innermost workings is im- bauen.
portant for a scientific understanding of life. This knowledge
can be put to a practical and immediate use; many of today’s Selenocystein wird durch spezifische Suppression
antibiotics cure various diseases by blocking the function of eines Stoppcodons in Selenoproteine eingebaut
bacterial ribosomes. Without functional ribosomes, bacteria Selenocystein (Sec) wird als die 21. proteinogene Aminosäure
cannot survive. This is why ribosomes are such an important bezeichnet (7 Kap. 3, Tafel III). Sie wird aus Serinphosphat synthe-
target for new antibiotics. tisiert (7 Kap. 60.2), allerdings erst nachdem Serin mithilfe der
This year’s three Laureates have all generated 3D models that Seryl-tRNA-Synthetase auf eine spezifische tRNASec geladen
show how different antibiotics bind to the ribosome. These mo- wurde. Diese tRNASec trägt das zum UGA-Stoppcodon komple-
dels are now used by scientists in order to develop new anti- mentäre Anticodon. Eine Suppression aller UGA-Stoppcodons
biotics, directly assisting the saving of lives and decreasing durch Einbau von Selenocystein findet deswegen nicht statt, weil
humanity’s suffering. die mRNAs von Selenoproteinen stromabwärts vom UGA-Co-
don einen charakteristischen Nucleotidbereich (SECIS = seleno-
cystein insertion sequence) besitzen, der von spezifischen Binde-
proteinen erkannt werden muss. Diese interagieren dann mit
dem spezifischen Elongationsfaktor eEFsec, ohne den die Sele-
nocysteinyl-tRNASec nicht an das UGA-Codon in der A-Stelle
des Ribosoms gelangen kann.
Die Bedeutung dieser Komponenten für die gezielte Umpro-
grammierung eines UGA-Stoppcodons in den mRNAs von Se-
lenoproteinen wird daran ersichtlich, dass Mutationen in einem
SECIS-Bindeprotein über einen Defekt der selenpflichtigen Thy-
612 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

. Tab. 48.4 Auswahl klinisch einsetzbarer Antibiotika

Substanz Wirkmechanismus

Aminoglycoside (Neomycin, Paromo- Durch Bindung an die 16S-rRNA lösen diese Substanzen auch bei inkorrekter Codon-Anticodon-
mycin, Kanamycin, Gentamycin, Strepto- Paarung das Signal für die GTP-Hydrolyse durch EF-Tu (. Tab. 48.3) aus. Es resultieren Lesefehler
mycin) (Mutationen)

Chloramphenicol Hemmt die Peptidyltransferase

Fusidinsäure Stabilisiert EF-G/GDP (. Tab. 48.3) am Ribosom und blockiert damit den Translokationsschritt

Macrolide Verstopfen das obere Ende des Proteinaustrittskanals in der großen Untereinheit

Oxazolidinone Binden an die große Untereinheit und hemmen wahrscheinlich die Initiation (Mechanismus nicht
vollständig geklärt)

Spectinomycin Interferiert mit der von EF-G (. Tab. 48.3) katalysierten Translokation

Tetracycline Blockieren v.a. die Bindung der ternären Komplexe an die A-Stelle

Nicht als Antibiotika einsetzbare Hemmstoffe der eukaryontischen Translation sind Cycloheximid (inhibiert Translokation) und Puromycin, das von
pro- und eukaryontischen PTZs als Aminoacyl-tRNA-Analoges gebunden und auf dessen freie Aminogruppe der tRNA-gebundene Peptidylrest
übertragen und somit vorzeitig vom Ribosom abgelöst wird. Antibiotika, die nicht über eine Hemmung der Translation wirken, sind z. B. Penicilline
(7 Kap. 16.2.4), Gyrasehemmer (7 Kap. 44.5) und Sulfonamide (7 Kap. 59.8).

roxindejodinasen (7 Kap. 60.2) zu Störungen des Schilddrüsen- Mangel an Aminosäuren und Häm sowie
hormonstoffwechsels führen. die Akkumulation falsch gefalteter Proteine und
doppelsträngiger RNA hemmen über die Phospho-
rylierung von eIF2 die Translationsinitiation
48.3.2 Hemmung der Translation Vor der Bildung des ternären Komplexes mit Methionyl-
durch Antibiotika tRNAiMet muss das am Initiationsfaktor eIF2 gebundene
GDP durch GTP ausgetauscht werden (. Abb. 48.12A). Der
Viele Antibiotika hemmen relativ spezifisch hierfür verantwortliche Guaninnucleotidaustauschfaktor eIF2B
die bakterielle Translation bindet dazu vorübergehend an eIF2. Initiationsfaktor eIF2
Pilze synthetisieren eine Reihe antibakterieller Substanzen, mit- ist ein trimeres Protein (. Tab. 48.3), das an seiner α-Untereinheit
hilfe derer sie sich der bakteriellen Konkurrenten um die ge- durch eine der nachfolgenden Kinasen phosphoryliert werden
meinsamen Nahrungsquellen erwehren. Einige dieser Verbin- kann. Wurde aber eIF2 phosphoryliert, bleibt der Guaninnuc-
dungen hemmen die Translation von Bakterien durch direkte leotidaustauschfaktor eIF2B gebunden, wodurch aktives
Interaktion mit den Ribosomen. Da diese Interaktionen relativ eIF2/GTP nicht mehr gebildet und so die Translation blockiert
spezifisch mit prokaryontischen Ribosomen erfolgen, werden wird.
synthetisch hergestellte Derivate dieser Pilzgifte in großem Um- 4 HRI (Häm-regulierter Inhibitor) ist eine in Vorläuferzellen
fang medizinisch als Antibiotika eingesetzt. Eine Zusammenstel- von Erythrocyten exprimierte Kinase, die bei Häm-Mangel
lung einiger Antibiotika gibt . Tab. 48.4. aktiviert wird und dann die Translation der Globin-mRNA
Eukaryontische Zellen besitzen allerdings auch mitochon- inhibiert, bis wieder genügend Häm für die Biosynthese von
driale Ribosomen, die in ihrem Aufbau trotz eines vergleichs- Hämoglobin zur Verfügung steht.
weise geringeren rRNA : Protein-Massenverhältnisses sehr viel 4 GCN 2 (general aminoacid control) ist eine Kinase, welche
mehr ihren bakteriellen Vorläufern gleichen als eukaryontischen die Hemmung der Proteinsynthese bei Aminosäuremangel
Ribosomen. So sind Nebenwirkungen klinisch verwendeter vermittelt. Aktiviert wird GCN 2 durch Bindung freier
Antibiotika, die sich auf eine Hemmung der mitochondrialen tRNA, die sich bei Fehlen von Aminosäuren anhäuft.
Proteinbiosynthese zurückführen lassen, für Substanzen wie 4 PERK (pankreatische Kinase des endoplasmatischen Retiku-
Chloramphenicol, bestimmte Oxazolidinone und Aminoglyco- lums) wird durch den sog. ER-Stress aktiviert
side beschrieben worden. (7 Kap. 49.2.1), bei dem ungefaltete Proteine im ER akku-
mulieren und über PERK eine Drosselung des Proteinnach-
schubs bewirken.
48.3.3 Kontrolle der Translation in Eukaryonten 4 PKR (RNA-abhängige Proteinkinase) wird durch doppel-
strängige RNA aktiviert, wie sie durch bestimmte Viren in
Über die Initiationsfaktoren eIF2 und Untereinheiten von eIF4, Zellen gelangen kann. Zum Schutz vor der Vermehrung der
die in Prokaryonten nicht vorkommen (. Tab. 48.3), kann die Viren kann die Wirtszelle auf diese Weise die Proteinsyn-
48 eukaryontische Translation auf der Stufe der Initiation durch these einstellen. Entsprechend wird die PKR durch Interfe-
vielfältige Signale reguliert werden (. Abb. 48.12). ron stimuliert (. Abb. 35.21).
48.3 · Modifikation der Translationsaktivität
613 48
A

. Abb. 48.12 Regulation der eukaryontischen Translationsinitiation. A Bildung eines 43S-Präinitiationskomplexes. B Bildung eines 48S-Präinitiations-
komplexes. mTOR: mammalian target of rapamycin; AMP-Kinase: AMP-aktivierte Proteinkinase. (Einzelheiten und Abkürzungen s. Text)

Alle vier Kinasen werden durch zelluläre Stress-Situationen akti- der mRNA und mit eIF4G gehindert, bis eIF4E-BP durch Phos-
viert, bei denen ein Anhalten der Synthese vieler zellulärer Pro- phorylierung seine Bindung mit eIF4E verliert. Die Phosphory-
teine erwünscht ist. Dabei bleiben die Präinitiationskomplexe lierung von eIF4E-BP und damit die Ingangsetzung der Initiati-
mit den mRNAs weitgehend erhalten und werden als mikrosko- on erfolgt durch die regulatorische Schlüsselkinase mTOR (mam-
pisch sichtbare Ribonucleoproteinpartikel, den sog. Stress-Gra- malian target of rapamycin) (7 Kap. 38.2.1).
nula, in der Zelle abgelagert. Dadurch kann die Translation Dieselbe Kinase mTOR aktiviert die Translation noch über
schnell fortgesetzt werden, wenn nach Wegfall der Stressfaktoren einen zweiten Mechanismus. mTOR phosphoryliert S6K (riboso-
die Menge an phosphoryliertem eIF2 wieder abnimmt. mal protein S6 kinase), die über Phosphorylierung von eIF4B die
Helicaseaktivität von eIF4A stimuliert und somit den Initiations-
Über die mTOR-Kinase stimulieren Wachstums- prozess beschleunigt. Erleichtert wird die mTOR-abhängige
faktoren, Insulin und intrazellulär akkumulierende Phosphorylierung von eIF4E-BP und eIF4B dadurch, dass
Aminosäuren die Translationsinitiation, während mTOR über eine Bindung an eIF3 direkt mit dem Präinitiations-
Hypoxie und AMP hemmen komplex assoziiert.
Wie . Abb. 48.12B verdeutlicht, besteht der Initiationsfaktor eIF4
in Wirklichkeit aus mehreren Untereinheiten, die bei der Bildung Eine bevorzugte Translation viraler und bestimmter
des 48S-Präinitiationskomplexes (7 Kap. 48.2.1) aneinander so- zellulärer mRNAs wird durch eine cap-unabhängige
wie an die mRNA und die 40S-Untereinheit binden. Die cap- Initiation erreicht
bindende Untereinheit eIF4E wird durch das eIF4E-Bindeprote- An manchen mRNAs kann die Translation nach einem vereinfach-
in (eIF4E-BP) so lange an der Assoziation mit der cap-Struktur ten Mechanismus starten, d. h. unabhängig von einer 5’-cap-Struk-
614 Kapitel 48 · Translation – Synthese von Proteinen

tur und ohne dass ihr 5’-nicht-translatierter Bereich (5’-UTR) von


Initiationsfaktoren nach dem ersten AUG-Codon abgesucht wer-
den muss. In diesen Fällen spricht man von einer internen Initia-
tion. Den Sequenzabschnitt der mRNA, an dem dieser interne Start
erfolgt, bezeichnet man als IRES (Interne Ribosomen-Eintritts-
Stelle). IRES stellen keine einheitlichen RNA-Sequenzen dar. Viele
bilden ausgedehnte und stabile Sekundärstrukturen aus. Ihr Vorteil
besteht darin, dass sie keinen vollständigen Satz an eIF4-Unterein-
heiten benötigen, um den Translationsapparat zu rekrutieren.
Interne Ribosomeneintrittsstellen finden sich bei viralen
mRNAs, die auf diese Weise gegenüber den wirtsständigen
mRNAs bevorzugt translatiert werden. Unter bestimmten phy-
siologischen und pathologischen Zuständen wie Stressbedin-
gungen, Differenzierungsvorgängen oder Apoptose wird es er-
forderlich, dass einzelne zelluläre mRNAs vorrangig translatiert
werden. HIF (hypoxia-inducible factor) ist ein Transkriptionsfak-
tor, der bei Sauerstoffmangel die Expression von Erythropoetin
und angiogenen Wachstumsfaktoren stimuliert (7 Kap. 65.3).
Wie in . Abb. 48.12B dargestellt, übt Hypoxie einen negativen
Einfluss auf mTOR aus und hemmt damit die Translationsinitia-
tion vieler mRNAs. Da die mRNA von HIF aber eine IRES be-
sitzt, wird deren Translation unabhängig von eIF4 initiiert und
ist bei Hypoxie somit relativ verstärkt.

Zusammenfassung
Die 21. proteinogene Aminosäure Selenocystein wird durch
eine spezifische Suppression eines Stoppcodons eingebaut.
Viele Antibiotika hemmen Einzelschritte der ribosomalen
Translation von Prokaryonten.
In Eukaryonten wird die Translation über die Aktivität von
den zwei Initiationsfaktoren eIF2 und eIF4 reguliert. Ein
wichtiger Aktivator der Translation ist dabei die mTOR-
Kinase. Eine bevorzugte Translation findet an messenger-
RNAs statt, die eine interne Ribosomeneintrittsstelle (IRES)
besitzen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

48
615 49

49 Proteine – Transport, Modifikation und Faltung


Matthias Müller, Lutz Graeve

Einleitung strukturen und der nativen Proteinraumstruktur (Tertiär-, bzw.


Quartärstruktur) muss im Anschluss an die Translation erfolgen.
Nachdem im Rahmen des Translationsvorgangs (7 Kap. 48) Proteine aus Wie in 7 Kap. 5.2 beschrieben, ist die Information zur Ausbil-
den einzelnen Aminosäuren aufgebaut wurden, falten sich die neu syn- dung einer funktionellen 3D-Struktur in der Aminosäure-
thetisierten Polypeptidketten in die in 7 Kap. 5 beschriebenen Raum- sequenz eines Proteins festgelegt, sodass dessen Faltung theore-
strukturen. Zur Unterstützung dieser Faltungsprozesse besitzen Zellen tisch spontan erfolgen kann. Unabhängig davon, dass in vielen
spezifische Proteine, sog. molekulare Faltungshelfer oder Chaperone. Fällen die Spontanfaltung von Proteinen zu viel Zeit in An-
Chaperone unterstützen nicht nur Faltungsprozesse von Proteinen, son- spruch nehmen würde, bietet eine lebende Zelle mit ihrer extrem
dern können auch deren Entfaltung und Rückfaltung katalysieren. Viele hohen Proteinkonzentration wenig Raum für einen ungestörten
Proteine verbleiben nach ihrer Synthese nicht im Cytoplasma, sondern Faltungsprozess. Dieser wird maßgeblich durch die Sequestrie-
müssen einen von einer zellulären Membran umgebenen Wirkort errei- rung hydrophober Seitenketten im Inneren eines sich faltenden
chen. Dazu gehören die meisten sekretorischen Proteine und die Mem- Proteins (hydrophober Kollaps) getrieben. Wird dieser Prozess
branproteine des Endomembransystems, die cotranslational durch spe- gestört, sodass hydrophobe Bereiche einer Polypeptidkette expo-
zifische Rezeptoren erkannt und zunächst in das endoplasmatische Re- niert bleiben, führen entropische Effekte (7 Kap. 5.2.3 und 1.1)
tikulum (ER) transportiert werden. Für mitochondriale und peroxisoma- zur Zusammenlagerung mit anderen hydrophoben Oberflächen
le Proteine existieren individuelle, posttranslationale Erkennungs- und und damit zur Aggregation der Proteine. Besonders kritisch
Transportmechanismen. Weiterhin erfahren viele neu synthetisierte wäre dies für hydrophobe Sequenzen naszierender Polypeptid-
Proteine unterschiedliche covalente Modifikationen ihres Polypeptid- ketten, wenn diese vor der Fertigstellung einer Proteindomäne
gerüsts. Diese Vorgänge werden auch unter den Begriffen Reifung oder außerhalb des Ribosoms exponiert würden.
Prozessierung zusammengefasst. Prominente Beispiele sind die Entfer- Sammeln sich fehlgefaltete Proteine intra- oder extrazellu-
nung von Prä- und Prosequenzen und die Anheftung bestimmter Koh- lär an, kann es zur Bildung unlöslicher Aggregate und Fibrillen
lenhydrat- und Lipidseitenketten. kommen. Von besonderer klinischer Bedeutung sind die mit
Proteinablagerungen in neuronalen Geweben einhergehen-
Schwerpunkte den neurodegenerativen Erkrankungen . Diese werden in
7 Kap. 74.5 ausführlich besprochen. 7 Kap. 5.4.2 informiert
4 Molekulare Faltungshelfer von Proteinen
über die zugrunde liegenden Veränderungen der Proteinkon-
(Chaperone, Hitzeschockproteine)
formation.
4 Signal recognition particle (SRP), SRP-Rezeptor
und Sec-Translokon des endoplasmatischen Retikulums
4 Membranintegration von Proteinen über Signalanker-
49.1.1 Molekulare Chaperone
und Stopptransfersequenzen
4 Faltungsprozesse im endoplasmatischen Retikulum
Molekulare Chaperone beeinflussen
4 Unfolded protein response (UPR)
die Faltung von Proteinen, aber auch deren
4 Proteinimport in Mitochondrien und Peroxisomen
intrazelluläre Lokalisation und Abbau
4 N- und O-Glycosylierung von Proteinen
Zur Vermeidung von Fehlfaltungen bei Proteinen besitzen alle
4 Limitierte Proteolyse von Proteinen
lebenden Zellen sog. Faltungshelfer. Charakteristisch für diese
4 Quervernetzung von Proteinen
Proteine ist, dass sie vorübergehend an nicht-native Protein-
4 Lipidmodifikationen von Proteinen
strukturen binden und exponierte hydrophobe Oberflächen-
4 ADP-Ribosylierung von Proteinen
bereiche damit abschirmen. Da sie wie Gouvernanten oder An-
standsdamen (franz. chaperon) auf das korrekte Erscheinungs-
bild ihrer zugehörigen Proteine achten, werden sie als molekula-
re Chaperone bezeichnet.
49.1 Proteinfaltung Ihre große Bedeutung für lebende Zellen lässt sich aus der
Tatsache ableiten, dass sie in der Evolution hoch konserviert ge-
Der Translationsvorgang führt zur covalenten Verknüpfung aller blieben sind. In eukaryontischen Zellen besitzen neben dem Cy-
Aminosäuren eines Proteins in der Reihenfolge, wie sie das co- toplasma alle Organellen einen eigenen Satz an Chaperonen.
dierende Gen festlegt, d. h. die Translation liefert die Primär- Zelluläre Stressbedingungen, z. B. eine Erhöhung der Tempera-
struktur eines Proteins (7 Kap. 5). Die Ausbildung von Sekundär- tur von 37 °C auf 42 °C, gehen mit der Gefahr der Proteindena-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_49, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
616 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

turierung einher. Da in dieser Situation viele Chaperone ver-


49 mehrt gebildet werden, werden diese auch als Hitzeschockpro-
teine (Hsp) bezeichnet und entsprechend ihrer ungefähren Mo-
lekülmasse in kDa benannt (Hsp70 etc.).
Chaperone sind nicht nur Faltungshelfer neusynthetisierter
oder stressbedingt denaturierter Proteine, sondern sie assistieren
auch bei der korrekten Ausbildung von Proteinkomplexen, bei
intrazellulären Proteintransportvorgängen, aber auch beim Ab-
bau von Proteinen. Man unterscheidet mehrere Chaperon-Fami-
lien, die untereinander nicht strukturverwandt sind.
Da Mutationen die Faltungsfähigkeit von Proteinen beein-
flussen können, stellen die Chaperone als Faltungshelfer auch
eine Art Puffersystem dar, mit dem potentiell schädliche Mutatio-
nen unterdrückt werden können.
. Abb. 49.1 Wirkungsweise von Hsp70-Chaperonen. Hsp70-Chaperone
bestehen aus einer Nucleotidbindedomäne (NBD) und einer Substratbinde-
domäne (SBD). Im ATP-gebundenen Zustand ist die SBD offen und Substrat
49.1.2 Hsp60- und Hsp70-Chaperone und kleine kann binden. Bindung von Substrat und Hsp40 lösen die Hydrolyse von ATP
Hitzeschockproteine aus, was zum Verschluss der SBD und damit zum Festhalten des Substrats
führt. Austausch von ADP gegen ATP durch einen Nucleotidaustauschfaktor
Chaperone stabilisieren nicht-native (NEF) öffnet die SBD und ermöglicht die Freisetzung des Substrates
Proteinstrukturen (holdases)
Klassische Vertreter dieser größten Familie von Chaperonen
sind die Hsp70-Proteine (Hsc70 in Säugern, Ssa, Ssb etc. in Hefe, bezeichnet werden. Auch Hsp60 hat ATPase-Aktivität. Zwei Rin-
DnaK in E. coli). Diese ATPasen sind in der Regel aus einer ge von 7–8 Hsp60-Untereinheiten lagern sich zu zylinderför-
Nucleotid (ATP)-Bindedomäne und einer Substratbinde- migen Komplexen zusammen (. Abb. 49.2). Jeder Ring bildet
domäne aufgebaut (. Abb. 49.1). Hat Hsp70 ATP gebunden, eine zentrale Zylinderkammer, die im ADP-gebundenen Zu-
liegt seine Substratbindedomäne in offener Konformation vor, stand hydrophobe Oberflächen exponiert, mit denen nicht-nativ
in der sie exponierte hydrophobe Bereiche von ca. 7 Aminosäu- gefaltete Substrate interagieren können. Häufig werden Substrate
ren von Substratproteinen in einer Bindetasche binden kann. von Hsp70 auf Hsp60 übergeben. Nach Bindung von ATP
Cochaperone der Hsp40-Familie (DnaJ in E. coli) beschleuni- schließt die Zylinderkammer, was in Bakterien durch einen hepta-
gen die ATP-Hydrolyse an der ATP-Bindedomäne, wonach ein meren Ring eines Cochaperons (GroES; Hsp10) bewerkstelligt
molekularer Deckel die Substratbindetasche schließt. Austausch wird. Bindung von ATP und Hsp10 bewirken eine Konforma-
von ADP gegen ATP, der häufig durch ein weiteres Cochaperon tionsänderung der Hsp60-Untereinheiten, infolge derer die hy-
(NEF, nucleotide-exchange factor) katalysiert wird (Bag in Säu- drophoben Wechselwirkungen mit dem Substrat unterbrochen
gern, GrpE in E. coli), führt zur Freisetzung des Substrates. Die werden und so das Substrat in abgeschirmter Umgebung einen
wesentliche Aufgabe dieser Hsp70-Chaperone besteht also in neuen Faltungsversuch unternehmen kann. ATP-Hydrolyse
der transienten Abschirmung hydrophober Aminosäureab- führt dann zur Dissoziation von Hsp10 und der Freigabe des
schnitte. Substrates, das bei nicht erfolgter Faltung erneut eingefangen
Weitere Chaperone, die nicht-nativ gefaltete Proteine binden, werden kann.
sind die kleinen Hitzeschockproteine (sHsp, small Hsp). Sie
sind zwischen 12 und 43 kDa groß und bilden oligomere Struk-
turen, in deren Innerem multiple Substratbindestellen liegen. 49.1.3 Ribosomenassoziierte Chaperone
Substrat-sHsp-Komplexe sind sehr stabil und benötigen ATP-
abhängige Chaperone, wie Hsp70/Hsp40 oder Hsp100 für ihre Chaperone schützen naszierende Proteine
Auflösung. Somit scheinen sHsp eine Art Warteschleife für Wie oben erwähnt, wäre die ungeschützte Freisetzung der hydro-
nicht-native Proteine darzustellen, bevor diese rückgefaltet wer- phoben Sequenzabschnitte eines neusynthetisierten Proteins aus
den. Alle sHsp sind Homologe von α-Crystallin, einem Haupt- dem Ribosom in das proteinreiche Cytoplasma mit der Gefahr
protein der Augenlinse. Dessen Chaperonfunktion besteht ver- einer vorzeitigen Aggregation verknüpft. Deswegen werden
mutlich in der Sequestrierung nicht-nativer Linsenproteine zur naszierende Polypeptidketten unmittelbar nach dem Verlassen
Vermeidung lichtstreuender Aggregatbildungen, da ein Knock- des Ribosoms von Chaperonen in Empfang genommen, deren
out von α-Crystallin in Mäusen zur frühzeitigen Entwicklung Hauptaufgabe vermutlich darin besteht, hydrophobe Sequenzab-
eines grauen Stars (Linsentrübung) führt. schnitte zumindest solange abzuschirmen, bis eine vollständige
Domäne (Faltungseinheit; 7 Kap. 5.2.3) des naszierenden Pro-
Chaperone assistieren bei der Faltung teins in das Cytoplasma gelangt ist. Diese Chaperone binden di-
von Proteinen (foldases) rekt an die große ribosomale Untereinheit in unmittelbarer Nähe
Klassische Vertreter dieser Familie sind Hsp60-Proteine (TRiC der Öffnung des Ribosomenaustrittskanals. Vertreter dieser
in Eukaryonten; GroEL in Bakterien), die auch als Chaperonine Chaperonfamilie sind ein Trio von zwei Hsp70 und einem
49.1 · Proteinfaltung
617 49
A Zusammenspiel mit Hsp70-auflösen und eine Rückfaltung be-
wirken.

Chaperone aktivieren spezifische Substrate


Hsp90-Chaperone sind ebenfalls ATPasen. Sie beeinflussen nicht
generell die Faltung von Proteinen, sondern interagieren eher
mit spezifischen Substraten wie Steroidhormonrezeptoren (li-
gandenaktivierte Transkriptionsfaktoren), Proteinkinasen und
individuellen Enzymen, z. B. Telomerase (7 Kap. 44.5) oder
B NO-Synthase (7 Kap. 27.2.2 und 35.6.1).
Die Bindung dieser Substrate an Hsp90-Dimere erfolgt in der
Regel durch die Vermittlung von spezifischen Cochaperonen
(Hop, Cdc37, p23). Steroidhormonrezeptoren müssen für die
Bindung an Hsp90 erst mit Hsp70/Hsp40 assoziieren. Die
Cochaperone fungieren dabei nicht nur als Adaptoren zwischen
Hsp90 und ihren Proteinsubstraten, sondern regulieren auch die
ATPase-Aktivität der Hsp90.
Wie Hsp90-Chaperone ihre Substrate aktivieren, ist nicht
völlig geklärt; wahrscheinlich bewirken sie lokale Konforma-
tionsänderungen, die z. B. die Ligandenbindungsstellen von Ste-
roidhormonrezeptoren öffnen oder eine Aktivierung von Pro-
teinkinasen durch Phosphorylierung ermöglichen.
. Abb. 49.2 Wirkunsweise von Hsp60-Chaperonen (Chaperoninen). Mit der Aktivierung regulatorisch aktiver Proteine erfüllen
A Dargestellt ist der Doppelring von zwei mal sieben Untereinheiten Hsp60 die Hsp90-Chaperone lebenswichtige Funktionen für eukaryon-
mit Blick in die Kammer des oberen Rings. B Längsschnitt durch den Hsp60-
tische Zellen. Die maligne Transformation von Zellen ist häufig
Zylinder mit je zwei gegenüberliegenden Untereinheiten. Der Stern mar-
kiert die hydrophoben Oberflächen, die mit hydrophoben Bereichen nicht- durch Mutationen der regulatorisch aktiven Hsp90-Substrate
nativ gefalteter Substratproteine interagieren. Die Kammern können bis zu gekennzeichnet. Nach Mutation sind diese Rezeptoren und Ki-
60 kDa große Proteine beherbergen nasen zur Aufrechterhaltung ihrer Funktion in den Tumorzellen
wahrscheinlich besonders stark auf die Anwesenheit von Hsp90
angewiesen. Die mögliche Blockade dieser Pufferkapazität von
Hsp40-Protein (in Hefe Ssb, Ssz und Zuotin, wobei Ssz und Zuo- Hsp90 durch Inhibitoren seiner ATPase-Aktivität (Geldanamy-
tin den ribosomenassoziierten Komplex RAC bilden) und der cin, Radicicol) ist die Grundlage für laufende Versuche einer
bakterienspezifische trigger factor. neuartigen Krebstherapie.
Ähnlich ungeschützt sind Proteine, wenn sie beim Transport
im entfalteten Zustand durch zelluläre Membranen auf der ande-
ren Membranseite ankommen (7 Kap. 49.2). Im endoplasmati- 49.1.5 Peptidyl-Prolyl-Isomerasen
schen Retikulum sowie in der mitochondrialen Matrix werden
neu importierte Proteine ebenfalls von Hsp70/Hsp40-Chaperon- Chaperone mit Peptidyl-Prolyl-Isomerase
paaren in Empfang genommen, wobei diese teilweise auch Mo- (PPIase)-Aktivität
torfunktionen beim Import ausüben. Peptidbindungen zwischen einer Aminosäure X und Prolin
Neueste Untersuchungen haben ergeben, dass erste Faltungs- kommen als cis- oder trans-Isomere vor (7 Kap. 5.2.1). Diese
vorgänge bereits im Ribosomenaustrittskanal beginnen, wo sich intrinsisch langsame Isomerisierung wird durch eine Reihe von
z. B. die hydrophoben α-Helices von Membranproteinen ausbil- PPIasen beschleunigt. Von diesen Enzymen kommen in allen
den können. Zellen drei Gruppen vor:
4 Cyclophiline, so benannt weil einige Isoformen die immun-
suppresive Substanz Cyclosporin A binden. Cyclosporin
49.1.4 Hsp90- und Hsp100-Chaperone hemmt aber nicht die PPIase-Aktivität der Cyclophiline.
Der immunsuppressive Effekt ist eher darauf zurückzufüh-
Chaperone falten Proteine und Proteinaggregate ren, dass diese Cyclophiline nach Bindung von Cyclosporin
auf (unfoldases) einen Komplex mit einer Phosphatase (Calcineurin) bilden.
Hsp100-Chaperone gehören zur Gruppe der AAA+-ATPasen Calcineurin, das für die Aktivierung der Interleukin-Ex-
(triple-A ATPasen; ATPases associated with diverse activities). Sie pression in T-Lymphocyten erforderlich ist, wird durch die
bilden Ringe aus sechs identischen ATPase-Untereinheiten mit Komplexbildung mit Cyclophilin A und Cyclosporin ge-
einem engen zentralen Kanal, in den Substratproteine ATP-ab- hemmt.
hängig hineingezogen und dabei gleichzeitig entfaltet werden. 4 FKBPs (FK506-Bindeproteine), von denen bestimmte
Hsp100-Chaperone können so Proteine für einen Abbau im Pro- Isoformen die ebenfalls immunsuppressiven Pharmaka
teasom (7 Kap. 50.3) vorbereiten, aber auch Proteinaggregate im FK506 und Rapamycin (7 Abb. 38.10) binden und danach
618 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

inaktivierende Komplexe mit Calcineurin bzw. mTOR teinpartikel, dem SRP (signal recognition particle) erkannt und
49 (7 Kap. 38.2.1) eingehen. gebunden. Das SRP besteht bei höheren Eukaryonten aus:
4 Parvuline (z. B. Pin1 beim Menschen) isomerisieren spezi- 4 6 Proteinen, die entsprechend ihrer Molekülmasse als SRP9,
fische prolinhaltige Peptidbindungen, bei denen die dem SRP14, SRP19, SRP54, SRP68 und SRP72 bezeichnet wer-
Prolin vorausgehende Aminosäure ein phosphoryliertes den, und
Serin oder Threonin ist. Die nur nach Phosphorylierung 4 einer 7S-RNA.
stattfindende Isomerisierung und damit verbundene
Konformationsänderung der Zielproteine wird als mole- Die Untereinheiten des SRP sind zu einem langgestreckten Mo-
kularer Schalter zur Regulation einer Reihe von Wachs- lekül angeordnet, das an das Ribosom sowohl an der Öffnung des
tums- und Entwicklungsprozessen benutzt. Austrittkanals als auch nahe der Andockstelle von Elongations-
faktor eEF2 (7 Kap. 48.2.2) binden kann (. Abb. 49.3A). Dadurch
vermag das SRP neben der Erkennung der Signalsequenz einer
Zusammenfassung naszierenden Polypeptidkette (durch SRP54) auch deren Elonga-
Triebkraft für die Faltung eines Proteins ist der hydrophobe tion (durch SRP9/14) zu blockieren bzw. zu verlangsamen.
Kollaps, bei dem hydrophobe Sequenzbereiche im Innern Dieser sog. Translationsarrest wird erst durch Bindung von SRP
seiner 3D-Struktur verborgen werden. Fehlgefaltete Proteine an die ER-Membran aufgehoben, wodurch garantiert wird, dass
laufen Gefahr, Aggregate zu bilden. Zellen verfügen über der Fortgang der Translation eines sekretorischen Proteins mit
zahlreiche Faltungshelfer, die molekularen Chaperone. Sie seinem Transport in das ER gekoppelt (cotranslational) erfolgt.
4 stabilisieren Faltungsintermediate durch vorüber- Da sekretorische Proteine für die Durchquerung der ER-Memb-
gehende Bindung an hydrophobe Bereiche, ran entfaltet sein müssen (s. u.), könnte eine ungebremste, nicht
4 assistieren bei Faltungsprozessen, mit dem Transport in das ER synchronisierte Translation zur
4 helfen Proteinaggregate zu entfalten, Exposition hydrophober Sequenzabschnitte und damit zur Ag-
4 aktivieren spezifische Substrate. gregation der naszierenden Polypeptidkette im Cytosol führen
(7 Kap. 49.1). Diese v. a. für die hydrophoben Membranproteine
bestehende Gefahr wird somit durch den cotranslationalen
Transportmodus vermieden.
49.2 Transmembraner Proteintransport Nach Interaktion mit dem Komplex aus Ribosom und nas-
zierender Polypetidkette (ribosome nascent chain complex, RNC)
Zahlreiche Proteine verbleiben nicht am Ort ihrer Synthese, dem bindet SRP an die α-Untereinheit des SRP-Rezeptors (SR), der
Cytoplasma, sondern werden bereits während ihrer Synthese am mit seiner β-Untereinheit in der ER-Membran verankert ist
Ribosom (cotranslational) oder im Anschluss daran (posttrans- (. Abb. 49.3A). Die α-Untereinheit des SRP-Rezeptors (SRα) be-
lational) durch zelluläre Membranen in die Organellen einer sitzt GTPase-Aktivität, ebenso wie die SRP54-Untereinheit.
eukaryontischen Zelle transportiert. Dieser auch als Proteinsor- Beide GTPase-Untereinheiten bilden nach Beladung mit GTP
tierung (protein sorting) bezeichnete Proteinverkehr einer Zelle einen Komplex. Dadurch werden Konformationsänderungen in
wird durch spezielle Signalsequenzen in den transportierten SRP54 und SRα ausgelöst, die zur Übertragung des RNC auf den
Proteinen gesteuert, die häufig beim Transport abgespalten wer- Sec61-Proteintransportkanal in der ER-Membran führen. Durch
den (7 Kap. 12.3). direkte molekulare Interaktion wird dieser in unmittelbarer
Der Proteintransport in das endoplasmatische Retikulum Nähe des SRP-Rezeptors gehalten. Im Anschluss kommt es zu
(s. u.) erfolgt überwiegend cotranslational. Proteine werden von einer gegenseitigen Stimulierung der GTPase-Aktivitäten von
dort vesikulär über den Golgi-Apparat in Lysosomen und sekre- SRP54 und SRα und damit in der Folge zur Dissoziation der
torische Vesikel transportiert (7 Kap. 12.2). Durch Exocytose GDP-gebundenen Formen von SRP54 und SRα.
gelangt ein Teil dieser Proteine in die Plasmamembran, andere
werden sezerniert. Posttranslational erfolgt der Proteintransport Der Proteintransportkanal in der ER-Membran wird
in Mitochondrien und Peroxisomen (s. u.) sowie in den Zellkern von dem engporigen Sec61αβγ-Komplex gebildet
(7 Kap. 12.1.2). Der auch als Sec-Translokon bezeichnete Proteintransportkanal
des endoplasmatischen Retikulums wird von den drei Unterein-
heiten Sec61α, β, γ gebildet. Sec61α besitzt 10 transmembrane
49.2.1 Endoplasmatisches Retikulum Helices, die β- und γ-Untereinheiten jeweils nur eine. Die Kris-
tallstruktur dieses Komplexes verdeutlicht, dass die 10 Membran-
SRP und SRP-Rezeptor steuern Präproteine durchgänge von Sec61α so angeordnet sind, dass sie im Zentrum
cotranslational zum Sec61-Proteinkanal der Membran eine enge Pore bilden und einen lateralen Ausgang
des endoplasmatischen Retikulums in die Membranlipide ermöglichen (. Abb. 49.3B). Über cytoso-
Sekretorische Proteine, z. B. Insulin oder Immunglobuline, wer- lisch exponierte Schlaufen zwischen den Transmembrandomä-
den als Vorläuferproteine (Präkursoren) mit einer N-terminalen nen von Sec61α werden die translatierenden Ribosomen gebun-
Signalsequenz (Präsequenz) synthetisiert. Sobald diese während den (. Abb. 49.3C). Die naszierende Polypeptidkette fädelt da-
der Translation den Proteinaustrittskanal der großen ribosomalen nach haarnadelförmig so in den Sec61-Kanal ein, dass der N-
Untereinheit verlassen hat, wird sie von einem Ribonucleopro- Terminus auf der cytosolischen Seite der ER-Membran verbleibt
49.2 · Transmembraner Proteintransport
619 49
A

B C

. Abb. 49.3 Cotranslationaler Proteintransport in das endoplasmatische Retikulum. A SRP (blau) bindet an die Signalsequenz (gezackte Linie) eines nas-
zierenden sekretorischen Proteins und arretiert die Translation 1 . Der SRP-Rezeptor besteht aus einer α-Untereinheit (SRα, rot) und einer β-Untereinheit
(SRβ, gelb) 2 . Die Membranbindung von Ribosom und naszierender Kette erfolgt durch Komplexbildung zwischen den GTP-gebundenen Formen von SRP
und SRα 3 . In der Folge werden Ribosom und naszierende Kette auf den Sec61-Kanal 4 übertragen, die wachsende Polypeptidkette wird haarnadelför-
mig in den Sec61-Kanal eingefädelt, die Signalsequenz verlässt ihn seitwärts in die Lipiddoppelschicht 5 und SRP und SRα dissoziieren nach gegenseitig
stimulierter Hydrolyse des gebundenen GTP 6 . SPase: Signalpeptidase. B Kristallstruktur des Sec61αβγ-Kanals aus Methanococcus janaschii. PDB: 1RH5.
Aufsicht vom Cytoplasma aus. Die zentrale Öffnung ist durch eine kurze Helix wie mit einem Stopfen verschlossen, der beim Transportvorgang durch seit-
liche Verlagerung den Kanal freigibt. Die zehn transmembranen Helices (TM) von Sec61α umgeben die zentrale Öffnung wie zwei Muschelschalen (rot und
violett), die sich öffnen können (gebogener Doppelpfeil) und so den Austritt von Signalsequenzen, Signalankersequenzen und Stopptransfersequenzen in
die Membranlipide ermöglichen (gestreckter Pfeil). C Seitliche Ansicht; die Bindungsstellen an das Ribosom sind markiert (*)

(. Abb. 49.3A) und die überwiegend hydrophobe Signalsequenz Signalankersequenzen und Stopptransfersequenzen
(7 Tab. 12.1) den Kanal nach lateral in Richtung Membranlipide steuern die Integration vieler Proteine in die
verlässt. Durch die Schubkraft der Peptidyltransferase im Ribo- Membran des endoplasmatischen Retikulums
som (7 Kap. 48.2.2) wird die kontinuierlich wachsende Polypep- Die meisten Membranproteine des Endomembransystems
tidkette in ungefaltetem Zustand durch den zentralen Sec61- (7 Kap. 12.1) werden cotranslational über den Sec61-Kanal in die
Kanal in das ER-Lumen transportiert. Dabei kommt das Ende der ER-Membran integriert. Die Verankerung erfolgt über hydro-
Signalsequenz auf die luminale Seite der ER-Membran zu liegen, phobe, α-helicale Transmembrandomänen (7 Kap. 11.4), die wie
wo sie von der Signalpeptidase abgetrennt wird (. Abb. 49.3A). die Signalsequenzen sekretorischer Proteine lateral aus dem
Während der Transport in das ER weiterläuft, können weitere Sec61-Kanal in die Lipiddoppelschicht inserieren (. Abb. 49.4B).
Modifikationen wie Disulfidbrückenbildung (s. u.) und N-Glyco- Es gibt grundsätzlich zwei Sorten von Transmembrandomänen
sylierung (7 Kap. 49.3.3) cotranslational erfolgen. mit unterschiedlicher »topogener« Information:
620 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

B
49 A

C D

. Abb. 49.4 Unterschiedliche Topologien von Membranproteinen nach Integration durch den Sec61-Kanal in die Membran des endoplasmatischen
Retikulums. A Translokation eines sekretorischen Proteins in das ER-Lumen mit Abspaltung der Signalsequenz. B Integration eines Membranproteins mit
N-terminaler Signalankersequenz (grün). C Integration eines Membranproteins mit zentraler Signalankersequenz. D Verankerung eines Membranproteins
durch eine Stopptransfersequenz (rot) nach signalsequenzvermittelter Einleitung der Translokation; SPase, Signalpeptidase. E Integration von Membranpro-
teinen durch eine Abfolge von Signalankersequenz und Stopptransfersequenz. Beachte die Anhäufung positiver geladener Aminosäuren auf der cytoplas-
matischen Seite der ER-Membran. Membranproteine vom Typ I haben ihren N-Terminus auf der luminalen Seite der ER-Membran (D), Typ-II-Membranpro-
teine dagegen auf der cytosolischen Seite (B, C)

4 Signalankersequenzen leiten wie die klassischen Signalse- dene Aminosäuren finden sich typischerweise am Anfang (N-
quenzen die Translokation nachfolgender Sequenzabschnit- terminal) von Signalankersequenzen und am Ende (C-terminal)
te in das ER-Lumen ein, werden aber von der Signalpep- von Stopptransfersequenzen und sind somit immer überwiegend
tidase nicht abgetrennt. Signalankersequenzen können am auf der cytoplasmatischen Seite von Membranproteinen lokali-
Anfang (N-Terminus) oder im Innern eines Membran- siert (. Abb. 49.4). Dieses Phänomen ist als Innen-Positiv-Regel
proteins lokalisiert sein (. Abb. 49.4B, C). (positive-inside-rule) formuliert worden. Abfolgen von Signal-
4 Stopptransfersequenzen hingegen führen zur Unterbre- anker- und Stopptransfersequenzen (. Abb. 49.4E) führen zur
chung der Translokation einer Polypeptikette in das ER-Lu- Entstehung polytoper Membranproteine (7 Kap. 11.4), d. h. von
men, wobei die Translokation entweder durch eine abspalt- Membranproteinen mit multiplen Membrandurchgängen.
bare Signalsequenz (. Abb. 49.4D) oder eine Signalanker-
sequenz (. Abb. 49.4E) initiiert worden sein kann. Membranproteine mit einer C-terminalen
Transmembrandomäne werden SRP-unabhängig
Ob eine α-helicale Transmembrandomäne eines Membranprote- in die ER-Membran integriert
ins Signalanker- oder Stopptransferfunktion besitzt, hängt im Membranproteine, deren einzige Transmembranhelix so nahe
Wesentlichen von der Lokalisation positiv geladener Aminosäu- am C-Terminus gelegen ist, dass sie erst nach Termination der
ren in ihren flankierenden Sequenzabschnitten ab. Positiv gela- Translation außerhalb des Ribosoms frei zugänglich wird, kön-
49.2 · Transmembraner Proteintransport
621 49
nen nicht cotranslational über SRP und SRP-Rezeptor zum
Sec61-Kanal gesteuert werden. Proteine mit einem derartigen
C-terminalen Anker (tail-anchored proteins) werden von einem
Komplex aus mehreren löslichen und membranständigen Unter-
einheiten (GET-Komplex, guided entry of tail-anchored proteins)
erkannt und ATP-abhängig in der ER-Membran verankert. Typi-
sche Vertreter von Proteinen mit cytosolischen Domänen und
C-terminalem Anker sind SNARE-Proteine wie z. B. das Synap-
tobrevin (VAMP; 7 Kap. 12.2 und 35.3).

Im Lumen des endoplasmatischen Retikulums sind


zahlreiche Chaperone direkt am Transport sowie an
der Faltung, Modifikation und Qualitätskontrolle
neu importierter Proteine beteiligt
Hsp70/40 ER-ständige Isoformen von Hsp70-Chaperonen, ih-
ren Hsp40-Cochaperonen und den zugehörigen Nucleotidaus-
tauschfaktoren (7 Kap. 49.1.2) können durch ATP-getriebene
Zyklen von Bindung und Freigabe der translozierenden Polypep-
tidkette deren gerichteten Transport in das ER aktiv unterstüt-
zen. Dieser Mechanismus liefert die Energie besonders für den . Abb. 49.5 Oxidation von Cysteinseitenketten zu Disulfiden und Iso-
merisierung der Disulfidbrücken durch die ER-ständige Proteindisulfid-
Import einiger Proteine, die nicht wie oben beschrieben cotrans-
isomerase (PDI). Deprotonierte SH-Gruppen (Thiolate) greifen andere
lational, sondern posttranslational ohne die Schubkraft der Ri- Disulfidbrücken nucleophil an 1 . Dadurch kommt es zur Ausbildung ge-
bosomen in das ER transportiert werden. Durch die Veranke- mischter Disulfide zwischen Substratprotein und PDI 2 . Nach Oxidation
rung der Hsp40-Isoformen in der ER-Membran werden Hsp70- des Substratproteins 3 bleibt die PDI in reduzierter Form zurück (roter
Chaperone wie BiP (binding protein) in unmittelbare Nähe des Stern) und kann durch die nicht dargestellte Oxidoreduktase Ero1 reoxidiert
werden. In ihrer reduzierten Form katalysiert die PDI die Isomerisierung
Sec61-Translokons gebracht.
(Umbildung) von Disulfidbrücken 4 – 6
BiP ist möglicherweise auch an der luminalen Öffnung des
Sec61-Kanals beteiligt. Wie die cytosolischen Hsp70-Isoformen
(7 Kap. 49.1.2) beeinflusst es aber auch direkt die Faltung von ihren Substratproteinen katalysiert die PDI sowohl die Oxidation
Proteinen und den Zusammenbau von Proteinkomplexen im freier SH-Gruppen unter Ausbildung von Disulfidbrücken
ER-Lumen. Weiterhin spielt BiP die Rolle des Sensors für den (. Abb. 49.5, 3 ) als auch die Isomerisierung existierender Disul-
globalen Faltungszustand von ER-Proteinen im Rahmen des Un- fidbrücken. In dieser Funktion reduziert die PDI spontan entstan-
folded Protein Response (s. u.). dene, aber unerwünschte Disulfide zwischen zwei Cysteinresten
(. Abb. 49.5, 4 ) und stellt anschließend die korrekten Disulfid-
Calnexin und Calreticulin Diese – wie ihr Name verrät – Ca2+- brücken mit anderen SH-Gruppen her (. Abb. 49.5, 6 ). Dazu
abhängigen Chaperone, gehören zu den Lectinen, also Proteinen, bildet die PDI intermediär gemischte Disulfide mit den Substrat-
die an Kohlenhydratseitenketten von Glykoproteinen binden. proteinen (. Abb. 49.5, 2 , 5 ). Reoxidiert wird die PDI durch
Beide Chaperone binden an N-glycosidisch verknüpfte Oligosac- Oxidoreduktasen wie Ero1 (ER-Oxidoreductin-1), das Elektro-
charide von Glykoproteinen, wenn von diesen Oligosacchariden nen über den Cofaktor FAD auf molekularen O2 überträgt.
nur zwei der drei terminalen Glucosereste durch Glucosidasen
entfernt wurden (7 Kap. 49.3.3). Ein verbleibender Glucoserest Die Akkumulation fehlgefalteter Proteine im ER
signalisiert einen inkompletten Faltungszustand des Glykopro- (ER-Stress) löst den Unfolded Protein Response aus
teins, der durch Bindung an Calnexin oder Calreticulin vorü- Neu in das ER translozierte oder integrierte Proteine können das
bergehend stabilisiert wird. Die Entfernung des dritten Glucose- ER nur nach korrekter Faltung verlassen. Die Anhäufung inkom-
restes führt zur Freigabe des Proteins von den Chaperonen, plett oder falsch gefalteter Proteine im ER löst ein koordiniertes
womit das Protein das ER verlassen kann. Proteine, die zu diesem Reparaturprogramm aus, das als Unfolded Protein Respon-
Zeitpunkt immer noch nicht vollständig gefaltet sind, wer- se (UPR) bezeichnet wird. Das UPR-Programm besteht in einer
den durch eine Glucosyltransferase erneut mit einem Glucose- vermehrten Synthese von Chaperonen und Proteolysekompo-
rest beladen, um so mit Hilfe von Calreticulin/Calnexin einen nenten für Rückfaltung oder Eliminierung fehlgefalteter Protei-
weiteren Faltungsversuch unternehmen zu können. ne, aber auch in einer verminderten Translationsleistung der
Zelle, um die Substratbelastung für das ER zu reduzieren.
Oxidoreduktasen Disulfidbrücken finden sich außer bei Protei- Die drei ER-Membranproteine IRE 1, PERK und ATF6 kön-
nen des mitochondrialen Intermembranraums (7 Kap. 49.2.2) nen das UPR-Programm auslösen. Vermutlich werden diese
überwiegend nur in sekretorischen Proteinen und extracytoplas- transmembranen Sensorproteine durch Bindung von BiP (s. o.)
matischen Domänen von Membranproteinen. Ausgebildet wer- an ihre luminalen Domänen solange in einem inaktiven Zustand
den diese Disulfidbrücken durch Oxidoreduktasen im ER-Lu- gehalten, bis BiP durch Bindung an fehlgefaltete Proteine abge-
men. Hauptvertreter ist die Proteindisulfidisomerase (PDI). An zogen wird, oder aber die Sensorproteine sind selbst in der Lage,
622 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

49

. Abb. 49.6 Protein-Import in Mitochondrien. AM, IM: äußere und innere Membran; IMR: Intermembranraum (weitere Abkürzungen und Erklärungen
s. Text). (Mit freundlicher Genehmigung von Lena-Sophie Wenz u. Nikolaus Pfanner)

missgefaltete Proteine im ER zu binden. Im Fall von IRE 1 be- den mitochondrialen Ribosomen translatiert wird. Alle anderen
wirkt eine Aktivierung eine Dimerisierung mit anschließender Proteine werden an cytosolischen Ribosomen synthetisiert und
Autophosphorylierung, die eine Endonucleaseaktivität in der posttranslational durch den TOM-Komplex (translocase of the
cytosolischen Domäne von IRE 1 aktiviert. Die Endonuclease outer mitochondrial membrane) in die Mitochondrien importiert
entfernt im Cytoplasma ein Intron aus der mRNA eines Tran- (. Abb. 49.6). Der TOM-Komplex fungiert dabei als Rezeptor für
skriptionsfaktors, der daraufhin translatiert wird. PERK ist eine unterschiedliche Signalsequenzen und als die eigentlich trans-
Proteinkinase, die den Initiationsfaktor eIF2 phosphoryliert und membrane Pore.
inaktiviert (7 Kap. 48.3.3). ATF 6 ist ein membranverankerter Je nach ihrem Standort in den Mitochondrien werden Pro-
Transkriptionsfaktor, der bei Anhäufung fehlgefalteter Proteine teine nach unterschiedlichen Mechanismen importiert:
im ER in den Golgi-Apparat gelangt und dort durch limitierte 4 Proteine der mitochondrialen Matrix oder Innenmem-
Proteolyse für den Transport in den Zellkern freigesetzt wird. bran werden als Vorläuferproteine mit einer N-terminalen
Präsequenz (einer positiv geladenen amphipathischen He-
lix) synthetisiert. Die Pore durch die innere Mitochondrien-
49.2.2 Mitochondrien membran wird von TIM23 (presequence translocase of the
inner mitochondrial membrane) gebildet. Neben dem elek-
Die meisten mitochondrialen Proteine werden post- trochemischen Potential (Δψ) an der Innenmembran wird
translational über den TOM-Komplex in eines der ATP für die Energetisierung des Transports benötigt. Für
vier mitochondrialen Kompartimente importiert den ATP-getriebenen Import ist ein Zusammenspiel von
Mitochondrien besitzen 1.000–1.500 verschiedene Proteine, von mitochondrialem Hsp70 (mtHsp70) mit den Untereinhei-
denen nur ca. 1 % von der mitochondrialen DNA codiert und an ten von PAM (presequence translocase-associated motor)

Vorläuferprotein mit Präsenz Carrier-Vorläuferprotein Intermembranraum-Vorläuferprotein Vorläuferprotein Mitochondrien Translokase


Präsequenz-Translokase Prozessierungspeptidase Carrier-Translokase
49.3 · Covalente Modifikation von Proteinen
623 49
erforderlich. Die Präsequenz dieser Proteine wird beim Ein- 4 Signalsequenzerkennung im Cytosol durch lösliche Rezep-
tritt in die Matrix von MPP (mitochondrial processing pepti- toren (Pex5 für PTS1-Signalsequenzen).
dase) abgetrennt. Besitzen importierte Proteine im An- 4 Bindung des Substrat-Rezeptor-Komplexes an einen
schluss an ihre Präsequenz noch eine hydrophobe docking complex in der Peroxisomen Membran, der aus
Ankersequenz, werden sie von TIM23 aussortiert und nach mindestens drei Peroxinen besteht (Pex13,14,17).
lateral in die innere Membran integriert. 4 Translokation möglicherweise durch eine temporäre Pex5-
4 Carrier-Proteine der Innenmembran, z. B. der ADP/ATP- Pore, da Pex5 die Eigenschaft besitzt, Oligomere zu bilden
Carrier (7 Kap. 19.1.1), besitzen interne Signalsequenzen. und spontan in Lipidmembranen zu inserieren.
Nach ihrem Transport durch den TOM-Komplex der äuße- 4 Rückkehr des Rezeptors in das Cytoplasma nach Mono-
ren Membran werden sie von den TIM-Chaperonen durch Ubiquitinierung (7 Kap. 49.3.2) durch membranständige
den Intermembranraum zur Carrier-Translokase TIM22 ge- Peroxine und nachfolgender, ATP-abhängiger Extraktion
leitet, über die sie Δψ-abhängig in die Innenmembran inte- aus der Peroxisomenmembran durch Peroxine aus der
grieren und anschließend dimerisieren. Gruppe der AAA+-ATPasen (7 Kap. 49.1.4).
4 Proteine des Intermembranraumes, z. B. die TIM-Chape-
rone, weisen typischerweise Disulfidbrücken auf, die erst Membranproteine der Peroxisomen haben spezielle, interne Sig-
nach ihrem Import durch den TOM-Komplex gebildet wer- nalsequenzen und benutzen spezifische Peroxine für ihre Mem-
den. Ähnlich wie das ER verfügt der mitochondriale Inter- branintegration. Viele peroxisomale Membranproteine werden
membranraum über Oxidoreduktasen, deren zentraler Ver- zuerst in die ER-Membran integriert, was die Vorstellung stützt,
treter Mia40 ist (mitochondrial intermembrane space import dass das ER an der Entstehung von Peroxisomen beteiligt ist
and assembly). Wie die ER-ständige PDI oxidiert Mia40 (7 Kap. 12.1.8).
freie SH-Gruppen ihrer Substrate durch die vorüberge- Führen angeborene Defekte einzelner Peroxine zu einer ge-
hende Ausbildung von gemischten Disulfiden. Über eine störten Ausbildung von Peroxisomen, resultieren schwerste
weitere Oxidoreduktase (Erv1) und Cytochrom c werden Krankheitsbilder wie das Zellweger-Syndrom, an denen die Pa-
die freiwerdenden Elektronen direkt in die Atmungskette tienten in der Regel in den ersten Lebensmonaten versterben.
eingeschleust.
4 Proteine der äußeren Mitochondrienmembran können
sowohl über α-helicale Transmembrandomänen als auch Zusammenfassung
über β-Tonnen (7 Kap. 11.4) in der Lipidschicht verankert Viele Proteine werden gezielt an ihren Wirkort innerhalb der
sein. Proteine, die β-Tonnen (β-barrel proteins) bilden, sind Zelle transportiert. Sekretorische Proteine werden co-
typischerweise Porenproteine wieTom40, die zentrale Un- translational mithilfe von SRP, SRP-Rezeptor und dem
tereinheit des TOM-Komplexes, oder das allgemeine Porin Sec61-Kanal im entfalteten Zustand in das ER transportiert.
der mitochondrialen Außenmembran, das auch als VDAC Membrangebundene Proteine des Endomembran-
(voltage-dependent anion channel) bezeichnet wird. Diese systems werden auf dieselbe Weise in der ER-Membran über
Proteine werden erst über den TOM-Komplex in den Inter- Transmembrandomänen verankert.
membranraum importiert und nach Interaktion mit TIM- Chaperone des ER sorgen für Faltung und Bildung von
Chaperonen in die äußere Membran inseriert. Der Disulfidbrücken dieser Proteine.
SAM-Komplex (sorting and assembly machinery of the outer Die Akkumulation fehlgefalteter Proteine im ER löst den
mitochondrial membrane) vermittelt dabei sowohl die ER-Stress (unfolded protein response) aus.
Membraninsertion als auch die Ausbildung der β-Tonnen- 99 % aller mitochondrialen Proteine werden posttrans-
Strukturen. lational im entfalteten Zustand importiert, wobei für Au-
ßen- und Innenmembran, Intermembranraum und Matrix
unterschiedliche Transportsysteme existieren. Peroxisoma-
49.2.3 Peroxisomen le Proteine werden posttranslational in gefaltetem Zu-
stand importiert.
Für den posttranslationalen Import von gefalteten
Proteinen in Peroxisomen gibt es keine präexisten-
ten Porenstrukturen in der peroxisomalen Membran
Viele Details zum Transport von Proteinen in Matrix und Mem- 49.3 Covalente Modifikation von Proteinen
bran von Peroxisomen sind noch unbekannt. Die Signalsequen-
zen peroxisomaler Proteine sind überwiegend C-terminal loka- Neu synthetisierte Proteine müssen nicht nur durch Faltung ihre
lisiert und werden dann als PTS1 (peroxisomal targeting sequence) endgültige 3D-Struktur erlangen, sondern erfahren häufig auch
bezeichnet (Ser-Lys-Leu u. a.; vgl. 7 Tab. 12.1). In selteneren Fäl- covalente Modifikationen an ihrer Polypeptidkette, die unter
len kommen auch mehr N-terminal lokalisierte Signalsequenzen den Begriffen Reifung oder Prozessierung zusammengefasst
mit einem anderen Sequenzmotiv vor (PTS2). Für den Transport werden. Modifikationen können cotranslational oder posttrans-
sind eine Reihe löslicher und membranständiger Proteine erfor- lational erfolgen. Einige sind irreversibel, andere reversibel. Bei
derlich, die als Peroxine bezeichnet werden. Das Transportge- reversiblen Proteinmodifikationen spricht man auch von Inter-
schehen lässt sich in vier Stadien unterteilen: konversion.
624 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

49.3.1 Limitierte Proteolyse


49
Funktionale Proteine entstehen häufig
durch limitierte Proteolyse aus ihren primären
Translationsprodukten
Präsequenzen N-terminale Signalsequenzen oder Präsequen-
zen dirigieren bestimmte Proteine in das ER und die Mitochon-
drien (7 Kap. 49.2), wo sie von spezifischen Peptidasen co- oder
posttranslational abgetrennt werden. Präproteine, deren Signal-
peptide cotranslational entfernt werden, wie die meisten in das
ER transportierten Proteine, kommen als vollständige Transla-
tionsprodukte in vivo nicht vor. Sie lassen sich nur durch Trans-
lation entsprechender mRNAs in Abwesenheit von ER-Membra-
nen in vitro erzeugen.

Prosequenzen Im Gegensatz zu den Präsequenzen dienen Pro-


sequenzen dazu, Enzyme oder Hormone in einem inaktiven
Vorläuferstadium zu halten. Prosequenzen haben unterschied-
liche Längen und können endständig oder zentral lokalisiert
sein. Sie finden sich typischerweise bei den Verdauungsenzy-
men (7 Kap. 61.1.3), den lysosomalen Cathepsinen (7 Kap. 50.1)
sowie den Proteasen des Komplementsystems (7 Kap. 70.2.3) . Abb. 49.7 Ubiquitinierung von Proteinen. Am Ubiquitin bedeutet
COO– die Carboxylgruppe seines C-terminalen Glycins und ε die
und der Gerinnungskaskade (7 Kap. 69.1.3). Die Entfernung der
ε-Aminogruppe eines Lysylrestes. Ubiquitin wird durch Bindung an E1 (Ubi-
Prosequenzen erfolgt entweder durch spezifische Proteasen (z. B. quitin-aktivierendes Enzym) in Form eines Thioesters aktiviert. Diese Akti-
Enterokinase im Fall von Trypsin; 7 Kap. 61.1.3) oder autokata- vierung läuft wie bei der Bildung von Acyl-CoA (7 Kap. 21.2.1) und Aminoa-
lytisch nach Aktivierung der Proproteine durch Bindung anderer cyl-tRNAs (7 Kap. 48.1.3) über die intermediäre Kopplung an AMP. In der
Faktoren (z. B. Gerinnungssystem, Komplementsystem). Im Fall Folge wird Ubiquitin auf ein katalytisches Cystein von E2 (Ubiquitin-konju-
gierendes Enzym) übertragen. Schließlich wird Ubiquitin von Ubiquitinli-
von lysosomalen Proteasen wird die als intramolekulares Chape-
gasen (E3) entweder direkt auf ein Substratprotein übertragen oder erst
ron dienende Prosequenz, die das aktive Zentrum blockiert, nach nochmaliger Thioesterkopplung an das E3-Enzym (nicht dargestellt).
durch ein Absinken des pH-Wertes entfaltet. Dabei entstehen Peptidbindungen zwischen dem C-terminalen Glycin von
Ubiquitin und meistens einer ε-Aminogruppe eines Lysins des Substratpro-
Prohormone Prohormone sind höher molekulare Vorläufer, aus teins (sog. Isopeptidbindung). Neben Mono-Ubiquitinierungen gibt es, wie
dargestellt, Poly-Ubiquitinierungen, bei denen über Isopeptidbindungen
denen die aktiven Hormone durch limitierte Proteolyse freige-
verknüpfte Ubiquitinketten entstehen. Ubiquitinmodifikationen werden
setzt werden. Die dafür verantwortlichen Enzyme, die Prohor- entweder über deubiquitinierende Enzyme wieder entfernt oder sind ein
mon-, oder Proproteinkonvertasen (PCs), spalten die Prohor- Signal für den Abbau im Proteasom. Beim Menschen gibt es ca. 10 verschie-
mone typischerweise nach zwei basischen Aminosäuren (Argi- dene E1-, 100 E2- und 1.000 E3-Enzyme
nin bzw. Lysin). Die verbleibenden basischen Aminosäuren
werden anschließend durch Carboxypeptidase E entfernt (s.
Umwandlung von Proinsulin in Insulin; 7 Kap. 36.2). Proprote-
inkonvertasen kommen v. a. im Golgi-Apparat und in sekretori- 49.3.2 Covalente Kopplung von Peptiden
schen Vesikeln vor und führen häufig zur Bildung mehrerer
Spaltprodukte desselben Prohormons (s. Proglucagon 7 Kap. Die Kopplung der Markerproteine Ubiquitin
37.1.2 und POMC 7 Kap. 74.1.13). und SUMO über Isopeptidbindungen dient
der Regulation und dem Abbau vieler Proteine
N-terminale Modifikationen Von den meisten Proteinen wird Ubiquitinierung Ubiquitin ist ein 76 Aminosäuren langes Pro-
das N-terminale Methionin cotranslational von spezifischen tein, das nach Aktivierung seines C-terminalen Glycins über
Methioninaminopeptidasen abgetrennt (7 Kap. 50.2). Außer- Isopeptidbindungen an Zielproteine gekoppelt wird (. Abb.
dem wird bei der Hauptmenge der cytosolischen Proteine eben- 49.7). Dabei kommen Mono- und Polyubiquitinierungen vor.
falls cotranslational die N-terminale Aminosäure durch Acetyl- Diese Modifikationen verändern die Oberflächenstruktur eines
transferasen acetyliert. Obgleich diese Enzyme essentiell sind, Proteins und damit dessen Interaktion mit anderen Proteinen.
ist die Bedeutung dieser Modifikationen nicht wirklich bekannt. Ubiquitinierungen können reversibel oder irreversibel ablaufen
Eine weitere N-terminale Modifikation ist die Myristylierung und regulieren Prozesse wie Zellzyklus (7 Kap. 43.2), Endocytose
(7 Kap. 49.3.4). (7 Kap. 12.1.5), Proteinlokalisation (7 Kap. 49.2.3, Proteintrans-
port in Peroxisomen), Transkription und Proteinabbau.

Sumoylierung Eine große Anzahl an Proteinen wird durch


SUMO (small ubiquitin-like modifier) modifiziert. Für die Modi-
49.3 · Covalente Modifikation von Proteinen
625 49
fikation von Zielproteinen mit SUMO und deren Einfluss auf die sche Modifikation von sekretorischen und membrangebunde-
Eigenschaften der modifizierten Proteine gelten weitgehend die- nen Proteinen im ER. Sie beginnt in der Regel ebenfalls cotrans-
selben Fakten wie für Ubiquitin. lational. Die N-Glycosylierung ist ein mehrstufiger Prozess, bei
dem zunächst ein verzweigtes Oligosaccharid-Vorläufermolekül
Transglutaminase und Lysyloxidase katalysieren schrittweise an einem Lipidanker der ER-Membran aufgebaut
die Quervernetzung von Proteinen wird. Als Lipidanker dient das langkettige Isoprenlipid Dolichol-
Transglutaminasen Diese Enzyme aktivieren zunächst einen phosphat (Dol-P) (7 Kap. 3.2.5; . Abb. 49.8A).
Glutaminylrest in einem Protein X, indem sie ihn covalent mit Im ersten Schritt wird N-Acetylglucosamin (GlcNAc) über
einer SH-Gruppe in ihrem aktiven Zentrum verknüpfen. Dabei eine Pyrophosphatbindung an Dolichol gekoppelt. Die Pyro-
wird der Amidstickstoff des Glutamins als Ammoniak freige- phosphatbindung entsteht durch Spaltung von UDP-GlcNAc in
setzt. Die Thioesterbindung zwischen Protein X und Enzym UMP und GlcNAc-1-Phosphat, das auf Dol-P übertragen wird
wird dann durch die ε-Aminogruppe eines Lysylrests von Prote- (. Abb. 49.8A). Anschließend werden einzeln Nucleosiddiphos-
in Y angegriffen (Transamidierung). Auf diese Weise werden phat-aktivierte Zucker glycosidisch (7 Kap. 3.1.2) angeheftet.
Proteine ebenfalls über Isopeptidbindungen miteinander quer- Dol-P ist dabei zunächst so in die ER-Membran integriert, dass
vernetzt. Transglutaminasen haben vielfältige Funktionen, z. B. sein Phosphatrest auf die cytosolische Seite ragt (. Abb. 49.8A).
bei der Differenzierung der Epidermis (7 Kap. 73.3) oder als Fak- Nach Verknüpfung mit einem weiteren GlcNAc und 5 Manno-
tor XIIIa bei der Bildung des Fibrinthrombus (7 Kap. 69.1). Auch seresten im Cytosol erfolgt mit Hilfe eines Transporters eine
an pathologischen Prozessen sind diese Enzyme beteiligt, z. B. Translokation des Dol-PP-Oligosaccharids durch die Membran,
bei der Pathogenese der Gliadin-induzierten Sprue (Zoeliakie), wonach die Zuckerkette in das ER-Lumen ragt. Hier erfolgt die
einer Unverträglickeit gegenüber dem Weizenprotein Gluten Anheftung von weiteren 4 Mannose- und 3 Glucoseresten, bis
(7 Kap. 61.3.6). Durch covalente Kopplung der akkumulierenden ein Endprodukt aus 14 Zuckerbausteinen (Glc3Man9GlcNAc2)
Gliadine (Glutenpeptide) an die Transglutaminase wird die Bil- entsteht (. Abb. 49.8A, B).
dung von Transglutaminase-Autoantikörpern stimuliert, ein Nachdem das Oligosaccharid fertiggestellt ist, wird es als
diagnostisches Merkmal dieser Krankheit. komplette Struktur von der Oligosaccharyltransferase (OST)
auf einen spezifischen Asparaginylrest der noch mit Ribosom
Lysyloxidase Dieses Enzym führt zu einer oxidativen Desami- und Sec61-Kanal assoziierten Polypeptidkette übertragen. Dabei
nierung der ε-Aminogruppe von Lysylresten in Kollagen und werden solche Asparaginylreste von der membrangebundenen
Elastin. Die aus der Aminogruppe entstehende Aldehydgruppe Oligosaccharyltransferase erkannt, die in dem Sequenzmotiv
(Allysin) kann über eine Schiff-Base mit den Lysylresten benach- Asn-X-Ser/Thr vorkommen. Von dem zurückbleibenden Doli-
barter Polypeptidstränge covalent verknüpft werden, was zur cholpyrophosphat wird Phosphat abgespalten, der Dolichol-
Quervernetzung von Kollagenfibrillen und elastischen Fasern phosphatrest wird zurück in das Cytosol transloziert und steht
führt (7 Kap. 71.1.2). damit dem nächsten Zyklus zur Verfügung.
Nach Übertragung des Oligosaccharids auf das Protein wer-
den die drei Glucosereste schrittweise durch Glucosidasen wie-
49.3.3 Proteinglycosylierung der abgespalten. Ohne Entfernung der Glucosereste werden neu
synthetisierte Glykoproteine nicht zum Golgi-Apparat transpor-
Die N-Glycosylierung von sekretorischen und tiert, sondern von den Chaperonen Calnexin und Calreticulin im
membrangebundenen Proteinen beginnt im ER zurückgehalten (7 Kap. 49.2.1). Auch einer der 9 Mannosyl-
endoplasmatischen Retikulum, die O-Glycosylie- reste wird im ER wieder entfernt (. Abb. 49.8B). Im Golgi-Appa-
rung läuft nur im Golgi-Apparat ab rat entstehen entweder durch weitere Modifikationen komplexe
In Glykoproteinen kommen zwei Typen von meist verzweigten Oligosaccharide (. Abb. 49.8C) oder die Glykoproteine entzie-
Oligosacchariden (7 Kap. 3.1.4) vor. Zum größeren Teil (ca. hen sich durch Faltung dem Zugriff der modifizierenden Enzy-
90 %) sind sie über N-glycosidische Bindungen mit einem me und behalten die Mannose-reichen Oligosaccharide aus
Asparaginylrest des Glykoproteins verknüpft, zum kleineren Teil dem ER. Komplexe Oligosaccharidketten entstehen durch die
über O-glycosidische Bindungen mit Seryl- bzw. Threonylres- kombinierte Aktivität von Mannosidasen und Glycosyltrans-
ten. Die Glycosylierung von Proteinen ist ein wichtiger Faktor ferasen, die N-Acetyl-Glucosamin-, Galactose-, Fucose- und
für die korrekte Faltung von Proteinen, verleiht ihnen Stabilität Sialinsäurereste übertragen (über die aktivierten Formen der
und vermittelt Zell-Zell-Kontakte. In einigen Fällen (z. B. bei ly- individuellen Zucker informiert 7 Abb. 16.6). Das Resultat
sosomalen und apikalen Proteinen) kann die Glycosylierung ist eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen, die nicht nur
auch Sortierinformation enthalten. Glycosylierte Serumproteine, proteintypisch sondern auch zellspezifisch sind.
die ihre terminalen Sialinsäuren (s. u.) verloren haben, werden
über den hepatischen Asialoglykoproteinrezeptor aus der Zir- O-Glycosylierung Die kanonische Biosynthese O-glycosidisch
kulation entfernt und abgebaut. verknüpfter Glykoproteine findet anders als bei den N-glycosi-
disch verknüpften Glykoproteinen posttranslational in den Zis-
N-Glycosylierung Neben der Abtrennung von Prä-(Signal)- ternen des Golgi-Apparates statt. Die Anheftung der Glycosyl-
Sequenzen und allgemeinen Faltungsprozessen, wie der Bildung reste erfolgt mit Hilfe jeweils spezifischer Glycosyltransferasen
von Disulfidbrücken, ist die N-Glycosylierung eine weitere typi- zunächst an dem betreffenden Seryl- bzw. Threonylrest der
626 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

49

. Abb. 49.8 N-Glycosylierung von Proteinen. A Synthese des Oligosaccharidvorläufermoleküls am Dolicholanker in der ER-Membran und Übertragung
durch die Oligosaccharyltransferase (OST) auf einen Asparaginylrest der naszierenden Polypeptidkette. B Zurechtschneiden (Trimmen) der Oligosaccharid-
seitenkette im ER. C Weitere Modifikationen im cis-Golgi-Apparat (Mannosidase I), medialen Golgi-Apparat (GlcNAc-Transferase, Mannosidase II) und trans-
Golgi-Apparat (aufgelistete Glycosyltransferasen). (Einzelheiten s. Text)

Proteinglycosylierung Dolicholphosphat (Dol-P) Glucosidase I Glucosidase II ER-Mannosidase Mannosidase I GlcNAc-Transferase I


Mannosidase II GlcNAc-Transferase Galactosyl-Transferase Sialyl-Transferase Fucosyl-Transferase
49.3 · Covalente Modifikation von Proteinen
627 49
Peptidkette, danach auf das wachsende Saccharid, das typischer-
weise aus 1–4 Zuckern besteht. Substrate sind in allen Fällen die
Nucleosiddiphosphatderivate der jeweiligen Zucker (7 Abb. 16.6).
O-Glycosylierungen findet man häufig im membrannahen Be-
reich von Transmembranproteinen.

49.3.4 Lipidmodifikation von Proteinen

Acylierung und Prenylierung ermöglichen


eine regulierte, posttranslationale Membran-
verankerung von Proteinen
Die häufigsten covalenten Lipidmodifikationen von Proteinen
sind in . Abb. 49.9 zusammengefasst. Hierbei handelt es sich um
Prozesse, die im Cytosol ablaufen. Bei der Myristylierung wird
Myristinsäure (14 C-Atome; 7 Tab. 3.8) mit einem N-terminalen
Glycin verknüpft, das durch die Entfernung des Start-Methio-
nins durch Methioninaminopeptidase (7 Kap. 49.3.1) endständig . Abb. 49.9 Typische cytosolische Lipidmodifikationen von Proteinen.
wurde. Beispiele von myristylierten Proteinen sind Src-Kinasen A Palmitinsäure ist in Thioesterbindung an ein Cystein gekoppelt.
(7 Kap. 35.3.1) und die α-Untereinheiten von trimeren G-Pro- B Myristinsäure wird über über eine Amidbindung an ein N-terminales
teinen. Unter Prenylierung versteht man die Anheftung eines Glycin gebunden. C, D Farnesyl- und Geranylgeranylreste sind mit C-termi-
nalen Cysteinen über Thioetherbindungen verknüpft. Farnesylierung und
Polyisoprenrestes an das Cystein einer C-terminalen Cys-A-A-X-
Geranylgeranylierung werden gemeinsam als Prenylierung bezeichnet.
Sequenz (A=aliphatische Aminosäure; A-A-X wird nach der Pre- (Einzelheiten s. Text)
nylierung abgespalten). Typische Polyisoprenanker sind
Farnesyl- (15 C-Atome) und Geranylgeranylreste (20 C-Atome)
(7 Kap. 23.2). Ras-Proteine erhalten typischerweise einen Far- Glycosyl-Phosphatidyl-Inositol (GPI)-Anker Dieses zuckerhaltige
nesylanker, die γ-Untereinheiten trimerer G-Proteine eine Ge- Phospholipid (7 Kap. 3.2.3) verankert zahlreiche Proteine in
ranylgeranylkette. der äußeren Schicht der Plasmamembran. Angefügt wird es im
Myristylierung und Prenylierung führen in der Regel zu kei- ER an Proteine, die zunächst über eine einzige C-terminale
ner dauerhaften Membranverankerung. Treffen myristylierte Stopptransfersequenz (7 Kap. 49.2.1) in der ER-Membran veran-
(z. B. Src-Kinasen) oder prenylierte Proteine (z. B. Ras-Proteine) kert wurden. Eine Transpeptidase (Transamidase) trennt die lu-
in ihren Zielmembranen jedoch auf spezifische Acyltransferasen, minale Domäne von der Transmembrandomäne ab und über-
werden zusätzlich Palmitinsäurereste (7 Tab. 3.8) an Cysteine die- trägt den neuen C-Terminus des Proteins auf die Aminogruppe
ser Proteine gekoppelt. Diese Palmitylierungen verstärken die des membranständigen GPI-Ankers (7 Abb. 3.5). Über vesikulä-
Membranassoziation, können aber mithilfe von Acylthioestera- ren Transport gelangt das GPI-verankerte Protein zur Plasma-
sen auch wieder rückgängig gemacht werden. Auf diese Weise membran.
kann die Membranassoziation von Proteinen reguliert werden. GPI-verankerte Proteine finden sich häufig in lipid rafts
(7 Kap. 11.3) und dem apikalen Membrananteil polarisierter Zel-
len; bekannte Vertreter dieser Proteinklasse sind die Acetylcho-
49.3.5 Sulfatierung und GPI-Anker linesterase, das Prionprotein und Oberflächenantigene von Try-
panosomen.
Die Sulfatierung von Proteinen und die Anheftung Trypanosoma brucei, der Erreger der afrikanischen Schlaf-
eines GPI-Ankers sind posttranslationale krankheit, einer Meningoencephalitis, entzieht sich der immu-
Modifikationen von sekretorischen nologischen Abwehr dadurch, dass er sein variables Oberflä-
und membrangebundenen Proteinen chenprotein vom GPI-Anker durch eine spezifische Phospholi-
Sulfatierung Eine Reihe von Proteinen, die Interaktionen mit pase C (7 Kap. 22.1.2) abspalten kann.
anderen Proteinen eingehen, wird an Tyrosylresten sulfatiert.
Hierzu gehören bestimmte Blutgerinnungsfaktoren, Zelloberflä-
chenproteine wie die Selectinliganden, die erste Zell-Zell-Kon- 49.3.6 Phosphorylierung, ADP-Ribosylierung
takte bei der Einwanderung von Leukocyten in entzündliche und Acetylierung
Gewebe herstellen (7 Kap. 69.2.2), oder auch Chemokinrezepto-
ren, die u. a. für die Aufnahme des HI-Virus in T-Zellen verant- Proteinfunktionen werden über Modifikationen
wortlich sind (7 Abb. 12.14). Die Modifikation der Tyrosylreste einzelner Aminosäuren gesteuert
erfolgt im Lumen des Golgi-Apparates durch Sulfotransferasen, Phosphorylierung Proteine werden an den Hydroxylgruppen
die PAPS (Phosphoadenosin-5 -Phosphosulfat) (7 Abb. 3.17) als von Serin, Threonin und Tyrosin ATP-abhängig durch Protein-
Donor der Sulfatgruppe benutzen. kinasen phosphoryliert. Auf diese Weise werden Enzymaktivitä-
ten reguliert und Protein-Protein-Wechselwirkungen beeinflusst

Proteine Palmitylierung Myristylierung Farnesylierung Geranylgeranylierung


628 Kapitel 49 · Proteine – Transport, Modifikation und Faltung

(7 Kap. 33.4.1). Durch Phosphatasen wird diese Modifikation


49 wieder rückgängig gemacht (Interkonversion).

ADP-Ribosylierung Die Übertragung des ADP-Ribosylres-


tes von NAD+ (7 Kap. 59.4) ist eine andere Maßnahme, die Akti-
vität von Enzymen zu beeinflussen. Die Wirkung vieler Bakte-
rientoxine beruht auf ihrer Eigenschaft, Proteine der befallenen
Zellen durch ADP-Ribosylierung zu modifizieren. So inaktiviert
Diphtherietoxin auf diesem Weg den Elongationsfaktor eEF2
(7 Kap. 48.2.2), Choleratoxin verhindert die GTP-Hydrolyse
an den α-Untereinheiten eines stimulierenden G-Proteins
(7 Kap. 35.3.2), wodurch das G-Protein permanent aktiv bleibt,
und Pertussistoxin inaktiviert die α-Untereinheit eines inhibie-
renden G-Proteins (7 Kap. 35.3.2).

Acetylierung
Die reversible Acetylierung von Lysylresten ist eine häufige post-
translationale Modifikation, die eine Schlüsselrolle bei der Gen-
Regulation spielt (7 Kap. 47.2.1). Prominentes Beispiel sind Histo-
ne, deren positive Ladungen durch Acetylierung neutralisiert
werden und die damit ihren engen Kontakt zur DNA verlieren
(7 Kap. 47.2.1).

Zusammenfassung
Multiple Modifikationen von Proteinen begleiten ihre
Biogenese oder steuern ihre Funktion.
Durch limitierte Proteolyse werden für den Proteintrans-
port benötigte Signal-(Prä)-Sequenzen entfernt oder
Hormone und Enzyme aus Proformen freigesetzt.
Ein Beispiel für die covalente Vernetzung von zwei Proteinen
ist die Ubiquitinierung. Ubiquitin ist ein kleines Protein, das
durch Bindung an E1-Enzyme aktiviert, dann auf E2-Carrier-
proteine übertragen und schließlich mithilfe von E3-Protein-
Ligasen in Isopeptibindung an Substratproteine gekoppelt
wird.
Oligosaccharide werden im ER (N-Glycosylierung) und
Golgi-Apparat (O-Glycosylierung) auf Proteine übertragen.
Lipidmodifikationen versehen Proteine mit Membran-
ankern.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


629 50

50 Proteine – Mechanismen ihres Abbaus


Matthias Müller, Lutz Graeve

Einleitung 4 Metalloproteasen: Matrix-Metalloproteinasen (MMPs,


7 Kap. 71.2); ACE (angiotensin-converting enzyme
Zelluläre Proteine unterliegen einem ständigen Umsatz (turnover), (7 Kap. 65.4.3).
wobei Proteine mit kurzen Halbwertszeiten (wenige Minuten) von sol- 4 Threoninproteasen: Proteolytische Untereinheiten des
chen mit langen (mehrere Wochen) unterschieden werden müssen. Für Proteasoms (7 Kap. 50.3), bei denen die α-Amino- und die
den Abbau von Proteinen steht den Zellen eine Vielzahl von Proteasen Hydroxylgruppe des N-terminalen Threonins an der
zur Verfügung. Der Abbau von Proteinen erfolgt im cytsolischen Katalyse beteiligt sind.
Proteasom nach Markierung mit Ubiquitin oder nach Aufnahme in
die Lysosomen (Autophagocytose).
50.2 Markierung für den Abbau
Schwerpunkte
Proteolyse ist ein regulierter Prozess,
4 Klassen von Proteasen
der durch bestimmte Signale ausgelöst wird
4 N-terminale Aminosäuren und die Halbwertszeit von
Der Auslöser von Proteolyse kann eine fehlerhafte Proteinkon-
Proteinen (N-end rule)
formation sein. Ein gut untersuchtes Beispiel hierzu sind fehl-
4 Proteasom
gefaltete Proteine des endoplasmatischen Retikulums, die einen
4 ERAD (ER-associated degradation)
spezifischen Abbauweg (ERAD, ER-associated degradation; s. u.)
4 Makro- und Mikroautophagocytose durch Lysosomen
in Gang setzen. Instabile Proteine mit kurzer Halbwertszeit
4 Chaperonvermittelte Autophagocytose durch Lysosomen
hingegen müssen andere Abbausignale besitzen, die man pau-
4 Intramembrane Proteolyse
schal als Degrons bezeichnet hat. Erkannt werden in eukaryon-
tischen Zellen fehlgefaltete Proteine und die Degrons letztlich
von den zahlreichen E3-Ubiquitinligasen (7 Abb. 49.7), die
50.1 Proteasen die Substratproteine durch Ubiquitinierung für den Abbau
markieren.
Proteine werden von Proteasen (synonym: Peptidasen) entwe-
der zu kurzen Peptiden und Aminosäuren abgebaut (7 Kap. 50.3 Die Halbwertszeit vieler Proteine wird von ihrer
und 50.4) oder nur an ganz gezielten Peptidbindungen gespal- N-terminalen Aminosäure bestimmt (N-end rule)
ten (limitierte Proteolyse; 7 Kap. 49.3.1). Proteasen erkennen Ein charakteristisches Degron bilden die N-terminalen Amino-
ihre Substrate über die Aminosäuresequenz in unmittelbarer säuren von Proteinen. Treten basische Aminosäuren (Arg, Lys,
Umgebung der zu spaltenden Peptidbindung. Je nach Lokalisa- His) oder große, hydrophobe Aminosäuren (Phe, Tyr, Trp, Leu,
tion dieser Peptidbindung spricht man von Endopeptidasen Ile) am N-Terminus eines eukaryontischen Proteins auf, werden
oder Exopeptidasen. Letztere können vom N-Terminus (Amino- sie als destabilisierende Aminosäuren von spezifischen E3-
peptidasen) oder vom C-Terminus (Carboxypeptidasen) her Ubiquitinligasen (N-Recogninen) erkannt, die Proteine werden
angreifen. polyubiquitiniert und vom Proteasom abgebaut (N-end rule).
Nach Art des Katalysemechanismus, d. h. der funktionellen Dies ist zunächst überraschend, weil alle Proteine ursprünglich
Gruppe des aktiven Zentrums, werden unterschieden: mit einem N-terminalen Methionylrest synthetisiert werden
4 Serinproteasen: Trypsin, Chymotrypsin (7 Kap. 61.1.3); (7 Kap. 48.2). Dieser wird zwar in vielen Fällen von Methionin-
Elastase (7 Kap. 61.1.3; 7 Kap. 70.2.2); Thrombin, Plasmin aminopeptidasen cotranslational wieder abgespalten ( 7 Kap.
(7 Kap. 69.1). Zum Katalysemechanismus s. 7 Kap. 7.5. 49.3.1), jedoch spaltet die Methioninaminopeptidase nur, wenn
4 Aspartatproteasen: Pepsin (7 Kap. 61.1.2) und Cathepsin D eine stabilisierende Aminosäure folgt. Destabilisierende N-Ter-
der Lysosomen (7 Kap. 53.4.1), die ihr Aktivitätsoptimum mini müssen demnach posttranslational hergestellt werden und
bei niedrigen pH-Werten haben; Renin (7 Kap. 65.4.3); HIV- zwar entweder durch endoproteolytische Spaltung eines Proteins
Protease, die das Gag-Polyprotein in die einzelnen Struk- oder durch Modifikationen der primären N-terminalen Amino-
turproteine des humanen Immundefizienzvirus (7 Kap. 9.3) säuren. So konnte gezeigt werden, dass stabilisierende Asn- und
spaltet. Gln-Reste durch Desamidierung in Asp und Glu überführt wer-
4 Cysteinproteasen: viele Cathepsine der Lysosomen; Cas- den und diese durch eine Arginyl-tRNA-Protein-Transferase
pasen, Cysteinproteasen, die C-terminal von Asp-Resten posttranslational mit Arg verlängert (konjugiert) werden. Bishe-
spalten (7 Kap. 51.2). rige Beispiele, bei denen solche Modifikationen nachgewiesen

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_50, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
630 Kapitel 50 · Proteine – Mechanismen ihres Abbaus

werden konnten, sprechen allerdings eher dafür, dass sie der


Proteolyse sehr spezifischer Proteine dienen.

50
50.3 Abbau durch das Proteasom

Der Ort, an dem die meisten zellulären Proteine


abgebaut werden, ist das cytosolische Proteasom
26S-Proteasom Das 26S-Proteasom ist ein Multiproteinkom-
plex von ca. 2,5 MDa (Größenbereich eines Ribosoms). Es be-
steht aus einem 20S-Kernkomplex, der proteolytisch aktiven
Komponente, und zwei 19S-regulatorischen Anteilen, die poly-
ubiquitinierte Substrate erkennen, entfalten und an die zentrale
Proteolyseeinheit weiterreichen, wo sie vollständig in kurze Pep-
tide zerlegt werden. 20S-Proteasomen können auch mit anderen
Aktivatoren assoziieren wie im Fall des Immunproteasoms
(7 Kap. 70.5.1).

20S-Proteasom Es hat eine zylinderförmige Struktur und be-


steht aus vier heptameren (siebengliedrigen) Ringen (. Abb.
50.1). Drei der Untereinheiten der identischen inneren β-Ringe
. Abb. 50.1 Modell eines Proteasoms. Die beiden β-Ringe sind asymme-
besitzen die proteolytischen Aktivitäten, und zwar eine trypti- trisch aufeinander gesetzt, sodass die zweite chymotryptische Aktivität in
sche, die nach basischen Aminosäuren spaltet, eine chymotryp- diesem Querschnitt nicht sichtbar ist. (Mit freundlicher Genehmigung von
tische, die nach hydrophoben Aminosäuren spaltet, und eine Wolfgang Hilt und Dieter H. Wolf )
caspaseähnliche, die nach sauren Aminosäuren spaltet. Bei allen
handelt es sich um Threoninpeptidasen (7 Kap. 50.1), die so po-
sitioniert sind, dass sie die Substrate im Innenraum des Zylinders Die Markierung fehlgefalteter Proteine im ER für den Abbau
spalten. Auf beiden Seiten bildet je ein α-Ring eine enge Ein- durch ERAD beginnt mit der Entfernung einzelner Mannose-
gangspore zum Reaktionsraum des Proteasoms. reste von der N-glycosidisch gebundenen Oligosaccharidseiten-
kette (7 Kap. 49.3.3). Die Abtrennung erfolgt dann durch spezifi-
19S-Proteasom Es besteht aus mindesten 19 Untereinheiten, von sche Mannosidasen, wenn ein neugebildetes Protein trotz wie-
denen neun eine Deckelstruktur und zehn die Basis bilden derholter Interaktion mit Calreticulin bzw. Calnexin (7 Kap.
(. Abb. 50.1). Sechs der Basisuntereinheiten bilden eine AAA+- 49.2.1) keinen stabilen Faltungszustand erlangen konnte. Die für
ATPase (7 Kap. 49.1.4), mit deren Hilfe die Pore des α-Rings ge- die Retrotranslokation in das Cytosol notwendige Entfaltung
öffnet und Substratproteine für den Eintritt in den Reaktions- wird von Proteindisulfidisomerasen und dem Hsp70-Chaperon
raum entfaltet werden. Andere Untereinheiten des 19S-Protea- BiP bewerkstelligt (7 Kap. 49.2.1). Sowohl die gestutzten Manno-
soms sind direkt oder durch Assoziation mit anderen Proteinen seseitenketten als auch hydrophobe Bereiche der entfalteten
an der Erkennung und Entfernung der Polyubiquitinkette der Polypeptidkette werden anschließend von Komponenten eines
Proteasomensubstrate beteiligt. Retrotranslokationskomplexes erkannt, der sehr wahrschein-
Synthetische, peptidähnliche Inhibitoren des Proteasoms lich unter Beteiligung des Sec61-Kanals den Transport aus dem
lösen in Leukämie- oder Lymphomzellen Apoptose aus und wer- ER in das Cytosol vermittelt. Während des Transportes beginnt
den deswegen zur Therapie solcher malignen Erkrankungen ein- eine E3-Ubiquitinligase (7 Abb. 49.7) des Retrotranslokations-
gesetzt. komplexes mit der Poly-Ubiquitinierung des ERAD-Substrates
auf der cytosolischen Seite der ER-Membran. Ein membran-
ERAD vermittelt die Retrotranslokation fehlgefalte- assoziierter AAA+-ATPase-Komplex (7 Kap. 49.1.4) zieht das
ter Proteine aus dem endoplasmatischen Retikulum Substrat aus der ER-Membran, welches mithilfe weiterer Chape-
in das Cytosol für den Abbau durch das Proteasom rone und Enzyme deglycosyliert und auf das Proteasom übertra-
Das ER ist der Ort, an dem sich alle sekretorischen und die mem- gen wird.
brangebundenen Proteine des Endomembransystems in eine sta- Prinzipiell auf dieselbe Art werden Membranproteine,
bile Raumstruktur falten. Was geschieht mit Proteinen, die keinen die wegen inkorrekter Faltung das ER nicht verlassen können,
stabilen Faltungszustand erreichen? Da das ER über keinen eige- über ERAD entsorgt. Prominentes Beispiel ist CFTR (cystic fibro-
nen Proteolyseapparat verfügt, müssen fehlgefaltete Proteine zum sis transmembrane conductance regulator), ein Chloridkanal
Abbau durch das Proteasom zurück in das Cytosol gebracht wer- (7 Kap. 61.3.4), dessen Defekt das Krankheitsbild der Mucovisci-
den (Retrotranslokation). Die gesamte molekulare Maschinerie, dose (engl. cystic fibrosis) hervorruft. Dabei verhindert eine De-
welche die Erkennung, Retrotranslokation, Ubiquitinierung und letion von Phe 508 die korrekte Faltung von CFTR, sodass das
Zielsteuerung solcher Proteine zum Proteasom bewerkstelligt, mutierte Protein über ERAD dem Abbau im Proteasom zuge-
wird als ERAD (ER-associated degradation) bezeichnet. führt wird.
50.5 · Intramembrane Proteolyse
631 50
phagocytose bedingte Ausdehnung der lysosomalen Membran
kompensiert (. Abb. 50.2). Die Zahl der Peroxisomen wird durch
Mikroautophagocytose reguliert.

Einzelne Proteine werden über


chaperonvermittelte Autophagocytose durch
die lysosomale Membran geschleust
Cytosolische Substratproteine dieser Art von Autophagocytose
besitzen ein dem Pentapeptid KFERQ verwandtes Sequenzmo-
. Abb. 50.2 Makroautophagocytose (Einzelheiten s. Text) tiv, das von dem cytosolischen Hsp70-Chaperon Hsc70 erkannt
wird. Der Komplex aus Substrat und Hsc70 wird dann an ein
einspänniges, Lysosomen-assoziiertes Membranprotein (LAMP-
50.4 Lysosomale Proteolyse 2A) gebunden. Dieses organisiert sich mit anderen Proteinen
und mithilfe lysosomaler Hsp70- und Hsp90-Chaperone zu
Lysosomen sind v. a. für den Abbau von Proteinaggregaten und einem großen Translokationskomplex, der das entfaltete Substrat
ganzen Organellen zuständig. Darüber hinaus sind sie die End- in die Lysosomen transportiert, wo es von den lysosomalen Pro-
strecke für Proteinkomplexe, die über rezeptorvermittelte Endo- teasen zerlegt wird.
cytose oder Phagocytose in die Zelle aufgenommen wurden, wie
z. B. Lipoproteinpartikel oder Antigenstrukturen (7 Kap. 12.1.5).
Der lysosomale Verdau von intrazellulären Komponenten wird 50.5 Intramembrane Proteolyse
als Autophagocytose (engl. autophagy) bezeichnet. Man unter-
scheidet Makroautophagocytose, Mikroautophagocytose und Bei dieser Form der limitierten Proteolyse werden Peptidbindun-
chaperonvermittelte Autophagocytose. Neben der Entfernung gen innerhalb einer Transmembranhelix von Membranpro-
von defektem oder überflüssigem Zellmaterial dient die Auto- teinen gespalten. Drei Gruppen von intramembran-spaltenden
phagocytose v. a. der Anpassung an Hungerzustände im Sinne Proteasen (I-CliPs; intramembrane cleaving proteases) sind be-
der Bereitstellung von Substraten für den Energiestoffwechsel schrieben worden:
(7 Kap. 62.2.2). Einzelne, ausgewählte Proteine werden im Pro- 4 S2Ps (site 2 proteases) katalysieren einen zweiten Proteo-
teasom abgebaut oder nach chaperonvermittelter Autophagocy- lyseschritt an Membranproteinen, durch den Tran-
tose im Lysosom. Mikro- und Makroautophagocytose sind hin- skriptionsfaktordomänen für ihre Aktivität im Zellkern
gegen Massenprozesse, bei denen große Mengen von cytosoli- freigesetzt werden. Beispiele sind die Aktivierung von
schem Material gleichzeitig zum Abbau in die Lysosomen trans- SREBPs (sterol regulatory element binding proteins) für
portiert werden. die Stimulierung der Cholesterinsynthese (7 Kap. 23.3;
Es gibt zunehmend experimentelle Hinweise, dass neurode- 7 Abb. 23.8) oder von ATF 6 für den unfolded protein
generative Erkrankungen, die durch die Ablagerung unlöslicher reponse (7 Kap. 49.2.1). S2Ps sind zinkhaltige Metallo-
Proteinaggregate charakterisiert sind, wie M. Alzheimer, M. Par- proteasen.
kinson und M. Huntington, mit einem Defekt autophagischer 4 Präsenilin und Signalpeptidpeptidase; Präsenilin ist die
Prozesse assoziiert sind. Ebenso ist eine beeinträchtigte zelluläre katalytische Untereinheit des γ-Sekretasekomplexes, der an
Proteolyse eine typisches Phänomen alternder Organismen. der Bildung von β-Amyloid bei der Pathogenese des
M. Alzheimer beteiligt ist (7 Abb. 74.19). Signalpeptid-
Durch Makroautophagocytose werden peptidasen spalten die von der Signalpeptidase abgetrenn-
Bestandteile des Cytoplasmas vesikulär ten Signalpeptide sekretorischer Proteine in der ER-Mem-
in Lysosomen transportiert bran (7 Kap. 49.2.1). Diese I-CliPs gehören zur Gruppe der
Die auszusondernden Zellbestandteile werden im Cytosol von Aspartatproteasen.
Membranzisternen isoliert (. Abb. 50.2), die sehr wahrscheinlich 4 Rhomboid-Protease setzt im Golgi-Apparat einen Ligan-
vom ER bzw. dem Endomembransystem (7 Kap. 12.1) stammen den für den Rezeptor des epidermalen Wachstumsfaktors
und die sich mithilfe einer Vielzahl von ATG-Proteinen (auto- frei. Homologe dieser Serinprotease finden sich in allen
phagy related) um das für die Lysosomen bestimmte Material Zellen.
herum zu einem geschlossenen Doppelmembranvesikel schlie-
ßen (Autophagosom). Nach Fusion mit einem Lysosom werden
die innere Membran und der Inhalt des Autophagosoms verdaut. Zusammenfassung
Proteine haben unterschiedliche Halbwertszeiten; ihr Ab-
Mikroautophagocytose ist die Aufnahme bau wird durch Proteasen katalysiert. Ausgelöst wird Proteo-
cytosolischer Bestandteile durch Invagination lyse durch fehlerhafte Proteinkonformationen und durch de-
der Lysosomenmembran stabilisierende Aminosäuren am N-Terminus eines Proteins
Die Einstülpungen der Lysosomenmembran werden abge- (N-end rule).
schnürt und die Membran und der Inhalt der Vesikel intralyso- 6
somal verdaut. Auf diese Weise wird auch die durch Makroauto-
632 Kapitel 50 · Proteine – Mechanismen ihres Abbaus

Intrazellulär abgebaut werden Proteine entweder durch


einen cytosolischen Multienzymkomplex, dem Proteasom
50 oder durch Cathepsine in den Lysosomen.
Für die Proteolyse im Proteasom werden Proteine durch
eine Poly-Ubiquitinkette markiert. Fehlgefaltete Proteine
des ER werden für den Abbau im Proteasom durch einen
komplexen molekularen Apparat (ERAD) ins Cytosol retro-
transloziert.
Über Autophagocytose gelangen Proteine in Lysosomen.
Einzelne Proteine werden über chaperonvermittelte Auto-
phagocytose aufgenommen, Proteinaggregate und ganze
cytosolische Bereiche bis hin zu Organellen über Mikro-
bzw. Makroautophagocytose.
Intramembrane Proteolyse ist die limitierte Proteolyse
spezifischer Membranproteine.

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633 51

51 Apoptose – Der programmierte Zelltod


Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Jan Brix

Einleitung

Geschädigte oder nicht mehr benötigte Zellen müssen eliminiert


werden. Hierbei spielt die Apoptose, der programmierte Zelltod, eine
wichtige Rolle. Die Apopotose kann durch zwei Signalwege ausgelöst
werden, die beide zur Aktivierung Apoptose-spezifischer Proteasen, den
Caspasen, führen. Eine verstärkte Apoptose findet man bei vielen neu-
rodegenerativen Erkrankungen, während eine Hemmung der Apoptose
bei Tumorerkrankungen beobachtet wird.

Schwerpunkte

4 Ziel der Apoptose ist das kontrollierte Absterben einer Zelle


4 Über die Aktivierung von Todesrezeptoren löst der extrinsi-
sche Weg die Apoptose aus
4 Bei dem intrinsischen Weg werden nach Schädigung von
Mitochondrien proapoptotische Faktoren wie Cytochrom c
freigesetzt

Bei vielzelligen Organismen unterliegt die Zellzahl in einzel-


nen Organen einer genauen Regulation. Diese erfolgt nicht nur
über eine Steuerung der Zellteilung, sondern auch über die
Eliminierung nicht mehr benötigter oder überschüssiger Zel- . Abb. 51.1 Zelluläre Vorgänge bei Apoptose und Nekrose. (Einzelheiten
len. Diesem Vorgang liegt ein in jeder Zelle vorhandenes »To- s. Text)
desprogramm« zugrunde, das als programmierter Zelltod
oder Apoptose (griech. »Laubfall«) bezeichnet wird. Die Apop-
tose ist morphologisch dadurch charakterisiert, dass nur indi- tems. Alle diese Vorgänge machen die Apoptose klar unter-
viduelle Zellen in einem sonst gesunden Organ zugrunde ge- scheidbar von der Zellnekrose, die mit einer Zellschwellung
hen. Sie tritt in sich entwickelnden, aber auch in differenzierten und einem Verlust der Membranintegrität, aber erst spät mit
Geweben auf. So sterben viele Nervenzellen bereits kurz nach einem Abbau der DNA einhergeht. Im Fall der Zellnekrose wer-
ihrer Entstehung wieder ab. Im wachsenden Nervensystem passt den entzündliche und immunologische Reaktionen ausgelöst
die Apoptose die Zahl der Nervenzellen an die Zahl der ver- (. Abb. 51.1).
schiedenen zu innervierenden Zielzellen an. Im gesunden Er-
wachsenen sterben ständig Zellen ab, z. B. in Geweben mit ho-
hen Proliferationsraten wie Knochenmark oder Darmepithel. 51.1 Auslöser der Apoptose
Damit wird die Zahl der Zellen innerhalb eines Organs konstant
gehalten und erreicht, dass Gewebe nicht wachsen oder Apoptose wird durch intrazelluläre Proteolyse-
schrumpfen. reaktionen vermittelt
Im Unterschied zur Nekrose beginnt die Apoptose mit ei- Die intrazelluläre Signaltransduktion und die Auslösung der zur
ner Kondensation des Chromatins, die zu einer Schrumpfung Apoptose führenden zellulären Veränderungen werden durch
des Zellkerns führt (. Abb. 51.1). Es folgen eine Blasenbildung eine Familie von proteolytischen Enzymen katalysiert, die als
der Plasmamembran (blebbing), eine Fragmentierung des Caspasen bezeichnet werden. Inzwischen wurden beim Men-
Zellkerns und schließlich eine Fragmentierung der gesamten schen mehr als 10 Mitglieder dieser Familie identifiziert. Es han-
Zelle in apoptotische Partikel. Diese werden von benachbarten delt sich um Cysteinyl-Aspartyl-Proteasen, die im aktiven Zent-
Makrophagen und Granulocyten durch Phagocytose (7 Kap. 12) rum einen Cysteinylrest enthalten und ihre Proteinsubstrate
aufgenommen und abgebaut. Deshalb kommt es zu keiner hinter Aspartylresten (Asp-Xaa) spalten. Viele Caspasen liegen
Entzündungsreaktion und keiner Aktivierung des Immunsys- intrazellulär als enzymatisch inaktive Procaspasen vor. Ihre Ak-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_51, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
634 Kapitel 51 · Apoptose – Der programmierte Zelltod

51

. Abb. 51.2 Der rezeptorabhängige (extrinsische) Signalweg der Apoptose. (Einzelheiten s. Text)

tivierung erfolgt durch limitierte Proteolyse und in einigen Fäl- scher Weg) erfolgen. Eine Besonderheit der Initiatorcaspa-
len zusätzlich auch durch Dimerisierung und Multimerisierung, sen ist, dass sie nach Bindung an multimere Adapterprote-
die durch Bindung an Adapterproteine vermittelt wird. inkomplexe Procaspase-Dimere bilden, die bereits ohne
Man unterscheidet zwei Gruppen von Apoptose-auslösen- weitere proteolytische Prozessierung enzymatisch aktiv
den Caspasen: sind. Die Bindung der Initiatorprocaspasen an die multime-
4 Initiatorcaspasen. Hierzu zählen die Caspasen-2, -8, -9 ren Adapterproteinkomplexe erfolgt mit Hilfe von Protein-
und -10, die mit Hilfe extrazellulärer Faktoren (extrinsi- Protein-Interaktionsdomänen in der Prodomäne der Initia-
scher Weg), z. B. Tumornekrosefaktor (TNF, s. 7 Kap. 35.5) torcaspasen.
oder dem Fas-Liganden (FasL, auch CD95L genannt) akti- 4 Effektorcaspasen (executor caspases). Hierzu gehören die
viert werden (. Abb. 51.2). FasL ist ein homotrimeres Caspasen-3, -6 und -7. Sie werden von Initiatorcaspasen
Transmembranprotein, welches nach Bindung an den Fas- und einigen anderen zellulären Proteasen ausschließlich
Rezeptor (FasR, CD95) diesen trimerisiert und über eine durch limitierte Proteolyse aktiviert.
Signalkaskade (s. u.) die Apoptose der Zielzelle auslöst.
Neben dem membrangebundenen FasL existiert auch eine Neben Initiator- und Effektorcaspasen gibt es noch die proin-
lösliche Form von FasL, die durch limitierte Proteolyse flammatorischen Caspasen (z. B. Caspase-1, -5 und -11), die
(Matrixmetalloproteinase 7) ensteht. Eine Aktivierung der u. a. für die Prozessierung der Cytokine IL-1β und IL-18 verant-
Initiatorcaspasen kann aber auch durch intrazelluläre Me- wortlich (Caspase-1 = interleukin-1-converting enzyme, ICE) und
chanismen unter Beteiligung von Mitochondrien (intrinsi- nicht direkt an der Apoptose beteiligt sind.

Pro-Caspase-8 Pro-Caspase-8 Tetramer Caspase-8 Tetramer Aktivierung Effektor-Caspasen


51.1 · Auslöser der Apoptose
635 51
Die Apoptose kann durch zwei unterschiedliche Signalwege Mitochondrienmembran ins Cytoplasma, so z. B. von Cyto-
induziert werden: chrom c 3 und Smac (second mitochondria-derived activa-
4 via extrinsischem = rezeptorabhängigem Signalweg oder tor of caspases) 9 .
4 via intrinsischem = mitochondrienabhängigem Signalweg. 4 Cytochrom c, welches normalerweise Elektronen in der
Atmungskette überträgt, bindet im Cytoplasma an ein als
Der extrinsische Apoptosesignalweg wird Apaf-1 (apoptotic protease activating factor-1) bezeichnetes
durch extrazelluläre Mediatoren induziert Protein 4 .
Hier wird die Apoptose durch extrazelluläre Signale rezeptorver- 4 Diese Interaktion führt zur Hydrolyse von dATP durch
mittelt induziert. So bindet z. B. der membrangebundene Fas-Li- Apaf-1, was eine Oligomerisierung von Cytochrom c/Apaf-
gand oder der Tumornekrosefaktor (TNF) an den Fas-Rezeptor 1-Komplexen zu einem scheibenförmigen Heptamer, dem
(FasR, CD95) bzw. an den TNF-Rezeptor-1 (TNFR-1), die beide Apoptosom 5 , auslöst.
zu den sog. Todesrezeptoren gehören (. Abb. 51.2). Die Todes- 4 In der Folge rekrutieren die Apaf-1-Untereinheiten des
rezeptoren bilden eine Untergruppe der Superfamilie der Tumor- Apoptosoms die Initiatorprocaspase-9 6 .
nekrosefaktor-Rezeptoren und zeichnen sich dadurch aus, dass sie 4 Analog zu dem oben beschriebenen Vorgang der DISC-
intrazellulär eine konservierte Protein-Protein-Interaktionsdomä- assoziierten Aktivierung der Procaspase-8 durch induced
ne besitzen, die für die Apoptose-Induktion essentiell ist und ent- proximity, kommt es im Apoptosom über Caspase-9-Dime-
sprechend als Todesdomäne (death domain, DD) bezeichnet wird re zur Bildung von enzymatisch aktiven Caspase-9-Hetero-
(. Abb. 51.2). Nach Bindung ihrer Liganden rekrutieren die To- tetrameren 7 , die wiederum die Effektorcaspasen-3, -6
desrezeptoren mittels ihrer Todesdomäne das Adapterprotein und -7 wie im extrinsischen Apoptosesignalweg beschrie-
FADD (Fas associated death domain containing protein), das eben- ben prozessieren und aktivieren können 8 .
falls eine Todesdomäne besitzt. Procaspase-8-Moleküle binden 4 Ein weiteres wichtiges proapoptotisches Molekül, das aus
dann mit ihrer Prodomäne, die aus zwei als death effector domain Mitochondrien freigesetzt wird, ist Smac 9 .
(DED) bezeichneten Protein-Protein-Interaktionsdomänen be- 4 Smac bindet und blockiert Proteine der IAP-(inhibitor
steht, an eine entsprechende DED in FADD. Der entstandene Mul- of apoptosis)-Familie 10 , welche Caspase-9 und Caspase-3
tiproteinkomplex enthält aufgrund der trimeren Organisation von inhibieren. Es potenziert somit die caspaseaktivierende
Fas-Liganden und Todesrezeptoren mehrere FADD und Procas- Wirkung von Cytochrom c.
pase-8-Moleküle und wird als DISC (death-inducing signaling com-
plex) bezeichnet. Die durch die DISC-Bildung hervorgerufene Die Freisetzung von Cytochrom c und anderen proapoptoti-
enge Nachbarschaft von zwei Procaspase-8-Molekülen (induced schen Molekülen aus den Mitochondrien als Folge einer zellulä-
proximity) fördert deren Zusammenlagerung zu DISC-assoziier- ren Schädigung wird von zahlreichen Faktoren ausgelöst und
ten, enzymatisch aktiven Procaspase-8-Dimeren. Diese durchlau- unterliegt einer sehr genauen Regulation. In ihrem Zentrum
fen nun eine autokatalytische zweistufige Reifung, die zur Freiset- steht eine Reihe von Proteinen aus der Bcl-2 (B-cell lymphoma-2)-
zung von heterotetrameren aktiven Caspase-8-Molekülen aus dem Familie, die sich in proapoptotische und antiapoptotische Fakto-
DISC führt. Zunächst wird der C-Terminus (p12-Untereinheit, ren einteilen lassen: Proapoptotische Bcl-2-Proteine sind Bax
lila) abgespalten, der an das verbleibende DISC-assoziierte Caspa- (Bcl-2 associated X protein) und Bak (Bcl-2 homologous antago-
se-8-Intermediat bindet. Anschließend führt eine weitere limitier- nist killer), die als Bax/Bak-Heterodimer vorliegen. In aktiver
te Proteolyse zur Abspaltung der FADD-gebundenen N-termina- Form bilden diese eine Pore in der äußeren Mitochondrienmem-
len Prodomäne (grün) unter Bildung der zweiten Untereinheit bran, durch die die proapoptotischen Moleküle das Mitochond-
(p20, orange) zur reifen Caspase-8. Die aktive heterotetramere rium verlassen können. Bcl-2 und andere antiapoptotische Mit-
Caspase-8 geht also aus zwei Procaspase-8-Molekülen hervor. glieder der Bcl-2-Familie (z. B. Bcl-XL, Mcl-1, Bfl-1) vermögen
Caspase-8 vermag die Effektorprocaspasen-3, -6 und -7 durch li- nun an Bax und Bak zu binden und hindern diese so an der Po-
mitierte Proteolyse zu spalten und so zu aktivieren. Die aktivierten renbildung in der äußeren Mitochondrienmembran. Proapopto-
Effektorcaspasen zerstören dann lebenswichtige zelluläre Proteine, tische Mitglieder der Bcl-2-Familie, die selbst keine Poren in der
wie z. B. das Retinoblastomprotein (pRb) (7 Kap. 43.3, 7 Abb. 43.8), äußeren Mitochondrienmembran bilden können, wirken wiede-
Actin, Lamin, Proteinkinasen u. a. (. Tab. 51.1) und führen somit rum indirekt dadurch, dass sie die antiapoptotischen Bcl-2-Pro-
die Zellen in den Tod. teine sequestrieren und so die Anzahl freier »apoptotisch«-akti-
ver Bax und Bak Moleküle erhöhen.
Caspasen können auch über einen intrinsischen Die Regulation der Aktivität von Bax/Bak ist besonders für
Weg aktiviert werden drei solcher proapoptotischen Faktoren, Bid (BH3 interacting
Beim intrinsischen Weg (. Abb. 51.3) spielen Mitochondrien domain death agonist), Bad (Bcl-2 antagonist of cell death) und
eine wichtige Rolle: Bim (BH3 interacting motif) gut aufgeklärt:
4 Nach DNA-Schädigung, oxidativem Stress durch reaktive 4 Bim ist mit dem Cytoskelett assoziiert und wird bei dessen
Sauerstoffspezies (ROS) oder viraler Infektion 1 kommt es Schädigung freigesetzt. Nun kann es mit Bcl-2 und Bcl-XL
zu einem Anstieg der Permeabilität der äußeren (in . Abb. 51.3 nicht gezeigt) interagieren und so Bax und
Mitochondrienmembran 2 . Bak von deren inhibitorischer Wirkung befreien. Weiterhin
4 Dies führt zur Freisetzung verschiedener proapoptotischer kann ER-Stress, der durch fehlgefaltete Proteine oder Che-
Proteine aus dem Raum zwischen innerer und äußerer motherapeutika induziert wird, die proapoptotisch wirksa-
636 Kapitel 51 · Apoptose – Der programmierte Zelltod

51

. Abb. 51.3 Der mitochondriale (intrinsische) Signalweg der Apoptose. Die in der Abb. links oben dargestellte aktivierte Caspase-8 stammt aus dem
extrinsischen Signalweg (s. . Abb. 51.2). (Einzelheiten s. Text)

men Konzentrationen an freiem Bim erhöhen. Das beruht doch in der Lage, mit Bcl-2 und Bcl-XL zu assoziieren und
zum einen darauf, dass Proteinphosphatase-2A (PP-2A) diese an der Inhibition von Bax und Bak zu hindern. Da
aktiviert wird, welche Bim dephosphoryliert und so dessen PKB durch Wachstumsfaktoren aktiviert wird (7 Kap. 34,
proteasomale Degradation reduziert und zum anderen dar- 35), erklärt dies die antiapoptotische Wirkung von Wachs-
auf, dass die Transkription des Bim-Gens erhöht wird. tumsfaktoren.
4 Bad wird durch die Proteinkinase B (PKB) phosphoryliert, 4 Bid ist von besonderer Bedeutung. Es wird durch die im
anschließend von dem Adaptorprotein 14-3-3 gebunden extrinsischen Signalweg aktivierte Caspase-8 (. Abb. 51.2)
und damit inaktiviert. Liegt Bad jedoch wegen fehlender proteolytisch gespalten. Das dabei entstehende Fragment
PKB-Aktivität in dephosphorylierter Form vor, kann es tBid (truncated bid) neutralisiert die Wirkung von Bcl-2
zwar nicht mehr mit 14-3-3-Proteinen interagieren, ist je- und Bcl-XL und stimuliert somit die Bax/Bak-vermittelte
51.3 · Kontrolle der Apoptose
637 51
Porenbildung und die Freisetzung von Cytochrom c und
Smac. Dieser Mechanismus stellt eine Verbindung zwischen . Tab. 51.1 Wirkungen und Substrate von Effektorcaspasen
dem extrinsischen und dem intrinsischen Apoptoseweg dar.
Prozesse Betroffene Proteine Siehe
Kapitel
Einige Mitglieder der Bcl-2-Familie wirken antiapoptotisch. Zu
ihnen gehört vor allem das eigentliche Bcl-2 und das verwandte Cytoskelett/Membran- Actin 13
Bcl-XL. Die Balance zwischen pro- und antiapoptotisch wirken- stabilität Lamine
Gelsolin
den Proteinen bestimmt letztlich das Schicksal einer Zelle.
membrane blebbing Rho-associated coiled-coil 51
containing protein kinase 1
(Rock1)
51.2 Effektorcaspasen
DNA-Fragmentierung DNase-Inhibitor (ICAD) 51
Effektorcaspasen bauen lebenswichtige Zellzyklus, DNA-Repli- Retinoblastomprotein (Rb) 43, 44.
zelluläre Proteine ab kation und DNA- Mdm2 45
Die Effektorcaspasen-3, -6, -7 bauen lebenswichtige zelluläre Reparatur Poly(ADP)Ribose-Polymerase
Proteine ab und führen somit zum programmierten Zelltod. Transkription und p53 43, 46,
. Tab. 51.1 zeigt eine Auswahl wichtiger Proteinsubstrate der Ef- posttranskriptionelle small nuclear ribonucleoprotein 47
fektorcaspasen. So steht z. B. die Spaltung der Strukturproteine Prozessierung (snRNP)
U1-70kD
β-Actin und Lamin im direkten Zusammenhang mit dem Abbau
heterogenous nuclear ribonu-
der Actinfilamente des Cytoskeletts und der Kernlamina. Die cleoprotein (hnRNP)
Prozessierung von Rock1 (Rho-associated coiled-coil containing
Signaltransduktion Tyrosinkinasen 33, 34,
protein kinase 1) führt zur Aktivierung dieser Kinase und dem
Serin/Threoninkinasen 35
für die Apoptose typischen membrane-blebbing (Blasenbildung focal adhesion kinase (FAK)
der Membran, . Abb. 51.1). Der proteolytische Abbau des Inhi- Proteinkinase Cδ (PKCδ)
bitors der Caspase-aktivierten DNase (ICAD) durch die Effektor- MEKK-1
caspasen resultiert in der Aktivierung der DNase und führt ICAD: inhibitor of caspase-activated DNAse; Mdm2: mouse double
schließlich zwischen den Nucleosomen zur Spaltung chromoso- minute protein 2; MEKK: mitogen-activated extracellular signal acti-
maler DNA. Die entstandenen DNA-Fragmente (DNA-»Leiter«) vated kinase kinase kinase.
sind in einer Agarosegelelektrophorese sichtbar und typisch für
apoptotische Zellen. Zusätzlich werden Proteine proteolytisch
abgebaut, die für die DNA-Replikation, die Transkription und
für wichtige Signaltransduktionskaskaden essentiell sind.
Zusammenfassung
Die Apoptose dient der gezielten Eliminierung von Zellen in
51.3 Kontrolle der Apoptose einem multizellulären Organismus. Sie wird durch eine Fami-
lie von proteolytischen Enzymen, den Caspasen, ausgelöst.
Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Verknüpfung der Die Aktivierung der Caspasen erfolgt entweder über einen
Apoptose mit dem Zellzyklus. Der Tumorsuppressor p53 bewirkt extrinsischen Weg (vermittelt über Oberflächenrezeptoren)
nach DNA-Schädigung einen Arrest der Zellen in der G1-Phase oder über einen intrinsischen Weg. Bei Letzterem spielen aus
des Zellzyklus. Damit gewinnt die Zelle Zeit, den DNA-Schaden Mitochrondrien freigesetzte proapoptotische Moleküle ins-
zu beheben. Ist die Zellschädigung zu umfangreich oder nicht besondere Cytochrom c und Smac eine wichtige Rolle. Die
reparabel, induziert p53 neben dem Cyclininhibitor p21 (7 Abb. Freisetzung dieser Moleküle wird durch Proteine der Bcl-2-
43.8) auch die Expression verschiedener Proteine, welche die Ak- Familie reguliert, von denen es pro- und antiapoptotisch
tivierung des intrinsischen und extrinsischen Signalwegs der wirksame Mitglieder gibt. Der gemeinsame Endpunkt beider
Apoptose bewirken oder erleichtern, z. B. von Bax und Fas. Für Wege ist die Aktivierung von Effektorcaspasen, die lebens-
den Gesamtorganismus ist es eher von Vorteil, eine Zelle mit wichtige Zielproteine proteolytisch zerstören und so zum
DNA-Schäden durch programmierten Zelltod zu verlieren, als Zelltod führen.
DNA-Schäden im Zuge der Zellteilung an Tochterzellen weiter-
zugeben.
Bei manchen neurodegenerativen Erkrankungen wie Mor- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
bus Alzheimer, Morbus Parkinson und der Huntington-Chorea
wird eine verstärkte Apoptose beobachtet. Umgekehrt ist die
Entstehung von Tumoren wie beim multiplen Myelom häufig die
Folge einer gehemmten Apoptose. Eine gestörte Apoptose wird
auch als Ursache für die Entstehung der Autoimmunerkrankung
des SLE (systemischer Lupus erythematodes) diskutiert.
52 Grundlagen der Tumorentstehung
Burkhard Brandt, Petro E. Petrides

52
Einleitung 52.1 Krebsepidemiologie

Die morphologische Definition eines malignen Tumors als Ansamm- Patienten mit Karzinomen verschiedener Organe
lung von Zellen, die keine Kontaktinhibition zeigen, invasiv über Basal- haben sehr unterschiedliche
membranen hinweg wachsen und in entfernten Organen Tochterge- Überlebenswahrscheinlichkeiten
schwülste (Metastasen) bilden können, ist seit mehr als 100 Jahren Der Begriff Krebs (Malignom) steht in der Medizin für eine
diagnostisch relevant. Unser heutiges Verständnis der Tumorentstehung »bösartige« (maligne) Gewebsneubildung (Neoplasie) und
geht über diesen phänomenologischen Erklärungsansatz durch die grenzt diese von dem allgemeineren Begriff Geschwulst (Tu-
Entschlüsselung zu Grunde liegender molekularer Mechanismen weit mor) ab, der jede Form der Gewebeproliferation (Hyperplasie),
hinaus. Dass Krebs eine genetische Erkrankung ist, ist nicht neu, aber z. B. im Rahmen einer Entzündung, beschreibt. Krebs ist mit ca.
unter Einsatz von Technologien für die umfassende Analyse von DNA, 210.000 Todesfällen pro Jahr die zweithäufigste Todesursache in
RNA und Proteinen und ihrer Modifikationen sind die Konsequenzen Deutschland. Dabei sind die meisten Todesfälle auf bösartige
dieser Prämisse in ihrer Fein- und Netzwerkstruktur weiter ausgeleuch- Tumoren in den Organen Lunge, weibliche Brustdrüse, Darm,
tet worden. Prostatadrüse, Magen und Eierstöcke zurückzuführen (. Abb.
In diesem Kapitel werden genomische und epigenetische Schlüssel- 52.1). Diese sog. »soliden« Tumoren, Karzinome, entstehen aus
aberrationen vorgestellt, die in Form z. B. von chromosomalen Deletio- Epithelzellen der genannten Organe, somit aus der Zellschicht
nen oder Amplifikationen sowie als Gendosisveränderung das mRNA- einer äußeren Oberfläche und bleiben lange ohne Symptome.
Expressionsmuster der Zelle erheblich beeinflussen. Dabei werden: Sie haben dann oftmals eine schwer oder inoperable Größe er-
4 mRNA-Moleküle und Proteine von Onkogenen überexprimiert reicht, verbunden mit lokoregionärer oder sogar systemischer
oder letztere durch Mutation aktiviert, Ausbreitung. Obwohl diese Voraussetzungen für alle der ge-
4 Tumorsuppressorgene supprimiert oder funktionell inaktiviert und nannten Karzinome gleich sind, zeigt die Statistik ein sehr un-
4 Mutatorgene (mismatch-repair-Gene) durch Mutation inaktiviert. terschiedliches Mortalitätsrisiko der Karzinome unterschiedli-
In der Konsequenz erhält die Tumorzelle ein verändertes Signaltransduk- cher Organe. Dem Lungenkarzinom mit einer 5-Jahres-Überle-
tionsmuster und Zellzyklus-, Apoptose- und Invasionskontrollmecha- benswahrscheinlichkeit von ca. 15 % steht z. B. das Mammakar-
nismen werden aus- oder umgeschaltet und Mutationen weiter akku- zinom mit einer von ca. 80 % gegenüber (. Abb. 52.1). Dies lässt
muliert. Wichtig sind hier besonders sich einerseits auf eine bessere Selbstkontrolle und Diagnostik
4 onkogene Rezeptormoleküle (epidermal growth factor receptor, bei den Patientinnen mit Mammakarzinom zurückführen, be-
EGFR; human EGF receptor 2 + 3, HER2 + HER3), ruht aber andererseits auch auf unterschiedlichen genetischen
4 Proteinkinasen (src; Phosphatidylinositol-3-kinase) und biochemischen Eigenschaften der Zellen, aus denen der
4 Transkriptionsfaktoren (Östrogenrezeptor, ER; c-myc) Tumor hervorgeht. Wesentliche Eigenschaften der Tumorzellen
4 inaktive Protein- bzw. DNA-Bindungsproteine (p53; Retinoblas- sind hier vor allem:
tom1, RB1), die auch zur Aktivierung von Signalwegen der Zell- 4 der hohe Anteil an mitotischen Zellen und ihre erhöhte
migration beitragen, was besonders wichtig für die Bildung von Wachstumsgeschwindigkeit (Proliferation, 7 Kap. 43),
Metastasen ist. 4 die Resistenz gegenüber Todessignalen (Apoptose,
7 Kap. 51),
Schwerpunkte 4 die Fähigkeit unter veränderten Wachstumsbedingungen
wie z. B. Hypoxie, Acidität und Hyperglykämie zu überle-
4 Numerische und strukturelle Chromosomenaberrationen
ben oder gar zu proliferieren (stress-response) und
und als Konsequenz Genfusionen, Genamplifikationen
4 die Induktion von Zellmigration.
und -deletionen
4 DNA-Methylierung und Transkriptionskontrolle
Ein wichtiger mittelbarer Einfluss von Peptidfaktoren ist die In-
4 Beschreibung dominanter onkogener Tyrosinkinase-
duktion neuer Gefäße, die den Tumor mit Blut versorgen (Neo-
Signalwege, ihre zellbiologische Konsequenz und Therapie-
angiogenese). Diese Faktoren sind auch entscheidend für die
relevanz
Therapierbarkeit eines Karzinoms und haben darüber Einfluss
4 Zellzykluskontrolle und die Suppressorgene RB1 und p53
auf die Mortalität.
4 mismatch-repair-Enzyme und die Akkumulation von
Mutationen

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_52, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
52.2 · Molekulare Parameter der Malignität von Tumorzellen
639 52
geht mit einer starken Vermehrung der Granulocyten und ihrer
Vorstufen im peripheren Blut und im Knochenmark einher und
ist in der Anfangsphase häufig symptomlos. Zytogenetisch wird
eine balancierte Translokation zwischen den Chromosomen 9
und 22 (t(9;22)(q34;q11), oder kurz t(9;22) in den meisten Fäl-
len gefunden. Der Chromosomenbruch erfolgt auf beiden
Chromosomen, auf Chromosom 9 im Bereich des abl1-Gens
und auf Chromosom 22 im Bereich des bcr-Gens (breakpoint
cluster region). Die Exone 2 bis 11 des abl1 werden auf Chromo-
som 22 in die major breakpoint cluster region (M-bcr) translo-
ziert. Dabei entsteht das Fusionsgen bcr-abl. Das abl-Gen co-
diert für eine Tyrosinkinase (7 Kap. 33), die eine wichtige Rolle
bei der zellulären Wachstumsregulation spielt. Die Expression
des Fusiongens bcr-abl führt zu einem chimären BCR-ABL-
Protein, dessen verkürzte ABL-Tyrosinkinase permanent akti-
viert ist. Dies steigert die unkontrollierte Proliferation der be-
troffenen Zellen und vermindert ihre Apoptose. Sie werden
dadurch zur Tumorzelle, weshalb das Fusionsgen auch als On-
kogen (7 Kap. 52.5.1) bezeichnet wird. Die Aufklärung dieses
Mechnismus führte zur Entwicklung des Wirkstoffs Imatinib,
eines Tyrosinkinaseinhibitors (TKI), der speziell die BCR-ABL-
Tyrosinkinase kompetitiv hemmt, indem er an das aktive Zent-
. Abb. 52.1 Absolute Inzidenz- und Mortalitätszahlen maligner Erkran-
rum des Enzyms bindet (. Abb. 52.2). Dadurch wird die un-
kungen bei Männern und Frauen in der Gegenüberstellung repräsentativ kontrollierte Proliferation der CML-Zellen gehemmt und ihre
am Beispiel Nordrhein-Westfalen. NH, Non-Hodgkin. (Daten aus Krebs- Apoptose induziert. Die Therapie mit Tyrosinkinaseinhibitoren
register.nrw) ist heute aufgrund ihrer hohen klinischen Remissionsraten zur
Standardtherapie der CML geworden.
Die CML entsteht aus einer hämatopoetischen Stammzelle.
Zusammenfassung Ihre Fähigkeit zur Selbsterneuerung und zur Regeneration der
Die großen Unterschiede in der Mortalitätsrate von Karzino- Granulocytenpopulation des Blutes wurde in der Tumorzelle
men ist auf die Organlokalisation zurückzuführen, aufgrund konserviert. Inwieweit die Bildung und Ausbreitung von Karzi-
derer anfänglich Symptome ausbleiben und die Karzinome nomen auch von sog. Krebsstammzellen abhängig ist, ist nach
erst in fortgeschrittenen Stadien erkannt werden. Daneben wie vor umstritten. Zweifelsohne gibt es auch bei den Karzino-
bestimmt aber die Tumorbiologie die Prognose und Thera- men Zellen, die die oben beschriebenen Stammzelleigenschaften
pierbarkeit eines Karzinoms messbar z. B. in der Proliferations- haben, unendlich teilungsfähig sind und einen Tumor oder eine
und Apoptoserate, Stressanpassung und der Zellmigration. Metastase komplett regenerieren können. Aber es ist bislang
nicht klar, ob sie diese Eigenschaften aus den Organstammzellen
konserviert oder erst durch die maligne Transformation erhalten
haben. Möglich wäre auch, dass sie die Eigenschaften adaptiv
52.2 Molekulare Parameter der Malignität während der Tumorprogression oder unter Therapiedruck er-
von Tumorzellen worben haben. Eine Reihe von Proteinen, die für Organstamm-
zellen charakteristisch sind, wurde auch in Krebsstammzellen
Morphologisch lautet die Definition eines malignen Tumors, nachgewiesen. Hierzu gehören z. B. die Kontakt- und Adhäsions-
dass er aus Zellen besteht, die keine Kontaktinhibition zeigen, moleküle CD44 und av6-Integrin, das Enzym Aldehyddehydro-
invasiv über Basalmembranen hinweg wachsen und in entfern- genase 1, Differenzierungsantigene wie Cytokeratin 5, der nahe-
ten Organen Tochtergeschwülste (Metastasen) bilden können. zu ubiquitäre Tyrosinkinaserezeptor EGFR, die Telomerase und
Diesen Eigenschaften liegen genetische Veränderungen der Zel- das Survivin (BIRC5) sowie die Transkriptionsfaktoren TWIST
len zugrunde, die sich in vielen Fällen bereits mikrokopisch als und snail. Für das Mammakarzinom wurde die Krebsstammzell-
Chromosomenaberrationen darstellen. hypothese analog zu den Leukämien auch auf langlebige Proge-
nitorzellen, die sich langsam teilen, eine Telomeraseaktivität
Chromosomentranslokationen können zur zeigen und bidirektional differenzieren können, erweitert. Kar-
Entstehung neuer Onkogene führen, wie bei der CML zinome, die aus der gemeinsamen Progenitorzelle von glandulä-
für das Fusionsprotein bcr-abl beschrieben ren und myoepithelialen Zellen der weiblichen Brust entstehen,
Das prominenteste Beispiel hierfür ist das Philadelphia-Chro- sind schnell wachsend, entdifferenziert und früh metastasierend,
mosom bei chronisch myeloischer Leukämie (CML). Es geht allerdings auch inhibierbar durch eine Chemotherapie. Für die-
aus einer Chromosomentranslokation hervor und ist häufig cy- sen Subtyp des Mammakarzinoms wurden definierte Chromo-
togenetisch als verkürztes Chromosom 22 zu sehen. Die CML somenaberrationen beschrieben, die zur Überexpression des
640 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung

52

. Abb. 52.2 Das Bcr-Abl-Fusionsprotein mit Tyrosinkinaseaktivität entsteht durch die Translokation zwischen Chromosom 9 und 22. Das Medikament
Imatinib (Glivec, Gleevec™) inhibiert selektiv die Tyrosinkinase des Fusionsproteins. (Mit freundlicher Genehmigung von U. Bacher, Universtitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf )

EGF-Rezeptors führen, der als spezifisches Therapietarget die- chromosomale Reparatur in der Metaphase nach Strangbrüchen.
nen könnte (7 Kap. 53.5.3). Im submikroskopischen Bereich finden sich zusätzlich Aberra-
tionen der DNA, die als Deletion (loss), Amplifikation (gain)
oder Umlagerung (rearrangement) von mehreren hundert bis
Zusammenfassung Millionen Basen bis hinunter zum Austausch einer Base (Punkt-
Ein maligner Tumor ist gekennzeichnet durch Proliferation, mutation) auftreten und die einen Einfluss auf Genfunktion und
lokoregionäre Invasion und Metastasierung. Die einzelnen -transkription haben. Die durch diese DNA-Mutationen betrof-
malignen Tumorzellen sind dabei immer durch genetische fenen Gene werden nach ihrer Funktionsweise in drei Gruppen
Anomalien gekennzeichnet, die über chromosomale Aberra- eingeteilt:
tionen und/oder DNA-Mutationen zur Fehlregulation von 4 Onkogene fördern das Wachstum der Tumorzellen unab-
Zellwachstum, Zelltod, Wachstumsanpassung und Migration hängig von gewebspezifischen Wachstumsfaktoren. Als
führen. Krebs muss man deshalb als eine genetische Erkran- Protoonkogene kommen sie im Genom jeder Körperzelle
kung bezeichnen. vor. Wird durch Mutationen ein Allel überexprimiert oder
das Protein permanent aktiviert (gain-of-function), können
sie den Phänotyp der Zelle nachhaltig verändern und
malignes Wachstum einleiten.
52.3 Das Genom der Tumorzelle 4 Tumorsuppressorgene hemmen das Wachstum von Zellen
mit chromosomalen und/oder DNA-Aberrationen. Bei irre-
52.3.1 Anhäufung von Aberrationen in parablen Schäden sind sie die wesentlichen Faktoren für die
der Tumorentstehung und -progression Auslösung der Apoptose. Es müssen beide Allele im Genom
so mutiert sein, dass kein funktionierendes Protein mehr
Die bei der Entstehung und Ausbreitung von malignen Tumoren entsteht (loss-of-function).
beobachteten molekulargenetischen Aberrationen stellen sich 4 Mutatorgene sind als Reparaturenzyme für den Erhalt der
generell als Änderung der Anzahl der Chromosomen (numeri- Integrität des Genoms und für die zuverlässige Weitergabe
sche Aberration) und als Verlust oder Gewinn bestimmter chro- des genetischen Codes verantwortlich. Ein Funktionsverlust
mosomaler Abschnitte (strukturelle Aberration) dar. Die chromo- beider Allele durch Sequenzmutationen erhöht die Fehler-
somalen Veränderungen bei malignen Tumoren werden zusam- rate bei der DNA-Replikation. Auf dieser Grundlage kön-
menfassend auch als chromosomale Instabilität (chromosomal nen vermehrt Mutationen in Onkogenen oder Tumorsup-
instability, CIN) und der Zustand des Kerns von Tumorzellen mit pressorgenen entstehen. Sie tragen so zur Entstehung oder
einer CIN als Aneuploidie bezeichnet. Chromosomale Instabili- Ausbreitung eines Malignoms bei und sind Ursache heredi-
täten entstehen durch Störungen im Mitoseapparat und unglei- tärer Tumoren.
cher Segregation der Chromosomen oder durch eine gestörte

Abl-Tyrosinkinaseaktivität Leukämie chronisch myeloische (CML)


52.3 · Das Genom der Tumorzelle
641 52

. Tab. 52.1 Dominante chromosomale Aberrationen (chromosomal aberration blocks) und dysregulierte Gene

Chromosomale Lokalisation Aberration Gen Genfunktion Tumortypen

3q26.3 Gain PIK3CA Onkogen Ovarien

5q Loss APC Suppressorgen Kolon

7p11 Gain EGFR Onkogen Mamma, Kopf-Hals, Blase

8p21 Loss Nkx3.1 Suppressorgen Prostata

8q24 Gain c-myc Onkogen Mamma

10q23 Loss PTEN Suppressorgen Prostata

13q21 Loss RB1 Suppressorgen Prostata, Retinoblastom

16q22-24 Loss Unbekannt Suppressorgen Mamma

17q11 Gain HER2 Onkogen Mamma

17q21 Loss BRCA1 Suppressorgen Mamma, Ovar, Prostata

PIK3CA: Phosphatidylinositol-3-Kinase, katalytische Untereinheit; APC: adenomatöses Polyposis coli Gen; EGFR: epidermal growth factor receptor;
Nkx3.1: Nkx3.1 Hoemeobox-Gen; c-myc: zelluläres myc (Myelocytomatose-Onkogen); PTEN: Phosphatase- und Tensin-Homolog; RB1: Retinoblas-
tom1-Gen; HER2: Humaner EGFR2; BRCA1: Brustcarcinom-1-Gen.

Es ist derzeit unklar, ob primär die Aneuploidie oder die DNA- präsentiert und unregelmäßig verteilt. Dies führt dazu, dass
Mutationen die Ursachen für Krebsentstehung und -progression DNA-Abschnitte ohne CpG-Dinucleotid von Sequenzen unter-
sind. Man kann jedoch festhalten, dass beide Phänomene in einer brochen werden, die sehr viele CpGs aufweisen, den CpG-Inseln
Tumorzelle auftreten. Maligne Tumorzellen entstehen, wenn die (CpG islands). Sehr häufig treten die CpG-Inseln in Promotorbe-
genetischen Aberrationen gezielt zur Überexpression, dem Ver- reichen von Genen auf. Im Rahmen der Karzinogenese werden
lust oder der Aktivierung von Proteinen der oben genannten CpGs von Zellzyklus, Apoptose und Zellkommunikation regu-
Genfamilien führen (dominant hit). Ein besonderes Beispiel für lierenden Genen methyliert. Besonders wirksam ist die Methy-
die Veränderung des Phänotyps einer Zelle zur Tumorzelle durch lierung von Tumorsuppressorgenen, die fast immer eine unwi-
genomische Aberration, hier Amplifikation, stellen die memb- derrufliche Abschaltung des Gens bedeutet (. Abb. 52.3). Die
ranständigen Tyrosinkinaserezeptoren der HER-Onkogenfami- DNA-Methylierung wird durch die drei Methyltransferasen
lie dar. Da die Rezeptoren essentielle extrazelluläre Wachstums- DNMT1, 3a und 3b katalysiert. Dabei sind DNMT3a und 3b
signale in die Zelle vermitteln, führt eine quantitative Änderung für die de novo-Methylierung zuständig und DNMT1 für die
der Kopienzahl auf genomischer Ebene zu erhöhtem Wachstum Konservierung bestehender Methylierungen während der DNA-
gegenüber anderen Zellen im Organverband durch eine erhöhte Replikation. Damit die Methylierung zur Suppression der Gen-
Proliferationsrate, durch gesteigerten G0/G1-Phasenübertritt, transkription führen kann, muss zusätzlich die Chromatinstruk-
aber auch durch die Verhinderung von Apoptose in der späten tur verändert werden. Die Deacetylierung von Histonprotei-
G2-Phase (7 Kap. 43). . Tab. 52.1 zeigt weitere Beispiele für Ge- nen in den methylierten DNA-Bereichen verhindert die RNA-
notyp-Phänotyp-Beziehungen in Tumoren. Transkription durch eine stärkere Bindung der DNA an die
Histone. Methylierungsspezifische Bindungsproteine (Methyl-
CpG-Bindedomänen-Protein 1 = MBD1, MBD2, MBD3 und
52.3.2 Epigenetische Veränderungen Methyl-CpG-Bindeprotein 2 = MeCP2) binden dabei gleichzei-
der DNA von Tumorzellen tig an die methylierten Sequenzen der Gene und an die Histon-
deacetylasen (HDAC1, 2, 3) und vermitteln dadurch, dass in den
Unter dem Begriff epigenetische Veränderungen der DNA fasst methylierten Bereichen auch eine Acetylgruppenabspaltung statt-
man die DNA-Methylierung (7 Kap. 47.2.1) und den Umbau des findet. DNA-Methylierung führt so durch die Interaktion von
Chromatins zusammen. Die Methylierung der DNA nimmt im MBD und HDAC zu einer Hemmung der Transkription von Ge-
Zuge der Karzinogenese und Tumorprogression generell ab und nen, die physiologisch die Tumorzelltransformation eigentlich
in bestimmten regulativen Elementen selektiv zu. Im menschli- verhindern sollen und wirkt damit synergistisch zu den schon
chen Genom werden in der Regel Cytosine, die auf ein Guanosin beschriebenen genetischen Aberrationen. Ein homozygoter Ver-
folgen, enzymatisch mittels DNA-Methyltransferase (DNMT) lust der Funktion eines Suppressorgens in Tumoren besteht des-
methyliert. Das 5-Methylcytosin stellt somit die 5. Base in der halb häufig aus der Deletion des einen Allels und der Hyperme-
menschlichen DNA dar und repräsentiert ca. 1 % aller Nucleo- thylierung des anderen.
tidbasen im Genom. Aufgrund der häufigen Umwandlung von
Methylcytosin zu Thymidin ist die Basenfolge Cytosin-Guano-
sin, CpG-Dinucleotide, im menschlichen Genom stark unterre-
642 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung

52

. Abb. 52.3 Gegenüberstellung von Genetik und Epigenetik. Ein wesentlicher Mechanismus der Epigenetik ist die Methylierung von Cytosinbasen
der DNA in der Promoterregion vor einem Gen, die zu einer Änderung der Transkription des Gens führt. Im Gegensatz zu irreversiblen DNA-Sequenz-
mutationen sind epigenetische Veränderungen reversibel

wickelt werden, die auf der quantitativen Änderung der mRNA-


Zusammenfassung Expression beruht.
Tumorzellen sind durch eine chromosomale Instabilität ge- Ein konkretes Beispiel mit klinischer Relevanz für eine funk-
kennzeichnet. Amplifikationen der DNA führen zur Aktivie- tionale Genexpressionsanalyse bei Tumorzellen stellt die Bestim-
rung von dominanten Onkogenen, Deletionen hingegen zur mung von Gentranskripten dar, die assoziiert mit einem funktio-
Inaktivierung von rezessiven Suppressorgenen und kurze nalen Östrogenrezeptor (ER) gebildet werden. Dieser Rezeptor
Sequenzmutationen inaktivieren Mutatorgene, die zur Stei- reguliert in ca. zwei Dritteln aller Mammakarzinome das Tumor-
gerung der Mutationsfrequenz beitragen. Die Methylierung wachstum. Er wird deshalb mit einer molekülspezifischen Anti-
der DNA am Cytosin in den CpG-Inseln ist in Tumorzellen hormontherapie gezielt in Mammakarzinomen inhibiert. Die
häufig in Tumorsuppressorgenen erhöht, führt dadurch zur Therapie wird dann eingesetzt, wenn die Tumore das ER-Protein
Genabschaltung und zur Förderung der Tumorzellprolifera- exprimieren. In 25–50 % der Mammakarzinomfälle hat das nach-
tion. Tumorfördernde Synergismen ergeben sich über den gewiesene ER-Protein jedoch keine oder eine gestörte Funktion.
chromosomalen Verlust des einen Allels und die Hyper- Der ER ist als Rezeptor für das Östradiol (7 Kap. 40.3) und als
methylierung des anderen Allels eines Gens. Transkriptionsfaktor unmittelbar an der Genregulation beteiligt.
Mutationen können zu Strukturveränderungen des Proteins füh-
ren, die die Östradiolbindungsdomäne verändern, die Dimerisie-
rung der Rezeptoren unmöglich machen, die Bindung von Cofak-
52.4 Transkriptom der Tumorzelle toren beeinflussen oder die DNA-Bindung herabsetzen. Die Kon-
sequenz ist eine verminderte oder fehlende Expression ER-abhän-
Seit der Entschlüsselung des gesamten menschlichen Genoms im gig transkribierter Gene. In Folge wachsen die Tumorzellen
Rahmen des humanen Genomprojekts ist es möglich geworden, ER-unabhängig, obwohl das ER-Protein in ihnen nachweisbar ist.
alle mRNAs einer Zelle (das Transkriptom) simultan qualitativ Mithilfe von Genexpressionsanalysen könnten so ER-positive Tu-
und quantitativ zu bestimmen (7 Kap. 54). Somit ist es heute moren, die auf die Antihormontherapie ansprechen, von solchen
möglich, die Expression der Gene in einer Tumorzelle genom- unterschieden werden, die darauf nicht ansprechen, indem die
weit mit der in der Zelle, aus der sie hervorging, zu vergleichen. Gentranskripte verglichen werden. Hieraus lässt sich dann auf
Mithilfe dieser Analyse konnte z. B. für das Mammakarzinom einen funktionierenden Östrogenrezeptor (ER) zurückschließen.
eine molekulare Taxonomie bestehend auf 5 Hauptgruppen ent- Diese Methode könnte in den nächsten Jahren, wenn die klini-
52.5 · Funktion des Tumorproteoms
643 52

. Abb. 52.4 Onkogene, Suppressorgene und mismatch-repair-Gene bestimmen Phasenübergänge des Zellzyklus. Ein Funktionsgewinn von Onkoge-
nen treibt den Übergang der Zyklusphasen, z. B. den G1- und den G2/M-Übergang voran. Ein Verlust einer Suppressorgenfunktion führt beispielsweise zum
Wegfall des Zyklusstopps in der S-Phase. Mutierte MMR-Gene erhöhen in der S-Phase die Anhäufung von Mutationen, da nach der DNA-Replikation eine
unzureichende Reparatur von Sequenzfehlern stattfindet

schen Studien zu ihrer Wertigkeit abgeschlossen worden sind, den 2. die rezessiven Tumorsuppressorgene, deren Mutation zu
Therapieerfolg mit Antihormonen verbessern. einem Verlust eines Wachstumshemmungssignals in der
S-Phase bzw. zur Unterdrückung der Apoptose führt
(7 Kap. 51) und
Zusammenfassung
3. die Mutatorgene, die sich genetisch ebenfalls rezessiv
Klinisch relevante Phänotypen von Karzinomen lassen sich verhalten und deren Mutation zu einem Funktionsverlust
mit Hilfe der Messung der mRNA-Expression nahezu aller eines Reparaturproteins führt, das Einbaufehler in DNA-
Gene des menschlichen Genoms funktional beschreiben. Sequenz nach der Replikation korrigieren soll (7 Kap. 45;
Die Kenntnis der in einem Tumor quantitativ dominant . Abb. 52.4).
exprimierten Signalwege gibt ein genaueres Bild des Wachs-
tums- und Invasionspotenzials eines Tumors und könnte so
in Zukunft die Einschätzung seiner Prognose und des An- 52.5.1 Onkogene
sprechens insbesondere molekular gerichteter Therapien,
z. B. Inhibition des Östrogenrezeptors, verbessern. Die Onkogene wurden schon lange vor der Entschlüsselung des
gesamten menschlichen Genoms bei der Erforschung von RNA-
Tumorviren wie dem Rous-Sarkom-Virus (RSV) entdeckt. Die-
52.5 Funktion des Tumorproteoms ses Virus besitzt einen spezifischen, src genannten Genlocus, der
ihm die Fähigkeit zur Induktion der Zelltransformation verleiht.
Wie in 7 Kap. 52.3 erwähnt, beeinflussen drei Gruppen von Ge- Man fand, dass das virale Onkogen src (v-src) homolog zu einem
nen das Wachstum, die Differenzierung und den Tod von Zellen normalen zellulären Gen (c-src) ist. C-src stellt eine für das Zell-
in den Geweben des menschlichen Körpers maßgeblich: wachstum essentielle Tyrosinkinase dar und wird infolgedessen
1. die dominanten Onkogene, bei denen eine Mutation zu als Proto-Onkogen bezeichnet. Die Proto-Onkogene werden
ihrer Aktivierung und damit zur Expression onkogener durch Punkt-, Insertions- und Deletionsmutationen, Amplifika-
Proteine führt, die den Zellen ein positives Wachstums- tionen und Translokationen zu Onkogenen aktiviert. Die daraus
signal geben (7 Kap. 43.2); resultierende gesteigerte Produktion oder Aktivität des codierten

Onkogene EGFR ras<k> P53<k> RB1<k> MSH6 HER2


644 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung

. Tab. 52.2 Beispiele für humane Proto-Onkogene

Proteinfunktion Proteine

Wachstumsfaktoren Fibroblast growth factor (FGF), transforming growth factor (TGF), platelet-derived growth factor (PDGF), Epider-
maler Wachstumsfaktor (epidermal growth factor, EGF), vascular endothelial growth factor (VEGF), insulinähn-
liche Wachstumsfaktoren (insulin-like growth factors, IGF), hepatocyte growth factor (HGF), Nervenwachstums-
faktor (nerve growth factor, NGF)

52 Wachstumsfaktorrezeptoren Epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor (EGFR), v-erb-b2 erythroblastic leukemia viral oncogene homolog 2 (HER2),
stem cell factor receptor (Kit)

G-Proteine rat sarcoma viral oncogene (Ras), ras homolog gene family member (Rho)

Nicht-Rezeptor-Proteinkinasen v-src sarcoma viral oncogene homolog (Src), protein kinase C (PKC), v-raf murine sarcoma viral oncogene
homolog (Raf )

Nucleäre Transkriptionsfaktoren v-myc myelocytomatosis viral oncogene homolog (Myc), v-myb myeloblastosis viral oncogene homolog (Myb), FBJ
murine osteosarcoma viral oncogene homolog (Fos), v-jun avian sarcoma virus 17 oncogene homolog (Jun)

Antiapoptosefaktoren apoptosis regulator Bcl-2 (Bcl-2)

Proteins amplifiziert dann wachstumsfördernde Signalwege der Proto-Onkogene, die durch Mutation aktiviert werden und un-
Zelle. Proto-Onkogene treten auf allen Ebenen der zellulären abhängig von den HER-Genen eine maligne Transformation be-
Regulation auf, beginnend bei den Wachstumsfaktoren selbst wirken können. Einige der Transkriptionsfaktoren (TF) können
(z. B. EGF, FGF), über deren Rezeptoren (z. B. EGFR), nachge- ebenfalls über Mutationen oder durch Überexpression dysregu-
schaltete G-Proteine (z. B. Ras) bis hin zu Transkriptionsfaktoren liert und darüber vom Proto-Onkogen zum Onkogen aktiviert
(z. B. c-Fos, c-Jun, c-Myc) (7 Kap. 33.4). werden. Das prominenteste Beispiel hierfür ist das c-myc-Onko-
Die Rezeptor-Tyrosinkinasen induzieren über ihre enzyma- gen, der wichtigste TF für das Cyclin-D1-Gen (7 Kap. 43). Eine
tische Aktivität intrazelluläre Signalwege der Zellteilung, Zelldif- Amplifikation des c-myc-Gens wird häufig bei Mammakarzino-
ferenzierung und -migration. men gefunden. . Tab. 52.2 gibt eine Übersicht heute bekannter
Eine therapeutisch wichtige Onkogenfamilie ist die der HER/ humaner Proto-Onkogene.
erbB-Rezeptor-Tyrosinkinasen (7 Kap. 35.4). Insgesamt bilden 4
membranständige Rezeptoren die HER-Gen-Familie, EGFR
(HER1/erbB-1), HER2 (erbB-2), HER3 (erbB-3), und HER4 52.5.2 Tumorsuppressorgene
(erbB-4). HER2 hat keine physiologischen Liganden und HER3
besitzt keine Tyrosinkinaseaktivität. Spezifisch bindende Ligan- Die generellen Mechanismen der Tumorentstehung aufgrund
den sind neben EGF, TGF-α (transforming growth factor-α), Am- von Mutationen in Suppressorgenen wurden schon vor mehr als
phiregulin, Betacellulin, HB-EGF (heparin-binding epidermal 30 Jahren an hereditären kindlichen Tumoren aufgeklärt. Durch
growth factor), Epiregulin und Neuregulin. Die Liganden der Untersuchungen am Retinoblastom fand Knudsen 1971, dass
HER-Rezeptoren können selbst auch als Onkogene wirken, in- das RB1-Gen häufig inaktiviert wurde, während die Aktivierung
dem sie von den Tumorzellen für die autokrine Stimulation pro- von Onkogenen selten gefunden wurde. Es zeigte sich, dass für
duziert werden. Bindet ein Ligand an einen EGF- bzw. HER3/4- Träger einer inaktivierenden Keimbahnmutation in einem Allel
Rezeptor, kommt es zur Dimerisierung von Rezeptormonome- des RB1 die Anfälligkeit für einen malignen Tumor erheblich
ren. Dabei können sowohl Homo- als auch Heterodimere zwi- gesteigert ist. Im malignen Tumor selbst sind dann in der Regel
schen verschiedenen HER-Rezeptoren gebildet werden. Als beide Allele durch Punktmutationen und zusätzlich durch Hy-
Folge der Dimerisierung wird die intrinsische Tyrosinkinase permethylierung oder Deletionen, oftmals des ganzen chromo-
aktiviert. HER-Rezeptoren aktivieren den MAP-Kinaseweg (mi- somalen Arms, inaktiviert, weshalb man von rezessiven Genen
togen-activated protein), STATs (signal transducers and activators spricht (. Abb. 52.5). Dagegen können bei Onkogenen bereits die
of transcription), aber auch die Phosphatidylinositol-3-Kinase aktivierende Mutation eines Allels den malignen Phänotyp ver-
(PI3K) und AKT (Proteinkinase B) (7 Kap. 35). Über die ver- ursachen.
schiedenen Signalwege werden letztlich Transkriptionsfaktoren Tumorsuppressorgene sind meistens zellzyklusinhibierende
(7 Kap. 47.2) aktiviert, die für die vermehrte Expression von Pro- Proteine, die aufgrund von DNA-Sequenzfehlern den Zyklus in
teinen für die Zellteilung, die Differenzierung zu spezifischen der G1-, S- oder G2-Phase an sog. checkpoints, z. B. dem R-Point
Organfunktionen oder die Migration sorgen. Dies führt zu einer in der späten G1-Phase, anhalten oder Apoptose auslösen kön-
Steigerung der Zellproliferation, zu einer Inhibition der Apopto- nen (. Abb. 52.4).
se, zum Umbau des Actincytoskeletts, zur Angiogenese und zur Das RB1-Protein umschließt in der G0-Phase den Transkrip-
Induktion der Tumormetastasierung. Gene des MAP-Kinase- tionsfaktor E2F und verhindert so die Einleitung der S-Phase.
signalwegs wie ras und raf und die PI3-Kinase, ein bevorzugter Durch Phosphorylierung des RB1 über cyclinabhängige Kina-
Bindungspartner des phosphorylierten HER3, sind ebenfalls sen, die über Wachstumsfaktorrezeptoren reguliert werden, wird
52.5 · Funktion des Tumorproteoms
645 52

. Abb. 52.5 Die Two-Hit-Hypothese. Für den Funktionsverlust der rezessiven Suppressorgene ist neben der DNA-Sequenzmutation der Funktionsverlust
des zweiten Allels während der Tumorigenese erforderlich, z. B. durch eine Deletion des chromosomalen Abschnitts oder durch Hypermethylierung

E2F freigesetzt und kann als Transkriptionsfaktor aktiv werden. lusinhibierenden Genen binden und so z. B. die Transkription
E2F aktiviert die Transkription von Cyclin E and A, welche den des Cdk-Inhibitors-p21 (7 Kap. 43.3 und . Abb. 52.6) oder des
Zellzyklus antreiben, indem sie die entsprechenden cyclinabhän- G2-M-Progressionsregulators 14-3-3σ einleiten. Dies führt in
gigen Kinasen und das proliferating cell nuclear antigen (PCNA) den Zellen nach einer DNA-Schädigung zu einem Anhalten des
aktivieren (7 Kap. 43.3, 7 Abb. 43.8). Neben der Deletion des Zellzyklus; damit kann sich die geschädigte Zelle nicht mehr ver-
RB1-Gens können die Aktivierung von Proto-Onkogenen und mehren. p53 löst über die Aktivierung der Transkription der
ihre Überexpression in der Tumorzelle (z. B. EGFR, Myc) zu ei- proapoptotischen Proteine Bax, NOXA und PUMA, die mit dem
ner permanenten Phosphorylierung von RB1 führen, worauf die mitochondrialen Signalweg der Apoptose durch Umwelteinflüs-
Zelle im Mitosezyklus verbleibt. In humanen Tumorzellen ist das se gekoppelt sind, Apoptose aus (7 Kap. 51.1). In Zellen, die keine
RB1-Gen in über 60 % der Fälle mutiert, während eine inadäqua- DNA-Schäden aufweisen, wird p53 an das ubiquitinylierende
te Phosphorylierung des RB1-Proteins in nahezu jedem Tumor Protein Mdm2 gebunden und im Proteasom abgebaut, sodass es
nachgewiesen werden kann. in diesen Zellen kaum nachweisbar ist. Auch eine exzessive Sti-
mulierung mitotischer Signalwege in der Zelle, z. B. durch Über-
Die zentrale Funktion von p53 ist es, Zellen aktivierung von Myc, führt zur Aktivierung von p53 und nach-
im Mitosezyklus zu stoppen oder die Apoptose folgend zu Zellzyklusarrest oder Apoptose. Tumorzellen, die eine
einzuleiten, wenn sie DNA-Schäden aufweisen inaktivierende p53-Mutation aufweisen, können nicht in dieser
Ein weiteres Tumorsuppressorgen, p53, codiert ein nucleäres Weise inhibiert werden.
Phosphoprotein mit einer molekularen Masse von 53 kDa. Nach Eine p53-Mutation kann die Sensitivität eines Tumors ge-
dem RB1 ist es das am häufigsten inaktivierte Tumorsuppressor- genüber einer cytostatischen Tumortherapie mit cross-linking
gen in menschlichen Tumoren (ca. 50 %). p53 besteht aus einer der DNA, z. B. über platinhaltige Substanzen (Cisplatin), erhö-
Aktivierungs-, einer prolinreichen-, einer DNA-Bindungs-, einer hen. Im Gegensatz dazu ist die Wirkung einiger Cytostatika,
Tetramerisierungs- und einer regulativen Domäne. Die N-termi- welche die DNA-Synthese blockieren (z. B. 5-Fluorouracil) oder
nale Aktivierungs- und die C-terminale Regulationsdomäne ent- DNA-Schäden hervorrufen (z. B. Anthracycline), bei Vorliegen
halten dabei die wesentlichen Phosphorylierungsstellen. Die einer p53-Mutation reduziert. Da die Induktion der Apoptose
größte Domäne ist die von fünf Exons codierte DNA-Bindungs- die therapeutische Wirkung dieser Substanzen darstellt, ist sie
domäne, in der über 80 % der inaktivierenden Punktmutationen davon abhängig, dass das p53 intakt ist. Eine verringerte Effek-
in Tumorzellen gefunden werden (. Abb. 52.6). Über die DNA- tivität von Chemotherapie in Kombination mit Strahlentherapie
Bindungsdomäne kann p53 an regulative Elemente von zellzyk- bei p53-Mutation im Primärtumor wurde ebenfalls beobachtet.
646 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung

A B

52

. Abb. 52.6 DNA-Schädigung und p53 Aktivierung. A Nach einem DNA-Doppelstrangbruch wird eine Proteinkinase aktiviert, die p53 phosphoryliert
und damit stabiles p53 aus der Bindung an das Mdm2-Protein freigesetzt. Die darauf folgende Transkription des p21 führt zur Bildung des CdK-Inhibitor-
komplexes und zum Zellzyklusstopp. B Die meisten p53-Mutationen in Tumoren sind missense-Mutationen in der DNA-bindenden Domäne wie in der
Einfügung (blau) zu sehen

Mit der Entdeckung des Tumorsuppressorgens APC (adeno- chen PCR (7 Kap. 54.1.2) und dem Vergleich von PCR-Fragmen-
matöse Polyposis coli), dessen Mutation Ursache für die maligne ten zwischen Tumor-DNA und normaler DNA, z. B. aus Leuko-
Entartung der Darmpolypen bei der familiären adenomatösen cyten des Patienten, nachgewiesen werden (. Abb. 52.7).
Polyposis (FAP) ist, konnte erstmals sogar eine vollständige Mu-
tationssequenz in der Entwicklung eines sporadischen Karzi-
noms von der Normalzelle über die benigne Wucherung, dem 52.5.3 Mutatorgene
Adenom, bis zum metastasierenden Karzinom aufgezeigt wer-
den. Es hat sich dabei die Annahme von Nowell bestätigt, das Die Mutatorgene amplifizieren (verstärken) den Einfluss defek-
sechs bis sieben Mutationen notwendig sind, damit sich das ter Suppressorgene. Sie codieren für Proteine des DNA-Repara-
Vollbild des malignen Phänotyps ausbilden kann. Man rückt turapparates. Dabei sind am häufigsten die mismatch-repair-
heute allerdings wieder davon ab, dass ausschließlich eine line- Gene (MMR, z. B. mutS homolog 2; MSH2; mutL homolog 1,
are Folge bestimmter Mutationen zur Entstehung eines Malig- MLH1; postmeiotic segregation increased 1, PMS1; PMS2; MSH6)
noms führt. betroffen, die bei der Replikation zusätzlich eingebaute einzelne
Der vollständige Funktionsverlust von Tumorsuppressorge- Basen wieder entfernen (7 Kap. 45). Bleibt die Entfernung dieser
nen erfolgt in der Regel durch eine inaktivierende Punktmuta- Fehlbasenpaarungen aus, die in jedem Zellzyklus entstehen, häu-
tion und den simultanen Verlust des anderen Allels des Gens. fen sich Baseninsertionen in den Nachkommenzellen an. Muta-
Der Genverlust wird auch als loss of heterozygosity (LOH, Ver- tionen der MMRs wurden vor allem bei hereditären, aber auch
lust der Heterozygotie) bezeichnet und kann mithilfe der einfa- bei spontanen Kolonkarzinomen gefunden.
52.5 · Funktion des Tumorproteoms
647 52

. Abb. 52.7 Nachweis eines LOH mit der Mikrosatelliten-PCR. Nach der PCR 1 wird die Kapillarelektrophorese 2 hier zur Längenbestimmung der PCR-
Produkte eingesetzt. In der vorangehenden PCR werden deshalb fluoreszenzmarkierte Primer verwendet, über die die Fragmente am Detektor 3 des
Kapillarelektrophoresesystems gemessen werden können. Die Signalintegration liefert ein quantitatives Messergebnis, das proportional der Fragment-
menge ist. Ein Vergleich der Messergebnisse aus Tumor- 4 und Normalgewebe 5 eines Krebspatienten ermöglicht die Bestimmung eines LOH über die
Abnahme der Peakfläche des entsprechenden PCR-Produktes (C LOH)

Der Defekt der MMRs wirkt sich besonders auf repetitive Der Funktionsverlust eines Reparaturgens führt anders als
Basenfolgen in der DNA-Sequenz aus. Die repetitiven Sequenzen bei den Suppressorgenen, die direkt den Zellzyklus kontrollieren,
der sog. simple sequence repeats (SSRs) bestehen aus ein bis sechs zu einer Anhäufung von Mutationen in einer unbestimmten An-
Basenwiederholungen, sie kommen etwa 100.000-mal im zahl von Genen. Zellklone, bei denen weitere Mutationen mito-
menschlichen Genom vor und werden besonders häufig von sehemmende Supressorgene inaktivieren oder proliferationsstei-
Fehlbasenpaarungen betroffen, die im Nachhinein wieder ent- gernde Proto-Onkogene aktivieren, werden die anderen Zellen
fernt werden müssen. Über eine umfangreiche Analyse dieser dieses Organbereiches überwuchern und den Stammklon des
SSRs in Familien mit gehäuftem Auftreten von Kolonkarzino- Tumors bilden (clonal dominance). Die hohe Mitosehäufigkeit
men konnten MMR-Gene identifiziert werden (z. B. MSH2), die dieses Zellklones führt unweigerlich zu einer weiteren Anhäu-
für die Entstehung des hereditären nicht-polypösen Kolonkarzi- fung von Mutationen. Eine kapillarelektrophoretische Fragment-
noms (HNPCC) verantwortlich sind. Heute weiß man, dass auch analyse kann zur Bestimmung des Replikationsfehlers in SSR
etwa 15 % der sporadischen Kolonkarzinome diesen sog. replica- Sequenzen eingesetzt werden und charakterisiert den RER+-
tion error phenotype (RER+) besitzen. Phänotyp (. Abb. 52.8).
648 Kapitel 52 · Grundlagen der Tumorentstehung

52

. Abb. 52.8 Mismatch-repair-Gene. MMR-Gene haben die Aufgabe bei der Replikation entstandene Basenpaar-mismatches zu korrigieren. Die Abbildung
zeigt unten die vollständige Reparatur der DNA bei intakten MMR-Genen und oben die Entstehung einer Neumutation durch den Funktionsverlust eines
MMR-Gens. Auch hier ist die Mikrosatelliten-PCR ein sensitives Nachweisverfahren um MMR-Gen-Defekte über zusätzliche Banden in der Kapillarelektro-
phorese zu erkennen (replication error phenotype)

Zusammenfassung
Während onkogene Proteine Wachstumsfaktoren und ihre
Rezeptoren, G-Proteine, Nicht-Rezeptor-Tyrosinkinasen,
Transkriptionsfaktoren und Antiapoptosefaktoren sein
können, sind Tumorsuppressorgen-Produkte in der Mehr-
zahl zellzyklusinhibierende Faktoren und die heute klinisch
relevanten Mutatorgene gehören der Gruppe der mismatch-
repair-Gene an.

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649 53

53 Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie


Burkhard Brandt, Petro E. Petrides

Einleitung 53.1 Funktion von Onkogenen


und Tumorsuppressorgenen bei den
Tumorzellen sind strukturiert und hochspezialisiert, was auch beinhal- häufigsten Karzinomen
tet, dass sie von den normalen Organzellen und der organspezifischen
extrazellulären Matrix Signale empfangen und für ihr Wachstum nutzen. 53.1.1 Epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor
Die Anpassungsfähigkeit der Tumorzellen an organspezifische Bedin- (EGFR) und K-ras-Onkogen
gungen, z. B. an hormonelle und Wachstumsfaktormilieus oder gar beim Lungenkarzinom
Hypoglykämie und Hypoxie ist dadurch überhaupt erst möglich. Sie
können dadurch außerdem eine gerichtete Zellbewegung bei der Inva- Überexpression und/oder Aktivierung der membranständigen
sion der Basalmembran ausführen, im Blutkreislauf persistieren und Rezeptor-Tyrosinkinase epidermal growth factor receptor (EGFR)
darüber hinaus aus den Gefäßen in andere Organe als dem Ursprungs- induziert die Entstehung und -ausbreitung maligner Tumoren.
organ, z. B. in die Leber, den Knochen und das Gehirn, gelangen und zu Der EGFR stellt damit ein Proto-Onkogen dar (7 Tab. 52.1). Die
Zweittumoren (Metastasen) heranwachsen. Bindung eines Liganden, z. B. EGF, an den EGFR induziert die
In diesem Kapitel werden molekulare Schlüsselmechanismen des Lun- Dimerisierung von zwei gleichen Rezeptoren oder von EGFR mit
gen- (k-ras, EGFR), Mamma- (HER2) und Prostatakarzinoms (PTEN, anderen Mitgliedern der HER-Familie und die Aktivierung der
Nkx3.1) sowie der hereditären soliden Tumoren der Mamma (BRCA1), Kinaseaktivität, welche die Autophosphorylierung der Rezepto-
des Darms (APC) und endokrin-aktiver Organe (c-ret) beschrieben. Auf- ren zur Folge hat. An die phosphorylierten Domänen des Proteins
bauend darauf wurden erste wirksame Therapien, biologisch-rationale binden weitere Adapter- (z. B. Grb2) oder direkt weitere Signal-
Therapien, auf der Basis einer prädiktiven Diagnostik in die Klinik einge- proteine (. Abb. 53.1, 7 Kap. 35.4.2). Neben dem Ras-dominierten
führt. Es ist zurzeit jedoch nur möglich einige »dominante« molekulare MAP-Kinasesignalweg werden so über die Interaktion des EGFR
Mechanismen der verschiedenen Tumoren zu bestimmen und auf den mit HER3 auch die PI3-Kinase und AKT aktiviert. Die Proteinki-
individuellen Patient bezogen zu therapieren. Der Nachweis von Tumor- nase AKT (auch PKB genannt) ihrerseits aktiviert v. a. Signalwege
auslösenden Viren, wie dem Humanen Papilloma Virus (HPV), eröffnet der Apoptosehemmung und fördert Überlebensfunktionen wie
über die Vakzination auch Präventionsoptionen. Wir befinden uns zur- z. B. den Kohlenhydratstoffwechsel (. Abb. 53.1, 7 Kap. 51.3).
zeit in einer Phase intensivster Entwicklung biologisch-rationaler Medi-
kamente, im Verlaufe derer wir erwarten, dass es für die häufigen soliden Der EGF-Rezeptor wird in vielen Karzinomen
Tumoren eine deutliche Verbesserung der Prognose geben wird. We- überexprimiert und mit mutierter
sentlich für den Erfolg dieser Ansätze wird die umfängliche Elimination Proteinsequenz gefunden
von metastasierenden Tumorzellen sein, deren spezielle molekulare Der EGFR ist in mindestens 33–50 % aller humanen epithelialen
Ausstattung in diesem Kapitel erklärt wird. Tumoren fehlreguliert. Tumore unterschiedlichsten Ursprungs,
z. B. Lunge, Blase, Brustdrüse und Mundschleimhaut, weisen
Schwerpunkte häufig eine Überexpression des EGFR auf (. Tab. 53.1). Mutatio-
nen umfassen Amplifikationen des gesamten egfr-Gens, wie sie
4 Molekulare Schlüsselmechanismen des Lungen- (k-ras,
hauptsächlich bei Glioblastomen zu finden sind. In Mamma-,
EGFR), Mamma- (HER2) und Prostatakarzinoms (PTEN,
Mundschleimhaut- und Blasenkarzinomen treten wesentlich
Nkx3.1)
häufiger Amplifikationen im Intron 1 des egfr-Gens auf, was wie-
4 Molekulare Schlüsselmechanismen hereditärer solider
derum zu einer Überexpression des EGFR führt. Darüber hinaus
Tumoren der Mamma (BRCA1), des Kolons (APC) und
gibt es Deletionen, die zum Verlust der Ligandenbindungsdomä-
endokrin-aktiver Organe (c-ret)
ne (Exons 2 bis 7) und damit zur Bildung eines konstitutiv akti-
4 Wirksame biologisch-rationale Therapien und ihre mole-
ven Rezeptors führen. Die konstitutive Aktivierung der Kinase
kularen Gurndlagen sowie der Einsatz für die prädiktive
des EGFR durch Punktmutationen in den Exons 18 bis 21 führen
Diagnostik in der Klinik
zu einer erhöhten Sensitivität des Rezeptors gegenüber den beim
4 Tumor-auslösenden Viren, wie dem Humanen Papilloma
Lungenkarzinom zugelassenen Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI)
Virus (HPV), und Vakzination als Präventionsoptionen
und stellen hier einen wichtigen Parameter für die Vorhersage
4 Die spezielle molekulare Ausstattung von metastasierenden
des Therapie-Erfolgs (Therapieprädiktor) dar (. Abb. 53.2).
Tumorzellen und Ansätze zu ihrer Elimination
Die Hemmung des EGFR wird therapeutisch für die Behand-
lung verschiedener Karzinome eingesetzt Die Ergebnisse der
Therapiestudien mit EGFR-Kinase-Inhibitoren deuten darauf

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_53, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
650 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie

vieren dominant den PI3-K/AKT-Signalweg, weshalb die Hem-


mung mit den TKI Tumorremissionen auslöst.
Die Inhibition des EGFR (durch monoklonale Antikörper
oder TKI) ist unwirksam, wenn eine aktivierende Mutation im
K-ras-Gen (7 Kap. 35.4.2) vorliegt; dann kann es zur Tumor-
progression unter Therapie kommen. Aus diesem Grunde wird
die K-ras-Onkogen-Analyse auf das Vorliegen einer aktivieren-
den Mutation heute im Tumorgewebe vor Einleitung einer The-
rapie durchgeführt. Das Ras-Protein wird über eine Farnesylie-
rung an der inneren Plasmamembran fixiert und aktiviert. Eine
53 gezielte Inhibition des Ras-Proteins mithilfe von Farnesylie-
rungsinhibitoren wird derzeit klinisch getestet und könnte zu-
sätzliche Remissionen beim Lungenkarzinom bewirken.

53.1.2 HER2-Rezeptor-Tyrosinkinase
beim Mammakarzinom
. Abb. 53.1 Der EGF-Rezeptor und seine Geschwisterrezeptoren, HER2
und HER3, werden durch die Bindung des Liganden EGF dimerisiert. Die Der HER2-Rezeptor weist eine große Homologie zum EGFR auf,
darauf folgende Aktivierung der Kinasedomäne führt zur Phosphorylierung hat aber eine extrazelluläre Domäne, die keine Liganden binden
der Rezeptoren und zur Bindung von Adaptorproteinen für den MAP-Ki- kann (orphan receptor). Der HER2-Rezeptor dimerisiert mit den
nasesignalweg, der z. B. mit der Aktivierung des Transkriptionsfaktorkom-
anderen Mitgliedern der HER-Familie EGFR, HER3 und HER4
plexes aus Jun/Fos endet. Über HER3 kommt es daneben über den AKT-
Signalweg zur Aktivierung von Cyclin D1. KD: Kinasedomäne; PDK: phospho-
und wird deshalb über deren Liganden aktiviert. HER2 dominiert
lipid-dependent kinase; PI3 K: Phosphatidylinositid-3-Kinase; PKB: Protein- dabei die Signaltransduktion über seine C-terminalen Phosphory-
kinase B; PLC: Phospholipase C lierungsstellen, was in Tumorzellen zur Dominanz von Signalwe-
gen führt, die in normalen epithelialen Zellen nur eine untergeord-
nete Rolle spielen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist die HER2-
A B C
assoziierte Motilität von Karzinomzellen, die ja aus stationären
Epithelzellen der inneren Oberflächen von Organen hervorgehen
(. Abb. 53.3). In malignen Tumorzellen, die HER2 überexprimie-
ren, kommt es durch eine nicht genau verstandene allosterische
Konformationsänderung bei der Homodimerisierung zur Auto-
phosphorylierung ohne Ligandenbindung. Diese Zellen wachsen
invasiv und bilden Metastasen. Bei Ratten ist daneben noch eine
permanente Aktivierung des HER2 durch eine Punktmutation in
der Transmembrandomäne bekannt, die aber bei menschlichen
Tumoren bislang nicht bestätigt werden konnte. Darüber hinaus
wurden in menschlichen Tumoren Varianten des HER2 gefunden,
die die Rezeptordimerisierung stören und zu besonders schnell
und invasiv wachsenden Tumoren führen. Hierbei handelt es sich
um Fragmente der extrazellulären Domäne des Rezeptors, die ent-
weder durch enzymatische Spaltung an der Plasmamembran
durch ADAM-Proteasen (shedding) oder durch Überlesen eines
Splicesignals in der mRNA entstehen (7 Abb. 35.31). Sie werden
von der Zelle freigesetzt und inhibieren die Therapie mit dem
. Abb. 53.2 Expression der Rezeptoren der HER-Familie und Therapie-
sensitivität. A Mutationen in der Kinasedomäne des egfr-Gens in den Anti-HER2-Antikörper Herceptin (7 Kap. 53.5.3).
Tumorzellen führen zu einem Funktionsgewinn des Rezeptors und einer Studien an Mammakarzinomgewebe zeigen, dass etwa 15–
hohen Sensitivität gegenüber einer TKI-Therapie; B eine simultane Expres- 30 % der invasiv-duktalen Karzinome und 30–60 % der intra-
sion von HER2; HER3 und/oder EGF mit dem Wildtyp-EGF-Rezeptor geht mit duktalen Karzinome (duktales Carcinoma in situ, DCIS) das
einer geringen Sensitivität des Tumors bei der TKI-Therapie einher; C die
HER2-Gen in amplifizierter Form vorliegen haben und den Re-
geringste Sensitivität gegenüber TKIs wurde bei Expression des wtEGFR
und männlichen Rauchern mit Plattenepithelkarzinom beobachtet zeptor überexprimieren (. Tab. 53.1). Es wurde eine reziproke
Korrelation zwischen dem Ausmaß der HER2-Genamplifikation
und dem krankheitsfreien Intervall oder der Gesamtüberlebens-
hin, dass in den meisten Fällen für die Therapieprädiktion weni- dauer der Patientinnen mit Lymphknotenbefall abgeleitet. Wei-
ger die Höhe der EGFR-Expression bedeutend ist als das Maß der tere Untersuchungen haben gezeigt, dass die HER2-Amplifikati-
Aktivierung des Rezeptors und seiner nachgeschalteten Signal- on eines Primärtumors in den Metastasen konserviert ist, sodass
proteine. EGF-Rezeptoren mit einer Exon 18–21-Mutation akti- HER2 als Zielmolekül einer spezifischen systemischen Therapie
53.1 · Funktion von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen bei den häufigsten Karzinomen
651 53

. Abb. 53.3 Die Aktivierung des HER2 über die Bindung des EGF und . Abb. 53.4 Die in Prostatakarzinomzellen häufig deletierte PTEN-Phos-
EGFR führt zur Aktivierung des motogenen Signalwegs über die Spaltung phatase dephosphoryliert PIP3, den Aktivator von AKT. Indirekt reguliert
von PIP2 durch PLCγ1 und die damit verbundene Freisetzung des actin- sie damit über GSK3β und Cyclin D1 die S-Phase des Zellzyklus. Auch
spaltenden Proteins Gelsolin. Das aus dem PIP2 gebildete IP3 setzt aus dem BRCA1 wird in Prostatakarzinomzellen inaktiviert und reguliert über die
ER Calciumionen frei und aktiviert so das Gelsolin. In Folge wird das filamen- Inhibition des Transkriptionsfaktorkomplexes aus Jun/Fos ebenfalls die
töse Actin gespalten und die Viskosität des Cytoplasmas vom zähen Gel- in Cyclin-D1-Expression (s. auch . Abb. 53.5)
den flüssigen Sol-Zustand überführt. Dadurch kann die Tumorzelle eine
primitive Form der Eigenbeweglichkeit, das Kriechen, ausführen. (Adaptiert
nach Feldner u. Brandt 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

heute eingesetzt wird. Das Amplikon des HER2 kann unter- die Glycogensynthasekinase 3β (GSK3β) aktiviert, welche Cyc-
schiedlich lange chromosomale Sequenzen umfassen und dabei lin D1 reguliert. PIP3 ist ebenfalls ein Substrat der Phosphatase
weitere Gene wie die Topoisomerase IIα (TOP2A) oder growth PTEN (Phosphatase und Tensinhomolog), welche PIP3 zu PIP2
factor receptor-bound protein 7 (Grb7) einschließen, die zu The- (dem Phospatidylinositol-3,4-Bisphosphatderivat) dephosphory-
rapieresistenzen führen können. liert und somit als Tumorsuppressor und Gegenspieler zur PI3K
Die Signalgebung über HER2 führt u. a. über die Aktivierung agiert (. Abb. 53.4).
der Phospholipase Cγ1 zu einer Umstrukturierung des Actinfi- Das auf Chromosom 10q23 lokalisierte Gen des PTEN ist in
lamentgerüsts und Veränderungen der cytoplasmatischen Cal- Prostatakarzinomen häufig deletiert und trägt so zur Tumorent-
ciumkonzentration. Die zeitlich und räumlich strukturierte Ac- stehung und auch zur Tumorprogression bei (. Tab. 53.1). Es
tinreorganisation wird v. a. durch die Aktivierung von Gelsolin, konnte gezeigt werden, dass primäre Prostatakarzinome histo-
einem actinbindenden und für die Zellbewegung von Fibroblas- logisch und molekulargenetisch sehr heterogen sind, allerdings
ten essentiellen Protein, vermittelt (. Abb. 53.3). Das Ergebnis Tumorzellen, die sich im Körper des Patienten ausbreiten, be-
dieses motogenen Signalwegs ist eine EGF-stimulierte gerichtete vorzugt eine PTEN-Deletion aufweisen, auch wenn der Anteil
Wanderung der Zellen, die besonders die Metastasierung der der Tumorzellen mit einer PTEN-Deletion im Primärtumor
Zellen begünstigt, z. B. über die Penetration der Basalmembra- gering ist.
nen und die Extravasation aus Gefäßen. Ein weiteres Beispiel für ein Suppressorgen, das im Genom
von Prostatakarzinomzellen häufig deletiert wird, ist das
Homeobox-Gen Nkx3.1 auf Chromosom 8p21–22 (. Tab. 53.1).
53.1.3 PTEN- und Nkx3.1-Tumorsuppressorgene Das Fehlen von Nkx3.1 führt zur gesteigerten Proliferation bei
beim Prostatakarzinom verminderter Apoptose. Knock-out-Mäuse, denen durch gen-
technische Methoden das Gen in der Keimbahn deletiert wurde,
Die Proliferation von Tumorzellen wird wesentlich über die Ak- entwickeln spontan Prostatakarzinome, sodass man davon aus-
tivität von Cyclin D1 und CDK4 bestimmt (7 Kap. 43.3). Die Re- geht, dass der Verlust der Kontrollfunktion von Nkx3.1 ursäch-
gulation von Cyclin D1 erfolgt über den PI3K (Phosphatidy- lich mit der Prostatakarzinomentstehung in Zusammenhang
linositol-3-Kinase)/AKT-Signalweg (. Abb. 53.4). Die für die steht.
Tumorentwicklung wichtige PI3K IA besteht aus einer katalyti- . Tab. 53.1 gibt eine ergänzende Übersicht von klinisch rele-
schen Untereinheit p110α und einer assoziierten regulatorischen vanten Genen bei den häufigsten Karzinomen, die nicht alle im
Untereinheit p85. Substrat der p110α ist Phospatidylinositol-4,5- Text behandelt werden konnten.
Bisphosphat (PIP2), das durch die PI3-Kinase zu Phospatidylino-
sitol-3,4,5-Trisphosphat (PIP3) umgesetzt wird. PIP3 aktiviert
seinerseits u. a. die Serin/Threonin-Kinase AKT, die wiederum
652 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie

. Tab. 53.1 Relevante Onko-, Tumorsuppressor- und Mutatorgene bei den häufigsten Karzinomen

Karzinom Onkogen Suppressorgen Mutatorgen Kernständige Hormon-


Rezeptoren

Lungenkarzinom EGFR, K-ras

Mammakarzinom HER2, c-myc p53, BRCA1, BRCA2 EGFR Östrogenrezeptor (ESR1)

Kolonkarzinom EGFR, K-ras APC MLH1, MSH2, MSH6, PMS1, PMS2

Prostatakarzinom PTEN, BRCA1, RB1, Nkx3.1 Androgenrezeptor (AR)

53 Ovarialkarzinom EGFR, PIK3CA/akt p53

Blasenkarzinom EGFR

Kopf-Hals-Karzinom EGFR p53

treten von Kolonkarzinomen konnte man fünf MMR-Gene iden-


Zusammenfassung tifizieren (MSH2, MLH1, PMS1, PMS2, MSH6), die für die Ent-
Tumoren weisen häufig eine Fehlregulation von bestimmten stehung des nicht-polypösen Kolonkarzinoms (HNPCC) verant-
Genen auf, die den klinischen Verlauf und die Therapierbar- wortlich sind (. Tab. 53.2). Jeweils etwa 30 % der Fälle sind auf
keit dominant beeinflussen. Dominante molekulare Verän- Mutationen in den Genen MSH2 und MLH1 zurückzuführen. In
derungen sind dabei der Funktionsgewinn von Rezeptor- den Genen PMS1, PMS2 und MSH6 werden nur in wenigen Fäl-
Tyrosinkinasen (EGFR, HER2) und von G-Proteinen (Ras). len Veränderungen gefunden. Darüber hinaus wird bei weiteren
Alternativ kann der Verlust der Suppressorgene p53, BRCA, ca. 30 % keine Mutation in einem dieser Gene gefunden.
PTEN und NKx3.1 sowie die Mutation von Membran- und Das Lebenszeitrisiko für einen Patienten mit einer Mutation
Kernrezeptoren (AR) die Tumorproliferation fördern. Die liegt für das kolorektale Karzinom bei ca. 80 % und zusätzlich für
Mutation von Reparaturenzymen (MSH2) hingegen führt zur ein Endometriumkarzinom bei ca. 40 %. Außerdem werden im
Anhäufung weiterer Mutationen. fortgeschrittenen Alter auch erhöhte Risiken für Magen-, Gallen-
gangs-, uroepitheliale und Ovarialkarzinome beobachtet. Träger
einer HNPCC-assoziierten Mutation sollten ab dem 20. Lebens-
jahr 1- bis 2-jährlich koloskopiert und weibliche Trägerinnen
53.2 Bedeutung von Mutationen in Mutator- und darüber hinaus gynäkologisch engmaschig kontrolliert werden.
Tumorsuppressorgenen für die genetische Es hat sich gezeigt, dass durch eine regelmäßige koloskopische
Prädisposition der häufigsten Karzinome Kontrolle die 10-Jahres-Inzidenzrate für ein kolorektales Karzi-
nom um 50 % gesenkt werden kann.
53.2.1 Der Mutatorphänotyp des hereditären
nicht-polypösen Kolonkarzinoms (HNPCC)
53.2.2 Verlust des APC-Tumorsuppressorgens
Kolorektale Karzinome stellen in der Bundesrepublik Deutsch- bei familärer adenomatöser Polyposis coli
land bei Frauen die zweithäufigste und bei Männern die dritthäu- (FAP)
figste Krebserkrankung dar. Die Risikofaktoren für das kolorek-
tale Karzinom sind neben einer fettreichen und ballaststoffarmen Ein kleinerer Teil der erblichen Karzinome (ca. 1 %) manifes-
Ernährung auch in einer genetischen Veranlagung zu finden. tiert sich in Form von Adenomen (familiäre adenomatöse Poly-
Dieses wird schon daran offensichtlich, dass bei vorsichtiger posis coli, FAP). Die FAP wird durch eine Mutation im APC-Gen
Schätzung ein Sechstel bis ein Viertel familiär gehäuft auftreten. (adenomatous polyposis coli gene) auf dem Chromosom 5q
Daneben gibt es auch Darmerkrankungen, die das Kolonkrebsri- dominant vererbt (. Tab. 53.2). Das APC-Gen ist ein Tumorsup-
siko erhöhen wie die chronisch-entzündlichen Erkrankungen der pressor-Gen im Wnt-Signalweg (Wnt, Kunstwort aus dem Dro-
Darmschleimhaut (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn). Man kann sophila-Gen wingless, Wn und dem Maus-Gen int-1). Das APC-
heute davon ausgehen, dass eine monogenetische Prädisposition Protein bildet mit Axin und der Proteinkinase Glykogensyntha-
in ca. 6–7 % der kolorektalen Karzinome vorliegt, von denen das sekinase 3β (GSK-3β) einen Proteinkomplex, welcher β-Catenin
hereditäre nicht-polypöse Kolonkarzinom (HNPCC, Lynch Syn- bindet und seinen Abbau auslöst. Mutiertes APC bindet
drom) etwa 85 % ausmachen. Mutationen in Mismatch-repair- β-Catenin mit geringerer Affinität. β-Catenin akkumuliert,
Genen (MMR), die bei der Replikation zusätzlich eingebaute ohne dass der Wnt-Signalweg aktiviert werden muss und bindet
Basen wieder entfernen, sind die Ursache für das HNPCC im Zellkern den Transcriptionsfaktor 4 (TCF-4). Dies löst die
(7 Kap. 52.5.3 und 7 Abb. 52.8). Transkription von Wnt-Zielproteinen wie dem Myc-Protein aus
Das HNPCC ist eine genetisch sehr heterogene Erkrankung. (. Tab. 53.1). Die über 700 beschriebenen Mutationen im APC-
Über eine umfangreiche Analyse in Familien mit gehäuftem Auf- Gen führen in der Mehrzahl der Fälle zu einem Abbruch der
53.2 · Bedeutung von Mutationen in Mutator- und Tumorsuppressorgenen
653 53

. Abb. 53.5 BRCA1-Protein enthält funktionale Domänen, mit denen es an eine Vielzahl von Proteinen binden kann. Die N-terminale RING-Finger-Do-
mäne vermittelt die Ubiquitinligasefunktion des BRCA1. Myc und p53 binden in der C-terminal folgenden Region mit dem nuclear localization signal (NLS).
Darauf folgt die DNA-Bindungsdomäne über die auch die Proteine des BRCA1-associated surveillance complex (BASC) gebunden werden und das Chroma-
tin-remodelling reguliert wird. Proteine wie RAD50, ATM, CHK2 und CdK2 binden hier. Die SQ-Domäne der clusters of serine and threonine sequences (SCD)
folgt dann, über die mittels ATM und ChK2 Proteinen der G2/M checkpoint arrest ausgelöst wird. Am C-Terminus des BRCA1 (BRCT) befinden sich zwei Re-
gionen, die Proteine binden, die in DNA-Reparatursignalwege eingebunden sind, wie RNA-Polymerase II, Histondeacetylasen (HDAC), p53, und RB1. Außer-
dem findet hierüber auch eine indirekte Interaktion mit dem BRCA2 über das RAD51 statt. (Adaptiert nach Narod u. Folkes 2004, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)

Proteinkette und damit zum Funktionsverlust. Die meisten Fa- 53.2.3 Mutationen der DNA-Sequenz von
milien haben eine isolierte Mutation des APC-Gens. Die Iden- BRCA1- und BRCA2-Tumorsuppressor-
tifizierung einer APC-Mutation mit molekulargenetischen Me- genen beim familiären Mammakarzinom
thoden ist sehr aufwendig, eröffnet aber die Möglichkeit, Muta-
tionsträger in einer Familie frühzeitig zu erkennen und damit Bei etwa 55.000 Frauen in Deutschland wird in jedem Jahr ein
lebenslang den Ausbruch des Karzinoms zu verhindern. Nicht- Mammakarzinom diagnostiziert: bei etwa 15–20 % der Betroffe-
betroffenen Familienangehörigen können nach dem Gentest nen findet man eine familiäre Häufung dieser Erkrankung. In etwa
weitere und wiederkehrende invasive Untersuchungen erspart 1/4 bis 1/5 der Patientinnen muss davon ausgegangen werden, dass
werden. Die Zeitspanne bis zur Kolonkarzinomdiagnose bei ei- eine Keimbahnmutation in einzelnen Suszeptibilitätsgenen mit
ner APC-Mutation kann u. U. mehrere Dekaden betragen. Die hoher Penetranz, wie den BRCA1- und BRCA2-Genen, vorliegt
Gründe hierfür liegen darin, dass weitere Mutationen in Onko- (. Tab. 53.1). Die Krebsprädisposition wird in diesen Familien au-
genen und Tumorsuppressorgenen (ras, deleted in colorectal can- tosomal dominant vererbt. Das Gleiche gilt auch für das Ovarial-
cer, DCC; mutated in colorectal cancer, MCC, p53), notwendig karzinom. In 20–40 % der Fälle mit einer Familienanamnese kann
sind, damit ein maligner Tumor entstehen kann. Die Untersu- dabei von einer Mutation des BRCA1-Gens und in 10–30 % von
chung der DNA-Polymorphie des gesamten menschlichen Ge- einer Mutation des BRCA2-Gens ausgegangen werden; Mutatio-
noms hat Hinweise darauf ergeben, dass es darüber hinaus Gene nen in den Genen p53 und PTEN kommen zusammen in weniger
gibt, die die Tumorbildung geringgradig verstärken oder ab- als 1 % aller hereditären Mammakarzinome vor.
schwächen können. Die BRCA1- und BRCA2-Proteine sind wichtige Faktoren
Patienten mit einer chronisch-entzündlichen Darmerkran- für die Erhaltung der Genomstabilität. Während für das BRCA2
kung (CED) tragen ebenfalls ein erhöhtes Karzinomrisiko. Etwa eine Beteiligung an der homologen Rekombination bekannt ist,
0,5 % aller kolorektalen Karzinome sind auf eine CED zurückzu- ist BRCA1 an der DNA-Reparatur, der Zellzyklus-checkpoint-
führen. Die kumulative Inzidenz für ein kolorektales Karzinom Kontrolle, der Proteinubiquitinierung und dem Chromatin-re-
liegt bei 5 % in 15 Jahren. Das Risiko korreliert mit dem Ausmaß modelling beteiligt (. Abb. 53.5). Beide Proteine colokalisieren
der Kolonbeteiligung und der Dauer der Erkrankung. Anders als mit dem für die Reparatur von Doppelstrangbrüchen essentiel-
die erblichen und sporadischen kolorektalen Karzinome entste- len Rad51-Protein. BRCA1 ist notwendig für den S-Phasen- und
hen die CED-assoziierten Tumore über eine Dysplasie-Karzi- G2/M-Checkpoint-Arrest von Zellen mit DNA-Schädigungen.
nom-Sequenz. Ein manifestes Karzinom zeigt sich dabei in der Es ist Bestandteil des sog. BRCA1-associated genome surveillance
endoskopisch gewonnenen Biopsie durch eine chromosomale complex, der neben anderen Proteinen auch Rad50, ATM, und
Instabilität, erkennbar als Aneuploidie des Zellkernes. Verant- mismatch-repair-Enzyme (z. B. MLH1, MSH2 etc.) enthält.
wortlich für diese chromosomale Instabilität sind Mutationen in BRCA1 interagiert über seine C-terminale Sequenz mit check-
Tumorsuppressorgenen. Am häufigsten werden dabei p53-Gen- point-Proteinen/Tumorsuppressoren wie p53 und abhängig von
mutationen gefunden. p53 mit p21/WAF1, einem CdK-Inhibitor (7 Kap. 43.3). Ein

BRCA1-associated surveillance complex (BASC) Chromatin-Remodelling G2/M-Checkpoint-Arrest Histondeacetylierung Apoptose


654 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie

gleichzeitiger Funktionsverlust von BRCA1 und p53 lässt Zellen


mit genomischer Instabilität überleben, was zur Tumorbildung . Tab. 53.2 Genloci erblicher Tumoren
führt. N-terminal weist BRCA1 eine Ringfingerdomäne auf, das
Suppressor- Mutatorgen Onkogen Tumor
Proteinen gemeinsam ist, die eine Ubiquitinierungsfunktion ha- gen
ben. BRCA1 kann diese Funktion als Antwort auf DNA-Schädi-
gungen nur im Komplex mit dem in dieser Sequenz homologen RB1 Retinoblastom,
Protein BARD1 (BRCA1 ring domain 1 protein) ausüben. Chro- Osteosarkom
matin-remodelling findet man immer in Bereichen eines DNA- APC MLH1, MSH2, Kolonkarzinom
Doppelstrangbruchs. Es bildet die räumlichen Strukturen für die MSH6, PMS1, (FAPa, HNPCCb)
DNA-Reparatur. BRCA1 ist Bestandteil von mehreren Protein- PMS2

53 komplexen, die das Chromatin-remodelling steuern. WT1 Wilms-Tumor


(Nephroblastom)

p53 Li-Fraumeni-Syndrom
53.2.4 Onkogene als Ursache für vererbte (Mammakarzinom)
Tumoren: Ausnahmen bestätigen die Regel NF1 Neuroendokrine Tumo-
ren, kindliche Leukämie
In nur wenigen Fällen sind auch Mutationen in den eigentlich
BRCA 1, Mammakarzinom
dominanten Onkogenen die Ursache eines hereditären Tumors BRCA 2
oder Tumorsyndroms. Das klinisch wichtigste Beispiel für dieses
c-ret Familiäres medulläres
Phänomen sind Mutationen im c-ret-Gen, einer Rezeptor-Tyro-
Schilddrüsenkarzinom,
sinkinase. Die verschiedenen Mutationen im c-ret-Gen führen in Multiple endokrine
der Regel zum medullären Schilddrüsenkarzinom, oftmals als Neoplasie Typ 2
Teil eines Syndroms, der multiplen endokrinen Neoplasie a
Familiäre adenomatöse Polyposis coli.
(MEN). Obwohl ein defektes Allel die Aktivierung des Onkogens b
Hereditäres nicht-polypöses Kolonkarzinom.
verursacht, tritt die Erkrankung nicht im Neugeborenenalter auf,
sondern entwickelt sich in der Regel zwischen dem 30. und
40. Lebensjahr. Sie kann aber auch in frühester Kindheit auftre-
ten. Die Ursache hierfür ist bislang nicht bekannt. Prädisposition an, die durch die Interaktion mehrerer Gene oder
Der Leittumor des Syndroms, das medulläre Schilddrüsen- durch die Interaktion von Genen mit Umweltfaktoren hervorge-
karzinom (hereditäres medulläres Karzinom, C-Zellkarzinom), rufen werden könnte. Man spricht hier auch von multigeneti-
hat eine Inzidenz von etwa 5 % aller Schilddrüsenkarzinome. In scher Prädisposition. Die schon in Zusammenhang mit APC
80 % der Fälle tritt eine multiple endokrine Neoplasie vom Typ 2 oder BRCA1 genannten Polymorphismen von Genen, die die
auf. In weltweit durchgeführten molekulargenetischen Untersu- Penetranz des Karzinoms beeinflussen, könnten hier eine ent-
chungen konnte bei 97 % der betroffenen Familien mit MEN- scheidende Rolle spielen. Die häufigsten Polymorphismen des
Typ-2 eine Mutation im c-ret-Gen nachgewiesen werden. Nahe- menschlichen Genoms sind Ein-Basen-Austausche, sog. Single
zu 100 % der Genträger entwickeln im Laufe des Lebens ein Nucleotide Polymorphisms (SNPs), die bei ca. einer von tausend
Karzinom, davon etwa 70 % ein klinisch manifestes Karzinom Basen anzutreffen sind. Ihr Einfluss kann vielfältig sein. Der Na-
meist mit zervikalen Lymphknotenmetastasen und häufig mit heliegendste wäre die direkte Verstärkung oder Abschwächung
Fernmetastasen, an denen 25 % später versterben. Durch eine der Gentranskription durch unterschiedliche Bindungsaffinitä-
präsymptomatische Diagnostik kann die Indikation zur Thyreo- ten zu Transkriptionsfaktoren oder -cofaktoren in Abhängigkeit
idektomie in der asymptomatischen Phase der Erkrankung ge- von der vorhandenen Base. Eine Veränderung der Funktion des
stellt werden, wenn mit großer Sicherheit noch keine Metastasie- durch ein Gen codierten Proteins durch den SNP, z. B. der Akti-
rung eingetreten ist. Dadurch kann die Prognose deutlich ver- vität von Enzymen durch einen Aminosäureaustausch, wäre ein
bessert werden. anderer Einflussfaktor.
In . Tab. 53.2 sind die im Text genannten Genloci noch ein-
mal in der Übersicht zusammengestellt.
Zusammenfassung
Mutationen in den rezessiven Tumorsuppressor- (z. B. APC,
53.2.5 Multigenetische Prädisposition BRCA1, BRCA2) und Mutatorgenen (Reparaturenzyme der
durch niedrig-penetrante Gene bei familiär DNA z. B. MSH2, MLH2) sind die Ursache für hereditäre
gehäuften Karzinomen Karzinome. Eine Ausnahme bildet das c-ret-Onkogen, dessen
Mutationen in bestimmten Exons zum hereditären Schild-
Aufgrund der bislang durchgeführten Studien kann man davon drüsenkarzinom führen, während andere Mutationen gut-
ausgehen, dass bei Familien mit einer Häufung von Karzinomen, artige Erkrankungen zur Folge haben.
z. B. zwei und mehr Verwandten 1. Grades mit einem Mamma-
karzinom, in 75–80 % der Fälle keine isolierte Genmutation vor-
liegt. In diesen Fällen nimmt man eine schwächere genetische
53.4 · Die Tumorprogression: Molekulare Mechanismen der Metastasenbildung
655 53

. Abb. 53.6 Die Metastasierung, insbesondere die zu häufig letalen Fernmetastasen führende hämatogene Metastasierung, stellt eine lange Abfolge
von Einzelschritten dar, die grundsätzlich für alle soliden Tumoren gleich sind. Die Bildfolge stellt einzelne Schritte der Metastasierung dar. (Einzelheiten
s. Text). (Adaptiert nach Fiddler 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

53.3 Viren als Auslöser von malignen Tumoren Unter der Arbeitshypothese der viralen Onkomodulation
wurde in den letzten Jahren auch das Cytomegalievirus (CMV)
Nicht zuletzt durch die Arbeiten des deutschen Nobelpreisträgers als malignitätsförderndes Virus vorgeschlagen. In Glio- und
zur Hausen bringt man 15–20 % aller Krebserkrankungen mit Neuroblastomen wie auch in Kolon- und Prostatakarzinomen
Infektionen in Zusammenhang. Humane Papillomviren (HPV) wurden CMV-Proteine nachgewiesen und man geht davon aus,
des Typs 16/18 sind dabei mit dem Zervix(Portio-)karzinom as- dass CMV die Proliferation der Tumoren beschleunigt und die
soziiert, Hepatitis-B- und C-Viren mit dem Leberzellkarzinom. Metastasierung der Tumorzellen fördert.
Das Epstein-Barr-Virus (EBV) wird mit dem Burkitt-Lymphom,
unter Immunsuppression auftretenden B-Zell-Lymphomen, dem
Nasopharynxkrebs und dem Hodgkin-Lymphom assoziiert. Das 53.4 Die Tumorprogression: Molekulare
humane Herpes-Virus-Typ 8 (HHV8) löst v. a. bei HIV-Infizier- Mechanismen der Metastasenbildung
ten das Kaposi-Sarkom aus. Weitere seltene tumorauslösende Vi-
ren sind HTLV-1 und das Merkelzell-Polyoma-Virus. Den Begriff »Metastase« (griech. metastasis Wanderung) hat der
Die Viren sind dabei nicht onkogen, sondern sie benutzen die französische Arzt Joseph Claude Recamier 1829 in seiner Ab-
DNA-Synthesemaschinerie der Wirtszelle, um ihr Genom zu re- handlung »Recherches du Cancer« geprägt. Er hatte als erster
plizieren und neue infektiöse Viruspartikel zu bilden (7 Abb. erkannt, dass Krebszellen Sekundärtumore erzeugen können,
12.13). Das Virus setzt dabei häufig die Regulation des Zellzyklus indem sie in die Blutbahn eindringen und so in weit vom Primär-
außer Kraft und bewirkt eine gesteigerte Mitoseaktivität der Zel- tumor entfernte Körperregionen gelangen.
le mit heftiger Vermehrung von Virusnucleinsäuren und -parti- Die Fähigkeit, Sekundärtumore in anderen Organen zu bil-
kel, was in der Regel zum Tode der Zelle führt. Oder es ändert die den, ist eine definitive Eigenschaft maligner Tumoren, die bei ca.
Geschwindigkeit des Zellzyklus nicht und wird lediglich als ein 90 % der Patienten die Todesursache darstellt. Die Entwicklung
»Gast« bei jedem Zellzyklus mit der zellulären DNA repliziert. In von Metastasen eines malignen Tumors beruht auf der Fähigkeit
beiden Fällen kann es akzidentiell zu Mutationen in der DNA der weniger Zellen, nach der Ablösung vom Primärtumor zu überle-
Wirtszelle kommen und die maligne Transformation induziert ben und in einem anderen Organ weiterzuwachsen (. Abb. 53.6).
werden. Der Eingriff in die Zellzyklusregulation der ansonsten Die Absiedlung der Zellen kann dabei über die Lymphbahn oder
heterogenen Gruppe der DNA-Viren findet dabei durch Seques- über neugebildete Kapillaren (Angioneogenese) direkt in die
trierung von Tumorsuppressorgenen statt. So bindet das E6- Blutbahn erfolgen. Eine lange Abfolge von Einzelschritten muss
Protein des HPV an p53 (7 Kap. 52.5.2) und das E7-Protein an von einer Tumorzelle durchlaufen werden, bis es zur Bildung
RB1 und bewirkt deren Ubiquitinierung (7 Kap. 50). Die Sup- einer Metastase kommt. Die Einzelschrittfolge ist dabei grund-
pression von p53 verhindert, dass Tumorzellen mit genetischen sätzlich für alle malignen Tumoren gleich. Nach der Invasion der
Aberrationen in der S-Phase arretiert werden oder in die Apop- Tumorzellen durch die Basalmembranen der Organe in das um-
tose gehen. E7 verdrängt die Proliferationsfaktoren E2F und DP1 gebende Gewebe mittels proteolytischer Enzyme, Adhäsions- und
aus ihrer Bindung an RB1 und ermöglicht so den Eintritt der Migrationsmechanismen 1 erfolgt ihr Übertritt, oder wahr-
Zellen in die S-Phase des Mitosezyklus (7 Kap. 43). scheinlicher, der Übertritt von Zellaggregaten in das Gefäßsystem
656 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie

2 . Nach der Ausbreitung mit dem strömenden Blut kommt es der Basalmembran (z. B. Kollagen IV, Laminin), verschiedene
nach Adhärenz der Zellen an das Endothel des Gefäßsystems zur Kollagene (z. B. Kollagen I) und Proteoglykane (7 Kap. 71). Pro-
Extravasation 3 . Die Invasion im Zielgewebe erfolgt über analo- teasen können auch in der EZM gebundene Wachstumsfaktoren
ge molekulare Mechanismen wie die Invasion des Primärtumors. wie bFGF (basic fibroblast growth factor), EGF, IGF (insulin-like
Das Wachstum der Tumorzellen im Parenchym des Zielorgans 4 growth factor), TGF-β und VEGF (7 Kap. 34) freisetzen und da-
mit Aufbau eines Gefäßsystems 5 kann zeitlich unmittelbar er- durch das Überleben der Tumorzellen sichern und deren Moti-
folgen oder aber über einen Zwischenzustand der Mikrometas- lität steigern. Auch die Induktion der Angioneogenese wird z. B.
tasierung 6 verlaufen, in dem einzelne Tumorzellen zunächst in infolge der Aktivierung von Gelatinase B/MMP-9 bei Melano-
Organen wie dem Knochenmark überleben und erst Jahre später men beobachtet. Allerdings können Proteasen wie MMP-2,
zur Bildung einer manifesten Metastase 7 aktiviert werden. MMP-3, MMP-9 und MMP-12 auch Inhibitoren der Angiogene-
53 Die Anhäufung von Mutationen in Tumorzellen auf dem se wie Angiostatin, ein Spaltprodukt des Plasminogens, und En-
Weg von einer hyperplastischen Organzelle zur invasiven Krebs- dostatin, ein Spaltprodukt von Kollagen XVIII, freisetzen. Die
zelle wurde schon beschrieben (7 Kap. 52.3.1). Man nimmt an, transkriptionelle Regulation der Expression der Proteasen, ins-
dass die Entstehung von Zellklonen mit der Fähigkeit zur Meta- besondere von uPA und MMPs, kann über parakrine Faktoren
stasierung keine neue Folge einer Anhäufung von Mutationen wie TNF-α, IL-1 (Interleukin-1), bFGF, EGF oder PDGF (plate-
ist, sondern unter den Karzinogenesemustern bereits angelegt let-derived growth factor) (7 Kap. 34) erfolgen, die sowohl vom
war. Dazu passt auch die klinische Beobachtung, dass Tumoren Tumor als auch von den Gewebs- und Immunzellen in der Tu-
geringer Größe bereits Fernmetastasen bilden können ohne die morumgebung sezerniert werden. Daneben erfolgt eine post-
regionären Lymphknotenstationen zu befallen. Es zeigt sich je- translationale Regulation der proteolytischen Enzyme, die als
doch, dass es Schlüsselgene gibt, deren Mutationen von essenti- inaktive Zymogene synthetisiert werden, über eine Autokatalyse
eller Bedeutung für die Metastasenbildung sind. oder durch andere Proteasen. Auf diese Weise kann die Aktivie-
Ein Beispiel für ein solches Gen ist das schon genannte rung von Kollagenase 1/MMP-1 und Stromelysin 1/MMP-3 so-
HER2-Onkogen (7 Kap. 53.1). In ca. 60 % der prämalignen Car- wohl über das uPA/Plasminogensystem als auch über Cathepsine
cinoma in situ des Mammakarzinoms ist es amplifiziert und/oder erfolgen. Physiologisch gibt es neben relativ unspezifischen Inhi-
überexprimiert. Außerdem zeigen Tierversuche, dass die Expres- bitoren (z. B. α2-Macroglobulin) sehr spezifische Inhibitoren aus
sion des HER2-Rezeptors für eine große Population von metas- der Familie der Serpine wie z. B. PAI-1 und PAI-2 (plasminogen
tasierenden Zellen absolut notwendig ist. activator inhibitor-1 und -2), die ausschließlich die Plasminogen-
Lokaler Invasion und Fernmetastasierung liegen molekulare Aktivatoren uPA und tPA (tissue-type plasminogen activator)
Mechanismen zugrunde, in denen Matrix-abbauende Enzyme, inhibieren. Dass sie gleichzeitig auch an aktivierenden Mecha-
Chemokine und Chemokinrezeptoren, vaskuläre Wachstums- nismen beteiligt sein können, deutet auf ihren Einfluss auf das
faktoren und -rezeptoren sowie dominante Rezeptor-Tyrosinki- Metastasierungspotential des Mammakarzinoms hin. Zusam-
nasen eine entscheidende Rolle spielen. men mit uPA stellt PAI-1 z. B. einen ungünstigen Prognosepara-
meter für das nodal-negative Mammakarzinom dar. Ähnliches
wurde auch für die Metalloproteaseinhibitoren TIMPs (tissue
53.4.1 Proteasen: Plasminogenaktivatoren, inhibitors of metalloproteases) beobachtet. Sie sind nicht nur an
Cathepsine und Matrixmetalloproteinasen der Blockierung der enzymatischen Aktivität der MMPs und der
ADAMs beteiligt, sondern auch an deren Aktivierung. So ver-
Ein Schlüsselmechanismus der Tumorzellinvasion stellt der par- mittelt TIMP-2 auf der Zelloberfläche zusammen mit der mem-
tielle Abbau extrazellulärer Matrixproteine dar. Die hierfür ver- branständigen Metalloprotease MT1-MMP die Umwandlung
antwortlichen Enzyme entstammen verschiedenen Protease- von Pro-MMP-2 zur aktiven Gelatinase. Adhäsive und proteoly-
familien, die nach ihrem katalytisch aktiven Zentrum klassifi- tische Mechanismen können bei der MMP-2-Aktivierung z. B.
ziert werden (7 Kap. 50.1): über das αvβ3-Integrin zusammenwirken und die Invasion der
4 Serinproteasen (z. B. Plasminaktivator, Plasminogenaktiva- Tumorzellen beschleunigen. MMP-2 kann neben MMP-14 aus
tor, Urokinasetyp uPA; Kallikreine), Laminin spezifische Fragmente abspalten, die die Motilität von
4 Cysteinproteasen (z. B. Cathepsin B, Caspasen), Tumorzellen fördern. Während die Gelatinasen MMP-2 und
4 Aspartylproteasen (z. B. Cathepsin D), MMP-9 fast ausschließlich von den Tumorzellen selbst expri-
4 Metalloproteasen, wie den Zn2+-abhängigen Matrixmetallo- miert werden, regen z. B. Melanomzellen über die Sezernierung
proteinasen (MMPs, z. B. Gelatinasen, Collagenasen) oder von IL-1 und bFGF benachbarte Fibroblasten zur Produktion
den ADAMs (a disintegrin and metalloprotease domain, interstitieller Collagenase (MMP-1) an, die das Hauptprotein des
z. B. TNFα-converting enzyme TACE/ADAM17). Bindegewebes der Dermis, Kollagen I, abbaut.

Voraussetzung für die Invasion von Tumorzellen in das umlie-


gende Gewebe ist eine verminderte Adhäsion der Zellen im Zell- 53.4.2 CXCR4, CXCL12 und Tumorzellwanderung
verband, die Migration und der Abbau der extrazellulären Mat-
rix (EZM). Es konnte gezeigt werden, dass Proteasen an allen drei Chemokine sind eine Familie von Cytokinen, die die Migration
Vorgängen entscheidend mitwirken. Komponenten der EZM, von Leukocyten direkt über die Bindung an G-Protein-gekoppel-
die von Proteasen abgebaut werden können, sind Bestandteile te Rezeptoren induzieren (7 Kap. 35.3.4). Zurzeit sind 48 Chemo-
53.4 · Die Tumorprogression: Molekulare Mechanismen der Metastasenbildung
657 53
kine (7 Tab. 34.2) und 18 korrespondierende Rezeptoren be-
kannt, die die physiologischen Leukocytenbewegungen kontrol- Gewebe als Reaktion auf malignes Wachstum gebildet wer-
lieren. Die Leukocyten wie auch zu einem geringeren Teil die den (Tumormarker). Karl Landsteiner, einer der Väter der mo-
Tumorzellmigration sind organselektiv, deshalb nimmt man an, dernen Immunologie, fasste die Erwartungen an diese Diag-
dass Chemokine eine wesentliche Rolle in der Organotropie me- nostik schon in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit
tastasierender Zellen spielen und dass die Chemokin-Rezeptor- dem Satz zusammen: »Es ist leicht verständlich, dass bis heu-
Interaktion ein wichtiger molekularer Mechanismus in der Me- te viel Aufmerksamkeit darauf verwandt wurde, die Serologie
tastasierung ist. Der Chemokinrezeptor CXCR4 wird am häufigs- von Tumoren (d. h. aus dem Blut) zu untersuchen, um eine di-
ten in Tumoren überexprimiert, z. B. im Mamma-, Prostata-, agnostische Methode für die Messung der Malignität zu ent-
Ovarialkarzinom und Melanom. CXCR4 bindet spezifisch das wickeln«. Immunoassays mit polyklonalen und monoklona-
Chemokin CXCL12 (SDF-1), das im Knochenmark die Ausrei- len Antikörpern ermöglichen die frühe Detektion von Metas-
fung von Lymphocyten reguliert. Das CXCR4/CXCL12-Rezep- tasen, bevor diese mit bildgebenden Verfahren nachweisbar
tor-Ligand-Paar scheint aber auch essentiell für die embryonale sind. Aufgrund der mangelnden Tumorspezifität sind sie aber
Entwicklung des Herzens und des Nervensystems zu sein. In nicht nur bei Tumorpatienten, sondern auch bei Patienten
Tumoren wird über CXCR4/CXCXL12 nicht nur die Migration mit benignen Erkrankungen und sogar bei Gesunden im Se-
gesteuert, sondern auch die Zelladhäsion, die Sekretion von Ma- rum messbar. In klinischen Studien muss deshalb ein Grenz-
trixmetalloproteinasen (MMP-2, MMP-9) und die Antiapoptose. wert zwischen physiologischer und pathologischer Serum-
CXCL12 aktiviert über die Bindung an CXCR4 den JNK-Signal- konzentration definiert werden. Zum Beispiel haben 80–
weg (7 Kap. 35.4.2), was wiederum zur Überexpression des Plas- 100 % der Mammakarzinompatientinnen mit Lungen- und
minogenaktivatorrezeptors vom Urokinasetyp (uPAR) führt. Lebermetastasen erhöhte Serumkonzentrationen des Tumor-
HER2 wie auch Hypoxie regulieren die CXCR4-Expression in markers cancer antigen 15-3 (CA 15-3; ≥40 U/ml) und nahezu
metastasierenden Tumorzellen; sie begünstigen so die Metasta- alle Prostatakarzinompatienten mit Knochenmetastasen er-
sierung und verschlechtern die Überlebenschancen von Tumor- höhte Serumkonzentrationen des prostataspezifischen Anti-
patienten. gens PSA (≥20 ng/ml). Einige Tumormarker sind deshalb für
die Klinik nützliche Verlaufsparameter geworden. Ein präope-
ratives Staging oder eine individuell angepasste Therapie
53.4.3 VEGF, VEGFR1, Vaskularisierung kann auf Grund ihrer mangelnden Spezifität jedoch nicht an
und Tumorzell-homing den Tumormarkern allein ausgerichtet werden.
Über den serologischen Nachweis hinaus ist das Ziel verfolgt
Ein wichtiger Faktor für die Einnistung von Tumorzellen im worden, die metastasierenden Tumorzellen selbst im Blut
Knochenmark ist der Rezeptor VEGFR1 für den vascular endo- des Patienten nachzuweisen und damit einen Parameter für
thelial growth factor (VEGF). VEGF gehört zu einer Familie von die Einschätzung des Metastasierungsrisikos eines Patienten
sieben Proteinen, welche die de novo-Bildung von Blutgefäßen zu gewinnen. Erste Berichte über den Nachweis solcher Zel-
im Embryo und die Angiogenese im adulten Organismus indu- len gehen bis an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück.
zieren. Es existieren drei Rezeptor-Tyrosinkinasen (VEGFR1–3), Pool und Dunlop isolierten bereits 1934 typische Tumorzel-
die mit unterschiedlicher Affinität die VEGFs binden. Der Li- len aus dem Blut von Karzinompatienten. In den letzten Jah-
gand-Rezeptor-Komplex, hier besonders VEGF-A und VEGFR2, ren sind halbautomatische Verfahren zur Anreicherung von
fördert die Gefäßneubildung hauptsächlich über die Stimulation zirkulierenden Tumorzellen mittels antikörpergekoppelter
des vaskulären Endothels, induziert aber auch die Migration von Magnetpartikel, die gegen epithelspezifische Proteine ge-
Monocyten und Makrophagen. VEGF wird unter Hypoxie im richtet sind, entwickelt worden. Damit konnten mit hoher
Tumorgewebe als Folge der Überexpression des hypoxia indu- Spezifität Tumorzellen im Blut von Krebspatienten nachge-
cible factor (HIF) ausgeschüttet. In der Gefäßwand fördert VEGF wiesen werden. Beim Mammakarzinom konnten z. B. Tumor-
die Produktion von Stickstoffmonoxid, dies wiederum führt zur zellen nachgewiesen werden, die das Onkogen HER2 über-
Gefäßerweiterung (Vasodilatation) und zum Absinken des Blut- exprimieren. Es zeigte sich in klinischen Studien, dass Pa-
drucks. In Tumoren wird v. a. eine erhöhte Expression von tientinnen mit HER2-positiven Tumorzellen im Blut eine sehr
VEGF-A gefunden, was zur Entwicklung einer antiangiogeneti- schlechte Prognose hatten und frühzeitig an Metastasen
schen Therapie mit monoklonalen Antikörpern gegen VEGF-A verstarben, auch wenn sie sonst gute prognostische Para-
(z. B. Bevacizumab) geführt hat. meter aufwiesen, z. B. keinen Lymphknotenbefall hatten.
Es werden große Anstrengungen unternommen die Nach-
weismethoden für Tumorzellen im Blut und ihre molekulare
Übrigens Charakterisierung zu verbessern. Für die Zukunft kann man
Zirkulierende Tumorzellen und Metastasierung deshalb annehmen, dass dieser diagnostische Ansatz Einzug
Tumordiagnostische Untersuchungen an peripherem Blut in die klinische Routinediagnostik hält.
der Patienten basieren hauptsächlich auf dem Nachweis von
Proteinen, die von den Tumorzellen oder von gesundem
6
658 Kapitel 53 · Spezifische Tumore – Entstehung, Progression und Therapie

53.5 Effektive Therapien solider Tumoren Prostatakarzinom, stellt auch die unter der taxaninduzierten
Mikrotubulibündelung und daraus folgende Zellnekrose einen
In der Behandlung maligner Tumoren wurden in den letzten wesentlichen Wirkmechanismus dar. Die erste Zulassung von
60 Jahren und werden auch weiterhin am häufigsten natürliche Taxanen in Deutschland erfolgte zur Therapie des Ovarialkarzi-
oder synthetische Substanzen eingesetzt, sog. Cytostatika, die die noms. Hinzugekommen ist der Einsatz beim Mammakarzinom,
Zellteilung und damit das Wachstum des Tumors hemmen. Die Prostatakarzinom und nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom.
pharmakologischen Wirkprinzipien lassen sich dabei in folgende Das multi drug resistance (MDR1)-Gen codiert für ein mem-
Gruppen einteilen: branständiges 170 kDa Glykoprotein (P170 oder P-Glykoprote-
4 Hemmung der DNA-Synthese durch Kettenabbruch in der in), das zur Proteinklasse der der ABC-Transporter gehört. Das
Replikation (Basenanaloga, z. B. 5’-Fluorouracil, 6-Mercap- evolutionär hochkonservierte P170-Glykoprotein kann Cytosta-
53 topurin) oder durch Hemmung der de novo-Purinbiosyn- tika wie die Taxane oder auch die Anthracycline, 5-Fluorouracil
these (Folsäureanaloga; z. B. Methotrexat). u. a. wieder aus der Zelle ausschleusen und so die Akkumulation
4 Schädigung der DNA durch Brückenbildung zwischen den zu wirksamen Konzentrationen verhindern. Eine Überexpres-
Strängen (Alkylantien z. B. Cyclophosphamid, platinhaltige sion des MDR1-Gens und Tubulindefekte, aber auch eine fehler-
Substanzen z. B. Cisplatin) und der Stabilisierung von ver- hafte Regulation der Apoptose wird als Ursache für eine Resis-
drillten DNA-Strukturen durch interkalierende Substanzen tenz von Tumorzellen gegen Taxane diskutiert.
(Anthracycline) oder Topoisomerase-I- und -II-Hemmer
(z. B. Irinotecan).
4 Inhibition des Auf- und Abbaus des Tubulussystems der 53.5.2 Antihormontherapien
Mitosespindel (Anthracycline, Taxane).
Antihormontherapien sind als spezifische moleku-
Neben der geringen Spezifität der Substanzen für Tumorzellen lare Therapien für die hormonsensitiven Karzinome
und den damit verbundenen Nebenwirkungen, wie Myelo-, Ne- der Mamma und der Prostata klinisch etabliert
phro- und Kardiotoxizität, haben alle den gemeinsamen Nach- Das Konzept für das Mammakarzinom entstand schon vor über
teil, dass sie nur proliferierende Zellen hemmen können. Tumor- 40 Jahren mit der Entdeckung des Östrogenrezeptors (ER). In der
zellen können allerdings jahrelang im Körper persistieren ohne Therapie des ER-positiven Mammakarzinoms werden selektive
zu proliferieren. Darüber hinaus können andere Eigenschaften Östrogenrezeptormodulatoren (SERM) seit langem erfolgreich
als die Proliferation für die Mortalität verantwortlich sein, z. B. eingesetzt. Sie binden kompetitiv an beide ER-Subtypen, ERα und
die Metastasierung. Deshalb werden heute in der Behandlung ERβ. Der entstehende SERM-ER-Komplex ist im Vergleich zum
von Tumorerkrankungen weitere Substanzen wie z. B. Hormone, 17β-Östradiol-ER-Komplex in der Funktion eingeschränkt. Das
therapeutische monoklonale Antikörper (7 Kap. 70.9.5) und bekannteste SERM ist Tamoxifen. Es wurde ursprünglich als
Signaltransduktionsinhibitoren eingesetzt. Kontrazeptivum entwickelt. Tamoxifen gilt als »Prodrug«, weil es
in der Leber der Patientin durch Enzyme der Cytochrom-P(CYP)-
450-Familie (CYP3A4 und CYP3A5) (7 Kap. 62.3) zunächst in
53.5.1 Moderne antimitotische Therapie: Taxane N-Desmethyltamoxifen umgewandelt wird. Sowohl dieser Meta-
bolit als auch Tamoxifen selbst werden durch CYP2D6 weiter
Taxane haben die Erfolgsrate der Therapien insbesondere des verstoffwechselt und es entstehen Endoxifen und 4-Hydroxytam-
Ovarial- und Mammakarzinoms in Kombination mit anderen oxifen. Beide Produkte haben eine wesentlich höhere Affinität für
Cytostatika oder den therapeutischen Antikörpern erheblich den Östrogenrezeptor als die Ausgangssubstanz. Da Endoxifen in
verbessert. Taxane (Paclitaxel, Docetaxel) sind pflanzliche Na- höherer Plasmakonzentration vorliegt, stellt es die eigentlich
turstoffe, Diterpenoide, die an die Fasern der Mitosespindel, den pharmakologisch wirksame Substanz dar. Eine verminderte
Mikrotubuli, binden, und so die Chromosomenseggregation CYP2D6-Aktivität verringert die Endoxifenkonzentration im
verhindern. Im Gegensatz zu den schon seit Jahrzehnten in der Plasma und damit die Wirksamkeit der Tamoxifentherapie. Viele
Onkologie eingesetzten Vinca-Alkaloiden, die zu einem Zerfall Menschen tragen genetische Varianten des CYP2D6-Gens, die
der Mikrotubuli führen, stabilisieren Taxane die Mikrotubuli. die Enzymaktivität beeinflussen: 5–10 % der Deutschen haben
Das Molekül lagert sich mit hoher Affinität an die β-Tubu- kein funktionelles CYP2D6-Enzym; weitere 10 % verfügen über
linuntereinheit der Mikrotubuli an und hemmt am (+)-Ende die eine reduzierte CYP2D6-Aktivität. Bei diesen Patientinnen kann
Depolymerisation (7 Kap. 13.2). Die Zelle bildet infolgedessen eine Tamoxifentherapie verminderte Wirksamkeit zeigen.
verkürzte und biegsamere Mikrotubuli und abnorme Mikrotu-
bulusstrukturen bis hin zu Mikrotubulusbündeln, die keine
Funktion mehr besitzen. Aufgrund des nicht funktionsfähigen
Spindelapparates kommt es zu Chromosomenbrüchen, der Ver-
längerung des Zellteilungsvorgangs oder zum Abbruch der Mi-
tose. Man geht davon aus, dass durch die taxaninduzierte Spin-
delschädigung und den Mitoseblock die mitochondriale Apop-
tose induziert werden kann und dieses den programmierten
Zelltod der Tumorzelle einleitet. Bei bestimmten Tumoren, z. B.
53.5 · Effektive Therapien solider Tumoren
659 53

. Abb. 53.7 Die Inhibition des EGF-Rezeptors duch monoklonale Antikörper über die extrazelluläre EGF-Bindungsdomäne und durch Tyrosinkinase-
Inhibitoren in der intrazellulären Tyrosinkinasedomäne

53.5.3 Anti-Rezeptor-Tyrosinkinase-Therapien tin. Mit einer Kombination von Antikörper und Chemotherapeu-
tika konnte die Ansprechrate und auch die Remissionsdauer beim
Der EGF-Rezeptor ist für fast alle häufigen Karzinome Mammakarzinom deutlich verbessert werden. Als Alternative zur
ein dominantes Molekül für Wachstum Antikörper-Therapie steht eine Tyrosinkinase-Inhibitortherapie
und Progression, was zu einer breiten Anwendung mit Lapatinib zur Verfügung, welches die Kinasen des HER2- und
der Anti-EGF-Rezeptortherapien geführt hat EGF-Rezeptors hemmt.
Für die Inhibition des EGFR sind zwei Ansätze entwickelt wor-
den (. Abb. 53.7). Ein spezifischer humanisierter Antikörper
(Cetuximab 7 Tab. 70.5) bindet in vivo an den Rezeptor und ver- Zusammenfassung
hindert seine Dimerisierung. Gleichzeitig dienen die Antikörper Die Effektivität der heutigen Tumortherapie konnte durch
als Immunstimulantien und locken cytotoxische T-Lymphocy- den Einsatz von derivatisierten Naturstoffen in der antimito-
ten an, die über die antikörperabhängige zellvermittelte Toxizität tischen Therapie, sowie durch eine gezielte Therapie mit
(ADCC; 7 Kap. 70.7.3) die Tumorzellen angreifen. Therapien mit Substanzen gegen kernständige Östrogenrezeptoren und
Rezeptorantikörpern werden v. a. beim Kolonkarzinom und bei membranständige Tyrosinkinaserezeptoren stark verbessert
Kopf-Hals-Tumoren angewendet. Eine Inhibierung von Tyrosin- werden. Dabei kommen niedermolekulare Substanzen mit
kinasemutanten, welche unabhängig von Ligandenbindung und hohen Bindungsaffinitäten zu funktionalen Domänen der
Dimerisierung konstitutiv aktiv sind, wird mit dieser Methode Proteine zum Einsatz (Taxane, Tamoxifen, Kinaseinhibitoren)
nicht erreicht. Der zweite Ansatz zielt auf die Hemmung der Ty- und auch Antikörper, die spezifisch an Epitope der Proteine
rosinkinaseaktivität des Rezeptors. Niedermolekulare EGF-Re- binden und ihre Aktivierung verhindern (EGFR, HER2).
zeptor-Tyrosinkinase-Inhibitoren hemmen durch Anlagerung
an die ATP-Bindungsstelle der cytoplasmatischen Tyrosinkinase
die Autophosphorylierung des Rezeptors und damit die Aktivie- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
rung der intrazellulären Signalkaskade. Die beiden EGF-Rezep-
tor-Tyrosinkinase-Inhibitoren Gefitinib und Erlotinib sind be-
reits für klinische Anwendungen zugelassen. Sie zeigten ihre
Wirksamkeit beim Nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom.
Der EGFR wird v. a. in der Haut exprimiert, deshalb treten
bei der Behandlung mit Antikörpern aber auch TKI akneartige
Hautausschläge auf, die aber mit einem guten Ansprechen auf die
Therapie zu korrelieren scheinen.

Anti-HER2-Therapie beruht auf der Inhibition


der Rezeptor-Tyrosinkinase HER2 mit
einem humanisierten monoklonalen Antikörper
Ein humansierter monoklonaler Antikörper gegen die extrazellu-
läre Domäne des HER2-Rezeptors ist seit September 2001 für die
Mammakarzinombehandlung zugelassen. Voraussetzung für den
Einsatz ist die nachgewiesene Überexpression des Proteins oder
eine Amplifikation des HER2-Gens im Primärtumor der Patien-
54 Gentechnik
Jan Brix, Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Georg Löffler

Einleitung net. Sie haben zum Ziel, Zellen oder Organismen dazu zu brin-
gen, fremde DNA mit spezifischen Eigenschaften aufzunehmen,
Seit den 1960er Jahren haben die Erkenntnisse über den Aufbau und in ihr Genom zu integrieren, zu replizieren und ggf. die in der
die Expression von Genen rapide zugenommen. Dazu beigetragen fremden DNA enthaltene Information zu exprimieren. Die hier-
54 haben immer ausgefeiltere Methoden, um DNA, RNA und Proteine zu notwendigen Schritte sind in . Abb. 54.1 dargestellt:
hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ihrer gegenseitigen Interaktion zu 4 Isolierung und Charakterisierung der gewünschten Nuc-
untersuchen. leinsäure. In aller Regel handelt es sich um DNA, die dann
Das breite Arsenal von molekularbiologischen Verfahren erlaubt u. a. als Fremd-DNA bezeichnet wird.
gezielte Eingriffe in das Genom von Lebewesen und wird zusammen- 4 Verknüpfung der Fremd-DNA mit einer Träger-DNA, die
fassend als Gentechnik bezeichnet. Gentechnische Methoden ermög- eine Aufnahme in die Empfängerzelle ermöglicht. Derartige
lichen darüber hinaus die Herstellung von Nucleinsäuren oder Pro- Träger-DNA-Moleküle werden als Vektoren (Genfähren)
teinen. Dazu wird neu zusammengesetzte, »rekombinante« DNA in Zel- bezeichnet.
len übertragen. Als Produkte entstehen genetically modified organisms 4 Den Einbau von Fremd-DNA in einen Vektor nennt man
(GMOs). Klonierung und die so entstandene DNA rekombinante
Molekularbiologische Verfahren sind für die Gendiagnostik, also der DNA.
Diagnose genetisch bedingter Krankheiten, wertvolle Werkzeuge. 4 Bringt man eine Bakterienzelle dazu, eine gereinigte rekom-
Außerdem wird heute eine Vielzahl innovativer Medikamente auf gen- binante DNA aufzunehmen, spricht man von Transforma-
technischem Wege in Zellkulturen hergestellt (biologicals). tion. Bakterienzellen können eine rekombinierte DNA auch
Das Humane Genomprojekt hatte sich als weltweite Kooperation zum über direkten Kontakt mit einer anderen Bakterienzelle auf-
Ziel gesetzt, alle etwa 3∙109 Basenpaare des menschlichen Genoms zu nehmen; man spricht dann von Konjugation.
sequenzieren. Es wurde im Jahre 2003 schneller als erwartet erfolgreich 4 Durch die Einschleusung der rekombinanten DNA in eine
beendet. Die enorme Datenfülle wird Wissenschaftler noch viele Jahre Empfängerzelle wird deren Genom verändert. Man spricht
beschäftigen. Sie hat ein ganz neues Forschungsgebiet, die Proteomik, von einer gentechnisch veränderten Zelle.
hervorgebracht, die sich mit dem komplexen Zusammenspiel von Pro-
teinen in verschiedenen Zellen unter verschiedenen Bedingungen be-
schäftigt (7 Kap. 6.5).

Schwerpunkte

4 Isolierung und Manipulation von Nucleinsäuren


4 Microarrays: miniaturisierte Hybridisierungsverfahren für
DNA zur Erstellung von mRNA-Expressionsprofilen
4 Genetische Fingerabdrücke auf PCR Basis in der Kriminalistik
4 DNA-Sequenzierung
4 DNA-Vektoren als Genfähren in Bakterienzellen oder
eukaryontischen Zellen
4 Biologicals: gentechnisch hergestellte Proteine in der
Therapie
4 DNA-Bibliotheken: ganze Genome werden handhabbar

54.1 Grundlagen der Gentechnik

Die zunehmenden Kenntnisse über DNA-Replikation, Tran-


skription und Translation haben Möglichkeiten zur praktischen
Anwendung in den verschiedensten Bereichen erbracht. Diese
Techniken werden zusammenfassend als Gentechnik bezeich- . Abb. 54.1 Grundprinzip gentechnischer Verfahren. (Einzelheiten s. Text)

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_54, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
54.1 · Grundlagen der Gentechnik
661 54
A

. Abb. 54.3 Denaturierung (Schmelzen) und Renaturierung von DNA

elektrophoretische Mobilität umgekehrt proportional zur mole-


kularen Masse der Nucleinsäuren. Das Prinzip des Verfahrens ist
in . Abb. 54.2 dargestellt.
. Abb. 54.2 Experimentelles Vorgehen bei der Agarosegelelektrophore- Die einzelnen DNA-Banden können im Gel, z. B. durch aro-
se. A Plattenförmige Agarosegele dienen als Träger für die elektrophore-
tische Auftrennung von DNA-Stücken entsprechend ihrer Größe. Nach Be-
matische Kationen wie Ethidiumbromid (. Abb. 54.2c), ange-
endigung der Elektrophorese wird das Gel in eine Lösung mit Ethidiumbro- färbt werden.
mid getaucht, anschließend werden im UV-Licht die DNA-Banden sichtbar
gemacht. B Mit Ethidiumbromid angefärbte DNA-Bruchstücke, die durch Nucleinsäuren können denaturiert
Behandlung der DNA des λ-Phagen mit den Restriktionsendonuclea- und renaturiert werden
sen HindIII (linke Spur), StaVIII (mittlere Spur) und AluI (rechte Spur) entste-
hen. C Struktur von Ethidiumbromid
Für ihre Rolle bei der Speicherung der genetischen Information
muss die DNA eine hohe Stabilität aufweisen, die u. a. durch die
Basenpaarungen in der Doppelhelix zustande kommt. Auch bei der
4 Bringt man eine eukaryontische Zelle dazu, rekombinante RNA-Struktur spielen Basenpaarungen – allerdings innerhalb eines
DNA aufzunehmen, nennt man das Transfektion. Einzelstrangs – eine wichtige Rolle. Andererseits sind strukturelle
4 Die Zellkolonie, die den Vektor mit der Fremd-DNA enthält Veränderungen der DNA und RNA dringend erforderlich, um die
und repliziert oder exprimiert, wird als Klon bezeichnet. genetische Information zu erhalten und weiterzugeben. Hierzu
zählt die Trennung der DNA-Doppelstränge in Einzelstränge.
Während in vivo diese Auftrennung durch spezifische Prote-
54.1.1 Isolierung und Charakterisierung der für ine vermittelt wird (7 Kap. 44.3 und 46.1), ist dies bei gereinigten
die Gentechnik benötigten Nucleinsäuren Nucleinsäuren durch physikalische Maßnahmen möglich. So
können die Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den DNA-
Nucleinsäuren müssen in reiner Form Einzelsträngen durch Erhitzen der DNA zum »Schmelzen« ge-
aus Zellen isoliert werden bracht werden. Dieser Vorgang wird auch als Denaturierung
Nucleinsäuren, v. a. DNA, die für gentechnische Zwecke, z. B. als bezeichnet (. Abb. 54.3). Auch in stark alkalischer Lösung
Fremd-DNA, verwendet werden sollen, müssen in reiner Form kommt es zur DNA-Denaturierung.
dargestellt werden. In Zellen liegen Nucleinsäuren immer als Die Schmelztemperatur der DNA hängt vom G/C-Gehalt ab,
Komplexe mit Proteinen vor. Die Nucleinsäuren werden von da G/C-Paare drei, A/T-Paare aber nur zwei Wasserstoffbrücken-
Proteinen mit Hilfe von Guanidiniumhydrochlorid in hohen bindungen ausbilden können. Die Schmelztemperatur ist darü-
Konzentrationen abgetrennt und über Ionenaustauscher gerei- ber hinaus von der Art des Lösungsmittels, der Ionenkonzentra-
nigt. Anschließend können die Nucleinsäuren durch Ausfällen tion und vom pH-Wert der Lösung abhängig.
mit Ethanol isoliert werden. Beim raschen Abkühlen einer denaturierten DNA-Lösung
bleibt die DNA denaturiert. Nur über allenfalls kurze Strecken
Für ihre Charakterisierung werden Nucleinsäuren können sich korrekte komplementäre Bereiche ausbilden und
nach ihrer Größe aufgetrennt werden durch die rasche Temperaturabsenkung quasi eingefro-
Die Auftrennung von Nucleinsäuren entsprechend ihrer Größe ren. Hält man jedoch die Temperatur der DNA-Lösung etwa
erfolgt durch Elektrophorese in Agarosegelen. Hierbei ist die 20–25 °C unter der Schmelztemperatur, können sich fehlerhaft
662 Kapitel 54 · Gentechnik

gebildete Komplementärbereiche wieder trennen und erneut


nach Partnern für die Basenpaarung suchen. Steht genügend Zeit
für diesen Prozess zur Verfügung, kommt es zur Ausbildung im-
mer längerer komplementärer Bereiche und schließlich zur voll-
ständigen korrekten Reassoziation zum DNA-Doppelstrang.
Dieser Vorgang wird als DNA-Renaturierung bezeichnet.
Wasserstoffbrückenbindungen können nicht nur intermole-
kular zwischen zwei DNA-Einzelsträngen, sondern auch intra-
molekular zwischen komplementären RNA-Bereichen oder zwi-
schen DNA und RNA ausgebildet werden. Grundsätzlich gelten
die Regeln über das Schmelzen und Renaturieren der DNA auch
für diese Wasserstoffbrückenbindungen.

54 Durch Transfer und Hybridisieren können


Nucleinsäuresequenzen identifiziert werden
Die Ausbildung von Wasserstoffbrücken zwischen zwei komple-
mentären DNA-Strängen, zwischen einem DNA-Einzelstrang
und einem komplementären RNA-Strang oder zwischen zwei
komplementären RNA-Strängen kann dazu benutzt werden, um
komplementäre Bereiche oder ähnliche Sequenzen in zwei un-
terschiedlichen Spezies oder in Geweben der gleichen Spezies
aufzuspüren. Die reversible Ausbildung von Wasserstoffbrücken
zwischen komplementären DNA- oder RNA-Abschnitten, die
Hybridisierung, spielt in der modernen Molekularbiologie und
damit in der Diagnostik von Erkrankungen, aber auch in der
Gerichtsmedizin (Forensik) eine ganz wichtige Rolle.
Die Identifizierung einer bestimmten DNA-Sequenz oder
eines bestimmten Gens unter vielen anderen Sequenzen ist dann
möglich, wenn man über eine komplementäre DNA-Sequenz
verfügt, die für diese Zwecke speziell markiert wurde. Dabei
kann diese Sequenz aus einer anderen Spezies stammen oder
auch für diese speziellen Zwecke im Labor synthetisch hergestellt
werden. Die Identifizierung einer DNA mit einer DNA-Sonde
wird nach Edwin Southern auch als Southern-Blot bezeichnet.
Das Verfahren ist schematisch in . Abb. 54.4 dargestellt und um-
fasst folgende Schritte:
4 Die nach erfolgter Elektrophorese im Agarosegel befindli-
che DNA wird mit Natronlauge denaturiert.
4 Anschließend wird das Gel mit einer Nitrozellulose-
membran bedeckt. Darüber werden mehrere Filterpapiere
geschichtet, die die Pufferflüssigkeit über Kapillarkräfte von
unten nach oben ansaugen. Mit dem Puffer wird auch die
DNA aus dem Agarosegel zur Nitrozellulosemembran be-
fördert und hier fest gebunden. Auf diese Weise entsteht ein
exakter Abklatsch (blot) des Agarosegels auf der Nitrozellu-
lose. Die einzelsträngige DNA ist auf der Nitrozellulose fest
fixiert und lässt sich auch durch Waschen mit verschiede-
nen Puffern nicht mehr ablösen.
4 Zum Auffinden einer spezifischen Sequenz der zu untersu-
chenden DNA wird die Nitrozellulose in einer Lösung in-
kubiert, die als Sonde eine markierte einzelsträngige DNA
(oder RNA) mit der komplementären Sequenz zur gesuch- . Abb. 54.4 Experimentelles Vorgehen bei der Herstellung und Entwick-
ten DNA enthält. Wenn die für die Hybridisierung notwen- lung eines Southern-Blot. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Alberts
2008, mit freundlicher Genehmigung von Taylor u. Francis)
dige Renaturierungstemperatur mehrere Stunden eingehal-
ten wird, kann die markierte Sonde an die gesuchten Se-
quenzen auf der Nitrozellulose binden und lässt sich dann
anhand ihrer spezifischen Markierung leicht nachweisen.
54.1 · Grundlagen der Gentechnik
663 54

. Abb. 54.5 Vorgehen beim DNase protection assay. Bei diesem auch als DNase footprinting bezeichneten Verfahren wird die zu untersuchende DNA zu-
nächst radioaktiv markiert und danach in An- bzw. Abwesenheit eines DNA-bindenden Proteins mit DNase I verdaut. Da die Bindung von Protein die DNA
vor dem Verdau schützt, ergibt sich im anschließenden Trenngel eine Lücke. (Einzelheiten s. Text)

Sehr häufig verwendet man als Sonde DNA-Moleküle, in zellulärer Nucleinsäuren. Sie spielen ferner eine wichtige Rolle
die das radioaktive Isotop 32P eingebaut ist. Bei nicht-ra- bei der Apoptose, dem programmierten Zelltod, bei dem DNA
dioaktiven Methoden werden Markierungen mit verschie- abgebaut wird (7 Kap. 51).
denen Chromophoren (Farbstoffe) durchgeführt. Der Verdau von DNA mit Endonucleasen kann für die Iso-
lierung und Identifizierung von DNA-Sequenzen verwendet
Die für die oben beschriebene Hybridisierung verwendeten Son- werden, an die spezifische DNA-bindende Proteine, z. B. Tran-
den können Isolate aus entsprechenden Genbanken (7 Kap. 54.3) skriptionsfaktoren, binden. Das hierbei verwendete Verfahren
sein. Ein sehr erfolgreiches Verfahren zur Herstellung spezifi- wird als DNase protection assay bezeichnet (DNase footprinting,
scher Sonden ist schließlich die Vervielfältigung der gewünsch- . Abb. 54.5). Zu diesem Zweck wird das in Frage kommende
ten DNA-Abschnitte aus biologischem Material durch die Poly- DNA-Stück an einem Ende mit dem radioaktiven Isotop 32P
merasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR, s. u.). markiert und anschließend eine Hälfte der Probe mit dem Tran-
Schließlich ist es auch möglich, chemisch synthetisierte Oligonu- skriptionsfaktor inkubiert. Anschließend werden beide Hälften
cleotide einzusetzen, die automatisiert hergestellt werden. der Probe für eine begrenzte Zeit mit DNase I behandelt. Da die-
Darüber hinaus kann die Hybridisierungstechnik dazu be- se Endonuclease DNA statistisch spaltet, ergibt sich ein Gemisch
nutzt werden, um RNA-Moleküle zu identifizieren. Eine solche aus verschieden langen Bruchstücken. Diese können mit Hilfe
Variante wird als Northern-Blot bezeichnet. der Agarosegelelektrophorese aufgetrennt und anhand der
radioaktiven Markierung durch Autoradiographie nachgewiesen
Nucleasen sind nucleinsäureabbauende Enzyme werden. In dem nicht vorbehandelten Ansatz findet sich des-
Enzyme, die Nucleinsäuren abbauen, sind Phosphodiesterasen, halb das Bild einer »Leiter«. In dem mit dem DNA-bindenden
da sie die Phosphodiesterbindungen zwischen zwei Nucleotiden Protein vorbehandelten Ansatz zeigt sich in der »Leiter« eine
spalten. Man bezeichnet diese Enzyme auch als Nucleasen oder, Lücke, da das Bindeprotein die DNA vor dem Abbau durch die
wenn sie für DNA spezifisch sind, als DNasen, bzw. wenn sie für DNase geschützt hat.
RNA spezifisch sind, als RNasen.
Nucleasen werden in Endonucleasen und Exonucleasen ein- Restriktionsendonucleasen schneiden die DNA
geteilt: an definierten Positionen
4 Endonucleasen können die Nucleinsäure an jeder beliebi- Eine besondere Bedeutung als Werkzeuge im Rahmen der Gen-
gen Stelle in kleinere Bruchstücke spalten. technologie haben Restriktionsendonucleasen (Restriktions-
4 Exonucleasen bauen die Nucleinsäure von einem Ende des enzyme) erlangt, die nur bei Bakterien vorkommen. Bakterien
Moleküls her ab. Sie unterscheiden sich in ihrer Spezifität, schützen sich mit Hilfe dieser Enzyme vor dem Eindringen frem-
indem sie die Nucleotide entweder in 5’,3’- oder in der DNA. Ihre eigene DNA wird mit Hilfe einer Reihe spezifi-
3’,5’-Richtung abspalten. scher Methylasen durch Anheftung von Methylgruppen modi-
fiziert. Fremde, in die Bakterienzellen eingedrungene DNA, z. B.
Nucleasen werden bei der Verdauung der Nahrungsnucleinsäu- durch Bakteriophagen (bakterienspezifische Viren), unterliegt
ren im Intestinaltrakt benötigt, aber auch für den Abbau intra- dieser Modifikation nicht und wird infolgedessen durch die von
664 Kapitel 54 · Gentechnik

dann z. B. in zirkuläre Plasmidvektoren zur Genexpression in


E. coli eingesetzt, »rekombiniert« werden (7 Kap. 54.2.1).

Die Bestimmung von Restriktionsfragment-


längen dient der Analyse verschiedener Allele
für ein bestimmtes Gen in der Population
Die Untersuchung des Restriktionsfragmentlängen-Polymor-
phismus (RFLP) erlaubt eine genauere Analyse von (menschli-
chen) Genomen mit der Aufdeckung von individuellen Unter-
schieden. Diese beruhen auf dem Vorkommen verschiedener
Allele für ein bestimmtes Gen in der Population. Durch die
homologe Rekombination von Chromosomen während der Mei-
ose werden die Allele unterschiedlich auf die Nachkommen eines
54 Elternpaares verteilt. Eine weitere Ursache für interindividuelle
. Abb. 54.6 Restriktionsenzyme. Spaltstellen des Restriktionsenzyms Unterschiede können Punktmutationen sein, die ggf. auch
EcoRI Krankheiten auslösen.
Das Verfahren zur Untersuchung des RFLP (. Abb. 54.7) ist
bakteriellen Zellen gebildeten Restriktionsendonucleasen abge- eine Kombination von DNA-Fragmentierung mit Restriktions-
baut und damit entfernt. endonucleasen und Southern-Blotting. Man geht dabei so vor,
Restriktionsenzyme sind heute unverzichtbare Werkzeuge dass ein mit einer Sonde identifizierbarer DNA-Abschnitt mit
der Gentechnik, da sie große DNA-Stücke, z. B. ganze Chro- Restriktionsendonucleasen in definierte Bruchstücke gespalten
mosomen oder auch ganze Genome, in kleine, handhabbare wird, die mit der Agarosegelelektrophorese separiert und danach
DNA-Fragmente spalten können. Sie schneiden DNA an genau mit Hilfe der Sonde nachgewiesen werden können. Unterschiede
definierten, in der Regel palindromischen Erkennungssequen- dieses Abschnitts innerhalb zweier Individuen, die sich auf ver-
zen (7 Kap. 10.2.2), die meistens zwischen 4 und 8 bp lang sind. schiedene Allele oder eine Punktmutation innerhalb eines Gens
Ein prominentes Beispiel für ein Restriktionsenzym ist EcoRI, zurückführen lassen, erzeugen ggf. zusätzliche Schnittstellen
das aus dem Bakterium E. coli erstmals isoliert wurde (. Abb. oder führen zum Verlust einer Schnittstelle. RFLPs wurden frü-
54.6). Die Erkennungssequenzen verschiedener Restriktions- her zur Suche nach Genmutationen verwendet.
enzyme sind in . Tab. 54.1 dargestellt. Bei der Spaltung von DNA
mit EcoRI innerhalb der hexameren Erkennungssequenz Der genetische Fingerabdruck analysiert
5’-GAATTC-3’ entstehen Fragmente mit 5’-überhängenden, sog. Sequenzbereiche der DNA, die für ein bestimmtes
klebrigen Enden (sticky ends). Bei anderen Restriktionsenzymen Individuum charakteristisch sind
wie z. B. Sau3A führt die Spaltung einer tetrameren Erkennungs- Das Verfahren des genetischen Fingerabdrucks analysiert keine
sequenz 5’-GATC-3’zu glatten/stumpfen Enden (blunt ends). für Proteine codierenden Genabschnitte, sondern kleine sich
Durch den Einsatz von verschiedenen Restriktionsenzymen wiederholende Abschnitte auf der DNA, sog. repetitive Sequen-
ist man in der Lage, eine genau definierte Sequenz aus einem zen, die als VNTRs (variable number tandem repeats) oder STRs
DNA-Strang herauszuschneiden. Heute sind ca. 300 Restrik- (short tandem repeats) bezeichnet werden. VNTRs und STRs
tionsenzyme mit unterschiedlichen Erkennungssequenzen kom- unterscheiden sich in der Länge der Wiederholungssequenzen,
merziell erhältlich. Die entstehenden DNA-Fragmente können für beide gilt jedoch, dass die Anzahl der Wiederholungen für ein

. Tab.12.1. Restriktionsendonucleasen

Enzym Mikroorganismus Erkennungssequenz Spaltprodukt Anmerkungen

EcoRI Escherichia coli 5’-GAATTC-3’ 5’-G AATTC-3’ sticky ends


3’-CTTAAG-5’ 3’-CTTAA G-5’

BamHI Bacillus amyloliquefaciens 5’-GGATCC-3’ 5’-G GATCC-3’ sticky ends


3’-CCTAGG-5’ 3’-CCTAG G-5’

NotI Nocardia otitidis-cavarium 5’-GCGGCCGC-3’ 5’-GC GGCCGC-3’ sticky ends


3’-CGCCGGCG-5’ 3’-CGCCGG CG-5’

Sau3A I Staphylococcus aureus 5’-GATC-3’ 5’-GA TC-3’ blunt ends


3’-CTAG-5’ 3’-CT AG-5’

SmaI Serratia marcescens 5’-CCCGGG-3’ 5’-CCC GGG-3’ blunt ends


3’-GGGCCC-5’ 3’-GGG CCC-5’
54.1 · Grundlagen der Gentechnik
665 54

. Abb. 54.7 Schematische Darstellung der Allel-Analyse eines codieren- . Abb. 54.8 Schematische Darstellung des Vorgehens bei der Erstellung
den Genabschnitts durch Bestimmung der Restriktionsfragmentlängen. eines genetischen Fingerabdrucks. Bei Hans und Klara sowie ihrem ge-
(Einzelheiten s. Text) meinsamen Kind Kurt wird eine STR-Sequenz untersucht, die in verschie-
denen Kopienzahlen in der Population vorkommt. Die zu untersuchende
DNA der drei Personen wird mit Hilfe entsprechender primer mit der Poly-
Individuum spezifisch ist. Das beim genetischen Fingerabdruck merasekettenreaktion amplifiziert und die dabei entstandenen Bruchstücke
heute verwendete Verfahren ist in . Abb. 54.8 dargestellt. Es setzt anschließend mit Hilfe einer Gelelektrophorese ihrer Größe nach separiert.
Hans ist heterozygot für zwei Allele mit vier bzw. sechs repeats, Klara für
voraus, dass die eine Wiederholungssequenz flankierenden DNA-
zwei Allele mit zwei und vier repeats. Bei ihrem Kind finden sich zwei Allele
Abschnitte soweit bekannt sind, dass an sie primer zur Ampli- mit zwei bzw. zehn repeats. Diese Konstellation erweckt den Verdacht, dass
fizierung mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR, Hans nicht der Vater von Kurt ist. Allerdings muss dies noch durch Einbezie-
7 Kap. 54.1.2) gebunden werden können. Das auf diese Weise hung weiterer Wiederholungssequenzen verifiziert werden
hergestellte PCR-Produkt wird mit Hilfe der Agarose-Gelelektro-
phorese untersucht. Aus der Länge des DNA-Fragmentes lässt
sich auf die Anzahl der Wiederholungssequenzen schließen. Die Da die jeweilige DNA-Sequenz und die Position der Sonden
Wahrscheinlichkeit, dass zwei Individuen eine unterschiedliche bekannt sind, kann jedes unbekannte DNA-Fragment, welches
Anzahl an Wiederholungssequenzen aufweisen, ist sehr hoch. nach Hybridisierung an eine DNA-Sonde auf dem Chip bindet,
Dehnt man die Untersuchung auf 8‒15 unterschiedliche tandem zugeordnet und identifiziert werden.
repeats aus, so liegt die Häufigkeit der zufälligen Übereinstim- So wird die DNA-Chiptechnik zur Analyse der Genexpres-
mung von zwei Individuen bei mehr als 1:1010. Die Wahrschein- sion in Tumorgewebe im Vergleich zu gesundem Gewebe einge-
lichkeit, innerhalb der Weltbevölkerung (0,7 ∙ 1010) zweimal das setzt (. Abb. 54.9). Dazu wird die gesamte exprimierte mRNA
gleiche Muster zu finden, ist daher verschwindend gering. Nur bei aus beiden Geweben isoliert und anschließend mit der reversen
eineiigen Zwillingen ist der genetische Fingerabdruck identisch. Transkriptase in doppelsträngige cDNA umgeschrieben. Die zu
Der genetische Fingerabdruck wird sowohl zum Vaterschafts- vergleichenden cDNAs werden mit einem grünen Fluoreszenz-
nachweis als auch zum Täternachweis in der Forensik benutzt. farbstoff (gesundes Gewebe) bzw. einem roten Fluoreszenzfarb-
Das Verfahren hat gegenüber der Bestimmung des Re- stoff (Tumorgewebe) markiert, gemischt und mit den einzel-
striktionsfragmentlängen-Polymorphismus den Vorteil, mit strängigen bekannten DNAs auf dem DNA-Chip (spots) hybridi-
geringsten Mengen DNA (theoretisch 1 Molekül) auszukom- siert. Bei der lasergestützten Auswertung leuchtet ein spot grün,
men, da durch die Polymerasekettenreaktion eine Amplifizie- wenn das Gen vorwiegend in gesundem Gewebe, und rot, wenn
rung des DNA-Stücks erfolgt. es überwiegend in Tumorgewebe exprimiert wird. Ist das Gen in
beiden Geweben vergleichbar aktiv, erscheint der spot gelb. Die
DNA-Chips erlauben die Analyse grüne/rote Fluoreszenzintensität ist dabei proportional zur Men-
der Expression von Tausenden von Genen ge an spezifischer cDNA und damit auch zur spezifischen mRNA.
in einem einzigen Experiment Durch einen Vergleich der Genexpressionsmuster von Tu-
DNA-Chips, auch als DNA-Microarrays bezeichnet (. Abb. 54.9), morzellen mit dem von gesunden Zellen erhält man Informatio-
sind Objektträger, auf die auf sehr engem Raum bis zu ca. 10.000 nen über Fehlsteuerungen in Krebszellen, die der Entwicklung
einzelsträngige DNA-Sonden mit Hilfe eines computergesteuer- neuer Therapiestrategien dienen können.
ten Roboters aufgebracht wurden. Als derartige Sonden können
DNA-Fragmente aus cDNA-Bibliotheken (7 Kap. 54.3), einer
Polymerasekettenreaktion oder auch kürzere synthetische Oligo-
nucleotide dienen. Die Positionen aller DNA-Sequenzen auf dem
Objektträger sind genau abgespeichert.

Restriktionsfragmentlängen-Polymorphismus (RFLP)
666 Kapitel 54 · Gentechnik

54

. Abb. 54.9 DNA-Chip/Microarray-Analyse. (Einzelheiten s. Text). (Adap-


tiert nach Staal et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Macmillan
Publishers, Ltd)

54.1.2 PCR – Die Polymerasekettenreaktion

Spezifische DNA-Sequenzen können mit Hilfe


der Polymerasekettenreaktion amplifiziert werden
1984 veröffentlichte Kary Mullis eine Methode zur Amplifizie-
rung von Nucleinsäurefragmenten in vitro, die inzwischen zu
einer der am häufigsten benutzten Standardmethoden der Mole-
kularbiologie geworden ist. Sie kommt ohne die Verwendung
von Zellen aus. Das Prinzip dieser auch als Polymeraseketten- . Abb. 54.10 Amplifizierung einer spezifischen DNA-Sequenz mit Hilfe
reaktion (PCR, polymerase chain reaction) bezeichneten Metho- der Polymerasekettenreaktion
de ist in . Abb. 54.10 dargestellt. Zunächst wird durch Erhöhung
der Temperatur auf etwa 90 °C die DNA, die die gewünschte zu
amplifizierende DNA-Sequenz enthält, in Einzelstränge aufge-
54.1 · Grundlagen der Gentechnik
667 54
schmolzen. Danach wird der Ansatz auf etwa 50–60 °C abgekühlt
und zwei aus etwa 15–25 Basen bestehende einzelsträngige Oli-
gonucleotid-primer zugesetzt, die zur Sequenz an den 3’-Enden
der beiden DNA-Einzelstränge komplementär sind. Durch Zu-
satz einer thermostabilen DNA-Polymerase und den vier Des-
oxyribonucleosidtriphosphaten dATP, dTTP, dCTP, dGTP wer-
den die beiden Einzelstränge zu den jeweiligen Doppelsträngen
komplementiert. Anschließend wird dieser Reaktionszyklus mit
den folgenden Schritten wiederholt:
4 Denaturierung
4 Bindung der Oligonucleotid-primer (annealing)
4 Polymerasereaktion

Bei mehrfacher Wiederholung dieses Zyklus ergibt sich eine ex-


ponentielle Zunahme der DNA-Moleküle. Die Amplifizierung
mit der PCR-Methode ist außerordentlich effektiv. Mit nur 20 Re-
aktionszyklen ergibt sich eine 220 (106)fache Amplifizierung eines
Moleküls doppelsträngiger DNA. Ein einzelner Zyklus dauert
etwa 5 min, sodass eine DNA-Vermehrung in 1,5 bis 2 h erzielt
werden kann. Da in jedem Zyklus zur Trennung der DNA-Dop-
pelstränge eine kurze Hitzebehandlung notwendig ist, benötigt
man für die PCR eine thermostabile DNA-Polymerase, die z. B.
aus thermophilen Bakterien stammt. Diese Bakterien leben in
heißen Quellen und produzieren Enzyme, die auch bei Tempera-
turen von 90–95 °C stabil sind. Die für die PCR häufig verwende-
te Taq-Polymerase stammt aus dem Organismus Thermus aqua-
ticus. Die einzelnen Reaktionszyklen der PCR werden in automa-
tisierten Thermostaten (Thermocyclern) durchgeführt.
Das PCR-Verfahren wurde ursprünglich für die Amplifizie-
rung von DNA-Fragmenten beschrieben und eignet sich für
DNA-Stücke von einigen 100 bis mehreren 1.000 Basenpaaren
Länge. Inzwischen sind eine Reihe von Varianten der PCR be-
schrieben worden. So ist es beispielsweise mit Hilfe der RT-PCR
(Reverse Transkription-PCR) möglich, auch RNA als Ausgangs-
material zu verwenden. Isolierte mRNA wird zunächst mit der
reversen Transkriptase in doppelsträngige cDNA umgeschrie-
ben, die dann als Ausgangsmatrize zur PCR-Amplifikation dient.
Die PCR-Methodik bietet viele Anwendungsmöglichkeiten.
Mit ihrer Hilfe können nicht nur DNA-Fragmente amplifiziert,
sondern auch neue Gene identifiziert und verändert, Krankheits-
erreger bestimmt und Untersuchungen über die Evolution der
Arten durchgeführt werden. Eine mit der besonders hohen Am-
plifikationsfähigkeit der PCR-Methode zusammenhängende
Fehlerquelle besteht in der Kontamination durch Fremd-DNA.
Diese kann z. B. aus Hautschuppen oder im Speichel enthaltenen
Zellen des Experimentators stammen, am häufigsten aber aus . Abb. 54.11 Prinzip der DNA-Sequenzierungstechnik nach Sanger und
vorangegangenen PCR-Ansätzen. Aus diesem Grund sind für Coulson. (Einzelheiten s. Text)
alle PCR-Experimente Negativkontrollen eine unabdingbare
Voraussetzung.
Frederick Sanger und Charles A. Coulson ein enzymatisches
Verfahren entwickelt. Das enzymatische Verfahren nach Sanger
54.1.3 Sequenzierung von DNA hat sich inzwischen durchgesetzt und ist automatisiert worden.
Daher können sehr große Genome wie das menschliche in relativ
Basensequenzen der DNA werden mit Hilfe kurzer Zeit sequenziert werden.
der Kettenabbruchmethode bestimmt Die DNA-Sequenzierung nach der von Frederick Sanger ent-
Für die Sequenzaufklärung auch großer DNA-Fragmente wurde wickelten enzymatischen Kettenabbruchmethode umfasst fol-
von Alan Maxam und Walter Gilbert ein chemisches und von gende Schritte (. Abb. 54.11):
668 Kapitel 54 · Gentechnik

. Abb. 54.12 Didesoxy-ATP als Beispiel für ein Didesoxynucleosidtri-


phosphat

4 Das zu sequenzierende DNA-Fragment wird an seinem


54 3’-Ende mit einer komplementären einzelsträngigen DNA,
einem sog. primer, hybridisiert. Dieser sollte eine Länge
von 15–20 Basen haben.
4 Mit Hilfe der DNA-Polymerase I (7 Kap. 44) wird an den
primer ein DNA-Strang synthetisiert, der zu dem zu se-
quenzierenden DNA-Abschnitt komplementär ist. Hierzu
werden die vier benötigten Basen als Desoxyribonucleo-
sidtriphosphate (dATP, dTTP, dCTP, dGTP) zugesetzt. Ein
sequenzspezifischer Kettenabbruch wird dadurch erzwun-
gen, dass der Sequenzierungsansatz in vier gleiche Teile auf-
geteilt und in jeden Ansatz eine geringe Menge eines der
vier 2’,3’-Didesoxyribonucleosidtriphosphate (ddATP,
ddTTP, ddCTP, ddGTP) gegeben wird (. Abb. 54.12). Wird
dieses Didesoxynucleotid anstelle des normalen Desoxy-
nucleotids in die wachsende Polynucleotidkette eingebaut,
so wird das Kettenwachstum beendet, da keine freie 3’-OH-
Gruppe für die Polymerisierung mehr vorhanden ist.
4 Ist die Menge an Didesoxyribonucleosidtriphosphaten ge-
ring, wird es nicht an jeder möglichen Stelle innerhalb der
Sequenz sondern statistisch eingebaut und es entsteht ein
Gemisch unterschiedlich langer Ketten, welche auf einem
Polyacrylamidgel elektrophoretisch ihrer Länge nach auf-
getrennt werden.
4 Zur Detektion kann z. B. eines der Desoxyribonucleosidtri-
phosphate (α32P-dATP) radioaktiv markiert werden. Durch
Autoradiographie werden alle Ketten sichtbar gemacht und
die Nucleotidsequenz des komplementären DNA-Strangs
kann abgelesen werden wie in . Abb. 54.11 demonstriert.

Für die automatisierte DNA-Sequenzierung ist eine spezielle


Variante der Kettenabbruchmethode entwickelt worden (. Abb.
54.13). Sie beruht auf der Verwendung von primern, die mit Flu-
oreszenzfarbstoffen markiert sind. Benutzt man für jedes der vier
Nucleotide einen primer mit jeweils einem anderen Fluoreszenz-
farbstoff, können die vier Ansätze in einer einzigen Spur des Se-
quenziergels aufgetrennt werden. Mit einem spezifischen Laser-
. Abb. 54.13 Automatisierte DNA-Sequenzierung
fluoreszenzphotometer, welches zwischen den vier Fluoreszenz-
farbstoffen unterscheiden kann, lässt sich dann die Sequenz
automatisiert ablesen. Für die Sequenzierung ganzer Genome
war die Verwendung derartiger Techniken eine wichtige Voraus-
setzung.
54.2 · Vektoren zum Einschleusen fremder DNA in Wirtszellen
669 54

Übrigens Zusammenfassung
Sequenzierung der nächsten Generation (next generation Für die Molekularbiologie und Gentechnik stellt die Entwick-
sequencing); (Metzker ML 2010) lung geeigneter Methoden zur Isolierung von DNA- und
Die Techniken der DNA-Sequenzierung sind in den letzten RNA-Molekülen eine ganz wesentliche Voraussetzung dar.
Jahren ständig weiter entwickelt worden, mit dem Ziel im- Nucleinsäuremoleküle können durch entsprechende Nucle-
mer größere DNA-Sequenzmengen in immer kürzerer Zeit asen in Bruchstücke fragmentiert werden, wobei für die DNA
und zu geringeren Kosten zu erhalten. So ist es inzwischen besonders die Spaltung mit Restriktionsendonucleasen von
möglich, mittels dieser Sequenzierungsmethoden der großer Bedeutung ist, da hierbei Enden mit definierter
nächsten Generation (next generation sequencing) ganze Basensequenz entstehen.
Genome in wenigen Tagen für 1000 € zu sequenzieren. DNA kann mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion verviel-
Einige dieser Methoden sind eine Weiterentwicklung der fältigt werden. Durch mehrere Reaktionszyklen stellt eine
enzymatischen Sanger-Methode, d. h. auch bei Ihnen wird thermostabile DNA-Polymerase zahlreiche Kopien von einer
ausgehend von einem Primer mit der DNA-Polymerase ein DNA-Matrize her.
zweiter komplementärer Strang synthetisiert. Allerdings Fragmente von Nucleinsäuren können elektrophoretisch mit
wird die Verlängerung des neuen Stranges direkt verfolgt. Hilfe der Agarosegelelektrophorese entsprechend ihrer
Bei dem sog. Pyrosequencing wird in rascher Folge jeweils Größe aufgetrennt werden. Mit Hilfe von markierten Sonden
nur eines der vier Nukleosidtriphosphate angeboten. Wird gelingt durch Hybridisierung die Lokalisation spezifischer
es eingebaut, so kommt es zur Freisetzung eines Pyrophos- Basensequenzen in diesen Fragmenten. Hierfür gängige
phatrestes. Durch eine nachgeschaltete enzymatische Reak- Verfahren sind Southern- und Northern-Blotting.
tion wird das Pyrophosphat mittels der ATP-Sulfurylase mit Von besonderer Bedeutung sind Verfahren zur DNA-Sequen-
Adenosyl-5’-phosphosulfat zu ATP umgesetzt (7 Abb. 3.17). zierung. Bei der heute allgemein üblichen Kettenabbruch-
Das gebildete ATP wird dann über die Luciferinreaktion methode wird mit Hilfe der DNA-Polymerase eine Replika-
(. Abb. 54.21) in einen Lichtblitz (daher der Name Pyro- tion des zu sequenzierenden DNA-Stückes durchgeführt,
sequencing) umgewandelt, der über einen Lichtleiter und wobei durch Zugabe von Didesoxynucleosidtriphosphaten
angeschlossenen Detektor quantitativ erfasst wird. Die sequenzspezifische Bruchstücke erzeugt werden.
Stärke des Lichtsignals ist dabei direkt proportional der Zahl
der eingebauten Nukleotide. Durch eine Anordnung, bei der
Hunderte von Sequenzreaktionen in miniaturisierten Reak-
tionsgefäßen parallel ablaufen, können in wenigen Stunden 54.2 Vektoren zum Einschleusen fremder DNA
zahlreiche DNA-Sequenzen automatisiert erfasst werden. in Wirtszellen
Noch eleganter ist die Sequencing-by-synthesis-Methode.
Hierbei werden verschiedene DNA-Stränge über Adaptoren 54.2.1 Bakterielle Vektoren
an einer Chip-Oberfläche fixiert und amplifiziert. Nach Auf-
schmelzen der Doppelstränge werden Sequenzierprimer Bakterielle Vektoren leiten sich von natürlichen
zugegeben sowie alle vier Nuklesidtriphosphate gekoppelt Plasmiden oder Bakteriophagen ab
jeweils an einen von vier unterschiedlich farbigen Fluoro- Für alle gentechnischen Verfahren ist die Vermehrung isolierter,
phoren. Zusätzlich sind die Nukleotide an der 3’-OH-Gruppe spezifischer DNA-Sequenzen in beliebigen Mengen eine wichti-
reversibel blockiert, sodass jeweils immer nur ein Nukleotid ge Voraussetzung. Bakterien sind ideale Werkzeuge für diesen
eingebaut werden kann. Durch einen kurzen Laserblitz wird Zweck, da sie eine hohe Vermehrungsrate zeigen; außerdem ver-
der eingebaute Fluorophor über eine hochempfindliche fügen sie häufig über Plasmide, die sich als Vektoren (Genfäh-
Farbkamera detektiert. Nachdem die Blockierung der 3’-OH- ren) für den DNA-Transfer eignen.
Gruppe und das Fluorophor chemisch abgelöst wurden, Plasmide sind ringförmige DNAs, die eine Startstelle für die
kann das nächste Nukleotid eingebaut werden. Auch hier DNA-Polymerase besitzen (ori = origin of replication) und sich
können parallel auf einem wenige Zentimeter großen Chip deswegen unabhängig vom bakteriellen Chromosom replizie-
in kurzer Zeit Hunderte von parallelen Sequenzierungen ren. In Bakterien können natürlich vorkommende Plasmide die
ablaufen. Gene für einen Transfer zwischen Bakterienzellen (Konjuga-
Mit beiden Methoden können in kurzer Zeit und preiswert tion) oder auch für Antibiotikaresistenzen tragen. Nach Lyse der
zahlreiche DNA-Sequenzen von 300-400 bp Länge genau Bakterien können Plasmide durch Fällung mit Salzlösung und
bestimmt werden. Aus diesen dann mit Hilfe spezieller Com- Zentrifugation von bakteriellen Chromosomen abgetrennt und
puterprogramme ganze Genome zusammenzusetzen, ist in hoher Reinheit isoliert werden. Um für die Gentechnik
Aufgabe der Bioinformatik. Tatsächlich ist derzeit nicht die brauchbar zu sein, müssen die »natürlichen Plasmide« modifi-
Beschaffung von Sequenzdaten der limitierende Faktor in ziert werden.
der Genomforschung, sondern deren sinnvolle Auswertung.
670 Kapitel 54 · Gentechnik

. Abb. 54.14 Transformation von Bakterien mit Plasmiden. A Aufbau des


häufig verwendeten Plasmids pUC18 als Beispiel für einen typischen Plas-
A midvektor. B Klonierung von Fremd-DNA in ein Plasmid und Transformation
sowie Selektion von Bakterienzellen. ori: Replikationsursprung in Bakterien;
ampR: Gen für Ampicillinresistenz als Selektionsmarker; Polyklonierungsstel-
le: Sequenz mit den Schnittstellen für die angegebenen Restriktionsendo-
nucleasen. Derartige Polyklonierungsstellen bieten entsprechende Mög-
lichkeiten bei der Wahl der verwendeten Restriktionsendonucleasen; lacZ’:
Fragment des lacZ’-Gens aus E. coli, welches für β-Galactosidase codiert;
lac-Promotor: Promotor für das lacZ‘-Gen. (Einzelheiten s. Text)

54

Vektoren benötigen eine Polyklonierungsstelle und Plasmid-DNA über ihre sticky ends miteinander verbinden
Um das Einfügen der fremden DNA zu erleichtern, verfügen die (. Abb. 54.14B). Mit Hilfe von DNA-Ligase (7 Kap. 44) werden
für gentechnische Zwecke verwendeten Plasmide über eine sog. zwischen Fremd-DNA und Plasmid-DNA die nötigen Phospho-
Polyklonierungsstelle (multiple cloning site, MCS, . Abb. 54.14A). diesterbindungen geknüpft.
Sie besteht aus einer Basensequenz, in der hintereinander die
Schnittstellen häufig verwendeter Restriktionsendonucleasen Resistenzgene erlauben die Kontrolle
eingefügt sind. der Transformation
Wählt man eine Restriktionsendonuclease aus, die die Vektoren müssen zunächst über einen Marker verfügen, der den
Fremd-DNA an beiden Seiten des zu klonierenden Gens spaltet Nachweis zulässt, dass das Plasmid auch tatsächlich von den Bak-
und schneidet damit auch das Plasmid, können sich Fremd-DNA terienzellen aufgenommen wurde. Meist geschieht dies durch
54.2 · Vektoren zum Einschleusen fremder DNA in Wirtszellen
671 54

. Abb. 54.15 Das bakterielle Expressionsplasmid pET. ori: Replikationsur-


sprung in Bakterien; ampR : Gen für Ampicillinresistenz als Selektionsmar-
ker; MCS: multiple cloning site; lacO: Lactoseoperator; lacI: Lactose-Repress- . Abb. 54.16 Aufbau eines typischen für tierische Zellen geeigneten Ex-
orgen; PT7: Promotor für die virale RNA-Polymerase T7 pressionsvektors. Der Vektor enthält den Promotor des Cytomegalie-Vi-
rus (CMV), einen starken Promotor, hinter dem sich die multiple cloning site
befindet. Als Selektionsmarker für tierische Zellen enthält das Plasmid das
Neomycin-Resistenzgen neoR. Zur Verbesserung der Expression befindet
Einführung eines Resistenzgens. So enthält der in . Abb. 54.14A sich im Anschluss an die Fremd-DNA ein Intron, eine Terminationssequenz
dargestellte, sehr häufig verwendete Vektor pUC18 hierfür das aus dem SV40-Virus sowie ein Polyadenylierungssignal. Für die Verwen-
Ampicillinresistenzgen ampR, das für die Synthese der β-Lacta- dung in Prokaryonten trägt der Vektor das Ampicillin-Resistenzgen ampR
mase codiert, die den β-Lactamring, z. B. von dem Antibiotikum sowie einen bakteriellen Replikationsursprung (ColE1ori). MCS: multiple
cloning site
Ampicillin spaltet. Bakterien, die mit diesem Plasmid erfolgreich
transformiert wurden, können auf ampicillinhaltigen Nährbö-
den wachsen (. Abb. 54.14B). multiple cloning site) liegt der Lactoseoperator, gefolgt vom
Da die Ausbeute bei der Herstellung eines rekombinanten Promotor für die virale RNA-Polymerase T7. Außerdem
Plasmids sehr niedrig ist, weil auch »leere« Plasmide ligiert wer- enthält das Plasmid das lacI-Gen, das für den lac-Repressor
den können, ergibt sich das Problem, diejenigen Bakterien, die codiert. Der lac-Repressor bindet an den lac-Operator im
ein Plasmid mit eingebauter Fremd-DNA tragen, von denjenigen Plasmid und verhindert die Transkription der T7-Polyme-
zu unterscheiden, die ein Plasmid ohne fremde DNA enthalten. rase (7 Kap. 47.1 und 54.3).
Bei dem Plasmid pUC18 ist die Polyklonierungsstelle in das 4 Nach Vermehrung der Plasmide in den transformierten
lacZ’-Gen von E. coli so eingefügt, dass die Expression der Bakterienzellen, die die virale RNA-Polymerase T7 unter
β-Galactosidase vom lacZ’-Gen nicht gestört ist. Bakterien, die der Kontrolle des lac-Promotors exprimieren, setzt man
mit dem ursprünglichen pUC18 transformiert wurden, können den Induktor Isopropylthiogalactosid (IPTG) zu. Dieses
mit Hilfe der β-Galactosidase eine Verbindung mit einer glyco- Homologe der Lactose bindet an den lac-Repressor, der
sidischen Bindung (X-Gal) unter Bildung eines Farbstoffs spal- dann den Operator frei gibt (7 Kap. 47.1). Damit sind in
ten, sodass sich ihre Kolonien blau anfärben. Wird in die Poly- der Zelle große Mengen der T7-RNA-Polymerase vorhan-
klonierungsstelle eine fremde DNA eingeschleust, wird das den und die Transkription der zu exprimierenden DNA
lacZ’-Gen zerstört und die Bakterien sind nicht mehr imstande, kann beginnen. Es werden große Mengen mRNA syntheti-
β-Galactosidase zu produzieren. Sie bilden deshalb ungefärbte siert, die rasch vom bakteriellen Proteinbiosyntheseapparat
Kolonien (. Abb. 54.14B). in Proteine translatiert werden.

Vektoren, die sich für die Expression Häufig produzieren Bakterien auf diese Weise Fremdproteine in
von Proteinen eignen, enthalten Kontrollsequenzen so großen Mengen, dass diese in unlöslicher, denaturierter Form
für Transkription und Translation in sog. inclusion bodies in den Zellen abgelagert werden. Hier
Bis etwa 1980 konnten zelleigene Proteine nur sehr aufwändig müssen dann aufwändige Aufschluss-, Renaturierungs- und Rei-
aus Zellen gereinigt werden. Dabei bewegte sich die Ausbeute an nigungsverfahren bis zur Gewinnung eines aktiven Proteins an-
reinem Protein bei einer Ausgangsmenge von mehreren 100 g gewandt werden.
Zellmaterial oft im Milligramm- oder Mikrogrammbereich. Mit Um die anschließende Abtrennung des gewünschten Pro-
Hilfe der Gentechnik und geeigneten Expressionsplasmiden teins von den Proteinen der Wirtszelle zu ermöglichen, werden
lassen sich große Mengen eines Proteins entweder in Bakterien, oft Expressionsvektoren verwendet, die dem zu exprimierenden
Hefen oder auch tierischen und menschlichen Zellkulturen her- Protein eine zusätzliche Polypeptidsequenz anhängen, welche
stellen: die Reinigung des Proteins erleichtert. Eine solche Sequenz ist
4 . Abb. 54.15 zeigt das für diese Zwecke häufig verwendete z. B. ein cluster aus 10 Histidinresten, der eine Reinigung über
und zur Genexpression in Bakterien geeignete Plas- eine Affinitätschromatographie an einer mit Nickelionen (Ni2+)
mid pET. Als Selektionsmarker enthält es ein Ampicillin- beladenen Matrix (IMAC, immobilized metal affinity chromato-
resistenzgen (ampR). Vor der Polyklonierungsstelle (MCS, graphy) ermöglicht (7 Kap. 6).
672 Kapitel 54 · Gentechnik

Hilfe künstlicher Hefechromosomen, den sog. YACs (yeast arti-


ficial chromosome), in Hefezellen eingebracht werden. Wie aus
. Abb. 54.17 zu entnehmen ist, handelt es sich um lineare DNA-
. Abb. 54.17 Aufbau eines künstlichen Hefechromosoms. LEU: Leucin
Moleküle, die die typischen Eigenschaften von Chromosomen
Selektionsmarker; ARS: autonomous replication sequence; CEN: Centromer. zeigen. An den beiden Enden befinden sich telomere Sequenzen
//: markiert die Position im YAC-Vektor, an der Fremd-DNA eingefügt wird. (7 Kap. 44.5), darüber hinaus trägt das künstliche Chromosom
(Einzelheiten s. Text) ein ARS-Element, ein Centromer für die gleichmäßige Vertei-
lung auf die Tochterzellen sowie einen Selektionsmarker LEU.
Dieser erlaubt die Identifizierung transfizierter Hefezellen da-
Oft verwendet man auch Expressionsvektoren, die dem durch, dass nur diese auf Leucin-freien Nährmedien wachsen.
Zielprotein N-terminal eine Signalsequenz anhängen, sodass Das YAC verfügt über Schnittstellen für Restriktionsendonucle-
dieses in das Periplasma zwischen Cytoplasmamembran und asen, in die fremde DNA nach dem für bakterielle Vektoren be-
äußerer Membran Gram-negativer Bakterien exportiert schriebenen Vorgehen eingesetzt werden kann.
54 wird. Eine Signalpeptidase spaltet die Signalsequenz ab. An- Für die Klonierung großer DNA-Fragmente in Bakterien gibt
schließend kann man das Protein relativ leicht durch einen es BACs (bacterial artificial chromosomes, bis zu 1 Mbp), in Säu-
hypotonen Schock aus dem Periplasma freisetzen und weiter gerzellen MACs (mammalian artificial chromosomes) und in
aufreinigen. menschlichen Zelllinien HAECs (human artificial episomal chro-
mosomes).

54.2.2 Vektoren für eukaryontische Zellen


54.2.3 Aufnahme der rekombinanten DNA
Viele covalente Modifikationen eukaryontischer Proteine (7 Kap. in Bakterien oder eukaryontische Zellen
49.3) können von Bakterien nicht durchgeführt werden. Möchte
man solche modifizierten Proteine exprimieren, greift man auf Auf die in 7 Kap. 54.2.2 geschilderte Weise konstruierte Vektoren
Vektoren zurück, die sich für eine Expression in eukaryontischen werden von Bakterien oder auch eukaryontischen Zellen wieder
Zellen eignen (. Abb. 54.16). Diese Expressionsplasmide enthal- aufgenommen, wenn diese durch eine entsprechende Vorbe-
ten starke Promotoren, die hohe Expressionsraten gewährleisten. handlung hierfür kompetent gemacht werden. Hierzu gibt es
Oftmals stammen solche Promotoren aus Viren. Darüber hinaus verschiedene Verfahren:
enthalten die eukaryontischen Expressionsplasmide Spleißsigna- 4 Bei der sog. Elektroporation werden Zellen in Lösung mit
le, was den Transport des primären Transkripts aus dem Zellkern einer hohen Spannung sehr kurzen Strom-Pulsen für Milli-
einer eukaryontischen Zelle in das Cytosol zur Translation er- bis Microsekunden ausgesetzt. Dabei wird die Plasmamem-
leichtert. Polyadenylierungssignale (7 Kap. 46.3.3) tragen zur bran kurzzeitig durchlässig und Fremd-DNA kann aufge-
korrekten Prozessierung der mRNA bei. Das Neomycin- nommen werden.
Resistenzgen ermöglicht eine Selektion transfizierter Zellen. Zur 4 Bei der Calciumphosphatmethode wird in Gegenwart von
Vermehrung in Bakterien wie auch in tierischen Zellen verfügen gelöster Fremd-DNA aus Calciumchlorid und Natriumphos-
die Plasmide sowohl über einen bakteriellen als auch einen phat unlösliches Calciumphosphat präzipitiert, welches die
eukaryontischen Replikationsursprung (ori). DNA bindet. Die zu transformierenden Zellen nehmen das
Bei der Synthese von eukaryontischen Proteinen in Bakteri- präzipitierte Calciumphosphat zusammen mit der DNA auf.
enzellen ergibt sich die Schwierigkeit, dass eukaryontische Gene 4 Eine dritte Methode zur Einschleusung von Fremd-DNA in
oft Introns besitzen, die zwar transkribiert werden, die aber vor Zellen basiert auf der Verwendung von Liposomen. Das
der Translation aus der mRNA herausgeschnitten werden müs- sind künstliche Lipidmembranvesikel (7 Kap. 3.2), die im
sen. Bakterien fehlt die Maschinerie (Spleißosom, 7 Kap. 46.3.3), Inneren die Fremd-DNA enthalten. Die Liposomen ver-
diese Introns zu eliminieren. Daher verwendet man für die Ex- schmelzen besonders gut mit den negativ geladenen Zell-
pression von Genen in Bakterien cDNAs (7 Kap. 54.3), die in ihrer membranen von Säugetierzellen, was zur Aufnahme der
Sequenz der prozessierten, intronfreien mRNA entsprechen. Fremd-DNA in die Zelle führt.
Für die Expression von Fremdgenen in Eukaryonten werden
häufig Hefezellen verwendet, da diese wie Bakterien in beliebig Enthält ein derartiger Vektor eine fremde DNA, so entstehen
großen Suspensionskulturen gehalten werden können und ihre nach dessen Aufnahme Zellen mit neuen, für die jeweilige Zelle
Genetik sehr gut untersucht ist. Eine vollständige N-Glycosylie- untypischen Eigenschaften. Zellen, die mit rekombinanten Vek-
rung (7 Kap. 49.3.3) gelingt z. B. nur in Säugetierzellen (z. B. Chi- toren transformiert wurden, sind sog. gentechnisch modifi-
nese hamster ovary cells, CHOs). zierte Organismen (GMOs), da sie eine fremde, für sie nicht
Viele der für die Transfektion von Hefezellen verwendeten typische DNA tragen.
Plasmide leiten sich von bakteriellen Plasmiden ab. Damit sie in
Hefezellen auch repliziert werden können, benötigen sie ledig-
lich einen für Hefe typischen origin of replication, auch als ARS-
Element (autonom replizierende Sequenz) bezeichnet. Sehr gro-
ße Bruchstücke fremder DNA (bis etwa 300 kb) können mit
54.3 · DNA-Bibliotheken (DNA-Banken)
673 54
DNA einer Zellpopulation wird isoliert und mit Hilfe geeigneter
Restriktionsenzyme in entsprechende DNA-Fragmente zerlegt.
Je nach der Art der gewählten Restriktionsendonuclease werden
diese Bruchstücke unterschiedliche Längen, jedoch identische
5’- und 3’-Enden haben. Dieses Gemisch von DNA-Fragmen-
ten wird nun mit Plasmiden inkubiert, die mit derselben Res-
triktionsendonuclease geschnitten wurden, und anschließend
ligiert.
Dabei werden die Bedingungen so gewählt, dass der Restrik-
tionsverdau nicht vollständig ist und deshalb auch große DNA-
Fragmente entstehen, die dann in Vektoren eingebaut werden.
Jeder Vektor enthält meistens nur ein DNA-Fragment, sodass
nach Transformation in eine Bakterienpopulation jede Bakte-
rienzelle ein DNA-Fragment in Form eines rekombinanten Plas-
mids enthält. Die ganze Sammlung dieser Plasmide bezeichnet
man als genomische DNA-Bibliothek.
. Abb. 54.18 Prinzip der Herstellung einer genomischen DNA-Biblio-
In bakterielle Plasmide können nur relativ kleine DNA-Frag-
thek. (Einzelheiten s. Text) mente eingebaut werden. Da man für die Herstellung genomi-
scher DNA-Bibliotheken aber Restriktionsenzyme wählt, die
relativ große DNA-Bruchstücke erzeugen, werden diese in Bak-
teriophagen kloniert.
Zusammenfassung Hierbei handelt es sich um Viren, die Bakterien befallen und
Alle gentechnischen Verfahren beruhen im Prinzip darauf, sich in diesen vermehren. Eine Alternative ist die Verwendung
dass Zellen oder Organismen dazu gebracht werden, fremde von künstlichen Hefechromosomen (YACs) oder bakteriellen
DNA aufzunehmen, sie ggf. in ihr Genom zu integrieren, zu Chromosomen (BACs).
replizieren und wenn gewünscht, die in der fremden DNA
enthaltene Information in Form von Proteinen zu exprimie- cDNA-Bibliotheken enthalten DNA-Sequenzen,
ren. Als Genfähren (Vektoren) werden z. B. Plasmide und die komplementär zu ihren mRNAs sind
künstliche Chromosomen eingesetzt. Resistenzgene sind Für DNA-Bibliotheken, die ausschließlich proteincodierende
notwendige Selektionsmarker zur Überprüfung der erfolg- Sequenzen enthalten sollen, erzeugt man DNA-Kopien von
reichen Klonierung. Sollen die Vektoren zur Expression von mRNA-Molekülen (. Abb. 54.19). Hierzu werden zunächst die
Proteinen dienen, benötigen sie einen starken Promotor in einer Zellpopulation vorhandenen mRNA-Moleküle isoliert.
vor dem zu exprimierenden Gen. Da diese in Eukaryonten alle über eine längere Poly(A)-Sequenz
am 3’-Ende verfügen (7 Kap. 46.3.3), gelingt dies mit Hilfe einer
Affinitätschromatographie an Oligo-dT-Cellulose. Oligo-dT-
Cellulose hybridisiert an die Poly(A)-Sequenz der mRNAs und
54.3 DNA-Bibliotheken (DNA-Banken) erlaubt damit deren Reinigung.
Anschließend werden die mRNA-Moleküle in doppelsträn-
Für die erfolgreiche Verwendung der oben beschriebenen Vek- gige sog. cDNA (complementary DNA) umgeschrieben. Hierfür
toren muss die gewünschte fremde DNA in hoher Reinheit vor- wird ein in Retroviren vorkommendes Enzym verwendet, die
liegen und die für die Klonierung passenden, den Schnittstellen reverse Transkriptase. Sie ist eine RNA-abhängige DNA-Poly-
der jeweils verwendeten Restriktionsendonucleasen entspre- merase und kann als Matrize sowohl RNA- als auch DNA-Ein-
chenden Sequenzen enthalten. zelstränge verwenden.
Die Art der verwendeten Fremd-DNA hängt vom Ziel der Die reverse Transkription wird dadurch gestartet, dass an
geplanten Untersuchungen ab. Für wissenschaftliche Expe- das Poly(A)-Ende der mRNA-Moleküle Thymin-Oligonucleo-
rimente benötigt man häufig genomische DNA. Kommt es da- tide hybridisiert werden, welche als primer für die Polymeraseak-
gegen auf die Produktion eines spezifischen Proteins an, ver- tivität der reversen Transkriptase dienen.
wendet man intronfreie DNA, die aus mRNA mit Hilfe der Als Teilaktivität enthält die reverse Transkriptase neben
reversen Transkriptase synthetisiert und als cDNA bezeichnet der RNA-abhängigen DNA-Polymeraseaktivität auch eine
wird (s. u.). Eine einfache Möglichkeit ist die Herstellung spezi- Ribonuclease-H -Aktivität, welche nun den RNA-Teil des
fischer DNA-Sequenzen durch die Polymerasekettenreaktion entstehenden RNA-DNA-Hybridstrangs hydrolysiert. An-
(7 Kap. 54.1.2). schließend kann die reverse Transkriptase in einem zweiten
Durchgang als DNA-abhängige DNA-Polymerase wirken und
Genomische DNA wird in genomischen den komplementären DNA-Einzelstrang synthetisieren, so-
DNA-Bibliotheken (DNA-Banken) amplifiziert dass eine doppelsträngige cDNA entsteht. Als primer dient
Zur Herstellung einer genomischen DNA-Bibliothek geht man dabei eine Haarnadelschleife (hairpin loop) am 3’-Ende der
nach dem in . Abb. 54.18 dargestellten Schema vor. Die Gesamt- einzelsträngigen cDNA-Matrize (. Abb. 54.19). Abschließend
674 Kapitel 54 · Gentechnik

Aus DNA-Bibliotheken können spezifische


DNA-Sequenzen isoliert werden
Die oben geschilderten Verfahren zur Herstellung von DNA-
Bibliotheken liefern ein Gemisch von Fragmenten genomischer
DNA oder revers-transkribierter mRNA. Das Problem, aus die-
sem Gemisch jeweils eine spezifische DNA-Sequenz zu isolieren,
wird durch das Durchmustern oder screening von DNA-Biblio-
theken gelöst. Eine häufig hierfür verwendete Methode ist in
. Abb. 54.20 dargestellt. Zunächst ist es notwendig, die Bakte-
rienpopulation in Petrischalen zu vereinzeln. Von der Petrischale
wird ein »Abklatsch« auf einen Nitrocellulosefilter gemacht. Die
auf dem »Abklatsch« befindlichen Bakterien werden lysiert und
mit einer DNA-Sonde hybridisiert. Als Sonden werden Oligo-
54 nucleotide von mindestens 20 Nucleotiden Länge verwendet, die
identisch oder homolog zu einem Teil der gesuchten DNA-Se-
quenz sind. Nach Identifizierung der positiven Klone auf dem
Nitrocellulosefilter werden die entsprechenden Bakterienkolonien
auf der Petrischale identifiziert und anschließend kultiviert.

Zusammenfassung
DNA-Bibliotheken sind Sammlungen zellulärer DNA-Frag-
mente in Vektoren. Man unterscheidet genomische DNA-Bi-
bliotheken und cDNA-Bibliotheken. Die Isolierung spezifi-
scher DNA-Sequenzen erfolgt durch Screening der DNA-Bib-
liothek mit geeigneten Sonden, z. B. synthetischen Oligonu-
cleotiden, und anschließender Kultivierung der Bakterien,
die die gesuchte Sequenz enthalten.

. Abb. 54.19 Herstellung von cDNA aus mRNA mit Hilfe der reversen
Transkriptase (RT). dNTPs: Desoxynucleosidtriphosphate; NMPs: Nucleosid-
monophosphate. (Einzelheiten s. Text)
54.4 Gentechnik in den Grundlagen-
wissenschaften

müssen die Haarnadelschleifen durch eine S1-Nuclease ge- Gentechnische Verfahren sind durch ihre Fülle von Anwen-
schnitten werden, um eine Klonierung in Plasmid-DNA zu dungsmöglichkeiten für die heutigen Biowissenschaften von
ermöglichen. ganz besonderer Bedeutung. Im Folgenden sollen einige häufig
Die auf diese Weise entstandenen doppelsträngigen cDNA- angewandte gentechnische Verfahren geschildert werden.
Moleküle lassen sich durch eine DNA-Ligase blunt end klonieren
(7 Kap. 54.2). Alternativ können durch eine PCR Restriktions- DNA-Bibliotheken ermöglichen
schnittstellen eingefügt werden, die eine sticky-end-Klonierung die schnelle Sequenzanalyse ganzer Genome
in Plasmide und andere Vektoren erlauben. DNA-Bibliotheken werden u. a. zur schnellen Sequenzierung
Nach Transformation von Bakterien mit diesen Plasmiden ganzer Genome verwendet. Dazu wird eine Anzahl klonierter
entsteht auf diese Weise eine cDNA-Bibliothek. Jeder dieser DNA-Fragmente sequenziert und mit Hilfe überlappender Teil-
cDNA-Klone enthält die für die Synthese eines Proteins notwen- sequenzen in der richtigen Reihenfolge zusammengefügt.
dige DNA-Sequenz auf dem Plasmid. Der Vorteil gegenüber ei-
ner genomischen DNA-Bibliothek besteht darin, dass keine In- Durch gentechnische Verfahren können Proteine
trons (7 Kap. 46) mehr entfernt werden müssen. Andererseits gezielt verändert werden
gehen im Vergleich zu genomischen DNA-Bibliotheken regula- Die Möglichkeiten zur Untersuchung von Struktur-Funktions-
torische und nicht-codierende Sequenzen verloren. Beziehungen von Proteinen sind durch gentechnische Verfahren
Wenn nicht nur die Amplifizierung einer bestimmten DNA- ganz wesentlich erweitert worden. So gelingt es beispielsweise re-
Sequenz gewünscht ist, sondern auch die Herstellung des ge- lativ leicht, in die cDNA, die für ein Protein codiert, gezielte Mu-
wünschten Genprodukts in Form eines Proteins, so bietet sich als tationen einzuführen. Im einfachsten Fall geschieht dies durch
Möglichkeit die Herstellung einer Expressions-cDNA-Bibliothek Behandlung der transformierten Zellen mit mutagenen Verbin-
an. Hierzu müssen die verwendeten Plasmide oder andere Vek- dungen. Die mutierten Plasmide werden anschließend zur Trans-
toren so gewählt werden, dass sie starke Promotoren (7 Kap. 46) formation von Bakterien verwendet, sodass eine Genbank mutier-
und Ribosomenbindungsstellen enthalten (s. auch 7 Kap. 48). ter Plasmide entsteht. Aus ihnen können in entsprechenden Ex-
54.4 · Gentechnik in den Grundlagenwissenschaften
675 54

. Abb. 54.21 Funktionsanalyse von Promotoren und regulatorischen


Elementen mit Hilfe eines Luciferase-Reportergens (Einzelheiten s. Text)

pressionssystemen mutierte Proteine hergestellt und auf ihre


Funktion untersucht werden. Ein weiteres Verfahren für die Mu-
tagenese benutzt den gezielten Austausch einzelner Basen mit Hil-
fe einer PCR, bei der mutierte Oligonucleotid-primer eingesetzt
werden. Durch diese Verfahren können Proteine auch mit neuen
Eigenschaften ausgestattet werden (synthetische Biologie).

Die Funktionen regulatorischer Sequenzen können


über Reportergene analysiert werden
Die Expression aller eukaryontischen Gene hängt ebenso wie die
von prokaryontischen Genen von der Anwesenheit von Kontroll-
elementen ab. Diese befinden sich meist in der Promotorregion
oder in DNA-Bereichen, die sich am 5’-Ende, d. h. oberhalb des
Startpunkts für die Transkription, oft über mehrere tausend Ba-
senpaare erstrecken (7 Kap. 46.3). Die Analyse derartiger Kon-
trollelemente ist für das Verständnis der Genregulation von ganz
besonderer Bedeutung.
Ein großer Fortschritt für die Analyse von Promotoren be-
steht in der Verwendung von sog. Reportergenen. Ein häufig
verwendeter Reporter ist das Luciferase-Gen. Luciferase ist ein
bei Leuchtkäfern oder Leuchtbakterien vorkommendes Enzym,
das unter Lichtemission die Umsetzung des Pigments Luciferin
nach folgender Reaktion katalysiert:

Luciferin + ATP + O2 Oxiluciferin + AMP + PPi + CO2 +


Licht (Biolumineszenz)

. Abb. 54.21 stellt die Verwendung des Luciferase-Gens für die


Analyse der Funktionsfähigkeit von Promotoren dar. Zunächst
wird die zu analysierende Promotorsequenz isoliert und mit der
für das Enzym Luciferase codierenden Sequenz fusioniert. Euka-
. Abb. 54.20 Verfahren zum Screenen (Durchmustern) von DNA-Biblio-
ryontische Zellen werden mit dem Fusionsgen transfiziert. Akti-
theken. (Adaptiert nach Watson 1992, © Pearson Studium)
ve Promotoren können anschließend sehr leicht anhand der
Luciferaseaktivität in Zell-Lysaten analysiert werden. Zu ihnen
muss in Gegenwart von Luftsauerstoff Luciferin und ATP gege-
676 Kapitel 54 · Gentechnik

54 . Abb. 54.22 Nachweis der Translokation des Transkriptionsfaktors STAT3-GFP in den Zellkern. (Hermann A et al. © The company of Biologists Ltd)

ben und anschließend über eine festgelegte Zeit die Lichtemis- ckelt, die es ermöglichen, Proteine, die früher nur in geringsten
sion beobachtet werden. Da die gemessene Biolumineszenz di- Mengen oder gar nicht zur Verfügung standen, in Zellkulturen
rekt proportional der Menge an Luciferase ist, kann man auf die in fast beliebigen Mengen herzustellen. Ihre therapeutische An-
durch die Promotoren ausgelöste Transkriptionsrate schließen. wendung konnte in vielen Fällen optimiert werden, indem man
Durch die Verwendung von schrittweise verkürzten Promotor- durch Veränderung der DNA-Sequenz und damit gezielter Mo-
bereichen lassen sich über diese Technik Bindestellen für Tran- difikation des daraus resultierenden Proteins, z. B. die Stabilität
skriptionsfaktoren identifizieren. oder die Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs in bestimmten Zielzel-
Zur Analyse der Regulation der Genexpression ist es in vielen len, verändert hat. Man nennt die Produktion rekombinanter
Fällen nützlich zu wissen, wo das codierte Protein in der Zelle Proteine in Zellkulturen oder lebenden Organismen (Tiere,
lokalisiert ist, z. B. in der Plasmamembran oder im Zellkern. Pflanzen) auch gene farming oder molecular farming.
Dazu erzeugt man Vektoren, die für ein Fusionsprotein codieren. Durch den Umstand, dass Transkription und Translation ei-
Dieses besteht aus dem Protein, dessen Lokalisation man unter- nes Gens bei Mensch und E. coli im Prinzip gleich ablaufen, ist es
suchen möchte, fusioniert z. B. mit dem grün fluoreszierenden oft möglich, menschliche Proteine in Bakterienzellen herzustel-
Protein (green fluorescent protein, GFP) der Qualle Aequorea vic- len. Es müssen aber im Detail wichtige Unterschiede beachtet
toria. Die Fluoreszenzintensität ist proportional zur Menge des werden: So ist man bei der Proteinexpression in Bakterien darauf
exprimierten Fusionsproteins. Mit Hilfe der konfokalen Laser- angewiesen, dass die DNA kontinuierlich, also ohne Introns vor-
Scanning-Mikroskopie können in einzelnen, lebenden Zellen liegt. Diesem Problem begegnet man dadurch, dass die aus der
zeitliche und örtliche Bewegungen des Fusionsproteins verfolgt gespleißten Prä-mRNA abgeleitete cDNA des entsprechenden
werden. . Abb. 54.22 zeigt dies am Beispiel des Transkriptions- Gens kloniert wird. Wird das Zielprotein in menschlichen Zellen
faktors STAT3 (signal transducer and activator of transcription). z. B. durch Glycosylierungen modifiziert (7 Kap. 49.3.3), muss
Nach Stimulation von Hepatocyten mit dem Cytokin Interleu- man auf eukaryontische Zellkulturen ausweichen, die die dafür
kin-6 (7 Kap. 34.2.2, 35.5.1) wird der Transkriptionsfaktor STAT3, nötige Maschinerie besitzen. Häufig werden dafür Hefezellen
der mit GFP fusioniert ist, in den Zellkern transloziert. Er ist (Saccharomyces cerevisiae) oder Zell-Linien aus Ovarien des chi-
innerhalb des Zellkerns in bisher nur ansatzweise charakterisier- nesischen Hamsters (Chinese hamster ovary cells, CHO) verwen-
ten nuclear bodies angereichert. det. Neuere Forschungsergebnisse lassen erwarten, dass auch in
pflanzlichen Zellen wie dem Blasenmützenmoos therapeutische
Proteine in Moosbioreaktoren hergestellt werden können.
Zusammenfassung
Promotorregionen können mit Hilfe von Reportergenen Humaninsulin kann in E. coli exprimiert werden
analysiert werden. Dabei codieren die Reportergene für 1982 kam in den USA als erster gentechnisch hergestellter Wirk-
Enzyme oder für fluoreszierende Proteine, wodurch sich z. B. stoff in E. coli synthetisiertes Humaninsulin auf den Markt. Seit-
Aussagen über die Stärke eines Promotors oder Protein- dem haben gentechnisch produzierte Medikamente stetig an
transportprozesse in der Zelle machen lassen. Bedeutung gewonnen. Ein entscheidender Vorteil der gentech-
nisch produzierten Wirkstoffe liegt darin, dass man diese nicht
aufwändig aus tierischem Material isolieren und im Vergleich
zum humanen Protein kein verändertes Wirkungsspektrum in
54.5 Gentechnisch produzierte Medikamente Kauf nehmen muss. So wurde früher Diabetes-Patienten aus
(Biologicals) Schweine- und Rinderpankreas aufgereinigtes Insulin verab-
reicht, das aufgrund der nicht völlig identischen Primärstruktu-
Für die moderne Medizin ist die Gentechnologie von großer Be- ren eine immunogene Wirkung entfaltete (7 Kap. 36.7.4) und zu
deutung. Mithilfe der Gentechnologie wurden Verfahren entwi- allergischen Reaktionen führte. Die Herstellung des gentech-
54.5 · Gentechnisch produzierte Medikamente (Biologicals)
677 54

. Tab. 54.2 Beispiele gentechnisch produzierter Arzneimittel

Wirkstoff Markenname Wirts- Therapeutische Anwendung


organismus Wirkung

Insulin Humulin, Insuman E. coli Diabetes Typ I und II

Faktor VIII Advate CHO Haemophilie A


Kogenate

Somatotropin (Wachstumshormon) Protropin E. coli Hypophysärer Kleinwuchs

tPA Actilyse CHO Akuter Herzinfarkt, akuter ischämischer Hirnschlag, akute


(Gewebeplasminogenaktivator) Lungenembolie, als Serinprotease aktiviert tPA die Fibrinolyse

Erythropoetin Epoetin CHO Anämie


bewirkt, dass aus Knochenmarkstammzellen Erythrocyten
entstehen

G-CSF Nach Chemotherapie


Lenograstim (einfach glycosyliert) Granocyte CHO Steigert die Granulocytenzahl
Filgrastim Neupogen E. coli
Pegfilgrastima Neulasta E. coli

Interferon- 2a Roferon A E. coli B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom, Kaposi-Sarkom, Nierenzell-


karzinom, malignes Melanom

Interferon- 1b Betaferon E. coli Multiple Sklerose

Interferon- Polyferon E. coli Rheumatoide Arthritis

Humane DNase I Pulmozyme CHO Cystische Fibrose, inhalativ verabreicht spaltet DNA im Lungen-
sekret und macht es dünnflüssiger

Thrombocytenwachstumsfaktor PDGF-BB Regranex Bäckerhefe Wundheilung durch Förderung der Granulation, Kontraindika-
S. cerevisiae tion bei malignen Erkrankungen

Humane Papillomavirenvakzine Cervarix Insektenzel- Prävention gegen humanpathogene Papillomaviren HPV


len (Gebärmutterhalskrebs)

Hepatitis A und B Vakzine Twinrix S. cerevisiae Hepatitis A und B

TNF Hemmstoff Enbrel CHO Rheumatoide Arthritis, Psoriasis


Etanercept Dimeres chimäres Protein aus der extrazellulären Ligandenbin-
dungsdomäne des humanen Tumornekrosefaktor-Rezeptors 2
und der Fc-Untereinheit des humanen IgG1-Antikörpers; kann
das proinflammatorische Cytokin Tumornekrosefaktor (TNFα)
binden

Monoklonale Antikörper

Infliximab Remicade CHO Morbus Crohn


Anti-TNF-Antikörper Wirkt als TNF-Blocker

Anti-Interleukin-6 Rezeptor α-Antikörper RoActemra CHO Rheumatoide Arthritis


Tocilizumab Signaltransduktion des inflammatorischen Cytokins Interleu-
kin-6 wird durch den IL6-Rezeptor-α-Antikörper blockiert

Anti-VEGF-Antikörper Avastin CHO Kolonkarzinom


Bevacizumab Wirkt als Angiogenesehemmstoff durch Bindung an VEGF

Anti-HER2-Antikörper Herceptin CHO Mamma- und Uteruskarzinom


Trastuzumab Hemmt HER2-Rezeptor-Tyrosinkinase und Zellzyklusarrest in der
G1-Phase

Anti-RANKL-Antikörper Prolia CHO Osteoporose


Denosumab Imitiert Effekte von Osteoprotegerin (OPG), das die Osteo-
klastenfunktion steuert
a Gentechnisch hergstellte Wirkstoffe werden nach Expression und Aufreinigung oft mit Polyethylenglycol (PEG) konjugiert (Pegylierung). Ketten-
förmige Strukturen umhüllen dabei den Wirkstoff und verlängern damit dessen Halbwertszeit u.a. durch Schutz vor Proteasen.
CHO: Chinese hamster ovary cells, Zelllinie aus Ovarien des chinesischen Hamsters.
tPA: tissue plasminogen activator, Gewebeplasminogenaktivator.
G-CSF: granulocyte-colony stimulating factor.
VEGF: vascular endothelial growth factor.
678 Kapitel 54 · Gentechnik

nisch produzierten Wirkstoffs wurde im Laufe der Jahre immer


weiter optimiert.

Auch die Produktion des Wachstumshormons


Somatotropin gelingt in E. coli
Die sehr schlechte Verfügbarkeit des humanen Wachstums-
hormons Somatotropin war für die Behandlung von hypo-
physärem Kleinwuchs bei Kindern ein großes Problem. In der
Vergangenheit waren die Hypophysen Verstorbener die einzige
Somatotropinquelle. Aus Hunderten von gesammelten Hypo-
physen ließen sich nur geringste Mengen des Hormons isolieren.
Auch hier bestand die Gefahr, dass Erkrankungen, z. B. die
Creutzfeld-Jakob-Krankheit (7 Kap. 74.5), auf Kinder übertragen
54 wurden. Schon eine einzige kontaminierte Hypophyse reichte
aus, die gesamte Produktion zu verunreinigen.

Blutgerinnungsfaktor VIII kann aufgrund


von posttranslationalen Modifikationen . Abb. 54.23 Interaktion des löslichen humanen EGF-Rezeptors HER2
(human epidermal growth factor receptor 2) mit dem monoklonalen Anti-
nur in höheren Eukaryonten exprimiert werden körper Trastuzumab (Herceptin). Die Kristallstruktur zeigt die extrazellu-
Auch bei der Behandlung der Hämophilie (Bluterkrankheit, lären Domänen I bis IV von HER2 im Komplex mit Trastuzumab; die Antikör-
7 Kap. 68.1) konnten gentechnisch hergestellte Blutgerinnungs- perbindungsstelle ist die Domäne IV. Die Domäne II ist die Dimerisierungs-
faktoren wie z. B. Faktor VIII zu einer deutlich verbesserten und domäne. mAK: monoklonaler Antikörper; HER2: human epidermal growth
factor receptor 2; PDB: 1N8Z, die Struktur wurde erstellt mit ProteinWork-
vor allem sichereren Therapie beitragen: Die in früheren Zeiten
shop 2.0. (Einzelheiten s. Text)
aus Blutkonserven gesunder Patienten isolierten Gerinnungsfak-
toren konnten durch Hepatitisviren oder auch HIV verunreinigt
sein. So wurden in der Vergangenheit Hämophiliepatienten
durch die Therapie mit Faktor VIII aus Blutkonserven mit HIV EGF-Signalkaskade inhibiert, sodass es zu einem Zellzyklusar-
infiziert. Das Gen für Faktor VIII besteht aus 26 Exons, das fer- rest in der G1-Phase kommt.
tige Protein von 265 kDa enthält 17 Disulfidbrücken, ist 31fach Bis heute sind 160 gentechnisch hergestellte Arzneimitel
glycosyliert und muss durch proteolytische Spaltung an zwei mit 120 Wirkstoffen in Deutschland zugelassen (Stand Okto-
Stellen prozessiert werden. Deshalb greift man bei der Expres- ber 2013, Quelle: www.vfa.de/gentech). . Tab. 54.2 zeigt einige
sion des Gens auf eine Zell-Linie aus Ovarien des chinesischen wichtige Beispiele (s. auch 7 Kap. 70.9).
Hamsters CHO (Chinese hamster ovary cells) zurück, die zwar
anspruchsvoller zu kultivieren sind, aber korrekt modifizierte
und damit aktive menschliche Proteine herstellen können. Zusammenfassung
Durch die Gentechnologie wurde es möglich, Proteine, die
Monoklonale Antikörper eröffnen neue Behand- früher nur in geringsten Mengen oder gar nicht zur Verfü-
lungsmethoden von Krebserkrankungen, indem sie gung standen, in Zellkulturen in beliebigen Mengen herzu-
an Schlüsselproteine der Tumorgenese binden stellen. Häufig werden dafür Bakterien, Hefen oder Säuge-
Ein völlig neuer Ansatz ist die Behandlung verschiedener Tumo- tierzellen verwendet.
ren/Krebserkrankungen mit monoklonalen Antikörpern gegen
Schlüsselproteine der Tumorgenese. So ist Trastuzumab in der
Lage, die membranständige EGF-Rezeptor-Tyrosinkinase HER2 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
(human epidermal growth factor receptor 2) zu hemmen und da-
mit die durch HER2 ausgelöste Signaltransduktionskaskade, die
Zellwachstum und -differenzierung stimuliert. Bei Brustkrebs
beobachtet man bei ca. 20 % aller Patientinnen eine Überexpres-
sion von HER2. In diesen Fällen kann eine Behandlung mit dem
HER2-hemmenden Trastuzumab erfolgversprechend sein.
Normalerweise wird HER2 durch EGF aktiviert, indem die-
ser in HER2 strukturelle Umlagerungen der Domänen I und III
induziert. Dies führt dazu, dass die Domäne II freigelegt wird
und damit eine Rezeptordimerisierung und Initiierung der Sig-
naltransduktion erfolgen kann. Durch Bindung von Trastu-
zumab an die Domäne IV der HER2-Rezeptorkinase (. Abb.
54.23) wird die Interaktion der Domänen I und III, die Dimeri-
sierung von zwei Domänen II und damit die Aktivierung der
679 55

55 Gentechnik in höheren Organismen –


Transgene Tiere und Gentherapie
Jan Brix, Peter C. Heinrich, Hans-Georg Koch, Georg Löffler

Einleitung paarung werden Eizellen isoliert, bei denen es noch nicht zu


einer Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gekommen ist. Die
Genetisch veränderte Tiere sind ideale Modelle bei der Ursachenfor- zur Eizellgewinnung benötigten weiblichen Mäuse werden vor
schung von Krankheiten. Hierfür werden meistens Mäuse verwendet. der Verpaarung superovuliert (durch Behandlung mit Follikel-
Man unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Forschungsstrategien: stimulierendem Hormon, FSH), um die Zahl der Eizellen deut-
Bei Untersuchungen mit transgenen Mäusen wird ein zusätzliches, funk- lich zu steigern. Die gereinigte und aufbereitete Gensequenz,
tionelles Gen in das Wirtstier eingeschleust und nach einer Funk tion Transgen, wird dann mit Hilfe einer feinen Glasnadel in den
dieses Gens gesucht. Durch geeignete Promotoren kann man erreichen, väterlichen oder mütterlichen Pronucleus (mit haploidem Chro-
dass es nur in ganz bestimmten Geweben/Organen oder unter definier- mosomensatz) injiziert. Die auf diese Weise behandelten Eizellen
ten physiologischen Bedingungen aktiviert wird. werden schließlich scheinschwangeren Mäusen in den Eileiter
Die zweite Strategie zielt auf das genaue Gegenteil: In Knockout- Mäusen übertragen.
werden gezielt die Gene ausgeschaltet, deren Funktion man untersu- Der Einbau der transgenen Gensequenz in das Mausgenom
chen möchte. Soll die Expression eines Gens hingegen nur stark redu- in der Embryonalentwicklung ist ein eher seltenes Ereignis. Da
ziert werden, bietet sich die im Vergleich zur Knockout-Strategie deut- jedoch Hunderte von DNA-Molekülen mit den zu übertragen-
lich weniger aufwändige RNA-Interferenz-Technik an, bei der die Genex- den Gensequenzen injiziert werden, ergibt sich eine hinreichen-
pression durch den Einsatz von zur Zielsequenz komplementärer RNA de Wahrscheinlichkeit, am Ende stabil transgene Tiere zu be-
gehemmt wird. kommen. Um diese Mäuse zu identifizieren, wird allen nach der
Fehlerhafte oder fehlende Gene im menschlichen Genom können Geburt eine Gewebeprobe aus der Schwanzspitze entnommen
schwerwiegende Krankheiten zur Folge haben. Bei der Gentherapie am und z. B. mit Hilfe der PCR (7 Kap. 54.1.2) auf die Anwesenheit
Menschen wird versucht, durch Einfügen intakter Gene mittels geeigne- des Transgens untersucht. Die Integration der Fremd-DNA in
ter Genfähren solche genetischen Defekte zu korrigieren. das Wirtsgenom geschieht zufällig und kann durch Wechselwir-
kung mit den benachbarten Genabschnitten zu Nebeneffekten
Schwerpunkte führen, die mit der Funktion der Fremd-DNA nichts zu tun ha-
ben. Daher flankiert man die Sequenz des Transgens mit mög-
4 Transgene Mäuse, Knockout-Mäuse und RNA-Inter-
lichst langen homologen Sequenzen bekannter Gen-Loci wie den
ferenz-Technik: Funktionsaufklärung menschlicher Gene
ROSA26-Locus, die Fremd-DNA gut tolerieren und deren Ex-
im Tiermodell
pression auch nicht beeinflussen.
4 Gentherapie am Menschen
Ein bekanntes Beispiel ist die im Labor von Richard Palmiter
1982 hergestellte transgene Maus, die das Wachstumshormon der
Ratte während der Embryonalentwicklung exprimiert. Dabei war
das Gen des Rattenwachstumshormons mit dem Maus-Metallo-
55.1 Transgene Tiere als Modellorganismen thionein-Promotor, der durch Metallionen aktiviert werden kann,
fusioniert und in befruchtete Einzellen mikroinjiziert worden.
Die Verwendung von Säugetierzellkulturen für Studien zur Re- Nach Geburt der Nachkommen wurde der Metallothionein-I-
gulation der eukaryontischen Genexpression hat zur Aufklärung Promotor mit Zink-Ionen in der Nahrung während 33 Tagen
wichtiger molekularer Mechanismen geführt. Es ist allerdings aktiviert und damit auch die Transkription des Rattenwachs-
auch klar geworden, dass die Funktion von Genen auch im intak- tumshormons. Die so unter hohen Wachstumshormonspiegeln
ten Organismus untersucht werden muss. Dies hat zur Entwick- aufwachsenden transgenen Mäuse waren doppelt so groß wie die
lung von Techniken geführt, welche die Herstellung sog. transge- Kontrollmäuse (7 Kap. 42).
ner Tiere, meist Mäusen, erlaubt.
Transgene Tiere werden u. a. eingesetzt, um die Aktivität von
Transkriptionsfaktoren, die gewebespezische Expression von Pro- 55.2 Knockout-Mäuse
teinen während der Differenzierung und die Induktion der Tu-
morgenese zu studieren. Diese Technik wurde auch angewandt, Unter Knockout oder auch Nullmäusen versteht man Tiere, in
um defekte Gene im sich entwickelnden Embryo zu ersetzen. denen durch Manipulation ein spezifisches Gen in allen Körper-
Das Vorgehen zur Herstellung einer transgenen Maus ist in zellen zerstört ist. Der Herstellung von Knockout-Mäusen liegt
. Abb. 55.1 schematisch dargestellt: Nach einer natürlichen Ver- folgende Strategie zugrunde:

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_55, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
680 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie

55

. Abb. 55.1 Herstellung transgener Mäuse (Einzelheiten s. Text)

4 Klonierung des Transfervektors (knockout-Konstrukt) mit Herstellung des Transfervektors zur homologen
genomischen Sequenzen des zu ersetzenden Gens, flankie- Rekombination in ES-Zellen
renden homologen Abschnitten zur homologen Rekombi- Fremde DNA, welche von eukaryontischen Zellen aufgenom-
nation und Selektionsmarkern (. Abb. 55.2, rechts unten). men wird, wird zu einem geringen Anteil durch Rekombination
4 Herstellung embryonaler Stammzellen (ES-Zellen) aus z. B. in das Genom der Wirtszelle eingebaut. Dies geschieht in aller
grauen Mäusen (. Abb. 55.3, A). Regel zufällig durch heterologe Rekombination, d. h. Einbau in
4 Einbringen des veränderten Gens in diese embryonalen eine mit dem fremden Gen nicht verwandte DNA-Sequenz.
Stammzellen (ES-Zellen), sodass durch homologe Rekom- Homologe Rekombination, d. h. Aufnahme in die identische Se-
bination das normale Gen ersetzt wird (. Abb. 55.3, B). quenz des Genoms, findet sich zwar häufig bei Bakterien, Hefen
4 Injektion der modifizierten ES-Zellen in sich entwickelnde und bestimmten Viren, aber sehr selten bei tierischen Zellen.
Blastozysten aus weißen Mäusen (. Abb. 55.3, C). Da jedoch die homologe Rekombination ein ideales Verfah-
4 Implantation der Blastozysten in ein scheinschwangeres ren zur gezielten Modifikation oder Ausschaltung von Genen
weißes Muttertier (. Abb. 55.3, D). darstellt, sind Selektionsverfahren entwickelt worden, die das
4 Selektion der Nachkommen, die das normale Gen verloren Auffinden der wenigen homologen Rekombinanten aus einer
haben (. Abb. 55.3, E). großen Zellpopulation erlauben. Mit dem veränderten Ziel-Gen
55.3 · Genregulation durch RNA-Interferenz: Knockdown
681 55

. Abb. 55.2 Genausschaltung durch homologe Rekombination. (Einzelheiten s. Text)

wird den Zellen ein Resistenz-Gen für Neomycin-Phosphotrans- F2-Generation homozygot mutierte Mäuse (Knockout-Mäuse)
ferase (neoR) übertragen. Zellen, die das Genkonstrukt aufge- entstehen.
nommen haben, exprimieren zwangsläufig auch neoR und sind Die homozygoten Knockout-Mäuse können nun auf spezifi-
damit resistent gegen das Antibiotikum Neomycin oder Genta- sche Funktionen und auf die Folgen des Ausfalls des Genproduk-
mycin (G418) (positive Selektion). Ein häufig verwendetes Ver- tes in vivo untersucht werden. Häufig führen Gendeletionen auch
fahren zum Ausschließen einer nicht-homologen Rekombina- zur Embryoletalität. In diesen Fällen müssen Tiere mit konditio-
tion ist das in . Abb. 55.2 dargestellte gene targeting. Es beruht nalem Knockout generiert werden, bei denen externe Signale die
darauf, dass im sog. Transfervektor flankierend zum auszuschal- Ausschaltung des Gens bewirken.
tenden Gen ein Thymidinkinase (TK)-Gen unter der Kontrolle
eines starken Promotors einkloniert ist. Bei korrekter homologer
Rekombination werden die Thymidinkinasesequenzen vom zu 55.3 Genregulation durch RNA-Interferenz:
rekombinierenden Gen getrennt und nicht übertragen. Bei Knockdown
nicht-homologer Rekombination an beliebiger Stelle im Genom
(. Abb. 55.2, links unten) werden die Sequenzen mit übertragen Durch RNA-Interferenz (RNAi) kann die Expression spezifi-
und exprimieren das Gen für Thymidinkinase. Aktive Thymidin- scher Gene reduziert und wichtige Erkenntnisse über die Funk-
kinase metabolisiert das Nucleotidanalogon Gancyclovir zu ei- tion dieser Gene gewonnen werden. Sie beruht auf physiologi-
nem toxischen Metaboliten, der die TK-exprimierenden Zellen schen Regulationsmechanismen bei der Transkription eukary-
abtötet (negative Selektion). Durch die gleichzeitige Positiv- ontischer Gene (7 Kap. 46). Die einzelnen Schritte der RNA-In-
Negativ-Selektion wird die Zahl der zu analysierenden Zellklone terferenz wurden am Beispiel der natürlichen miRNA (micro
drastisch reduziert. RNA) in 7 Abb. 47.13 dargestellt. Hier soll die künstliche RNA-
Interferenz durch siRNA (short interfering oder silencing RNA)
Embryonale Stammzellen (ES-Zellen) nur kurz beschrieben werden.
Für das Gelingen des Gen-Knockouts in einem gesamten Orga- In die Zielzellen muss ein doppelsträngiges RNA-Molekül
nismus, wie z. B. einer Maus, müssen die gentechnisch veränder- (dsRNA) eingeführt werden, welches komplementär zur Se-
ten Zellen zu einer Regeneration des gesamten Tieres fähig sein. quenz der mRNA des auszuschaltenden Gens ist (Ziel-mRNA).
Diese Eigenschaft besitzen embryonale Stammzellen, die im ge- Die dsRNA ist Substrat einer als DICER bezeichneten Ribonucle-
zeigten Beispiel (. Abb. 55.3, A, B) aus grauen Mäusen gewonnen ase, die doppelsträngige RNA in Bruchstücke von etwa 20 Nuc-
wurden. Nach homologer Rekombination in ES-Zellen und über leotiden spaltet. Diese werden silencing RNA (siRNA) genannt.
die oben erwähnte positive (Neomycin) und negative (Gancyc- Die siRNA-Moleküle reagieren anschließend mit einem Multien-
lovir) Selektion gewinnt man ES-Zellen, die den gewünschten zymkomplex, der als RNA-induced silencing complex (RISC) be-
gezielten Genaustausch in ihrem Genom aufweisen (B). Diese zeichnet wird. In einer ATP-abhängigen Reaktion entsteht zu-
werden in vitro in eine Empfängerblastozyste aus einer weißen nächst aus der doppelsträngigen siRNA einzelsträngige siRNA.
Maus (ca. 64-Zellstadium, Tag 3,5 der Entwicklung) injiziert (C) Diese reagiert mit den komplementären Sequenzen auf der Ziel-
und anschließend in eine scheinschwangere weiße Leihmutter mRNA. Dies löst die Aktivierung einer als Argonaute bezeich-
eingepflanzt (D). Die Nachkommen sind Chimäre (Mischwesen, neten RNAse aus, welche die mRNA abbaut.
weiß mit grauen Flecken) aus zwei verschiedenen Zellpopulatio- Die benötigte doppelsträngige RNA wird häufig durch
nen, den Zellen des Empfängerembryos und den differenzierten Mikroinjektion in die Zellen eingebracht. Da sie allerdings rela-
Knockout-ES-Zellen (E). Wenn die ES-Zellen in der Keimbahn tiv rasch abgebaut wird, ist ihr Effekt nur von kurzer Dauer.
weitervererbt werden, können in der F1-Generation heterozygot Wünscht man stabile Knockdowns, so werden die Zellen übli-
mutierte Mäuse und nach den Mendelschen Regeln in der cherweise mit einem Plasmid transfiziert, das eine zur benötig-
682 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie

. Abb. 55.3 Strategie zur Herstellung von


Knockout-Mäusen. (Einzelheiten s. Text)

55

embryonale Stammzellen Gewinnung ES-Zellen Gewinnung Manipulation


55.4 · Gentherapie
683 55
ten doppelsträngigen RNA komplementäre DNA-Sequenz hin-
ter einem starken Promotor enthält.

Zusammenfassung
Zur Aufklärung der Regulation der eukaryontischen Gen-
expression im lebenden Organismus sind transgene Tiere –
meist Mäuse – als Modell von großer Bedeutung. Die Über-
expression eines Gens – aber insbesondere auch dessen
Zerstörung (Knockout) – erlaubt Rückschlüsse auf seine
Funktion in vivo. Eine Genausschaltung kann durch homolo-
ge Rekombination oder durch RNA-Interferenz erfolgen.

55.4 Gentherapie
. Abb. 55.4 SCID-Patient (»bubble baby«): strikte Isolation von der
Außenwelt durch ein dichtes Zelt (© picture-alliance/dpa)
Mit der Gentherapie gibt es einen neuen Ansatz, um genetische
Erkrankungen zu heilen. Man unterscheidet generell zwei For-
men von Gentherapie:
4 somatische Gentherapie und tik führen: Die betroffenen Patienten müssen von Geburt an her-
4 Keimbahn-Gentherapie metisch von der Außenwelt abgeschirmt werden, da aufgrund
einer massiven Immundefizienz selbst harmlose Erreger zu
Bei der Keimbahn-Gentherapie versucht man durch Einschleu- schweren und lebensbedrohlichen Infektionen führen können.
sen von fremder DNA in frühe embryonale Zellen einen trans- Diese Kinder haben nur in sterilen, aufblasbaren und mit Schleu-
genen Organismus zu erzeugen, der seine genetischen Verände- sen versehenen Plastikzelten, die das Eindringen von Erregern
rungen auch an seine Nachkommen vererbt. Da Eingriffe in die nahezu ausschließen, eine Überlebenschance (»bubble babies«,
Keimbahnzellen des Menschen aus ethischen Gründen abge- . Abb. 55.4). Zusätzlich müssen sie ständig mit Antibiotika,
lehnt werden, ist die Keimbahn-Gentherapie in Deutschland Antimykotika und Virustatika behandelt werden.
gesetzlich verboten. In Zukunft ist es prinzipiell denkbar, dass aus embryonalen
Bei der somatischen Gentherapie wird die Fremd-DNA Stammzellen oder auch adulten Stammzellen durch Zugabe
nur in bestimmte Körperzellen übertragen und nicht an Nach- bestimmter Wachstums- und Differenzierungsfaktoren Ersatz-
kommen vererbt. Trotz der zunehmenden Bedeutung befindet gewebe hergestellt werden kann (z. B. Haut-, Nerven-, Muskel-
sich die somatische Gentherapie noch in einem experimentellen gewebe). Man spricht dann von therapeutischem Klonen.
Stadium. Der Gentransfer kann entweder ex vivo oder in vivo
erfolgen.
Beim ex vivo-Gentransfer werden Zellen des Erkrankten Übrigens
entnommen und kultiviert. Nur wenige Zellen wie Lymphocy- Erste erfolgreiche Gentherapie am Menschen
ten, hämatopoetische Stammzellen und Tumorzellen sind für Ein bekannter Fall einer geglückten somatischen Genthera-
eine in vitro-Kultivierung und Transfektion geeignet. Es gibt ver- pie ist der von Ashanti Da Silva, die an dem seltenen, vererb-
schiedene Verfahren, um DNA in kultivierte Zellen einzuschleu- ten schweren kombinierten Immundefekt (SCID) litt. SCID ist
sen (7 Kap. 54.2.3). ein Krankheitsbild, das durch ganz verschiedene genetische
Bei den meisten Zelltypen des menschlichen Organismus ist Defekte ausgelöst werden kann.
eine ex vivo Kultivierung nicht möglich. Man ist daher auf spezi- Die Krankheitssymptome bei Da Silva wurden durch einen
elle Genfähren (Vektoren) angewiesen, die einen in-vivo-Gen- Mangel an Adenosindesaminase (ADA) verursacht, der je
transfer ermöglichen. Für die Mehrzahl aller Gen-Einschleu- nach Mutation zu einer gestörten zellulären und/oder
sungsstrategien werden replikationsdefiziente Retro- und Ade- humoralen Immunabwehr führen kann. Die betroffenen
noviren verwendet. ADA-SCID Patienten leiden schon im frühen Kindesalter an
schweren Infektionen durch für Gesunde harmlose Erreger.
SCID (severe combined immunodeficiency) Ursache hierfür ist, dass es durch fehlende ADA-Aktivität, die
wurde als erste Krankheit mit Hilfe der somatischen eine Schlüsselrolle im Abbau von Adeninnucleotiden hat, zu
Gentherapie erfolgreich behandelt einer Anreicherung von dATP (Desoxy-ATP) kommt
Die erste Gentherapie am Menschen wurde 1990 für die Behand- (7 Kap. 29.4). Dies hemmt u. a. die Ribonucleotidreduktase-
lung einer bestimmten Form der SCID (severe combined immu- Aktivität und damit die DNA-Synthese. Warum diese Auswir-
nodeficiency) erfolgreich durchgeführt (s. 7 »Übrigens: Erste er- kungen auf den Nucleotidstoffwechsel fast ausschließlich
folgreiche Gentherapie am Menschen«). SCID kann verschiedene 6
genetische Ursachen haben, die aber zu der gleichen Symptoma-
684 Kapitel 55 · Gentechnik in höheren Organismen – Transgene Tiere und Gentherapie

T- und B-Zellen des Immunsystems zugrunde gehen lassen,


ist noch unbekannt.
Unbehandelt verläuft SCID in den meisten Fällen tödlich.
Kurativ kann den Patienten mit einer Knochenmarkstrans-
plantation geholfen werden, im Falle der 4-jährigen Ashanti
Da Silva 1990 erstmalig mit einer somatischen Gentherapie.
Mit Hilfe eines retroviralen Vektors wurden bei ihr erfolg-
reich ex vivo T-Zellen mit dem ADA-Gen transfiziert, selektio-
niert und in vitro expandiert. Danach wurde der T-Zellklon
mit dem »gesunden« im Wirtsgenom integrierten ADA- Gen
der Patientin reinfundiert. Die Behandlung wurde über ei-
nen Zeitraum von zwei Jahren durchgeführt. Ashanti Da
Silva führt heute ein weitgehend normales Leben, bekommt
aber ergänzend das Enzym ADA in einer pegylierten, stabili-
55 sierten und damit länger wirksamen Form verabreicht.
Nach anfänglich beeindruckenden Erfolgen stellten sich bei
anderen gentherapeutisch behandelten SCID-Patienten mit
einer bestimmten Variante der Krankheit schwere Neben-
wirkungen ein: Die Insertion des Transgens hatte bei diesen
Patienten offenbar die Aktivierung eines Onkogens bewirkt
und zu Leukämien geführt. Aus diesem Grund wird heute
nur bei Patienten ohne HLA (human leukocyte antigen)-kom-
patiblen Knochenmarkspendern eine Gentherapie in Erwä-
gung gezogen.
Bis heute sind weltweit über 1.700 klinische Gentherapiever-
suche dokumentiert (Stand Juni 2011 in D: 79, CH: 50, A: 2). In
Deutschland wurden im September 2002 alle klinischen Stu-
dien mit Genvektoren wegen der aufgetretenen Nebenwir-
kungen zeitweilig ausgesetzt, um sie hinsichtlich ihrer Sicher-
heit neu zu bewerten, aber 2003 wieder aufgenommen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


685 V

Funktionelle Biochemie
der Organe
Kapitel 56 Energiebilanz und Ernährungszustand – 687
H. Daniel, U. Wenzel

Kapitel 57 Makronährstoffe und ihre Bedeutung – 696


H. Daniel, U. Wenzel

Kapitel 58 Fettlösliche Vitamine – 706


R. Brigelius-Flohé

Kapitel 59 Wasserlösliche Vitamine – 720


R. Brigelius-Flohé

Kapitel 60 Essentielle Spurenelemente – 736


R. Brigelius-Flohé, P. E. Petrides

Kapitel 61 Gastrointestinaltrakt – 745


G. Löffler, J. Mössner

Kapitel 62 Leber - Zentrales Stoffwechselorgan – 770


D. Häussinger, G. Löffler

Kapitel 63 Quergestreifte Muskulatur – 787


D. O. Fürst, R. Schröder

Kapitel 64 Die glatte Muskulatur – 805


G. Pfitzer

Kapitel 65 Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten – 817


A. Kurtz

Kapitel 66 Der Säure-Basen- u. Mineralhaushalt – 840


A. Kurtz

Kapitel 67 Blut – Bestandteile und Blutplasma – 857


G. Müller-Newen, P. E. Petrides
Kapitel 68 Blut – Hämatopoese und Erythrocyten – 863
G. Müller-Newen, P. E. Petrides

Kapitel 69 Blut – Thrombocyten und Leukocyten – 877


G. Müller-Newen, P. E. Petrides

Kapitel 70 Immunologie – 893


S. Ansorge, M. Täger

Kapitel 71 Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion – 931


R. Deutzmann, P. Bruckner

Kapitel 72 Knorpel- und Knochengewebe – 952


R. Deutzmann, P. Bruckner

Kapitel 73 Haut – 961


L. Bruckner-Tudermann, P. Bruckner

Kapitel 74 Nervensystem – 968


P. May, C.-M. Becker, H. Bock
687 56

56 Energiebilanz und Ernährungszustand


Hannelore Daniel, Uwe Wenzel

Einleitung sitive Energiebilanz), wird die überschüssige Energie in Form von


Triacylglycerinen im Fettgewebe gespeichert (7 Kap. 56.3.2). In
Ernährung beschreibt die für das Körperwachstum, die Reproduktion Abhängigkeit von der Höhe und der Dauer des Energieüber-
sowie die Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen und der Gesundheit schusses wird sich erst ein Übergewicht und dann die Adipositas
notwendige Aufnahme und Verwertung von Nahrung durch den Orga- (Fettsucht) einstellen. Ist die Energieaufnahme langfristig gerin-
nismus. Um dies zu gewährleisten, müssen Wasser, Kohlenhydrate, Pro- ger als der Energieverbrauch (negative Energiebilanz), kommt es
teine oder Aminosäuren, Lipide, Vitamine, Mineralstoffe und Spuren- zum fortschreitenden Gewichtsverlust, der in schweren Fällen zur
elemente mit Lebensmitteln und Getränken zugeführt werden. Auf- Protein-Energie-Malnutrition führt (7 Kap. 56.3.3).
grund der im Vergleich zu Vitaminen und Mineralstoffen erforderlichen
hohen Zufuhr an Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten werden diese Die Energiebilanz des Organismus ist die Summe
als Makro- oder Hauptnährstoffe bezeichnet. Unter dem Begriff Mikro- aller energieverbrauchenden und energie-
nährstoffe werden Vitamine und Spurenelemente (Cr, Co, Fe, F, I, Cu, Mn, erzeugenden Reaktionen, die in individuellen Zellen
Mo, Se, Si, V, Zn) zusammengefasst. Außerdem gibt es noch die Mengen- und Organsystemen ablaufen
elemente (Ca, Cl, K, Mg, P, S, Na). Während Kohlenhydrate und Lipide in Der überwiegende Teil der durch biologische Oxidationsprozes-
erster Linie als Energielieferanten dienen, können Proteine bzw. Amino- se gewonnenen Energie wird in die Form energiereicher Phos-
säuren zwar auch energetisch verwertet werden, besitzen jedoch im phate überführt. Dies ist neben Adenosintriphosphat (ATP) als
menschlichen Körper v. a. eine Bedeutung als strukturelle und funktio- wichtigstem Energieträger des Zellstoffwechsels v. a. Kreatin-
nelle Komponenten. phosphat, das durch die Kreatinkinase aus ATP und Kreatin
gebildet wird und somit eine Speicherform von ATP besonders
Schwerpunkte im Muskel darstellt. Ein Teil der aus der Substratoxidation her-
vorgegangenen Energie wird nicht in die Synthese von ATP ein-
4 Energiebilanz als Summe von Energieverbrauch und
geleitet, sondern in Form von Wärme abgegeben. Dieser Prozess
Energiebedarf
dient vornehmlich der Aufrechterhaltung der Körpertemperatur.
4 Energieumsatz
Die Umwandlung der in Nahrungsmitteln enthaltenen chemi-
4 Ernährungstatus
schen Energie in ATP und Wärme wird als Energieumsatz be-
zeichnet (. Abb. 56.1).
Die Wärmeproduktion im Zellstoffwechsel hat eine essen-
tielle, eine obligatorische und eine regulatorische Komponente.
56.1 Die Energiebilanz Die essentielle Wärmeproduktion ist eine Konsequenz des Ver-
brauchs und der Resynthese von ATP und erfolgt damit inner-
56.1.1 Grundlagen der Energiebilanz des Körpers halb anaboler und kataboler Zyklen, die u. a. für die Erneuerung
von Geweben notwendig sind. Die obligatorische Wärmepro-
Im menschlichen Organismus wird Energie duktion resultiert v. a. aus energieverbrauchenden molekularen
für mechanische, chemische, osmotische Transportprozessen. Einen großen Beitrag zur obligatorischen
und elektrische Arbeit benötigt Wärmeproduktion liefert die in allen Zellen des Säugers vorkom-
Zur Aufrechterhaltung der biologischen Arbeitsleistungen wer- mende Na+/K+-ATPase. Deren Transportaktivität hält den von
den bevorzugt Kohlenhydrate und Fettsäuren im Zellstoffwechsel extrazellulär nach intrazellulär gerichteten Na+-Gradienten auf-
unter ATP-Bildung oxidiert. Übersteigt die Energiezufuhr den recht und liefert damit die Voraussetzung für die Erregbarkeit
akuten Bedarf wird der Überschuss der mit der Nahrung zuge- von Nervenzellen oder die zelluläre Aufnahme von Nährstoffen
führten Makronährstoffe in Speicherformen überführt. So kann wie Aminosäuren oder Intermediaten, die häufig im Cotransport
ein Kohlenhydratüberschuss im Glycogen von Leber und Muskel mit Na+-Ionen erfolgt (7 Kap. 61.3). Die Aktivität der Na+/K+-
gespeichert werden; die Fettsäuren der Kost werden in den Tri- ATPase ist nach Schätzungen für 20–40 % des Ruheenergieum-
acylglycerinen des Fettgewebes eingelagert. In Phasen der Nah- satzes verantwortlich, d. h. für den Energieverbrauch, der zur
rungskarenz können diese Energiereservoirs genutzt werden. Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen wie Körpertemperatur,
Beim Erwachsenen ist für die Aufrechterhaltung eines konstanten Kreislauf, Atmung und Ausscheidung benötigt wird. In homöo-
Körpergewichts das Gleichgewicht zwischen Energieaufnahme thermen Organismen, wie dem Menschen, stellt die regulatori-
und Energieverbrauch eine notwendige Voraussetzung. Ist die sche Wärmeproduktion eine dritte Komponente dar, die der
Energieaufnahme langfristig höher als der Energieverbrauch (po- Aufrechterhaltung der Körpertemperatur bei variierenden

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_56, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
688 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand

56
. Abb. 56.1 Biochemische Prozesse der Wärmeproduktion. (Einzelheiten s. Text)

Umgebungstemperaturen dient. Zittern als Antwort auf eine mefreisetzung bestimmen lässt, ist der physiologische Brenn-
Kälteexposition bedeutet eine erhebliche Zunahme der Kon- wert, also die dem Organismus tatsächlich zur Verfügung ste-
traktion der Skelettmuskulatur, die mit einem stark gestiegenen hende Energie, niedriger. So gehen etwa 5–10 % des physikali-
ATP-Umsatz und damit der Wärmeproduktion einhergeht. Hö- schen Brennwerts durch unvollständige Verdauung und Resorp-
here Umgebungstemperaturen führen zur Schweißbildung mit tion der Makronährstoffe aus der Nahrung im Magen-Darm-Trakt
der Folge einer Wärmeabgabe durch erhöhte Evaporation. verloren. Entsprechend bezeichnet man die in den Körper gelan-
Die Wärmeproduktion innerhalb von Zellen wird durch gende Energiemenge als »resorbierte Energie«. Weitere 5–10 %
zahlreiche neurale und endokrine Faktoren beeinflusst. So sti- der aufgenommenen Energie werden für den Transport, die Spei-
mulieren z. B. die Schilddrüsenhormone die Na+/K+-ATPase cherung und die biochemischen Umwandlungsprozesse der ver-
und zahlreiche Komponenten der mitochondrialen Elektronen- schiedenen Nährstoffe benötigt. Ein nicht unerheblicher Teil der
transportkette. Sie fördern neben dem Fett-, Kohlenhydrat- und Energie geht letztlich als Wärme bei der Nährstoffoxidation und
Proteinmetabolismus auch den O2-Verbrauch und erhöhen da- dem Umsatz von ATP verloren, während der Rest in energie-
mit die Wärmeproduktion (. Abb. 56.1). reichen Phosphaten konserviert wird (. Abb. 56.2). Wird die
durch Ausscheidung über Urin und Faeces verlorene Energie
Nach Einführung der SI-Einheiten ist die Maßeinheit berücksichtigt, ergeben sich mittlere physiologische Brennwerte
für die Energie das Kilojoule (kJ) von 4 kcal/g für Kohlenhydrate und Proteine und 9 kcal/g für
Zwar hat die Maßeinheit Kilojoule (kJ) die Kilokalorie (kcal) er- Fette, wenn diese Makronährstoffe über eine gemischte Kost zu-
setzt, doch wird diese in der Praxis noch sehr häufig verwendet. geführt werden. Der physiologische Brennwert von Alkohol be-
Folgende Beziehung besteht zwischen Kalorie und Joule: trägt etwa 7 kcal/g. Da die Zusammensetzung der Nahrung, ihre
1 kcal = 4,184 kJ oder 1 kJ = 0,239 kcal Verdaulichkeit und der Metabolismus stark variabel sind, wei-
chen die realen physiologischen Brennwerte zum Teil beträcht-
lich von den genannten Mittelwerten ab. Vor allem bei Proteinen
56.1.2 Physiologische Verbrennung ist der physiologische Brennwert um bis zu 1,65 kcal/g niedriger
der Makronährstoffe als der physikalische Brennwert. Dies ist darin begründet, dass
bei der Oxidation von Aminosäuren der enthaltene Stickstoff
Die Makronährstoffe haben unterschiedliche unter Energieverlust in Harnstoff überführt und ausgeschieden
physiologische Brennwerte werden muss.
Der Netto-ATP-Gewinn bei der Oxidation der Makronährstoffe
hängt einerseits davon ab, wie viel Energie der Organismus auf- Die Effizienz der Energieausbeute
wenden muss, um die Energieträger zu metabolisieren, anderer- bei der Nährstoffoxidation ist beeinflussbar
seits davon, wie viel Energie in der Substratkettenphosphorylie- Die Energieausbeute bei der Nährstoffoxidation, d. h. die Effi-
rung und oxidativen Phosphorylierung (7 Kap. 19.1) des jeweili- zienz, mit welcher der mitochondriale Elektronentransport an
gen Nährstoffs gewonnen wird. die ATP-Synthese gekoppelt wird, kann durch pharmakologische
Im Gegensatz zum physikalischen Brennwert der Nahrung, Wirkstoffe wie Dinitrophenol, Koffein, Nicotin und Amphet-
der sich bei vollständiger Verbrennung im Kalorimeter als Wär- amine beeinflusst werden. Sie können den transmembranären

Wärmeproduktion regulatorische essentielle obligatorische


56.1 · Die Energiebilanz
689 56

. Abb. 56.2 Die Umwandlung resorbierter Nahrungsenergie in Wärme und Arbeit. Ein Teil der mit der Nahrung aufgenommenen Energie wird für
Verdauungsprozesse verbraucht. Der Rest der Energie wird für die Aufrechterhaltung metabolischer Prozesse verwendet. Wie bei allen Formen der Energie-
umsetzung geht ein Teil der Energie als Wärme verloren

Protonengradienten der inneren mitochondrialen Membran dass die Thermogenese und damit der Ruheumsatz an die
und damit die treibende Kraft für die ATP-Synthese reduzieren Energiezufuhr angepasst werden kann. Unterzieht man gesunde
(7 Kap. 19.1.5). Die damit einhergehende Verminderung des Versuchspersonen einer längeren Restriktion der Nahrungszu-
ATP/ADP-Quotienten führt kompensatorisch zu erhöhtem O2- fuhr, erfolgt neben der Abnahme des Körpergewichts auch eine
Verbrauch bei gleichzeitig gesteigerter Oxidation von NADH/H+ Reduktion des (auf das Körpergewicht bezogenen) Grundumsat-
und FADH2. Diese Entkopplung der oxidativen Phosphorylie- zes, was als Verbesserung der Effizienz bei der Oxidation von
rung bedeutet, dass ein größerer Teil der bei der Oxidation frei- Nahrungsstoffen aufgefasst werden kann. Realimentierung mit
werdenden Energie nicht als chemische Energie konserviert, zunehmender Energiezufuhr führt umgekehrt zur Zunahme von
sondern in Wärme umgewandelt wird. In gleicher Weise dient Körpergewicht (KG) und Grundumsatz (. Abb. 56.3).
die physiologische Entkopplung bei Säugetieren in kalten Klima-
regionen und beim Neugeborenen zur Aufrechterhaltung der
Körpertemperatur. Die innere Mitochondrienmembran des 56.1.3 Energieverbrauch und Energiebedarf
braunen Fettgewebes enthält dafür größere Mengen des uncou-
pling protein 1 (UCP1), auch Thermogenin genannt, das den Der Energiebedarf wird durch den Energie-
Rückfluss von Protonen in den mitochondrialen Matrixraum verbrauch determiniert
ohne die Erzeugung von ATP erlaubt, sodass das chemiosmoti- Der größte Teil des täglichen Energieverbrauchs (metabolische
sche Potential des Protonengradienten als Wärme verloren geht. Rate) entsteht durch den Grundumsatz, der dazu dient, metabo-
Während Erwachsene nur wenig braunes Fettgewebe und damit lische Funktionen aufrecht zu erhalten. Zur Abschätzung des
kaum UCP1 besitzen, kommen seine Varianten UCP2 und UCP3 Grundumsatzes können folgende Näherungen dienen:
in vielen Geweben des Menschen vor und unterliegen einer nu-
tritiven Kontrolle ihrer Synthese. Bei Nagern führt eine fettreiche Grundumsatz = 4,2 kJ/kg KG ∙ h oder
Diät zu verstärkter UCP2-Expression, wodurch in Folge der
Energieverbrauch bei erhöhter Energiezufuhr über Wärmebil- Grundumsatz = 1 kcal/kg KG ∙ h
dung reguliert werden kann. Veränderungen der Funktion oder
der Expressionshöhe dieser, die Effizienz der Energieausbeute In der Praxis ist es schwierig, den Grundumsatz exakt zu bestim-
regulierenden Faktoren könnten somit die Anfälligkeit zur Ent- men. Deshalb wird in der Regel der sog. Ruheenergieumsatz
wicklung von Adipositas beeinflussen. Unabhängig davon, ob bestimmt, der bei ca. 5–15 % über dem Grundumsatz liegt und
UCP2 beim Menschen für die Adaptation der ATP-Ausbeute bei bei einer sitzenden Person etwa 60–75 % des täglichen Gesamt-
der Oxidation der Nährstoffe bedeutsam ist, lässt sich zeigen, energieumsatzes ausmacht. Metabolisch besonders aktive
690 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand

. Abb. 56.3 Nahrungsaufnahme, Körpergewicht und Grundumsatz bei kalorisch restriktiver Ernährung und Realimentierung im Langzeitexperiment.
Versuchspersonen wurden während der angegebenen Zeiten zuerst kalorisch restriktiv ernährt und anschließend realimentiert. Der adaptative Grundum-
56 satz wurde für Veränderungen in fettfreier Körpermasse und Fettmasse adjustiert. (Einzelheiten s. Text)

Organe wie Gehirn, Leber, Niere und Herz, die nur 5–6 % des
Körpergewichts ausmachen, sind für mehr als 50 % des Ruheen-
ergieumsatzes verantwortlich (. Abb. 56.4). Auf Gramm bezogen
ist die metabolische Rate (kcal/g Organmasse) dieser Organe
15- bis 40-mal höher als die des ruhenden Muskels und 50- bis
100-mal höher als die des Fettgewebes. Die Skelettmuskulatur
trägt aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Masse ebenfalls
signifikant zum Ruheenergieumsatz bei. . Abb. 56.4 dokumen-
tiert die unterschiedlichen Anteile einzelner Organe am Ruhe-
energieumsatz in Abhängigkeit vom Lebensalter.
Zum Gesamtenergiebedarf des Körpers tragen außer dem
Ruheenergieumsatz der Erhaltungsbedarf und der Leistungsbe-
darf bei. Der Erhaltungsbedarf definiert sich als die zusätzliche
Energiemenge, die für Nahrungsaufnahme, Verdauung und Re-
sorption, die beständige Regeneration von Geweben sowie all- . Abb. 56.4 Der Anteil verschiedener Organe am Ruheenergieumsatz in
tägliche Bewegungsabläufe benötigt wird. Er ist von der Umge- Abhängigkeit vom Alter

bungstemperatur abhängig. In diesem Erhaltungsbedarf ist auch


die nach Nahrungsaufnahme ausgelöste Thermogenese ent-
halten. Sie entspricht bei Proteinen etwa 18–24 %, bei Kohlen- Die metabolische Rate wird durch eine Vielzahl
hydraten etwa 4–7 % und bei Fett etwa 2–4 % der aufgenomme- neuronaler und hormoneller Faktoren beeinflusst
nen Energiemenge. So sind bei üblichen Ernährungsbedingun- Adrenalin und Noradrenalin stimulieren bei Stress durch Akti-
gen ca. 8–15 % des täglichen Energieumsatzes der postprandia- vierung des sympathischen Nervensystems den Glycogenabbau
len Thermogenese zuzuschreiben. und die Fettsäurefreisetzung. Im Zusammenspiel mit anderen
Den Leistungsbedarf definieren körperliche Aktivität so- Hormonen, z. B. den Schilddrüsenhormonen (7 Kap. 41), wird
wie besondere physiologische Leistungen während Wachstum, dann die Oxidation von Glucose und Fettsäuren und damit die
Schwangerschaft oder Stillzeit. Je nach Intensität und Dauer metabolische Rate erhöht. Insulin und Glucagon beeinflussen die
kann der Leistungsbedarf für 30–50 % des Gesamtenergieum- metabolische Rate in antagonistischer Weise (7 Kap. 36 und 37),
satzes verantwortlich sein. Spontane motorische Aktivitäten Östrogene und Progesteron erhöhen die Speicherung von Tria-
(non-exercise activity thermogenesis) tragen mit großer indivi- cylglycerinen im Fettgewebe, während Testosteron hier antago-
dueller Variabilität auch zum Energieverbrauch bei. Experimen- nistisch wirkt.
tell lässt sich zeigen, dass Individuen täglich zwischen 200 kcal Die hormonelle Konstellation für die metabolische Rate zeigt
und 900 kcal nur aufgrund spontaner motorischer Aktivität sich beispielweise bei Fieber: eine Steigerung der Körpertempe-
(Bewegung von Händen, Füßen, Minenspiel) verbrauchen. Die- ratur um 1 °C führt zu einer Zunahme der metabolischen Rate
se Unterschiede sind für die zum Teil beträchtlich unterschied- um etwa 13 %. Bei Infektionen ist insbesondere eine erhöhte
liche Körpergewichtsentwicklung von Individuen mit annä- zelluläre Aufnahme von Trijodthyronin festzustellen, das im
hernd gleicher Konstitution bei gleicher Energieaufnahme ver- Gegensatz zu den Katecholaminen eine längerfristige Erhö-
antwortlich. hung der metabolischen Rate bewirken kann. Die meisten Er-
56.1 · Die Energiebilanz
691 56

. Abb. 56.5 24-h-Energieverbrauch im Verlauf eines Tages. Beispiel einer 24-h-Registrierung über indirekte Kalorimetrie oder in einer Respirations-
kammer. In Phasen stärkerer körperlicher Aktivität erreicht der Energieverbrauch Spitzenwerte bis zu 15 kJ/min (3,6 kcal/min), nach einer Mahlzeit ist er
ebenfalls geringfügig erhöht gegenüber dem niedrigsten Wert von 4,2 kJ (1 kcal/min) im Schlaf ab 23.00 Uhr

krankungen sind mit einem erhöhten Umsatz und somit auch gen bestehen auch für die Oxidation von Fettsäuren oder Ami-
Bedarf an Energie verbunden. Dies beruht v. a. auch auf der ver- nosäuren (. Tab. 56.1), die sich aber im Hinblick auf das energe-
mehrten Bildung von Cytokinen und deren Wirkungen auf das tische Äquivalent nicht wesentlich unterscheiden. Deshalb setzt
Immunsystem und den Intermediärstoffwechsel (7 Kap. 35.5.4). man für die Berechnung des Energieumsatzes aus dem Sauer-
stoffverbrauch einen Durchschnittswert von 20 kJ (4,8 kcal)/l O2
an. Bei einem Sauerstoffverbrauch im Ruhezustand von ca.
56.1.4 Experimentelle Ermittlung 250 ml/min kann somit der Grundumsatz pro 24 h wie folgt be-
des Energieumsatzes rechnet werden:

Der Energieverbrauch wird vorwiegend 0,250 ∙ 60 ∙ 24 ∙ 20 = 7.200 kJ (1.721 kcal)


durch direkte und indirekte Kalorimetrie
bestimmt Wegen des unterschiedlichen Gehalts an Kohlenstoff, Wasser-
Bei der direkten Kalorimetrie wird die Wärmeabgabe von Zel- stoff und Sauerstoff in den einzelnen Nährstoffen ergeben sich
len, Geweben oder Gesamtkörpern in geschlossenen Kammern im Verhältnis von gebildeten Mol CO2 pro Mol an verbrauchtem
(Kalorimetern) gemessen. Die indirekte Kalorimetrie nimmt O2 bei der Verbrennung unterschiedliche respiratorische Quo-
dagegen den O2-Verbrauch als Maß der Wärmeproduktion, da tienten (VCO2/VO2). Diese betragen 1,00 für Kohlenhydrate, 0,80
dieser in aerob lebenden Organismen nahezu vollständig die für Proteine und 0,71 für Fette. Für Alkohol beträgt der respira-
Oxidation der Nährstoffe unter O2-Verbrauch widerspiegelt torische Quotient 0,67. Anhand des experimentell ermittelten
(. Abb. 56.5). Für die vollständige Oxidation von Glucose lässt respiratorischen Quotienten lässt sich somit auch auf den primär
sich folgende Beziehung ableiten: oxidierten Nährstoff schließen. Für eine Mischkost beträgt der
respiratorische Quotient etwa 0,85.
C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O; ΔG0’ = ‒2 898 kJ/mol Eine andere indirekte Methode zur Bestimmung des Ener-
gieverbrauchs, die Isotopenverdünnungsmethode, bedient
Pro Mol Glucose werden demnach 6 Mol O2, d. h. 6 ∙ 22,4 l Sauer- sich der Isotope 2H und 18O in doppelt markiertem Wasser. Der
stoff verbraucht. Das entspricht 0,75 l Sauerstoff pro g Glucose. Vorteil dieser Technik besteht darin, dass sie bei normal leben-
Mit dem Verbrauch von 1 l Sauerstoff wird eine Wärmemenge den Menschen den Energieverbrauch über 10–14 Tage erfassen
von 21,6 kJ (5,1 kcal) entsprechend der Oxidationsgleichung für kann. Während das Isotop 2H den Organismus als Wasser ver-
Glucose freigesetzt; diese Energiemenge wird als energetisches lässt, verteilt sich 18O auf Wasser und CO2. Die Bildung von CO2
Äquivalent von Sauerstoff bezeichnet. Entsprechende Gleichun- und damit der Einbau von 18O in CO2 werden dabei durch die

. Tab. 56.1 Vergleich des Sauerstoffverbrauchs bei der Verbrennung einzelner Nährstoffe: Respiratorischer Quotient RQ, freigesetzte Wärme
und energetisches Äquivalent

Nährstoff Beispiel Gleichung RQ Freigesetzte Wärme Energetisches Äquivalent

kJ/g kcal/g kJ/l O2 kcal/l O2

Kohlenhydrat Glucose C6H12O6 + 6 O2 6 CO2 + 6 H2O 6/6 = 1,00 16,8 4 21,0 5,0

Fett Triolein C57H104O6 + 80 O2 57 CO2 + 52 H2O 57/80 = 0,71 39,7 9,46 19,7 4,7

Protein Alanin 2 C 3H 7O 2N + 6 O 2 (NH2)2CO + 5 CO2 + 5 H2O 5/6 = 0,83 18,1 4,32 19,3 4,6
692 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand

Carboanhydrasereaktion katalysiert. Durch Bestimmung der bei etwa 16–20 % der Population diagnostizieren. BMI unter 18,5
Isotopverteilung im Wasseranteil der Körperflüssigkeiten kann wird als Untergewicht klassifiziert und findet sich bei ca. 2,5 %
der Energieverbrauch anhand der Differenzen in den Verlustra- der deutschen Bevölkerung. Moderate tägliche Schwankungen
ten ermittelt werden. Mit derselben Methode kann auch die Grö- in Körpergewicht und BMI sind normal. Meist sind Änderungen
ße des Körperwasserpools bestimmt werden. Unter Annahme des Körpergewichts von mehr als 500 g pro Tag durch Alteratio-
eines mittleren respiratorischen Quotienten von 0,85 kann aus nen des Wasserbestandes des Organismus bedingt.
der ermittelten CO2-Abgabe der Sauerstoffverbrauch und daraus Für die Differenzierung von Fettsucht, aber auch für die
der Gesamtenergieumsatz berechnet werden. Beurteilung von Trainingseffekten im Leistungssport ist es not-
wendig, die Körperkompartimente Fett und fettfreie Masse
(Magermasse) zu betrachten. Das Körperfett kann nochmals in
Zusammenfassung Depotfett und Strukturfett klassifiziert werden. Das Strukturfett
Von der mit der Nahrung zugeführten Energie werden etwa mit einer mittleren Masse von ca. 5 kg findet sich z. B. in der
40 % in chemische Energie in Form von ATP umgewandelt; Auskleidung der Augenhöhlen oder des Nierenlagers. Seine
der Rest dient der Wärmeproduktion oder Thermogenese. Masse ist weitgehend unabhängig vom Ernährungszustand. Das
Die Thermogenese wird in eine essentielle, eine obligatori- Unterhautfettgewebe und Fettgewebe im Bauchraum bildet das
sche und eine regulatorische Wärmeproduktion eingeteilt. Depotfett. Seine Masse beträgt beim Mann >15 kg und bei der
Kohlenhydrate und Fette sind als Energiequellen bis zu Frau >20 kg.
56 einem gewissen Grad austauschbar.
Der Energiegehalt der Makronährstoffe wird über den phy-
Rund 70 % des Körperfetts finden sich subkutan. Durch die
Bestimmung der Hautfaltendicke (Calipometrie) an verschiede-
sikalischen Brennwert und den physiologischen Brennwert nen Messpunkten (Biceps, Triceps, subscapular, suprailiacal, am
definiert. Für die Energiebilanz des Körpers ist der physiolo- Abdomen, am Oberschenkel) kann anhand der erhaltenen Di-
gische Brennwert, d. h. die bei der Oxidation der Nährstoffe cken mittels empirisch ermittelter Faktoren der Körperfettgehalt
freiwerdende Energie die bedeutsame Größe. bestimmt werden. Ausgehend vom Körpergewicht kann nun die
Der Energieumsatz des Menschen ergibt sich aus dem fettfreie Körpermasse berechnet werden. Da sie den größten
Ruheumsatz, d. h. den im Ruhezustand für alle lebens- Energieumsatz hat und damit den Energiebedarf des Menschen
notwendigen Abläufe notwendigen Energieanteil, dem maßgeblich bestimmt, ist sie eine wichtige Größe.
Erhaltungsbedarf, d. h. dem Energieverbrauch für Nahrungs- Die Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) dient als nicht-
aufnahme, Organregeneration und alltägliche Bewegungs- invasive Methode der Quantifizierung von Gesamtkörperfett,
abläufe sowie dem Leistungsbedarf durch körperliche Arbeit fettfreier Körpermasse und Gesamtkörpermasse. Sie nutzt die
oder spezielle Syntheseleistungen (Wachstum, Schwanger- unterschiedliche elektrische Leitfähigkeit der Gewebe bei einer
schaft, Stillen oder Krankheit). angelegten Spannung. In fettfreiem Gewebe ist die Leitfähigkeit
Der Energieumsatz kann über direkte oder indirekte durch den hohen Wasser- und Elektrolytanteil am höchsten.
Kalorimetrie oder Isotopenverdünnungsmethode bestimmt Fettgewebe hat eine geringe Leitfähigkeit, da es wenig Wasser
werden. aufweist und Zellmembranen sich wie elektrische Kondensato-
ren verhalten. Die Leitfähigkeit verhält sich umgekehrt propor-
tional zum elektrischen Widerstand (Impedanz). Dieser kann
56.2 Der Ernährungsstatus durch das Anlegen von zwei Elektroden an Hand- und Fußge-
lenk bestimmt werden. Mit Hilfe empirisch ermittelter Gleichun-
Der Ernährungsstatus eines Individuums kann gen kann aus der Impedanz dann die Fettmasse, die fettfreie
anhand des Körpergewichtes und der Mengen- Masse und der Körperwasseranteil berechnet werden.
verteilung von Körperfett und Muskelmasse
beschrieben werden
Der einfachste Parameter zur Erfassung des Ernährungszustands Zusammenfassung
ist das Körpergewicht. Da die Körperlänge aber auch das Kör- Der body mass index (BMI) ermöglicht eine verlässliche
pergewicht mitbestimmt, verwendet man den body mass index, Beurteilung des Ernährungszustands. In ihn fließt das
d. h. das Körpergewicht – genauer die Körpermasse – bezogen Körpergewicht in Bezug zur Körperlänge ein. Eine weitere
auf die Körpergröße (BMI = Körpergewicht/Körpergröße2, kg/ Differenzierung kann nach fettfreier Masse und Körperfett
m2). Der Normbereich liegt für Männer und Frauen zwischen vorgenommen werden, wobei das Körperfett nochmals in
18,5 und 24,9 kg/m2. Als Übergewicht gelten BMI-Werte von Struktur- und Depotfett unterteilt werden kann.
25,0–29,9 kg/m2, als Adipositas gelten Werte über BMI 30. Bei
Adipositas unterscheidet man noch drei Grade:
4 Grad I bei BMI-Werten von 30–34,9 kg/m2
4 Grad II bei BMI-Werten von 35–39,9 kg/m2
4 Grad III bei BMI-Werten über 40 kg/m2

Basierend auf dieser Klassifizierung lässt sich in Deutschland bei


Erwachsenen ein Übergewicht bei etwa 40–50 % und Adipositas
56.3 · Positive und negative Energiebilanz
693 56
56.3 Positive und negative Energiebilanz 56.3.2 Positive Energiebilanz

56.3.1 Kalorienrestriktion – Ausgeglichene Übergewicht und Adipositas werden zum Teil


Energiebilanz auf niedrigem Niveau durch langfristig überhöhte Energiezufuhr mit
der Nahrung aber auch durch genetische Faktoren
Eine kalorisch restriktive Ernährung bei sonst bestimmt
ausreichender Zufuhr aller essentiellen Nährstoffe Übersteigt die Energiezufuhr mit der Nahrung über längere Zeit
verlängert die Lebensspanne nahezu aller Spezies um nur 1–2 % den Energieverbrauch des Körpers, führt dies
Eine Reduktion der normal zugeführten Energiemenge um langfristig zu einer nennenswerten Gewichtszunahme. Überge-
30 % zeigt in einer Reihe von Tiermodellen ausgeprägte Effekte wicht und Adipositas sind auch von genetischen Faktoren deter-
auf die Verlangsamung von Alterungsprozessen. Vor allem bei miniert. Dies lässt sich aus der Zwillingsforschung sowie Fami-
Invertebraten, aber auch bei Nagern, ergaben sich unter kalo- lienuntersuchungen und Adoptionsstudien belegen. Nur etwa
risch restriktiver Ernährung Besserungen der altersbedingten 33 % der Variabilität des BMI kann nicht-genetischen Faktoren
Fehlregulation des Blutglucosespiegels und positive Wirkungen zugeschrieben werden. Genetische Analysen in den letzten Jah-
auf Aktivitäten antioxidativer Enzymsysteme, Reparaturmecha- ren haben aber für viele Gene mit genetischer Varianz in Indivi-
nismen der DNA, Immunfunktionen, Lernfähigkeit sowie duen meist nur sehr kleine Effekte auf das Körpergewicht aufzei-
Proteinsynthese und Erhalt der Muskelmasse. Gleichzeitig wur- gen können. Das intraabdominelle Fettgewebe scheint die stärks-
de eine verminderte Oxidation langlebiger Proteine und eine te genetische Prädisposition zu besitzen. Unabhängig von einer
Reduktion oxidativer Gewebeschädigungen beobachtet. Bei offenbar multigenetischen Prädisposition für Adipositas beim
ausreichender Zufuhr aller essentieller Nährstoffe zeigte sich ein Menschen, kann sich diese aber nur in einer Ernährungsumwelt
deutlich verzögertes Auftreten typischer Krankheiten reiferen mit einem Überangebot an Nahrungsenergie bei gleichzeitig
Alters wie Autoimmunerkrankungen, Krebs, grauer Star, Diabe- niedriger körperlicher Aktivitätsrate auswirken.
tes, Hypertonie oder Nierenversagen. Bei Rhesusaffen war die Eine Reihe von Studien legt nahe, dass die Adipositas beim
langfristige Kalorienrestriktion mit signifikant erniedrigten Menschen mit einem chronischen milden Entzündungsgesche-
Spiegeln oxidativ veränderter Proteine und einer Verbesserung hen einhergeht und dieses mit der Insulinresistenz, Hypertonie
der Insulinsensitivität assoziiert. Letztlich sprechen auch die und Diabetes assoziiert ist. Vor allem die Masse des viszeralen
Befunde an Freiwilligen, die sich langfristig einer solchen kalo- Fettes korreliert am besten mit der Insulinresistenz. Mit der Ex-
risch-restriktiven Ernährung unterziehen, für ähnliche Effekte pansion der Fettgewebemasse nimmt offensichtlich auch die
beim Menschen. Abgabe einer Vielzahl von Adipokinen (7 Kap. 36.7.2 und 38.2.2)
und Entzündungsmediatoren wie IL-6, IL-10, ACE, TGF-β1,
Sirtuine vermitteln die Effekte einer Kalorien- TNF-α, IL-1β, PAI-1 und IL-8 aus dem Gewebe zu. Deren Quelle
restriktion auf Alterungsprozesse scheint jedoch weniger die Fettzelle selbst zu sein, als vielmehr
Als gemeinsames Bindeglied in der Regulation von Alterungs- in das Gewebe eingewanderte Makrophagen. Hier lässt sich
prozessen wurden in Organismen wie S. cerevisiae und D. mela- häufig eine Korrelation zwischen der Größe der Adipocyten und
nogaster die Sirtuine (silent in formation regulators) identifiziert. der Zahl der im Gewebe vorzufindenden Makrophagen zeigen.
In der Hefe wird SIR2 und im Nematoden C. elegans SIR2.1 für Es wird vermutet, dass u. a. auch der Zelltod von Adipocyten die
die alterungsverzögernden Wirkungen einer Kalorienrestriktion Fettgewebeinfiltration der Makrophagen begünstigt. Da auch
verantwortlich gemacht. Das Säugetier-Ortholog SIRT1 repri- die Adipocyten Mediatoren wie Leptin, FABP-4, Adiponektin
miert u. a. im Fettgewebe die durch PPAR-γ-vermittelte Trans- und andere Faktoren sezernieren, ergibt sich ein komplexes pa-
aktivierung von Genen, deren Produkte beispielsweise an der rakrines Netzwerk von Signalbotenstoffen. Neben den Adipocy-
Fettsäurebiosynthese beteiligt sind (7 Kap. 57.1). Angesichts der ten und Immunzellen sind auch die Endothel- und Muskelzellen
Tatsache, dass die Fettgewebsmasse negativ mit der Lebensspan- versorgenden Blutgefäße an den parakrinen Signalketten betei-
ne und positiv mit dem Auftreten von Insulinresistenz und Ar- ligt. Die Vernetzung der Adipositas mit Entzündungsprozessen
teriosklerose in verschiedenen Säugetierspezies korreliert, kann und dem Immunsystem wird auch dadurch belegt, dass ein Ver-
vermutet werden, dass den Sirtuinen auch beim Menschen ent- lust der Funktion von Rezeptoren für die Erkennung bakterieller
sprechende Wirkungen in der Verzögerung von Alterungspro- Strukturen wie beispielsweise der Toll-like-Rezeptor 4 (TLR-4)
zessen zugeschrieben werden können. Sirtuine sind NAD+-ab- (7 Kap. 35.5.4) im Tier eine diätinduzierte Adipositas und Insu-
hängige Histondeacetylasen, die dann aktiviert werden, wenn die linresistenz verhindern kann.
Substratoxidation niedrig und damit der NAD+/NADH-Quo- Nur in sehr seltenen Fällen ist die Adipositas als monogene
tient hoch ist. Ihre Aktivierung führt u. a. zu verminderter Ace- Erkrankung zu diagnostizieren. So sind bisher nur wenige Men-
tylierung von Histonen und zur Hemmung der Transkription schen als homozygote Träger von Mutationen im Leptin-Gen, im
von Genen wie z. B. dem apoptoseinduzierenden p53-Gen Leptinrezeptor-Gen (7 Kap. 38.2.2) oder im Melanocortin-4-
(7 Kap. 51.3 und 52.5.3). SIRT1 hemmt in Herzmuskelzellen die Rezeptor-Gen (7 Kap. 39.2.4) identifiziert worden.
p53-vermittelte Apoptose; seine Expression in Myocyten und Störungen endokriner Funktionen können sekundär auch
Gehirn könnte mit der Regulation der Zellmasse, die besonders zum Übergewicht und zur Adipositas beitragen, so z. B. eine Hy-
in diesen Organen durch stressinduzierte Apoptose altersab- pothyreose (7 Kap. 41.4.3) oder die Gabe von Glucocorticoiden.
hängig abnimmt, in Zusammenhang stehen. Gelegentlich kommt es auch in der Schwangerschaft zu einer
694 Kapitel 56 · Energiebilanz und Ernährungszustand

sehr starken Gewichtszunahme, die in vielen Fällen zu einer


bleibenden Gewichtserhöhung führt.
In Folge von Übergewicht und v. a. von Adipositas treten ge-
häuft eine Reihe weiterer Erkrankungen auf. Besonders bei an-
droidem, abdominellem Fettverteilungsmuster entwickelt sich
gehäuft ein Metabolisches Syndrom (7 Kap. 36.7.2) als Kombi-
nation aus pathologischer Glucosetoleranz, peripherer Insulin-
resistenz, Dyslipoproteinämie und Hypertonie. Auch die vorzei-
tige Arteriosklerose assoziiert eng mit dem Metabolischen Syn-
drom. Übergewicht bzw. Adipositas wurden in epidemiologi-
schen Studien auch als wesentliche Risikofaktoren bei diversen
Krebsformen, bei der chronisch obstruktiven Lungenerkran-
kung, bei Schlafapnöen, der Gallensteinbildung und bei Frauen
auch für das polycystische Ovarsyndrom identifiziert. Mit zu-
nehmendem Alter sinken jedoch die Gesundheitsrisiken, die mit
einem hohen BMI verbunden sind, und wenden sich in das Ge-
genteil: so ist die restliche Lebenserwartung im Alter (>70 Jahre)
56 bei einem um 10 % erhöhtem BMI größer als bei normalem oder
gar um 10 % vermindertem BMI. Ausreichende Energie- bzw.
Nährstoffreserven sind somit im Alter offenbar von Vorteil.

56.3.3 Negative Energiebilanz

Fortschreitende Nahrungskarenz führt zu . Abb. 56.6 Energiegewinnung im Fastenzustand eines gesunden Men-
einer Reihe von Änderungen im Interorganstoff- schen mit einem Energieumsatz von 7.560 kJ (1.800 kcal)/24 h. Proteine aus
Muskelzellen und Fette aus Fettgewebe werden in der Leber zu Glucose
wechsel und den Metabolitflüssen des Organismus umgewandelt und vom Gehirn, den Blutzellen und den restlichen Organen
Der Substratumsatz eines gesunden Menschen im Fastenzustand des Organismus verbraucht. (Adaptiert nach Cahill 1970)
bei etwa 7.560 kJ (1.800 kcal) ist in . Abb. 56.6 dargestellt. Für
obligat glucoseverbrauchende Zellen und Gewebe müssen aus-
reichende Glucosemengen bereitgestellt werden, so für das Ner-
vensystem, das in 24 h etwa 150 g Glucose oxidiert, und für die
Erythrocyten. Dies erfolgt durch die Leber, die somit pro Tag
etwa 180 g Glucose zur Verfügung stellen muss. Abhängig vom
Glycogenbestand wird Glucose zunächst durch Glycogenolyse,
danach durch Gluconeogenese freigesetzt (7 Kap. 14.3). Dazu
werden die Kohlenstoffskelette der glucogenen Aminosäuren
aus dem Abbau von etwa 75 g Muskelprotein, etwa 16 g des bei
der Lipolyse im Fettgewebe entstandenen Glycerins und etwa
36 g Lactat (Pyruvat) verwendet. Letzteres entstammt v. a. aus
der Glycolyse, u. a. der Erythrocyten. Alle anderen Gewebe des
Organismus werden durch freie Fettsäuren aus der Lipolyse des
Fettgewebes versorgt. Ihre Verwertung in der mitochondrialen
β-Oxidation stellt die Energie bereit. Aus der β-Oxidation der
Fettsäuren in der Leber entstehen Ketonkörper, die dann eben-
falls der Energieversorgung extrahepatischer Gewebe dienen.
Geschätzte 25 % der Fettsäuren werden in Ketonkörper umge-
wandelt. Da Muskulatur und Fettgewebe die Glucose nur in Ge-
genwart von Insulin aufnehmen und oxidieren können, ist bei
Nahrungskarenz und niedrigen Inuslinspiegeln die Glucoseoxi-
dation in den peripheren Geweben sehr niedrig (7 Kap. 38.2)
(. Abb. 56.7).
Prominente Veränderungen betreffen das Gehirn, das nun
. Abb. 56.7 Veränderte Energiegewinnung eines Menschen nach fünf-
etwa 70 % seines Energiebedarfes aus Ketonkörpern deckt.
bis sechswöchigem Fasten mit einem gesunkenen Energieumsatz von
Grundlage dafür ist die vermehrte Bildung der Enzyme für die 6.300 kJ (1.500 kcal)/24 h. Die Gluconeogenese aus Aminosäuren wird ein-
Verwertung von β-Hydroxybutyrat und Acetacetat. Damit sinkt geschränkt, das Nervengewebe des Gehirns hat die Fähigkeit zur Verwer-
auch der Bedarf für die durch Gluconeogenese erzeugte Gluco- tung von Ketonkörpern gewonnen. (Adaptiert nach Cahill 1970)
56.3 · Positive und negative Energiebilanz
695 56
semenge von 180 g/24 h (s. o.) auf ca. 80 g/24 h. Die Lipolyserate
des Fettgewebes und damit die Glycerinbereitstellung für die
Gluconeogenese bleiben weitgehend unverändert. Die Lactat-
(Pyruvat)-Freisetzung erhöht sich um ca. 30%. Somit werden
aber weniger glucogene Aminosäuren benötigt, was eine Redu-
zierung der Proteolyse in der Skelettmuskulatur auf etwa
20 g/24 h ermöglicht. Diese Anpassung erlaubt ein Hungern
über mehrere Wochen, dessen Dauer natürlich durch die vor-
handenen Protein- und v. a. Fettreserven limitiert wird. Einher-
gehend mit einer reduzierten Harnstoffbiosynthese der Leber
verlagert sich die Gluconeogenese zunehmend von der Leber in
die Niere, begleitet von einer vermehrten renalen Elimination
von Ammoniak. Die Bedeutung einzelner Aminosäuren für die
renale Gluconeogenese und Stickstoffelimination wird in
7 Kap. 27.2.4 diskutiert.

Zusammenfassung
Eine anhaltend positive Energiebilanz führt zu Übergewicht
und Adipositas. Deren Klassifizierung als Risikofaktor erfolgt
auf der Grundlage des body mass index und bei einer Adipo-
sitas zusätzlich anhand des Fettverteilungsmusters. Über-
gewicht und v. a. Adipositas gehen häufig mit einem meta-
bolischen Syndrom als Kombination von pathologischer
Glucosetoleranz, peripherer Insulinresistenz, Dyslipoprotein-
ämie, Hypertonie, Gicht und erhöhtem Arterioskleroserisiko
einher.
Eine nur kurzfristig negative Energiebilanz (kurzfristige
Nahrungskarenz) führt v. a zur Mobilisierung von Proteinen
des Muskels und Triacylglycerinen des Fettgewebes. Für die
obligat glucoseverwertenden Gewebe (Gehirn, Erythrocy-
ten) stellt die Leber über Glycogenolyse und verstärkte
Glucoeneogenese die Glucose zur Verfügung. Die übrigen
Gewebe verwerten Fettsäuren und Ketonkörper. Die Leber
betreibt die Gluconeogenese aus den Vorstufen Glycerin,
Lactat und den Ketosäuren des Aminosäureabbaus und
gewinnt die dafür notwendige Energie aus der Oxidation
von Fettsäuren und Ketonkörpern.
Eine länger andauernde Nahrungskarenz ist mit markanten
Änderungen der Metabolitflüsse verbunden und führt zur
Fähigkeit des Gehirns zu vermehrter Ketonkörperverwer-
tung. Die Glucoseoxidation sinkt insgesamt zu Gunsten
einer vermehrten Nutzung von Fettsäuren. Eine Vermin-
derung der Proteolyse führt insgesamt zu reduzierter Stick-
stoffausscheidung bei reduzierter hepatischer Harnstoffbio-
synthese aber vermehrter renaler Ammoniakausscheidung.
Eine kalorisch restriktive Kost bei sonst ausreichender Zu-
fuhr essentieller Nährstoffe bewirkt eine Verzögerung von
Alterungsprozessen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


57 Makronährstoffe und ihre Bedeutung
Hannelore Daniel, Uwe Wenzel

Einleitung Bei ausgeglichener Proteinbilanz ersetzt


das über die Nahrung zugeführte Protein den
Das Stoffwechselgeschehen ist Ausdruck einer beständigen Anpassung Stickstoffverlust des Körpers
an variable Ernährungsbedingungen und beinhaltet alle Prinzipien der Die beständige Synthese der Proteine erfordert die Verfügbarkeit
biologischen Regulation. Nicht nur die Aufnahme von Nahrung als aller Aminosäuren, v. a. aber der essentiellen Aminosäuren
solche sowie Menge und Verhältnis der energieliefernden Makronähr- (7 Kap. 26.2.2). Der zelluläre Pool an Aminosäuren für die
stoffe, sondern auch diverse Vitamine und Spurenelemente beeinflus- Proteinbiosynthese wird dabei einerseits aus dem endogenen
sen Genexpression und Biosynthese von Proteinen und deren katalyti- Proteinabbau, andererseits durch die alimentär zugeführten Pro-
sche oder strukturelle Funktionen. Ernährung umfasst somit die Bedeu- teine gespeist. Die Bilanz zwischen Proteinabbau- und Protein-
tung der Nährstoffe als Energieträger, ihre spezifische Rolle für Synthese- biosyntheserate wird durch eine Vielzahl anabol und katabol
leistungen des Organismus und ihre Funktion bei der Kontrolle des wirkender Hormone determiniert und kann somit an unter-
57 Stoffwechselgeschehens. schiedliche Stoffwechsel- und Versorgungsstadien angepasst
werden.
Schwerpunkte Eine ausgeglichene Proteinbilanz erfordert sowohl den Er-
satz derjenigen Proteinmenge, die abgebaut und nach Oxidation
4 Bedeutung der Makronährstoffe für die Homöostase des
der Aminosäuren meist als Harnstoff renal eliminiert wird, als
Körpers
auch eine hinreichende Energiezufuhr, um die Verwendung von
4 Steuerung der Homöostase durch die Nährstoffe selbst
Aminosäuren für die Energiegewinnung zu unterdrücken. Der
4 Bedeutung von Alkohol und Ballaststoffen in der Ernährung
tägliche Proteinumsatz eines stoffwechselgesunden 70 kg schwe-
4 Besondere Ernährungserfordernisse
ren Erwachsenen beträgt etwa 300 g pro Tag und überschreitet
damit mehr als 10fach den minimalen Proteinbedarf von etwa
26 g (0,376 g/kg Körpergewicht) pro Tag. Die Proteinsynthese-
57.1 Die Stoffwechselbedeutung von Pro- rate ist beim Säugling am höchsten und sinkt mit zunehmendem
teinen, Lipiden und Kohlenhydraten und Alter; entsprechend sinkt auch der Bedarf an Nahrungsprotein
ihre Beteiligung an der Homöostase und an essentiellen Aminosäuren. Bei einer mittleren täglichen
Proteinzufuhr mit der Nahrung von etwa 100 g in Deutschland
57.1.1 Aminosäuren und Proteine wird heute der Proteinbedarf mehrfach überschritten. Die Nah-
rungsproteine unterscheiden sich im Gehalt von nicht-essentiel-
Die Aminosäuren der Nahrungsproteine len und essentiellen Aminosäuren zum Teil beträchtlich und
dienen der Biosynthese von Körperproteinen können damit nicht in gleicher und idealer Weise für die Pro-
und spezifischer Intermediate sowie als teinbiosynthese beim Menschen genutzt werden. Die Qualität
Energiesubstrate für die Oxidation eines Nahrungsproteins für eine optimale endogene Proteinsyn-
Primär dienen die Aminosäuren der Nahrungsproteine als Bau- theserate wird als biologische Wertigkeit bezeichnet. Sie be-
elemente für die Biosynthese der Körperproteine und in Form schreibt, in welchem Maße das resorbierte Nahrungsprotein im
ihrer Kohlenstoffgerüste auch als Energiesubstrate für die Oxida- Körper retiniert werden kann. Meist ist die biologische Wertig-
tion. Glucogene Aminosäuren tragen zur Aufrechterhaltung des keit pflanzlicher Proteinquellen geringer als die tierischer Pro-
Glucosespiegels bei (7 Kap. 14.3). Aminosäuren oder ihre Ab- dukte. Als Bezugsgröße wird aus historischen Gründen das Voll-
kömmlinge dienen als Neurotransmitter oder Gewebshormone. eiprotein mit einer biologischen Wertigkeit von 100 verwendet.
Darüber hinaus sind Aminosäuren die dominanten Versorgungs- Basierend auf Bilanzstudien am Gesunden kann die biologische
quellen von Stickstoff und organischem Schwefel für eine Vielzahl Wertigkeit verschiedener Proteinquellen ermittelt und vergli-
spezifischer Synthesen im Intermediärstoffwechsel (Purine, Pyri- chen werden. Die Kombination unterschiedlichster Proteinquel-
midine, Porphyrine, sulfatierte Proteine u. a.). Der tägliche Um- len – was bei moderner Ernährungsweise die Regel ist – sichert
satz von Aminosäuren im Rahmen der Proteinsynthese und -de- eine hohe biologische Wertigkeit, sodass die Proteinversorgung
gradation überwiegt mit etwa 37 mmol/kg Körpergewicht (4,4 g/ in industrialisierten Ländern heute weder quantitativ noch qua-
kg Körpergewicht) pro Tag den der Lipide um 30 % und den der litativ ein Problem darstellt.
Kohlenhydrate um 40 %. Am Energiegewinn aus der Substratoxi-
dation partizipieren die Aminosäuren jedoch – abhängig von der
Stoffwechsellage – nur mit etwa 15–20 %.

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_57, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
697 57
Kachexie ist stets mit massivem Proteinabbau
verbunden
Proteinmangelzustände treten bei schweren Maldigestions-
und Malabsorptionssyndromen sowie bei Kachexie in Folge
schwerer Verletzungen, Tumorerkrankungen oder chronischer
Infektionen und AIDS auf. Die Kachexie geht mit einem ver-
mehrten Proteinabbau einher, v. a. in der Muskulatur. Dies ist
mit einer Aktivierung des Calpainwegs und der ubiquitinabhän-
gigen proteasomalen Proteindegradation (7 Kap. 50.3) sowie der
Autophagie verbunden. Die calciumabhängige calpainregulierte
Ablösung der Myofilamente vom Sarkomer ist eine frühe und
vermutlich auch die geschwindigkeitsbestimmende katabole
Antwort der Muskulatur. Die Myofilamentproteine werden in
der Folge ubiquitiniert und im 26S-Proteasom abgebaut
(7 Kap. 50.3 und 71.2).
In Entwicklungsländern finden sich noch immer, meist bei
Kindern, die klassischen Proteinmangelzustände mit den Krank-
heitsbildern des Marasmus als einem kombinierten Protein- und
Energiemangel und Kwashiokor als selektivem Proteinmangel
bei sonst ausreichender Energiezufuhr. Die in Folge des Protein-
mangels auftretende Hypoalbuminämie bedingt beim Kwashio-
kor die ausgeprägten Ödeme. Bei Marasmus kommt es neben
Hypoalbuminämie und Ödemen auch zu Fettinfiltrationen der
Leber, zu Wachstumsretardierungen, Anämien, erhöhter Infek- . Abb. 57.1 Der mTOR-Signalweg. Dargestellt ist ein Modell für die über
tionsanfälligkeit, Anorexie und Apathie. den mTOR-Signalweg vermittelte Erfassung des zellulären Aminosäuresta-
tus und seine Einbettung in die Signalketten der Rezeptor-Tyrosinkinasen
Das Gleichgewicht zwischen Proteinsynthese und der AMP-Kinase. (Einzelheiten s. Text). Die Regulation von mTOR durch
und -degradation unterliegt der hormonellen die AMPK und Rezeptor-Tyrosinkinasen ist in 7 Kap. 38.2.1 beschrieben
(7 Abb. 38.11). TSC: tuberous sclerosis complex; Rheb: Ras homologue enri-
Regulation
ched in brain
Unter den Organen zeigt die Leber die höchste fraktionelle Pro-
teinsyntheserate gefolgt von Herz- und Skelettmuskulatur. Die
Halbwertszeit der Proteine schwankt zwischen Minuten (Signal- Wirkung zeigt, ist eine starke Zunahme der Proteinsyntheserate
proteine), Stunden (Plasmaproteine, Enzyme) und Monaten und damit anabole Insulinwirkung zu beobachten, wenn das An-
(Strukturproteine wie Kollagen). Der beständige Abbau von Pro- gebot von Aminosäuren im Extrazellulärraum steigt. Dies hängt
teinen erfolgt vorwiegend in Proteasomen und Lysosomen vermutlich v. a. mit den ausgeprägten akuten Wirkungen von
(7 Kap. 50) und speist den zellulären Pool an essentiellen und Insulin auf die Transportsysteme für Aminosäuren in der Plas-
nicht-essentiellen Aminosäuren. Dieser wird durch die aus dem mamembran zusammen, die nur dann einen erhöhten Influx von
Blut bzw. der Nahrung stammenden Aminosäuren ergänzt. Da Aminosäuren in die Zelle herbeiführen können, wenn das Ange-
ein Mangel an essentiellen Aminosäuren sofort die Proteinbio- bot aus dem Blut entsprechend groß ist. Da der zelluläre Amino-
synthese zum Erliegen bringen würde, wird die Neusynthese von säurepool aus dem endogenen Proteinabbau und der Aufnahme
Proteinen zunächst aus dem zellulären Aminosäurepool gespeist aus dem Extrazellulärraum gespeist wird, müssen die Wirkungen
und dieser dann durch fortschreitende Proteolyse, v. a. der Mus- der extrazellulären Signalgeber (Hormonspiegel) mit der Größe
kelproteine ergänzt, um essentielle Funktionsproteine syntheti- des Pools an verfügbaren Aminosäuren in der Zelle synchroni-
sieren zu können. Ein länger bestehender alimentärer Mangel an siert werden. Daher verfügt die Zelle offenbar über ein eigenes
essentiellen Aminosäuren führt somit in kurzer Zeit zu einer Rezeptorsystem für Aminosäuren, das mit den intrazellulären
fortschreitenden negativen Proteinbilanz durch verminderte Insulin/IGF1-Signalketten und der AMP-aktivierten Proteinki-
Proteinsynthese bei gleichzeitig erhöhtem Abbau. nase (AMPK) verknüpft ist (7 Kap. 38.1.1) (. Abb. 57.1). Zentra-
Das Gleichgewicht zwischen Proteinsynthese und -degrada- les zelluläres Sensorelement des intrazellulären Aminosäuresta-
tion wird durch Peptidhormone, Steroide und Schilddrüsenhor- tus ist dabei das Protein mTOR (mammalian target of rapamycin),
mone reguliert. Die stärksten Effekte, z. B. auf die Proteinbilanz eine Serin/Threonin-Kinase, die das ursprünglich als bakterielles
des Muskels, üben Insulin und Wachstumshormon aus, letzteres Makrolid identifizierte Rapamycin bindet und dadurch inhibiert
vorwiegend über den insulin-like growth factor-1 (IGF-1) wird (7 Kap. 38.2.1). Der mTOR-Weg wird bei einem entspre-
(7 Kap. 42.1.2). Auch die Spiegel der zirkulierenden IGF-Binde- chend hohen Angebot an Aminosäuren in der Zelle – v. a. durch
proteine (IGF-BPs) unterliegen einer Kontrolle durch den Er- Leucin – aktiviert und vernetzt letztlich diese Information mit
nährungsstatus und regulieren damit sekundär die verfügbare den intrazellulären Signalkaskaden der Rezeptor-Tyrosinkina-
Menge an IGF-1 für die Interaktion mit den Insulin- und IGF- sen der Zellmembran. Die integrierte Zellantwort besteht in ei-
1-Rezeptoren. Während Insulin zunächst eine antiproteolytische ner erhöhten Ribosomengenese und Translationsrate von Ziel-
698 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung

proteinen. Durch mTOR werden v. a. die Signalwege der p70 ri- Abbau der Kohlenhydrate in das Blut und die Kinetik der In-
bosomalen S6-Kinase (S6K bzw. p70rsk) aktiviert und eine Hem- sulinfreisetzung, sind abhängig von Quelle und Matrix, d. h. dem
mung des eukaryontischen Translations-Repressor-Bindeproteins physikalischen Zustand der Stärke (roh, gekocht) sowie dem
(eIF4E-BP) herbeigeführt, was die Bildung von Initiationskom- Vorhandensein anderer Begleitstoffe, z. B. Fett.
plexen fördert, die dann die 40S-Ribosomenuntereinheiten an Dies wird im sog. glykämischen Index erfasst, der die AUC
die 5‘-Enden der mRNA rekrutieren und die vermehrte Pro- (area under the curve) des Blutglucoseverlaufs als Funktion der
teinsynthese ermöglichen (. Abb. 57.1, 7 Kap. 48.3.3). Zeit bei Gabe gleicher Mengen an Glucose aus verschiedenen
Die Proteinabbauprozesse werden am stärksten durch die Nahrungsquellen beschreibt. So führt die gleiche Menge an Glu-
Kombination der Stresshormone Glucagon, Adrenalin und Glu- cose als Monosaccharid oder Stärke verabreicht zu stark unter-
cocorticoide bei gleichzeitig abfallendem Insulinspiegel geför- schiedlichen Blutzuckerverläufen, da die Stärke – abhängig von
dert, wobei jedes Hormon alleine meist nur sehr schwache Wir- ihrem Quellzustand – unterschiedlich schnell gespalten wird
kungen entfaltet. Sowohl im Falle einer sistierenden Hypo- wie und damit die Resorption der Glucose entsprechend schneller
auch einer Hyperthyreose wird eine negative Proteinbilanz beob- oder langsamer erfolgt. Auch der Fettgehalt der Nahrung bewirkt
achtet (7 Kap. 41.3). über die Verzögerung der Magenentleerung einen flacheren An-
stieg des Blutzuckerspiegels bei gleichzeitiger Gabe mit Kohlen-
hydraten. Inwieweit auch die gastrointestinalen Peptidhormone
57.1.2 Kohlenhydrate GIP (gastric insulinotropic polypeptide) bzw. GLP-1 (glucagon like
peptide 1), die nach oraler Gabe von Kohlenhydraten aus entero-
Kohlenhydrate sind die primären Energiesubstrate endokrinen Zellen ins Blut freigesetzt werden und die die Insu-
Kohlenhydrate sind die primären Energiesubstrate, die mit über linsekretion fördern, für die unterschiedlichen glykämischen
57 50 % der täglichen Substratoxidation in die Energiebilanz einge- Indices unterschiedlicher Kohlenhydratquellen verantwortlich
hen. Im Gegensatz zu Lipid- und Proteinspeicher sind die Kör- sind, bleibt zu klären (7 Kap. 36.3). Es sei hier aber darauf hinge-
perpools der Kohlenhydrate (Glycogen in Leber und Muskel) wiesen, dass nur für wenige definierte Lebensmittel verlässliche
sehr begrenzt. So stehen die Glykogenspeicher der Leber nur zur Werte über den glykämischen Index vorliegen.
Überbrückung kurzer Zeiten der Nahrungskarenz für die Auf-
rechterhaltung des Glucosespiegels des Bluts zur Verfügung. Da- Nahrungsfett hemmt die Fettsäuresynthese
nach erfolgt die Bereitstellung der Glucose durch Förderung der aus Kohlenhydraten
Gluconeogenese aus den glucogenen Ketosäuren des Aminosäu- In der Resorptionsphase wird die Glucose unter der Wirkung
reabbaus bzw. Lactat sowie dem Glycerin aus dem Triacylglyce- von Insulin durch vermehrte Insertion des Glucosetransporters
rinabbau (7 Kap. 14.3). GLUT4 in die Plasmamembran der Muskel- und Fettgewebszel-
Die Zufuhr der Kohlenhydrate über die Nahrung erfolgt in len schnell aus dem Blut extrahiert (7 Kap. 15.1). In der Leber
erster Linie als Stärke pflanzlicher Lebensmittel und in geringe- dient die Glucose nach ihrer Aufnahme mittels GLUT2 der Auf-
rem Umfang als Glycogen im Muskelfleisch. Die Aufnahme von füllung der Glycogenspeicher und, wie in anderen Körperzellen
Disacchariden (Saccharose und Maltose) und Monosacchariden auch, als primäres Substrat der Oxidation. Die de novo-Biosyn-
(Glucose, Fructose) ist v. a. durch die breite Verwendung gesüß- these von Fettsäuren bei einem hohen Angebot an Acteyl-CoA
ter Getränke deutlich gestiegen. Als einzige verfügbare Kohlen- aus dem Glucoseabbau scheint beim Menschen in Leber und
hydratquelle der Milch besitzt die Lactose in der Säuglingsernäh- Fettgewebe nur in sehr begrenztem Umfang stattzufinden. Selbst
rung naturgegeben eine besondere Bedeutung. Die in der Hu- bei Kohlenhydratzufuhrraten von 500 g/Tag über längere Zeit-
manmilch auch enthaltenen hochmolekularen Oligosaccharide, räume bleibt die Neubildung von Fett bei weniger als 10 g/Tag.
deren Gehalt bis zu 8 g/l betragen kann, gelten als unverdaulich Eine Fettzufuhr von nur 4 % der Nahrungsenergie bewirkt da-
und dienen v. a. als Substrate für die Fermentation durch Bakte- gegen bereits eine Hemmung der de novo-Fettsäurebildung
rien im Dickdarm des Säuglings. In diesem Sinne können sie als durch Hemmung der Acetyl-CoA-Carboxylase, des Schlüsselen-
lösliche Ballaststoffe der Muttermilch angesehen werden. zyms der Fettsäurebiosynthese (7 Kap. 21.2.3). Die endogene
Ein expliziter Bedarf an Kohlenhydraten kann nicht definiert Fettsäuresyntheserate liegt daher bei einer normalen Kost mit
werden. Eine mittlere Zufuhr von ca. 120 g pro Tag wird als aus- Fettzufuhren von 100 g pro Tag bei weniger als 1‒2 g/Tag. Bei
reichend erachtet, um einer ketoacidotischen Stoffwechsellage einer hyperkalorischen Ernährung werden entsprechend die
vorzubeugen. Um die Fettzufuhr zu reduzieren, empfehlen Fach- Fettsäuren bevorzugt in die körpereigenen Depots des Fettgewe-
gesellschaften eine Kohlenhydratzufuhr, die etwa 50 % der Nah- bes eingelagert und die Kohlenhydrate oxidiert.
rungsenergie liefert. Diese sollte in Form komplexer Kohlenhy-
drate aus Vollkornprodukten, Kartoffeln, Gemüse und Obst er- Der Glucoseumsatz unterliegt einer komplexen
folgen, sodass gleichzeitig eine erhöhte Zufuhr an Ballaststoffen, hormonellen und neuronalen Kontrolle
Vitaminen und Spurenelementen erreicht werden kann. Der gesamte Kohlenhydratstoffwechsel, v. a. aber der Glucose-
umsatz, unterliegt einer komplexen Kontrolle. Dies betrifft glei-
Die Blutzuckerwirksamkeit der Nahrungs- chermaßen die schnellen Stoffwechselantworten infolge verän-
kohlenhydrate ist unterschiedlich derter Insulin-, Glucagon- und Katecholaminspiegel als auch die
Die Blutzuckerwirksamkeit der Nahrungskohlenhydrate, d. h. langsameren Effekte durch Wirkungen der Steroide und Schild-
die Dynamik der Anflutung von Glucose aus dem intestinalen drüsenhormone. Bisher gelten die extrazellulären Signalgeber als
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
699 57

. Abb. 57.2 Regulation von Enzymen der Glycolyse und der Fettsäuresynthese durch regulierte Transkriptionsfaktoren. Dargestellt ist die Regulation
der Transkriptionsfaktoren ChREBP (carbohydrate responsive element binding protein) und SREBP-1c (sterol regulatory element binding protein-1c) durch Insu-
lin und Glycolysezwischenprodukte. (Einzelheiten s. Text)

primäre Steuerungsgrößen der adaptiven Veränderungen des und cAMP reguliert wird. Dazu dient ein carbohydrate response
Glucosestoffwechsels, die am Ende in akute Veränderungen der element binding protein, ChREBP, das an das ChRE im Zellkern
Aktivitäten von Zielenzymen und in veränderte Transkriptions- bindet. ChREBP wird bei niedrigem zellulärem Glucosespiegel
raten der für sie codierenden Gene münden. Dabei hat sich die durch die AMP-aktivierte Proteinkinase bzw. durch die cAMP-
zelluläre AMP-aktivierte Proteinkinase (AMPK) als ein zentrales abhängige Proteinkinase A phosphoryliert, was seine Transloka-
intrazelluläres Zielprotein für die koordinierte Stoffwechselant- tion in den Zellkern blockiert. Wenn der zelluläre Spiegel an
wort herausgestellt (7 Kap. 38.1.1). Sie kann den zellulären Ener- Glucose steigt, aktiviert ein Glucosemetabolit die Proteinphos-
giestatus anhand des AMP/ATP-Quotienten direkt in veränderte phatase 2A (PP2A), was eine Dephosphorylierung und Aktivie-
Aktivitätszustände übersetzen und steht somit als zelluläres Sig- rung von ChREBP auslöst. Auch Xylulose-5-Phosphat aus dem
nalprotein an der Schnittstelle zwischen den Signalketten der Pentosephosphatweg scheint über diesen Mechanismus an der
Hormone und dem Energiestatus. Die AMPK kann durch Phos- Transkriptionskontrolle von Genen der Glycolyse und Fettsäure-
phorylierung entsprechender Schlüsselenzyme und durch Be- synthese zu partizipieren (7 Kap. 14.1.2). Weiterhin wirkt auch
einflussung ihrer Transkription die Energie verbrauchenden der zelluläre Zinkstatus auf die Expression der Gene von Glyco-
Biosynthesewege ab- und die der energieliefernden Abbaupro- lyse und Gluconeogenese sowie des Fettauf- und -abbaus durch
zesse anschalten (7 Kap. 38.1.1). die Zinkfinger-Proteine, die als Transkriptionsfaktoren fungie-
Zahlreiche neuere Studien lassen vermuten, dass auch Meta- ren. . Abb. 57.2 zeigt vereinfacht die Integration der Signalket-
bolite des Glucosestoffwechsels, v. a. Glucose-6-Phosphat, direkt ten, die den Hormonspiegel (v. a. von Insulin) mit den zellulären
an der Transkriptionskontrolle einiger Gene des Kohlenhydrat- Metabolitkonzentrationen (v. a. des Glucose-6-Phosphats) in
und Fettstoffwechsels teilhaben. So lässt sich die Induktion der eine koordinierte Genexpressionskontrolle und Stoffwechselan-
L-Pyruvatkinase (L-PK), der Acetyl-CoA-Carboxylase und der passung übersetzen.
Fettsäuresynthase der Leber auch in Abwesenheit von Insulin
zeigen, wenn Glucose-6-Phosphat vermehrt durch die Glucoki-
nase bereitgestellt wird. Die Induktion der Glucokinase und der 57.1.3 Lipide
Enzyme der Fettsäuresynthese unterliegen ihrerseits jedoch der
Regulation durch SREBP-1c (sterol-regulatory element binding Die Fettfraktion der Nahrung ist komplex
protein; isoform 1c) und der Insulinwirkung (7 Kap. 15.3). Promo- zusammengesetzt
torstudien haben in den Genen der L-PK und der Acetyl-CoA- Der größte Teil der Nahrungslipide wird dem Körper in Form
Carboxylase und Fettsäuresynthase auch ein carbohydrate re- von Triacylglycerinen zugeführt. Darüber hinaus sind Phospho-
sponse element ChRE nachgewiesen, das reziprok durch Glucose lipide, Sphingolipide, Cholesterin, die pflanzlichen Sterole und
700 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung

Carotinoide und die fettlöslichen Vitamine Bestandteile der Fett- bei Fettresorptionsstörungen als effiziente Energiequellen
fraktion der Nahrung. Die durchschnittliche tägliche Fettauf- Verwendung.
nahme beträgt heute etwa 100–130 g. Hiermit werden etwa 40–
45 g gesättigte, 30–40 g einfach ungesättigte und 20–25 g mehr- Bei den sog. Transfettsäuren stehen die Wasserstoffatome von
fach ungesättigte Fettsäuren aufgenommen. Aus Befunden epi- Doppelbindungen nicht wie bei natürlichen Fettsäuren in cis-
demiologischer Studien, die den Zusammenhang zwischen Position, sondern in trans-Position. Sie entstehen in größerem
quantitativer und qualitativer Fettaufnahme und Erkrankungs- Umfang v. a. bei der Raffination von Speisefetten. Aufgrund epi-
häufigkeiten, v. a. des kardiovaskulären Systems, untersuchten, demiologischer Studien und anhand ihrer Wirkungen auf den
werden die Empfehlungen von Fachgesellschaften zur Fettauf- Anstieg des Plasma-LDL-Cholesterins bzw. Abfall des HDL-
nahme abgeleitet. Danach sollte Fett nicht wesentlich mehr als Cholesterins werden Transfettsäuren als kardiovaskuläre Risiko-
30 % der täglichen Energieaufnahme (derzeit etwa 40 %) liefern, faktoren eingestuft. Fachgesellschaften empfehlen daher, dass die
und dabei sollte die Zufuhr ungesättigter Fettsäuren bei etwa Nahrung nicht mehr als 1 % trans-Fettsäuren enthalten sollte.
20 %, die der gesättigten Fettsäuren bei etwa 10 % der Nahrungs- Eine Besonderheit bildet die cis-9,trans-11-konjugierte Linol-
energie liegen. Von den mehrfach ungesättigten Fettsäuren säure (CLA), die etwa 90 % der Linolsäurefraktion in Milch und
zeichnen sich die ω-3-Fettsäuren durch eine besondere gefäß- anderen Produkten von Wiederkäuern ausmacht. Auch wenn ihr
protektive Wirkung aus. Daher ist ein Verhältnis der ω-6- zu eine Reihe gesundheitsfördernder Eigenschaften zugesprochen
ω-3-Fettsäuren von 5:1 anzustreben. werden, scheint eine abschließende Beurteilung ihrer Bedeutung
Nach der intestinalen Resorption werden die Lipidkompo- gegenwärtig nicht möglich.
nenten v. a. über die Chylomikronen in Lymphe und Blut verteilt
und den Zellen zugeführt (7 Kap. 24.2). Die Triacylglycerine Fettsäuren aktivieren Transkriptionsfaktoren
57 werden nach Hydrolyse in die Adipocyten aufgenommen und In Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme und den davon ab-
nach Reveresterung gespeichert. Ein Kilogramm Fettgewebe hält hängigen Hormonspiegeln werden Fettsäuren im Interorgan-
eine Energiereserve von etwa 29.000 kJ (7.000 kcal) vor und kann stoffwechsel zwischen Fettgewebe, Leber und peripheren Gewe-
bei Nahrungskarenz und einem mittleren täglichen Energieum- ben der Speicherung oder der Oxidation zugeführt. Fettsäuren
satz von 2.500 kcal den Energiebedarf etwa 3 Tage lang decken. selbst regulieren aber ebenfalls den Stoffwechsel, indem sie die
Die Mobilisierung des Depotfetts unterliegt vielfältiger hormo- Genexpression von Funktionsproteinen des Lipid- und Energie-
neller und neuronaler Kontrolle. Freigesetzte Fettsäuren werden stoffwechsels beeinflussen. Dabei stehen die Transkriptionsfak-
als bevorzugte Energiesubstrate im katabolen Stoffwechsel von toren SREBP-1c (sterol responsive element binding protein 1c)
den meisten Geweben genutzt. In der Leber dient das aus der (7 Kap. 15.3 und 23.3) und die verschiedenen Isoformen des
β-Oxidation der Fettsäuren hervorgegangene Acetyl-CoA bei Peroxisomen-Proliferator-aktivierten Rezeptors (PPAR) im
ausgelasteter Oxidationsrate der Bildung der Ketonkörper Mittelpunkt. Die Aktivierung von SREBP-1c induziert ein Spek-
(7 Kap. 21.2.2). trum von lipogenen Enzymen in der Leber. Mehrfach ungesät-
tigte Fettsäuren hemmen im Gegensatz dazu deren Expression
Die verschiedenen Fettsäureklassen besitzen und beeinflussen die Prozessierung von SREBP-1c.
unterschiedliche nutritive Bedeutung Die Wirkungen freier Fettsäuren auf die Genexpression wer-
Die unterschiedlichen über die Nahrung zugeführten Fettsäuren den vorwiegend über PPARs vermittelt, Transkriptionsfaktoren
nehmen im Stoffwechsel verschiedene Funktionen wahr: aus der Familie der nucleären Rezeptoren (7 Kap. 35.1). PPARs
4 Langkettige gesättigte Fettsäuren sind v. a. Energieträger finden sich in heterodimeren Komplexen mit den Retinoid-
als Substrate der β-Oxidation (7 Kap. 21.2.1). rezeptoren der RXR-Klasse (7 Kap. 58.2) und beeinflussen v. a.
4 Ungesättigte Fettsäuren besitzen als Bestandteile der die Genexpression von Proteinen für die zelluläre Fettsäureauf-
Phospholipide der Plasma- und Organellmembranen struk- nahme, die mitochondriale und peroxisomale Fettsäureoxida-
turgebende Bedeutung und beeinflussen die Fluidität und tion und die de novo-Fettsäuresynthese (. Abb. 57.3). In der Le-
Funktionalität der Membranen (7 Kap. 11.2). ber führt die Aktivierung des PPAR-α durch mehrfach ungesät-
4 Die essentiellen Fettsäuren dienen v. a. als Substrate für tigte Fettsäuren mit Ausnahme von Linolsäure zur vermehrten
die Synthese der unterschiedlichen Eicosanoidklassen und Bildung von Enzymen für die Aufnahme und Verwertung der
beeinflussen damit viele biologische Prozesse, darunter auch Fettsäuren und die Ketonkörperbildung. Darüber hinaus kommt
Entzündungsvorgänge und die Blutrheologie (7 Kap. 22.3.2). es zu einer verminderten Synthese der Proteine für die Fettsäu-
4 Triacylglycerine mit mittelkettigen Fettsäuren (Ketten- resynthese und zur Hemmung der VLDL-Produktion (. Abb.
längen von 8 bis 12 C-Atomen) werden im Darm weitge- 57.4). Auch Prostaglandine (u. a. PGE2) sowie ganz spezifische
hend unabhängig von der Anwesenheit von Gallensäuren Phospholipde wirken als Liganden von PPAR-α. Im Fettgewebe
schnell und überwiegend ohne Hydrolyse resorbiert und findet sich v. a. PPAR-γ, der nach Aktivierung eine erhöhte Insu-
gelangen vorwiegend direkt über die Portalvene zur Leber. linwirksamkeit herbeiführt, die die Fettsäureaufnahme und de-
Hier werden sie durch Lipasen gespalten und die freigesetz- ren Reveresterung begünstigt und die Fettsäureabgabe unter-
ten Fettsäuren unter Umgehung des Carnitin-Acyl-Carrier- drückt (. Abb. 57.4). Er ist darüber hinaus ein zentraler Trans-
Systems der mitochondrialen Oxidation zugeführt. Auf- kriptionsfaktor in der Adipocytendifferenzierung. In Fett- und
grund dieser Eigenschaften finden sie im Rahmen der Muskelgewebe findet sich PPAR-δ, der nach Ligandenbindung
klinischen Ernährung in parenteralen Lösungen und oral die vermehrte Synthese von Proteinen für die Oxidation der Fett-
57.1 · Die Stoffwechselbedeutung von Proteinen, Lipiden und Kohlenhydraten und ihre Beteiligung an der Homöostase
701 57

. Abb. 57.3 Transkriptionelle Regulation von ausgewählten Zielgenen durch PPARs im Zusammenspiel mit RXR. Verschiedene Fettsäuren binden an
Transkriptionsfaktoren der PPAR-Familie und aktivieren diese. PPAR bilden Heterodimere mit Rezeptoren für 9-cis-Retinoat und binden an entsprechende
response elements im Promotorbereich von Ziel-Genen und stimulieren deren Transkription. PPAR: Peroxisomen-Proliferator-aktivierte Rezeptoren; RXR: Re-
tinoid-X-Rezeptor; TBP: TATA-Box Binding Protein; TFII-B: Transkriptionsfaktor IIB; PDH-Kinase: Pyruvatdehydrogenasekinase; PEPCK: Phosphoenolpyruvat-
carboxykinase. (Einzelheiten s. Text)

. Abb. 57.4 Gewebespezifische Wirkungen der verschiedenen PPAR-Isoformen auf den Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsel. In der Leber führt
die Aktivierung von PPAR-α zu einer gesteigerten Fettsäureoxidation und Ketogenese, während die Fettsäuresynthese aus Glucose und die Bildung triacyl-
glycerinreicher Lipoproteine gehemmt werden. Die Aktivierung von PPAR-γ im Fettgewebe fördert die Bildung von Fettsäuren aus Glucose, erhöht die
Aufnahme von Fettsäuren aus den Lipoproteinen des Plasmas und die zelluläre Speicherung in den Triacylglycerinen. Die PPAR-δ-Aktivierung in Muskel
und Fettgewebe steigert v. a. die Oxidation von Fettsäuren und ihre Reveresterung. (Einzelheiten s. Text)

Palmitinsäure Ölsäure Linolsäure Arachidonsäure Fettsäuresynthese Acyl-CoA-Synthetase Lipoproteinlipase Fettsäuretransporter Ent-


kopplungsproteine (UCP1) Carnitin-Palmitoyltransferase 1 Insulinrezeptorsubstrat-2 PDH-Kinase PEPCK Leptin PPARα PPARγ PPARδ
702 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung

säuren und deren Veresterung bedingt (. Abb. 57.4). Aufgrund 57.1.5 Ballaststoffe
ihrer Wirkungen sind die PPARs pharmakologische Zielproteine
u.a. für die Therapie des Typ-II-Diabetes und der Arteriosklero- Ballaststoffe können als Quellstoffe oder
se mit spezifischen Agonisten wie den Fibraten für PPAR-α oder als Substrate des intestinalen bakteriellen
den Thiazolidindionen für PPAR-γ. Metabolismus dienen
Als Ballaststoffe (häufig auch als Nahrungsfasern bezeichnet)
werden die v. a. in pflanzlichen Lebensmitteln vorkommenden
57.1.4 Alkohol Gerüst- und Speichersubstanzen bezeichnet, die von den Enzy-
men des Magen-Darm-Trakts des Menschen nicht gespalten
Alkohol ist eine bedeutende Energiequelle werden können und somit unverdaulich sind. Es handelt sich
Zwar wird Ethanol (Ethylalkohol) vorwiegend über Genussmit- dabei zum einen um Nicht-Stärke-Polysaccharide (NSP: Cellu-
tel zugeführt und ist im klassischen Sinne kein Nährstoff, doch lose, Hemicellulose, Lignin und Pectin, Inulin, Methylcellulose)
wird er durchaus in Mengen aufgenommen, die seine Berück- und zum anderen um resistente Stärke (z. B. Stärke mit kompak-
sichtigung in der Energiebilanz des Körpers notwendig machen. ter Kristallstruktur). Man differenziert zwischen wasserlösli-
Bei männlichen Erwachsenen tragen alkoholische Getränke im chen (Inulin, Pectine und andere Quellstoffe und lösliche Hemi-
Durchschnitt mit rund 5 % zum täglichen Energiebedarf bei. Der cellulosen) und wasserunlöslichen Ballaststoffe (Cellulose,
Alkoholgehalt wird in Volumenprozent angegeben. Die Alkohol- unlösliche Hemicellulose, Lignin).
menge in g/100 ml lässt sich aus der Dichte des Alkohols (0,79 g/ Manche Ballaststoffe quellen im Darm auf und beeinflussen
ml) berechnen. Der Energiegehalt von 1 g Alkohol beträgt 30 kJ somit die Viskosität des Chymus und der Faeces und regen dar-
(7,1 kcal). In Getränken muss im Hinblick auf den Energiegehalt über die Darmmotilität an. Außerdem besitzen einige Ballast-
57 auch der Kohlenhydratgehalt, z. B. in Likören, Weinen, Bieren stoffe die Eigenschaften von Ionenaustauschern und binden Gal-
und Szene-Getränken, berücksichtigt werden. Die Resorption lensäuren. Lösliche Ballaststoffe sind wichtige Energiesubstrate
von Alkohol beginnt bereits im Mund, erfolgt dann aber über- für den mikrobiellen Stoffwechsel im Dickdarm. Dieser liefert
wiegend im oberen Magen-Darm-Trakt, allerdings mit erheblich kurzkettige Fettsäuren (Acetat, Propionat, Butyrat, Lactat), die
interindividuellen Schwankungen. Eine vorherige oder gleich- ihrerseits als Energiesubstrate im menschlichen Stoffwechsel ge-
zeitige Nahrungsaufnahme kann die Alkoholresorption verlang- nutzt werden. Propionat und Acetat werden resorbiert und über
samen, während Alkohol in warmen Getränken (Glühwein, das Pfortaderblut in die Leber transportiert, Butyrat dient di-
Punsch, Grog), in Kombination mit Kohlensäure (Sekt) und im rekt dem Stoffwechsel der Dickdarmmukosa und fördert die
Nüchternzustand schneller resorbiert wird. Da Ethanol bestän- Proliferation der Epithelzellen. Die kurzkettigen Fettsäuren sen-
dig auch von einigen Bakterienspezies der Darmflora produziert ken den pH-Wert des Darminhalts ab und verbessern dadurch
wird, findet sich in der Portalvene stets eine geringe Menge u. a. die Verfügbarkeit von Calcium und anderen Elektrolyten
Alkohol. sowie von Spurenelementen. Die energetische Verwertung der
von der Flora gebildeten kurzkettigen Fettsäuren bedingt beim
Isoformen der Alkoholdehydrogenase bestimmen Menschen einen physiologischen Brennwert der löslichen und
die Geschwindigkeit des Ethanolabbaus fermentierbaren Ballaststoffe von etwa 1,5–2 kcal/g. Der Ener-
Das Vorkommen der unterschiedlichen Isoformen der Alkohol- giegehalt (bzw. die Energiedichte) ballaststoffreicher Lebensmit-
dehydrogenase und deren genetische Heterogenität in verschie- tel ist generell geringer als der von ballaststoffarmen Lebensmit-
denen ethnischen Gruppen und Individuen bedingt eine recht teln. Dagegen ist der Sättigungseffekt ballaststoffreicher Lebens-
variable Geschwindigkeit der Elimination des Ethanols und sei- mittel meist höher. Aufgrund ihrer gesundheitsfördernden Wir-
ner Überführung in Acetaldehyd. Auch das mikrosomale Etha- kungen auf Darmfunktionen und der geringeren Energiedichte
nol – oxidierende NADPH-abhängige System und die Peroxida- ballaststoffreicher Lebensmittel wird von Fachgesellschaften eine
se partizipieren am Ethanolabbau. Nach Reduktion des Acet- hohe alimentäre Ballaststoffzufuhr empfohlen.
aldehyds zu Acetat kann dieses in Acetyl-CoA überführt und in
den Stoffwechsel eingeschleust werden. In der Leber führt Etha-
nol wahrscheinlich wegen der Produktion großer Mengen an Zusammenfassung
NADH/H+ bei seiner Metabolisierung zu einer Hemmung der Proteine
β-Oxidation der Fettsäuren. Gleichzeitig wird die Triacylglyce- Sie liefern Aminosäuren für die körpereigene Proteinbio-
rinbiosynthese stimuliert. Ein Teil der Triacylglycerine wird als synthese, sind Energiesubstrate und stellen Stickstoff und
VLDL in die Zirkulation abgegeben, ein Teil in der Leber ab- Schwefel für andere Synthesen bereit.
gelagert. Hieraus ergeben sich die pathobiochemischen Ver- Proteine sollten in einer Menge von 0,8 g/kg Körpergewicht
änderungen der Leber bei chronischem Alkoholkonsum zugeführt werden, wobei deren unterschiedliche biologi-
(7 Kap. 62.6.1). sche Wertigkeit beachtet werden muss.
Der Proteinumsatz des Organismus wird durch Hormone in
vielfältiger Weise reguliert. Als zellulärer Sensor des Amino-
säurestatus dient die Proteinkinase mTOR, die regulatorisch
6
57.2 · Besondere Ernährungserfordernisse
703 57
Nährstoffen entstehen. Je nach Freizeitbeschäftigung und Belas-
mit den Insulin/IGF-1-Signalketten und der AMP-aktivierten tung sowie Nahrungspräferenzen nehmen Kinder und Jugendli-
Proteinkinase verknüpft ist. che von Tag zu Tag unterschiedliche Mengen an Nahrung und
damit Energie auf. Da sich diese Unterschiede jedoch über län-
Kohlenhydrate gere Zeiträume ausgleichen, kann auch in diesem Alter das Kör-
Sie sind Energielieferanten und dienen in Form von Glyco- pergewicht zur Kontrolle des Ernährungsstatus dienen.
gen als Energiespeicher, Kohlenstoffquellen für die Biosyn- Im höheren Alter sind quantitative und qualitative Verände-
these von Fettsäuren und einzelnen Aminosäuren, Bausteine rungen des Stoffwechsels und der Organfunktionen zu beobach-
der Heteroglycankomponenten von Protein- und Lipidkom- ten. Die Ernährungsempfehlungen für Senioren basieren auf
plexen. Mäßigkeit, Regelmäßigkeit und Vielseitigkeit. Darüber hinaus
Der Kohlenhydratstoffwechsel wird v. a. durch Insulin und sollten angemessene körperliche und geistige Betätigung sowie
Glucagon reguliert. Als intrazelluläre Bindeglieder dienen hinreichende soziale Kontakte den Alltag bestimmen. Zwar kann
die AMP-aktivierte Proteinkinase, SREBP-1c und ChREBP, die intestinale Resorption einzelner Nährstoffe vermindert sein,
welche die koordinierte Stoffwechselantwort u. a. durch die doch ist der Bedarf an Nährstoffen in aller Regel nicht erhöht. Da
Transkription von Schlüsselenzymen des Glucose- und jedoch der Energiebedarf im Alter sinkt, sollte die Nährstoffdich-
Fettsäurestoffwechsels regulieren. te der verzehrten Lebensmittel höher sein. Wichtig ist bei alten
Menschen auch, dass die Nahrung leicht verdaulich, appetitan-
Lipide regend und mild gewürzt ist. Kritisch ist bei alten Menschen be-
Als Triacylglycerine und Fettsäuren sind sie Energieliefe- sonders die Wasseraufnahme. Da das Empfinden für Durst im
ranten, integrale, strukturgebende Bestandteile von Alter abnimmt, kann eine Exsikkose (Austrocknung) mit Ver-
Membranen und Vorläufer von Signalmolekülen. wirrungszuständen bei alten Menschen häufiger beobachtet wer-
Fettsäuren – v. a. mehrfach ungesättigte – beeinflussen den. Epidemiologische Studien zeigen, dass ein moderates Über-
durch Aktivierung von PPARs (Peroxisomen-Proliferator-akti- gewicht mit etwa 10 % über dem Sollwert bei alten Menschen
vierter Rezeptor) u. a. die Genexpression von Proteinen für eine größere Lebenserwartung bedingt.
die zelluläre Fettsäureaufnahme, die mitochondriale und Akute Erkrankungen verursachen in der Regel einen erhöh-
peroxisomale Fettsäureoxidation und die Fettsäuresynthese. ten Bedarf an Energie und essentiellen Nährstoffen, so auch an
Vitaminen. Der mit Fieber verbundene Verlust von Wasser und
Alkohol hat einen physiologischen Brennwert von 29,4 kJ Mineralstoffen muss ebenfalls zeitnah ersetzt werden. Bei diver-
(7 kcal) und wird überwiegend in der Leber oxidiert. sen Krankheiten ergeben sich Nährstoff- und Wasserverluste
durch Störungen der intestinalen Resorption, durch Diarrhö
Ballaststoffe oder über Wundsekrete und Drainagen, die entsprechend eine
Sie sind Bestandteile der pflanzlichen Kost, Einflussfaktoren Substitution notwendig machen. Eine kalorisch wie an essentiel-
der Motilität des Darms, Substrate für die Fermentation len Nährstoffen unzureichende Ernährung führt auch zu Funk-
durch Darmbakterien und stellen darüber kurzkettige Fett- tionseinbußen des humoralen und zellulären Immunsystems,
säuren zur Verfügung. was den weiteren Krankheitsverlauf bzw. die Prognose negativ
beeinflussen kann.

57.2 Besondere Ernährungserfordernisse Übrigens


Was ist eine »gesunde« Ernährung?
57.2.1 Ernährung in speziellen Lebenssituationen Die Frage nach der »gesunden Ernährung« kann nur mit
großer Unsicherheit beantwortet werden. Mit einer Kost
Schwangerschaft, Stillen, Wachstum, Alter geprägt durch Vielfalt, einem größeren Anteil pflanzlicher
und akute Erkrankungen stellen besondere Lebensmittel und moderatem Konsum von tierischen Pro-
Ansprüche an die Nährstoffzufuhr dukten werden die primären Ziele einer auch kalorisch ad-
Schwangerschaft und Stillzeit bedingen erhöhte Syntheseleis- äquaten Ernährung leicht erreicht. Evolutionär ist es wohl
tungen und Veränderungen im Stoffwechselgeschehen. Die Zu- der enormen Plastizität unseres Stoffwechselgeschehens zu
fuhr essentieller Nährstoffe sollte in diesen Lebensabschnitten verdanken, dass die Hominiden ihr Überleben in ganz unter-
entsprechend höher sein. In der zweiten Schwangerschaftshälfte schiedlichen geographischen Regionen mit extrem variab-
liegt der Mehrbedarf an Energie bei ca. 1.300 kJ (300 kcal) pro lem qualitativem Nahrungsangebot über die Zeiten sichern
Tag. Für die Stillzeit gilt als Orientierungsgröße eine zusätzliche konnten. Man bedenke beispielsweise die Ernährungsweise
Aufnahme von etwa 420 kJ (100 kcal) pro 100 ml sezernierter der Inuit fast ohne Zufuhr pflanzlicher Lebensmittel oder
Muttermilch. Bei einer durchschnittlichen Muttermilchmenge von Volksstämmen in ariden Regionen der Welt mit gerin-
von 750 ml pro Tag wären das 3.150 kJ bzw. 750 kcal. gem Anteil tierischer Nahrungsquellen. Heute wird »gesun-
Während des Wachstums müssen Säuglinge und Kinder zu- de Ernährung« jedoch auch unter dem Gesichtspunkt eines
sätzliche Energie von etwa 21 kJ pro g Gewebezuwachs (laut 6
WHO) aufbringen. Zudem sollte kein Mangel an essentiellen
704 Kapitel 57 · Makronährstoffe und ihre Bedeutung

mensetzung von denen der Nahrungsproteine bei oraler Ernäh-


langen und funktionserhaltenden Lebens bewertet. Dies war rung, da die parenteral zugeführten Aminosäuren nur partiell
in der Entwicklungsgeschichte unserer Spezies aber bisher die Leber passieren. Speziell adaptierte Aminosäurelösungen
kein Selektionskriterium und entsprechend liefert uns weder mit einem höheren Anteil an verzweigtkettigen Aminosäuren
die Anthropologie noch die moderne Forschung für entspre- werden bei schweren Funktionsstörungen von Leber und
chende Empfehlungen belastbare Daten aus langfristig an- Nieren eingesetzt, da diese Aminosäuren bevorzugt in periphe-
gelegten Studien. Im Gegensatz dazu kann aber kein Zweifel ren Geweben metabolisiert werden. Glutamin ist ein bevorzug-
daran bestehen, dass unsere Selektion in Umwelten, in de- tes Energiesubstrat für Zellen des Immunsystems und von Epi-
nen häufiger der Nahrungsenergiemangel als der -überfluss thelzellen des Dünndarms. Im Postaggressionsstoffwechsel
den Alltag bestimmte, die genetische Grundlage für unser nach schweren Operationen, Traumata oder Schock kommt es
Adipositasproblem gelegt hat. zu einer Depletion des Glutaminpools in der Muskulatur, sodass
eine hinreichende intravenöse Glutaminzufuhr zu empfehlen
ist. Hierbei werden auch glutaminhaltige Dipeptide (z. B. Ala-
nyl-Glutamin) in Infusionslösungen eingesetzt. Sie bieten den
57.2.2 Klinische Ernährung Vorteil höherer Stabilität, denn Glutamin allein ist in wässriger
Lösung schlecht löslich und zerfällt schnell in Ammoniak und
Bei bestimmten Krankheitsbildern muss Pyroglutamat.
die orale Nahrungsaufnahme umgangen werden Zur intravenösen Energieversorgung dienen Fettemulsio-
Jegliche Form von Nahrungszufuhr auf nicht-physiologischem nen. In dieser Form können große Energiemengen in einem re-
Weg wird als künstliche Ernährung bezeichnet. Patienten, die lativ kleinen Flüssigkeitsvolumen verabreicht werden. Moderne
57 nicht normal essen können, dürfen oder wollen, werden dazu Fettemulsionen enthalten neben einem Emulgator (meist zu
enteral oder parenteral mit Nährstoffen oder chemisch definier- 20 % aus Eilecithin) zu gleichen Teilen lang- und mittelkettige
ten Gemischen ernährt. Fettsäuren. Die mittelkettigen Fettsäuren werden im Vergleich zu
Bei der enteralen Ernährung erfolgt der Zugang über eine den langkettigen Fettsäuren bevorzugt und schneller oxidiert
Sonde in Magen oder Dünndarm. Die enterale Ernährung ist bei (7 Kap. 57.1.3). Fettemulsionen werden heute auch mit langket-
gegebener Indikation im Vergleich zur intravenösen Ernährung tigen ω–3-Fettsäuren angereichert, diese dienen als Vorstufen für
die preisgünstigere und risikoärmere Alternative, um dem Pa- die Synthese von antiinflammatorisch wirkenden Eicosanoiden.
tienten hinreichende Mengen einer definierten Flüssignahrung Selbstverständlich muss eine parenterale Ernährung auch die
zuzuführen. Die Ernährungssonden werden entweder transna- ausreichende Zufuhr von allen Vitaminen, Elektrolyten und
sal über die Speiseröhre oder perkutan in den Magen oder das Spurenelementen gewährleisten.
Duodenum gelegt (perkutane endoskopische Gastrostomie,
PEG). Die nährstoffdefinierte Kost (Eiweiß, Stärke und Fette)
bzw. entsprechende chemisch definierte Diäten auf der Grund- 57.2.3 Alternative Ernährungsformen
lage von Proteinhydrolysaten, Oligosacchariden (Maltodextri-
ne) und meist mittelkettigen Triacylglycerinen, sind in kontrol- Alternative Ernährungsformen sind meist ganz-
lierter und bilanzierter Form unter entsprechenden Hygienean- heitlich durch eine besondere Lebensweise geprägt
forderungen mit diesen Flüssignahrungen zuzuführen. Die Die verbreitetste alternative Ernährungsform stellt der Vegeta-
Osmolarität von Sondennahrungen sollte den physiologischen rismus dar, ca. 1,5 bis 2,5 % der Bevölkerung westlicher Länder
Wert von etwa 300 mosmol/l nicht wesentlich überschreiten, ernähren sich so. Vegetarier verzichten aufgrund ethischer, öko-
ansonsten treten osmotische Durchfälle auf. Vorteile der entera- logischer oder gesundheitlicher Aspekte bewusst auf Fleisch und
len Ernährung bestehen darin, dass die digestiven und resorpti- Fisch, häufig auch auf Genussmittel und bewegen sich meist auch
ven Funktionen des Magen-Darm-Trakts aufrechterhalten wer- intensiver. Eine ovolactovegetabile Kost, bei der nur auf Fleisch
den können ebenso wie seine Barrierefunktion, was auch das und Fisch verzichtet wird, Milch, Milchprodukte und Eier aber
Risiko einer Translokation von Mikroorganismen aus dem auf dem Speiseplan stehen, kann bei entsprechender Wahl der
Darm ins Blut reduziert. Lebensmittel problemlos vollwertig zusammengesetzt werden.
Die parenterale Ernährung mit intravenöser Nährstoff- Epidemiologische Studien belegen, dass Menschen, die diese Er-
zufuhr ist teurer, anspruchsvoller und risikoreicher als die ente- nährungsweise pflegen, meist einen guten Gesundheitszustand
rale Ernährung. So können hypertone Infusionslösungen an haben. Extreme Außenseiterdiäten dagegen sind in ihrer Zusam-
peripheren Venen zu Entzündungen führen oder bei einem mensetzung häufig nicht wissenschaftlich gesichert; sie haben oft
zentralen Venenkatheter eine Kathetersepsis auslösen. Auch eine starke weltanschauliche oder metaphysische Komponente.
die Barrierefunktion der Darmschleimhaut wird durch eine aus- Bei einer streng veganen Kostform wie z. B. in der Makrobiotik,
schließlich parenterale Ernährung scheinbar geschwächt, was werden weder Fleisch und Fisch noch andere tierische Produkte
das Risiko einer bakteriellen Translokation erhöht. Eine zu ra- verzehrt. Diese Ernährungsweise kann wegen Mangel an zuge-
sche Zufuhr von Nährstoffen kann bei parenteraler Ernährung führter Energie bei Kindern Wachstumsverzögerungen hervor-
auch zu Stoffwechselentgleisungen wie Hyperglykämien führen. rufen und – wenn nicht sehr genau abgewogen und durch Sup-
Der intravenösen Proteinversorgung dienen definierte plemente vervollständigt – zu Mangelzuständen bezüglich Vita-
Aminosäuregemische. Diese unterscheiden sich in ihrer Zusam- min B12, Vitamin D, Calcium, Eisen oder Zink führen.
57.2 · Besondere Ernährungserfordernisse
705 57

Zusammenfassung
Ein erhöhter Nährstoffbedarf besteht:
4 während der Schwangerschaft und Stillzeit,
4 im Wachstumsalter,
4 bei akuten Erkrankungen und schweren Verletzungen.

Im Alter bleibt der Nährstoffbedarf unverändert, aber der


Energiebedarf sinkt; wegen Durstmangel besteht die Gefahr
einer Exsikkose.

Im Rahmen der klinischen Ernährung erfolgt die Zufuhr an


Energie und Nährstoffen:
4 enteral über nasogastrale Sonden oder perkutane
endoskopische Gastrostomie mit partiell hydrolysierten
Nährstoffgemischen
4 parenteral (intravenös) mit chemisch definierten Nähr-
stofflösungen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


58 Fettlösliche Vitamine
Regina Brigelius-Flohé

Einleitung Vitamine
4 wirken als Coenzyme oder Hormone,
Bei den großen Seefahrten zu Beginn der Neuzeit wurde beobachtet, 4 sind Wasserstoffdonoren bzw. -akzeptoren,
dass Menschen unter lang dauernder, einseitiger Ernährung spezifische 4 sind an Redoxprozessen beteiligt,
Krankheitsbilder entwickeln. Aber erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde 4 sind an der Modifizierung und damit der Regulation der
die Entstehung dieser Krankheiten tierexperimentell durch das Verfüt- Aktivität von Proteinen und Genen beteiligt,
tern so genannter Mangeldiäten untersucht, was letztendlich zur Diszi- 4 sind Liganden für Transkriptionsfaktoren.
plin der modernen Ernährungswissenschaft führte. Versuchstiere star-
ben trotz ausreichender Energiezufuhr, wenn sie mit einer nur aus hoch Nach ihren chemischen Eigenschaften werden die Vitamine in
gereinigten Kohlenhydraten, Fetten, Proteinen und Elektrolyten beste- wasser- bzw. fettlösliche Vitamine eingeteilt. Diese Einteilung
henden Diät ernährt wurden. Die Erkenntnis, dass das Fehlen einer be- hat aber keinerlei Bezug zur biochemischen Funktion. Kommen
stimmten Komponente in der Nahrung krank machen kann, war insofern Vitamine in verschiedenen Formen vor, spricht man von Vita-
eine Revolution, als man hierfür bis zu diesem Zeitpunkt nur giftige oder meren.
58 verdorbene Nahrungsbestandteile verantwortlich machte. Die für das
Überleben fehlenden Bestandteile wurden Vitamine (vital amines) ge- Der tatsächliche Vitaminbedarf hängt
nannt, weil man annahm, dass es sich ausschließlich um stickstoffhaltige von individuellen Gegebenheiten ab
Verbindungen handle. Später zeigte sich allerdings, dass viele Vitamine Exakte Zahlen für den täglichen Minimalbedarf und die optima-
keinen Stickstoff enthalten, dass Vitamine untereinander keinerlei che- le Versorgung sind in den meisten Fällen nicht genau bekannt.
mische Verwandtschaft aufweisen und ihr Wirkungsspektrum alle As- Man begnügt sich daher mit Empfehlungen für die wünschens-
pekte der Biochemie höherer Zellen umfasst. werte Höhe der Zufuhr, bei denen
4 die individuellen Schwankungen,
Schwerpunkte 4 der veränderte Bedarf bei erhöhtem/erniedrigtem Kalorien-
verbrauch,
4 Wichtige Informationen zu Vitaminen im Allgemeinen
4 Wachstum,
4 Beschreibung der fettlöslichen Vitamine A, D, E und K
4 Schwangerschaft und Stillzeit und
4 Aufnahme, Metabolismus und Transport im Organismus
4 ein angemessener Sicherheitszuschlag
4 Biologische Funktionen mit zugrunde liegenden
berücksichtigt sind (. Tab. 58.1 und s. 7 Tab. 59.1 für die
Mechanismen, Entstehung eines Mangels und Mangel-
wasserlöslichen Vitamine).
erscheinungen

Wegen der üblich gewordenen Einnahme großer Mengen an Vi-


taminen mit Nahrungsergänzungsmitteln, wurden im Jahr 2000
vom »Food and Nutrition Board« der USA für einige Vitamine
58.1 Allgemeine Grundlagen eine obere tolerierbare Zufuhr (tolerable upper intake level, UL)
eingeführt, welche die Menge eines Vitamins angibt, die dauer-
58.1.1 Definition, Einteilung und Bedarf haft täglich aufgenommen werden kann, ohne dass es zu uner-
wünschten Nebenwirkungen kommt (. Tab. 58.1).
Vitamine sind organische, in Mikromengen
benötigte essentielle Nahrungsbestandteile
Vitamine sind Verbindungen, die in geringen Konzentrationen 58.1.2 Resorption und Transport
für die Aufrechterhaltung fast aller physiologischen Funktionen
benötigt werden. Pflanzen und Mikroorganismen können diese Die Resorption fettlöslicher Vitamine erfolgt mit der Lipid-
Verbindungen selbst produzieren, höher organisierte Lebensfor- resorption. Lipide und lipidlösliche Substanzen werden in der
men haben im Zuge der Evolution diese Fähigkeit eingebüßt, intestinalen Mukosazelle (Enterocyt) in Chylomikronen ver-
sodass für sie Vitamine zu essentiellen Nahrungsbestandteilen packt (7 Kap. 24). Chylomikronen werden in die Lymphe abge-
geworden sind (vgl. essentielle Aminosäuren 7 Kap. 27, essen- geben und erreichen über den Ductus thoracicus die Zirkulation.
tielle Fettsäuren 7 Kap. 21.2.4). Aus dem Abbau der Chylomikronen durch die endothelzellstän-
Dem mengenmäßig geringen täglichen Bedarf an Vitami- dige Lipoproteinlipase entstehen die Chylomikronen-remnants,
nen entspricht ihre katalytische bzw. regulatorische Funktion. die vom LDL-Rezeptor in die Leber aufgenommen werden

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_58, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
58.1 · Allgemeine Grundlagen
707 58

. Tab. 58.1 Einteilung, Zufuhrempfehlung und Funktion von fettlöslichen Vitaminen

Buchstabe Name Biologisch aktive Form Tägliche Zufuhr- Biochemische Funktion


empfehlung (mg)a
(upper limit)

A Retinol Retinal, Retinsäure 0,8–1,0 Photorezeption, Regulation von Genexpression,


(3) Kontrolle von Wachstum und Differenzierung

D Cholecalciferol 1,25-Dihydroxycholecalciferol 0,005–0,01 [0,02]b Regulation der Calciumhomöostase


(0,05)

E Tocopherol, Tocotrienol α-Tocopherol 12–15 Schutz von Membranlipiden vor Oxidation, Rolle
(1.000)c in der Reproduktion und bei der neuromuskulä-
ren Signalübertragung

K Phyllochinon, K1 Menahydrochinon 0,06–0,08 Carboxylierung von Glutamylresten in Proteinen


Menachinon, K2 (Coenzym), Blutgerinnung, Knochenaufbau
a Quelle: DACH, Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2000). Angaben für Erwachsene (Frauen – Männer).
b Im Januar 2012 wurde die Zufuhrempfehlung für nicht ausreichend mit endogen gebildetem Vitamin D Versorgte von der DGE auf 0,02 mg/Tag
angehoben.
c Von der europäischen Kommission (Scientific Committee on Food) wurde hier ein Wert von 300 eingesetzt.

7 Kap. 24.2. Auch das LDL-receptor related protein (LRP) und der Viele Vitamine, besonders diejenigen aus der Gruppe der wasser-
scavenger receptor B type I (SR-BI) sind an der Aufnahme betei- löslichen, sind Coenzyme von Enzymen der Hauptstoffwechsel-
ligt. Proteoglycane, Apolipoprotein E und die Lipoproteinlipase wege. Die Symptomatik von Hypovitaminosen ist deshalb häufig
(LPL) erleichtern die Aufnahme von remnants. In der Leber neh- unspezifisch, da meist der gesamte Intermediärstoffwechsel ge-
men Vitamin A, D, E und K individuelle Wege. stört ist. Betroffen sind vor allem Gewebe mit hoher Stoffwech-
Die Resorption wasserlöslicher Vitamine in die Enterocyten selleistung (z. B. Myokard, Gastrointestinaltrakt) oder hoher
erfolgt über spezifische transportervermittelte Prozesse (7 Tab. Zellteilungsrate (z. B. blutbildende Gewebe des Knochenmarks,
59.2). Viele der Transporter gehören zur Familie der solute carrier epitheliale Gewebe). Ein Vitaminmangel kann – insbesondere im
(SLC). SLCs bestehen aus einer immer noch steigenden Anzahl präklinischen Stadium – durch die Bestimmung einer vitamin-
von Familien (bisher mehr als 40) mit über 300 Mitgliedern abhängigen biochemischen Funktion erfasst werden, z. B. die
7 Kap. 11.5. Dazu gehören Glucose-, Aminosäure-, Gallensäure- Ausscheidung eines Metaboliten im Urin, wenn das Vitamin für
und Metallionentransporter. Der Transport im Blut erfolgt über dessen enzymatische Umsetzung fehlt. Durch orale Gabe der
Transportproteine, die nicht für alle Vitamine identifiziert sind. umzusetzenden Substanz in Belastungstests kann die Ausschei-
Die Transportproteine dienen auch zur Vermeidung von Vita- dung des Metaboliten noch provoziert werden. Weiterhin ist die
minverlusten durch Filtration in der Niere. Im proximalen Tubu- Aktivitätsminderung bestimmter Enzyme in Erythrocyten nach-
lus befindet sich der Cubilin-Megalin-Rezeptor-Komplex aus der weisbar, wenn die aus Vitaminen gebildeten Coenzyme nicht in
Familie der Lipoproteinrezeptoren (7 Kap. 24.2), der eventuell ausreichender Konzentration vorliegen (7 Tab. 59.5). Mit fort-
filtrierte Transportproteine erkennt und diese zusammen mit schreitender Dauer des Mangels treten morphologische Verän-
den gebundenen Vitaminen über Endocytose rückresorbiert. derungen an den verschiedensten Organen auf. Sobald die Spei-
Dieser Mechanismus trifft für das retinolbindende Protein cher aufgebraucht sind, kommt es zu Störungen des Zellstoff-
(RBP), das Vitamin-D-bindende Protein (DBP) und Vita- wechsels, die graduell abgestuft sein können. Zuletzt folgen kli-
min B12-transportierendes Transcobalamin II zu. nische Symptome und anatomische Veränderungen.
Die Erkennung und Behandlung eines Vitaminmangels ist
von außerordentlicher praktischer Bedeutung. Zurzeit sind zwar
58.1.3 Pathobiochemie die Bewohner der sog. westlichen Länder durch ein ausreichen-
des und vielseitiges Nahrungsangebot und durch Vitaminpräpa-
Hypo- und Hypervitaminosen führen rate vor Hypovitaminosen weitgehend geschützt, aber wegen
zu unterschiedlichen Krankheitsbildern ihrer oft einseitigen Ernährung können ältere Menschen eher in
Die mangelhafte Versorgung mit einem Vitamin führt in der eine Vitaminmangelsituation geraten. Auch während der Gravi-
leichten Form zur Hypovitaminose, in der schweren, voll ausge- dität und Stillperiode kann es zu Vitaminmangel kommen. Infol-
bildeten zur Avitaminose. Ein Vitaminmangel kann bedingt sein ge der weltweit zunehmenden Nahrungsmittelknappheit ist
durch: anzunehmen, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Hypovitami-
4 eine unzureichende Zufuhr (einseitige Ernährung, Abma- nosen zunehmen werden.
gerungskuren), Während überschüssige Mengen wasserlöslicher Vitamine
4 gestörte intestinale Resorption oder über die Nieren eliminiert werden, trifft dies nicht für alle fett-
4 genetische Defekte. löslichen Vitamine zu. So können Hypervitaminosen nach hoher
708 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

58.2.1 Chemische Struktur

Die Bezeichnung Vitamin A umfasst alle Verbindungen, die qua-


litativ die gleiche biologische Aktivität wie Retinol besitzen. Die
Bezeichnung Retinoide schließt alle natürlichen Formen von
Vitamin A und zusätzlich synthetische Analoga ein. Vitamin A
besteht aus 4 Isopreneinheiten (20 C Atomen), von denen die
Atome 1–6 zu einem Iononring geschlossen sind. Es hat 5 Dop-
pelbindungen und eine polare Gruppe am azyklischen Ende, die
ein Alkohol (Retinol), ein Aldehyd (Retinal) oder eine Säure (Re-
tinsäure) sein kann (. Abb. 58.1). Als Provitamin A werden
Carotinoide bezeichnet, die 8 Isopreneinheiten aufweisen und
von denen β-Carotin die ergiebigste Vitamin-A-Vorstufe ist.

58.2.2 Vorkommen

Tierische Quellen – wie Leber, Milch, Eier oder Fisch – enthalten


Retinoide, die als langkettige Fettsäureester von Retinol, bevor-
zugt als Retinylpalmitat, vorliegen. Pflanzliche Quellen, die Ca-
rotinoide – also Provitamin A – enthalten, sind vor allem gelbe
Gemüse und Früchte (z. B. Karotten und gelbe Pfirsiche) und die
58 Blätter der grünen Gemüse (z. B. Spinat, Fenchel, Grünkohl).

58.2.3 Resorption und Verteilung

Retinylester werden im Darmlumen durch Pankreaslipasen oder


Esterasen, an der Mukosamembran durch eine Retinylesterase
(REH) gespalten. Für die intestinale Resorption ist eine Mizellen-
bildung nötig, für die Gallensäuren einen unerlässlichen Cofak-
. Abb. 58.1 Vom β-Carotin abgeleitete Vitamin-A-Derivate. β-Carotin
tor darstellen. Die Resorption erfolgt analog der Fettresorption
wird durch die 15,15‘-Dioxygenase zu all-trans-Retinal gespalten, welches zu (7 Kap. 61.3). Für den Transport innerhalb der Zelle wird Vita-
11-cis-Retinal isomerisieren kann. Durch Oxidation der Aldehydgruppe ent- min A an Rezeptoren gebunden, die in . Tab. 58.2 zusammenge-
steht aus all-trans-Retinal in einer nicht-reversiblen Reaktion das all-trans- fasst sind. Retinol- und Retinoatbindeproteine gehören zu einer
Retinoat, das zu 9-cis-Retinoat isomerisiert werden kann. Durch Reduktion Gruppe von Lipidtransportproteinen, die als Lipocaline bezeich-
der Aldehydgruppe des all-trans-Retinals kommt man zum all-trans-Retinol,
die Reduktionsäquivalente werden vom NADPH/H+ geliefert. REH: Retinyles-
net werden.
terase; ARAT: Acyl-CoA-Retinol-Acyltransferase; LRAT: Lecithin:Retinol-Acyl- In den Enterocyten wird Retinol wieder verestert. Die betei-
transferase ligten Enzyme sind die Lecithin:Retinol-Acyltransferase (LRAT)
oder die Acyl-CoA-Retinol-Acyltransferase (ARAT). Die LRAT
verestert nur an CRBP-II (. Tab. 58.2) gebundenes Retinol, wäh-
Gabe von Vitamin-A- oder -D-Supplementen auftreten. Abgese- rend die ARAT auch freies Retinol akzeptiert. Dies stellt sicher,
hen von der Beobachtung, dass der Genuss größerer Mengen dass auch bei hohen Konzentrationen, wenn die zellulären Bin-
Eisbärenleber (bei Eskimos) zu einer Vitamin-A-Hypervitami- deproteine gesättigt sind, kein freies Retinol vorliegt.
nose führen kann, sind Hypervitaminosen durch einseitige Er- β-Carotin wird zu zwei Molekülen Retinal gespalten, eine
nährungsformen nicht bekannt geworden. Reaktion, die von der 15,15’-Dioxygenase katalysiert wird.
(. Abb. 58.1). Das entstehende Retinal wird zu Retinol reduziert
und verestert. Retinylester werden in Chylomikronen eingebaut
58.2 Vitamin A – Retinol und seine Derivate und in die Lymphe sezerniert. Daneben besteht die Möglichkeit
des Transports von freiem Retinol über die V. portae zur Leber.
Retinal ist für den Sehvorgang und Retinsäure An der Plasmamembran der Leber werden Retinylester wie-
für die Regulation von Zellwachstum und der gespalten und freigesetztes Retinol an CRBP-I (. Tab. 58.2)
-differenzierung wichtig gebunden. In dieser Form wird Retinol zu den metabolisieren-
den Enzymen transportiert (. Abb. 58.1) oder zur Speicherung
mit Palmitat verestert. Die Speicherung in der Leber erfolgt in
den sog. Stern- oder Ito-Zellen (7 Kap. 62.5). Die in diesen Zellen
gespeicherte Vitamin-A-Menge ist beträchtlich und sichert den

β-Carotin# Retinaloxidase Retinoldehydrogenase all-trans-Retinal# Isomerase all-trans-Retinoat# all-trans-Retinol# 11-cis-


Retinal# Retinylester# 9-cis-Retinoat#
58.2 · Vitamin A – Retinol und seine Derivate
709 58

. Tab. 58.2 Extra- und intrazelluläre Retinolbindeproteine

Name Natürlicher Ligand Wirkort Funktion

Retinolbindeprotein all-trans-Retinol Blut Extrazellulärer Transport von Retinol


RBP

Zelluläres Retinolbindeprotein, Typ 1 all-trans-Retinol In Vitamin-A-metaboli- Intrazellulärer Transport von Retinol zu den
CRBP-I sierenden Geweben veresternden Enzymen (LRAT)

Zelluläres Retinolbindeprotein, Typ II all-trans-Retinol Intestinale Mukosazellen Intrazellulärer Transport von Retinol. Schutz
CRBP-II all-trans-Retinal vor Oxidation des Retinols. Schutz der Zelle
vor freiem Retinol, das die Membranstruktur
stören kann

Zelluläres Retinalbindeprotein, 11-cis-Retinol, 11-cis-Retinal Retina, Gehirn Transport im Isomerisierungsschritt


CRALBP des Sehvorgangs

Zelluläres Retinsäurebindeprotein, all-trans-Retinoat In Vitamin-A-metaboli- Intrazellulärer Transport von Retinsäure


Typ I sierenden Geweben in den Zellkern
CRABP-I

Zelluläres Retinsäurebindeprotein, all-trans-Retinoat Hautzellen Intrazellulärer Transport von Retinsäure


Typ II in den Zellkern
CRABP-II

Bedarf für mehrere Monate. Zur Verteilung in periphere Zellen ranprotein Opsin und Retinal, das covalent an die ε-Aminogruppe
wird Retinol an das retinolbindende Protein (RBP) gebunden eines Lysylrests des Opsins gebunden ist. Opsin gehört zu den
und ins Blut abgegeben. Da RBP nur 21,2 kDa groß ist und des- heptahelicalen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren für chemi-
halb über die Niere ausgeschieden würde, wird der RBP/Retinol- sche Signalstoffe (7 Kap. 33.3.3). Der Einbau des Pigments Reti-
Komplex im Blut an Transthyretin assoziiert. Leber- und peri- nal wandelt also einen Rezeptor für chemische Signalstoffe in
phere Zielzellen haben einen Rezeptor, der RBP erkennt und einen für Lichtquanten um.
RBP-gebundenes Retinol aufnimmt und der kürzlich als STRA6 Rhodopsin liegt in den dicht gepackten Membranscheibchen
identifiziert wurde. im Außensegment der Stäbchen (. Abb. 58.2A). Hier befinden
sich auch eine große Anzahl von Na+/Ca2+ Kanälen, die von
cGMP offen gehalten werden. Im Dunkeln sind die Kanäle geöff-
58.2.4 Metabolismus net, was eine Depolarisierung dieser Zellen und einen Calci-
umeinstrom bewirkt. Es kommt zur Freisetzung des Transmitters
In den Zellen wird Retinol in die benötigte funktionelle Form Glutamat an der Synapse zwischen der Photorezeptorzelle und
umgewandelt, wobei die Oxidation von Retinal zu Retinsäure den afferenten Neuronen, den Bipolarzellen der Retina. Diese
irreversibel ist (. Abb. 58.1). Retinaldehyd und Retinsäure wer- verfügen über unterschiedliche Glutamatrezeptoren, die das
den isomerisiert, Retinol und Retinsäure hydroxyliert oder zum »Dunkelsignal« weitergeben.
Zweck der Ausscheidung glucuronidiert. Die Sehpigmente in Zapfen sind grundsätzlich gleichartig
aufgebaut, sie enthalten aber statt Opsin farbempfindliche Pho-
Funktion topigmente mit Absorptionsmaxima bei 420, 530 und 560 nm.
Die verschiedenen Formen von Vitamin A haben spezifische bio- Bei Belichtung der Photorezeptormembran kommt es zu einer
logische Funktionen: photoinduzierten Stereoisomerisierung der 11-cis- zur all-trans-
4 verestertes Retinol ist die Transportform im Plasma und die Form des Retinals. Durch die dadurch bedingte Konformations-
Speicherform in Geweben, änderung des Opsins wird Retinal vom Opsin abgespalten (. Abb.
4 Retinal ist für den Sehvorgang essentiell, 58.2B). Eine der Zwischenverbindungen wird als Metarhodopsin II
4 Retinsäure steuert über die Regulation von Genaktivitäten (aktives Rhodopsin, R*) bezeichnet und ist für die in . Abb. 58.3
Wachstum und Entwicklung von Zellen. dargestellte Signalübermittlung verantwortlich. Metarhodopsin II
bindet an Transducin, ein oligomeres Membranprotein, das zur
Gruppe der heterotrimeren G-Proteine gehört (7 Kap. 33.3.3). Da-
58.2.5 Molekulare Vorgänge bei durch wird der Austausch des an die α-Untereinheit von Transdu-
der Photorezeption cin gebundenen GDP durch GTP ausgelöst. Die GTP-beladene
α-Untereinheit wird freigesetzt und übernimmt beide inhibitori-
Stäbchen und Zapfen sind die Photorezeptoren in der Retina. schen γ-Untereinheiten einer cGMP-spaltenden Phosphodieste-
Vitamin A ist in Form des 11-cis- bzw. all-trans-Retinals Be- rase (PDE). Diese wird dadurch aktiviert, was zu einem außeror-
standteil des Sehpigments Rhodopsin in den Stäbchen. Rhodop- dentlich raschen Abfall des cGMP-Spiegels führt. Die Ionenkanäle
sin (Molekulargewicht ca. 27 kDa) besteht aus dem Transmemb- schließen sich und es kommt zu einer mit einem Abfall der intra-
710 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

58

. Abb. 58.2 Retinal beim Sehvorgang. A Schematischer Aufbau eines Stäbchens. B Rhodopsinspaltung und Zyklus des Retinals bei der Belichtung der
Photorezeptormembran. Die 11-cis- bzw. trans-Doppelbindungen sind gelb unterlegt. (Einzelheiten s. Text)

zellulären Calciumkonzentration einhergehenden Hyperpolari- Vorgang beinhaltet eine enzymatische Isomerisierung des
sierung der Sehzelle. Die Glutamatfreisetzung an der Synapse wird all-trans- zum 11-cis-Retinal mit anschließender Assozia-
beendet, was als »Lichtsignal« dient. tion an das Opsin. Bei sehr starker Belichtung kommt es zu-
Für die erforderliche schnelle Löschung des Lichtsignals sind sätzlich zur Reduktion von Retinal zu Retinol, das wieder
v. a. zwei Vorgänge verantwortlich (. Abb. 58.3): oxidiert werden muss (. Abb. 58.2B). Unter normalen Um-
4 GTP wird an der α-Untereinheit des Transducins durch ständen sind in der Retina die Geschwindigkeiten der Rho-
dessen intrinsische GTPase-Aktivität hydrolysiert. Die dopsinspaltung und -regeneration gleich groß. Bei Retinol-
α-Untereinheit erlangt so eine Konformation, in der sie die mangel ist jedoch die Regeneration des Rhodopsins ver-
Transducin-β/γ-Untereinheiten erneut binden kann. Die langsamt, was mit Nachtblindheit assoziiert ist.
inhibitorischen γ-Untereinheiten der PDE assoziieren wie-
der mit dem Enzym und inaktivieren es. Die Guanylatcycla-
se wird aktiviert, die cGMP-Spiegel steigen an, die Ionenka- 58.2.6 Regulation der Genexpression
näle werden geöffnet, die intrazelluläre Calciumkonzentra-
tion steigt an und das »Dunkelsignal« ist wieder aktiv. Eine Vielzahl essentieller biologischer Vorgänge ist Vitamin-A-
4 Abschaltreaktionen finden ebenfalls am Opsin statt. Wäh- abhängig. Hier sind vor allem zu nennen:
rend der Lichtreaktion kommt es mit der Abnahme der 4 Reproduktion
Ca2+-Konzentration zur Aktivierung einer Rhodopsin- 4 Embryogenese
kinase und damit zur Phosphorylierung des Metarhodop- 4 Morphogenese
sins II, die mit Dauer und Stärke des Lichtreizes zunimmt. 4 Wachstum und Differenzierung
Das phosphorylierte Metarhodopsin II bindet Arrestin, wo- von Zellen:
durch eine erneute Aktivierung von Transducin verhindert
wird. Die anschließende Dephosphorylierung führt zur Vitamin A reguliert die Differenzierung von Zellen, was insbe-
Dissoziation von Arrestin (Dunkeladaptation) und zur sondere bei der Immunabwehr und der Aufrechterhaltung der
Spaltung von Metarhodopsin II in Opsin und all-trans- Integrität epithelialer Barrieren im Gastrointestinaltrakt, in der
Retinal. Anschließend wird Rhodopsin regeneriert. Dieser Lunge und im Genitaltrakt notwendig ist. Eine besondere Rolle

Stäbchen Aufbau Opsin# Rhodopsin# Metarhodopsin II# 11-cis-Retinal# all-trans-Retinal# 11-cis-Retinol# all-trans-Retinol#
58.2 · Vitamin A – Retinol und seine Derivate
711 58

. Abb. 58.4 Domänenaufbau von nucleären Rezeptoren. AF1: Liganden-


unabhängige Transaktivierungsdomäne; DBD: DNA-Bindedomäne mit
2 Zinkfingern; hinge: Scharnierdomäne; LBD: Ligandenbindedomäne; AF-2:
ligandenabhängige Transaktivierungsdomäne; P (proximal): für die Erken-
nung des responsiven Elements nötige P-Box; D (distal): für die Dimerisie-
rung benötigte D-Box; CTE: für die Erkennung der DNA Bindestelle benöti-
gte C-terminale Extension. Die Zinkatome in den Zinkfingern der DBD sind
an je 4 Cysteinen koordiniert

Der ligandenbeladene nucleäre Rezeptor bildet Dimere und bin-


det an seine responsiven Elemente in den Promotoren der regu-
lierten Gene (7 Kap. 35.1).
Die Retinsäurerezeptoren lassen sich in zwei Gruppen mit
jeweils verschiedenen Isoformen einteilen:
4 Der natürliche Ligand für die klassischen Retinsäurerezep-
toren RAR (retinoic acid receptor) mit den Isoformen α, β
und γ ist die all-trans-Retinsäure.
4 Der Retinsäure-X-Rezeptor (RXR), welcher ebenfalls in
drei Isoformen α, β und γ vorkommt, wird durch 9-cis-
Retinsäure aktiviert.

Während Steroidhormonrezeptoren als Homodimere an die


. Abb. 58.3 Reaktionskaskaden bei der Reizübertragung in photosen- DNA binden, binden nicht-steroidale Rezeptoren als Homo-
siblen Zellen. (Einzelheiten s. Text)
oder Heterodimere an ihre Erkennungssequenz. Der häufigste
Partner für nucleäre Rezeptoren ist RXR. Insofern kann RXR
spielt Vitamin A in der Reproduktion. Retinsäure, in geringem selbst als mit 9-cis-Retinsäure beladenes Homodimer die Tran-
Maß auch Retinol, ist unerlässlich für eine ungestörte Implanta- skription aktivieren oder als Heterodimerisierungspartner für
tion des Embryos bis zur Geburt lebensfähiger Nachkommen. RAR, für Rezeptoren der Schilddrüsenhormone (TR, 7 Kap.
Insbesondere die Entwicklung von Herz, Lunge, Skelett, Gefäß- 41.3.2), Vitamin D (VDR, 7 Kap. 58.3) oder peroxisome prolifera-
und Nervensystem ist retinsäureabhängig. Die Ausbildung von tor-activated receptor (PPAR), (7 Kap. 57.1.3) dienen. Über 500
Extremitäten und die Polarisierung der Körperachse werden Gene werden direkt oder indirekt von Retinsäure reguliert. Zu
durch Konzentrationsgradienten von Retinsäure und/oder sei- den direkt regulierten Genen gehören solche, die Retinoide selbst
ner metabolisierenden Enzyme reguliert. Retinsäure sorgt auch transportieren, metabolisieren oder für die Retinoidfunktion nö-
für eine ungestörte Spermatogenese, was die Essentialität von tig sind, sowie Homöobox-Gene (7 Kap. 47.2.1) oder Gene für
Vitamin A für die Reproduktion generell deutlich macht. die Regulation von Wachstum und Differenzierung.
Retinsäure übt ihre genregulatorischen Funktionen über li-
gandenaktivierte nucleäre Rezeptoren aus. Nucleäre Rezeptoren,
zu denen auch die Steroidhormonrezeptoren (7 Kap. 33.3.1) 58.2.7 Pathobiochemie
gehören, besitzen charakteristische Domänen: eine variable
N-terminale Region, eine konservierte DNA-bindende Domäne Hypovitaminose Das klassische Frühsymptom eines Vitamin-A-
(DBD) mit 2 Zinkfingern und eine Ligandenbindedomäne Mangels ist die Nachtblindheit. Es handelt sich um eine Störung
(LBD) (. Abb. 58.4). An beiden Enden befinden sich Regionen, der Rhodopsinregenerierung. Ist der Vitamin-A-Mangel so
die für die Transkriptionsaktivierung erforderlich sind, AF-1 am weit fortgeschritten, dass es zu einer Abnahme der Plasmakon-
N-Terminus und AF-2 am C-Terminus. Während sich AF-1 in zentration kommt, macht sich die fehlende Wirkung von Retin-
einer hypervariablen Region befindet und unabhängig von einer säure auf die Differenzierung von Keratinocyten in den Epithe-
Ligandenbindung agieren kann, ist AF-2 am C-Terminus kon- lien bemerkbar. Normales sekretorisches Epithel wird durch ein
serviert und ligandenabhängig (. Abb. 58.4). Der Ligand stabili- trockenes verhorntes Epithel ersetzt, das besonders leicht von
siert eine Konformation des Rezeptors, die in der Lage ist, mit Mikroorganismen angegriffen wird. Die Xerophthalmie, eine
Co-Aktivatoren zu interagieren. Dies geschieht über ein Leu-X- zur Blindheit führende Verhornung der Cornea, ist ein spätes
X-Leu-Leu-Motiv in der Sequenz von AF-2. In dieser aktiven Symptom des Vitamin-A-Mangels. Sie ist besonders bei Kindern
Konformation wird die Bindung eines Corepressors verhindert. in Entwicklungsländern eine der Hauptursachen der Blindheit.
712 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

Bei Jugendlichen treten zusätzliche Störungen des Wachstums


und der Knochenbildung auf.

Hypervitaminose Hypervitaminosen wurden nach Aufnahme


hoher Dosen synthetischer Vitamin-A-Präparate bei Kindern
und Heranwachsenden beobachtet. Hauptsymptome sind
Schmerzattacken, Verdickung des Periosts der langen Knochen
sowie Verlust der Haare (Alopezie). Nach Vitamin-A-Überdosie-
rung während der Schwangerschaft sind auch teratogene Wir-
kungen bekannt geworden.

58.3 Vitamin D – Calciferole

Vitamin D ist an der Regulation der Calcium-


homöostase und der Expression von Genen beteiligt

58.3.1 Chemische Struktur

Die D-Vitamine oder Calciferole gehören zur Gruppe der Stero-


ide (7 Kap. 3.2.5). Die beiden wichtigsten Calciferole sind:
58 4 Vitamin D2 (Ergocalciferol) und
4 Vitamin D3 (Cholecalciferol)

Sie entstehen aus ihren Provitaminen Ergosterol bzw. 7-Dehyd-


rocholesterin durch Spaltung des Rings B des Steranskeletts, die
durch die UV-B-Strahlung des Sonnenlichts katalysiert wird
(. Abb. 58.5). Ergocalciferol (nicht gezeigt) unterscheidet sich
vom Cholecalciferol lediglich durch den Besitz einer Doppelbin-
dung zwischen C22 und C23 sowie einer zusätzlichen Methyl- . Abb. 58.5 Biosynthese von 1,25-Dihydroxycholecalciferol aus 7-Dehy-
drocholesterin. (Einzelheiten s. Text)
gruppe an C24 in der Seitenkette.

(. Abb. 58.5). 25(OH)D3 verlässt die Leber und gelangt über das
58.3.2 Vorkommen Blut in die Niere, wo es durch die mitochondriale 1α-Hydroxylase
(CYP27B1) in Position 1 hydroxyliert wird. Es entsteht 1,25-Di-
In hoher Konzentration kommen Calciferole in Meeresfischen hydroxycholecalciferol (1,25(OH)2D3, Calcitriol), die biolo-
vor (Lebertran). Daneben finden sich beträchtliche, allerdings gisch aktive Form von Vitamin D. In der Niere wird auch
mit der Jahreszeit schwankende Mengen auch in Milchproduk- 24,25-Dihydroxycholecalciferol gebildet, das als Ausscheidungs-
ten und Eiern. Als pflanzliche Vitamin-D-Quelle stehen lediglich form gilt, aber auch eigene Wirkungen zu haben scheint.
Pilze (z. B. Champignons) zur Verfügung. Wegen der Bedeutung der Calciferole für die Regulation der
extrazellulären Calciumkonzentration (7 Kap. 66.2.3) wird die
Biosynthese von 1,25-Dihydroxycholecalciferol sehr genau re-
58.3.3 Stoffwechsel guliert. Dies betrifft weniger die hepatische Bildung von 25-Hy-
droxycholecalciferol, welche lediglich einer einfachen Produkt-
Da Vitamin D in der Haut durch Bestrahlung mit ultraviolettem hemmung unterliegt, sondern vielmehr die Expression der
Licht aus 7-Dehydrocholesterin (Provitamin D3) in Cholecalci- 1α-Hydroxylase in den proximalen Tubulusepithelien der Niere
ferol umgewandelt werden kann, sind Calciferole keine Vitamine (. Abb. 58.6):
im eigentlichen Sinn und könnten auch den Hormonen zuge- 4 Im Blut werden die Calciferole an ein spezifisches Protein,
rechnet werden. Tatsächlich ist ein Vitamin-D-Mangel bei Na- das Vitamin-D-Bindungsprotein (DBP) gebunden trans-
turvölkern, die mit minimaler Bekleidung im Wesentlichen im portiert. Ein Verlust durch glomeruläre Filtration wird
Freien leben, unbekannt. Erst über die durch Zivilisation und durch den Cubilin/Megalin-Rezeptorkomplex (7 Kap. 65.7)
Industrialisierung geänderte Lebensweise wurde die durch Son- verhindert.
nenbestrahlung begrenzte Kapazität des Organismus zur Vita- 4 Die 1α-Hydroxylase wird auf der Ebene der Genexpression
min-D-Biosynthese erkannt. reguliert. cAMP ist der wichtigste Induktor, während Phos-
Cholecalciferol wird in der Leber von der 25-Hydroxyla- phat, Calcium und 1,25(OH)2D3 die Transkription des
se (CYP27A1) zu 25-Hydroxycholecalciferol hydroxyliert 1α-Hydroxylasegens hemmen.

7-Dehydrocholesterin# Provitamin D_3# Cholecalciferol# Vitamin D_3# 1,25-Dihydroxycholecalciferol# Calcitriol#


58.3 · Vitamin D – Calciferole
713 58
4 vermehrte intestinale Calciumresorption,
4 gesteigerte renale Calciumreabsorption und
4 gesteigerte Calciummobilisation aus den Knochen.

Hauptzielorgane von Vitamin D sind Darm, Niere und Knochen


(7 Abb. 66.8).

Wirkung von Calciferolen auf die intestinale Calciumresorption


Calcium wird im Duodenum und Ileum von der luminalen auf
die basolaterale Seite transportiert. Dieser Transport geschieht
transzellulär und benötigt folgende Komponenten:
4 einen elektrogenen Calciumkanal auf der luminalen Seite
der Enterocyten, TRPV6 (transient receptor potential V6),
der für die Calciumaufnahme verantwortlich ist.
4 Calbindin-D9K, ein 9 kDa großes calciumbindendes Protein,
das Calcium von der luminalen auf die basolaterale Seite
transportiert, und
4 eine auf der basolateralen Seite lokalisierte Calcium-ATPase
(PMCA1b, plasma membrane Ca2+-ATPase).

1,25-Dihydroxycholecalciferol induziert alle drei Komponenten


über seinen nucleären Rezeptor VDR

Wirkung von Calciferolen auf die Nieren Wichtigster Effekt von


. Abb. 58.6 Regulation der Bildung von 1,25-Dihydroxycholecalciferol 1,25-Dihydroxycholecalciferol in den Nieren ist die Steigerung
in den Epithelien der proximalen Tubuli der Nieren. DBP: Vitamin-D-Binde- der Calciumrückresorption. Außerdem wird auch die Phosphat-
protein; VDR: Vitamin-D-Rezeptor; PTH: Parathormon; PTH-R: PTH-Rezeptor; rückresorption stimuliert, ein Effekt, der sich allerdings nur
25(OH)D3: 25-Hydroxycholecalciferol; 1,25(OH)2D3: 1,25-Dihydroxycholecal- dann nachweisen lässt, wenn Parathormon vorhanden ist.
ciferol; 24,25(OH)2D3: 24,25-Dihydroxycholecalciferol. (Einzelheiten s. Text)

Wirkung von Calciferolen auf den Knochenstoffwechsel 1,25-Di-


4 Calciumsensoren in der Nebenschilddrüse erkennen ein hydroxycholecalciferol führt zu einer gesteigerten Synthese von
Absenken, der Ca2+-Spiegel im Serum und schütten Parat- Osteoklasten aus hämatopoetischen Vorläuferzellen und regt
hormon (PTH) aus (7 Kap. 66.2.3) aus. PTH aktiviert über die Osteoblasten zur Ausschüttung eines Resorptionsfaktors an,
den PTH-Rezeptor in den renalen Tubulusepithelzellen die der die Osteoklastenaktivität fördert. Dadurch wird die Kno-
Adenylatcyclase und erhöht so den cAMP-Spiegel. Die chenresorption erhöht. In Osteoblasten induziert 1,25-Dihyd-
Bildung von 1,25(OH)2D3 wird verstärkt. Wenn ausrei- roxycholecalciferol eine Reihe von weiteren Proteinen, die am
chend 1,25(OH)2D3 vorhanden ist, stimuliert dieses sowohl Aufbau der Knochenmatrix und der Calcifizierung beteiligt sind
die Aktivität als auch die Transkription der 25-Hydroxy- (. Tab. 58.3).
vitamin-D3-24-Hydroxylase (CYP24A1), letzteres über den
Vitamin-D-Rezeptor (VDR). Es entsteht 24,25-Dihydroxy-
cholecalciferol, das ausgeschieden werden kann.
4 Steigen die Serum-Ca2+-Spiegel, wird die Ausschüttung von
PTH vermindert, die Wirkung auf die Niere bleibt aus und
die Produktion von 1,25-Dihydroxycholecalciferol wird ge- . Tab. 58.3 Proteine, deren Expression durch 1,25-Dihydroxy-
cholecalciferol reguliert wird (Auswahl)
bremst. Gleichzeitig wird von der Nebenschilddrüse Calci-
tonin freigesetzt. Dieses hemmt die Ca2+-Mobilisierung aus Expression induziert Expression reprimiert
dem Knochen und fördert die Ca2+- und Phosphatausschei-
dung über die Niere. 25-Hydroxyvitamin-D3- 25-Hydroxyvitamin-D3-
24-Hydroxylase 1α-Hydroxylase

Calbindin Parathormon (PTH)


58.3.4 Wirkungen Osteocalcin PTH-related polypeptide (PTH-RP)

Osteopontin Kollagen I
Wichtigste Funktion der Calciferole ist die Regulation der Cal-
ciumhomöostase (7 Kap. 66.2.3), an der auch Parathormon (s. o.) p21Ras c-myc
und Thyreocalcitonin (7 Kap. 66.2.3) beteiligt sind. Der Netto- β3-Integrin Interleukin-2
effekt von Vitamin D ist immer eine Erhöhung des Plasma-
Vitamin-D-Rezeptor Calcitonin
calciumspiegels. Dies wird erreicht durch:
714 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

Weitere Wirkungen von Calciferolen Vitamin D reguliert weiter- 58.4 Vitamin E – Tocopherole und Tocotrienole
hin die Expression von Proteinen, die beteiligt sind an der:
4 Stimulierung der Differenzierung von Zellen des hämato- Vitamin E ist mehr als ein Antioxidans
poetischen Systems
4 Stimulierung der Differenzierung epidermaler Zellen
4 Modulation der Aktivität des Immunsystems 58.4.1 Chemische Struktur

Damit hat Vitamin D neben seiner calciummobilisierenden Wir- Vitamin E ist ein Sammelbegriff für 4 Tocopherole (α, β, γ und δ)
kung auch antikanzerogene und immunmodulierende Wirkun- und 4 Tocotrienole (α, β, γ und δ). Sie gehören zu den Prenyllipi-
gen. Deren Ausnutzung wird durch die immer auftretenden hy- den. Alle bestehen aus einem in 6-Stellung hydroxylierten Chro-
percalcämischen Effekte bei Vitamin-D-Gabe erschwert, weswe- manring, der in Position 2 mit einer aliphatischen Seitenkette
gen man versucht, diese durch Herstellung synthetischer Calci- (C16) verknüpft ist, die in Tocopherolen gesättigt ist und in Toco-
ferole für die Therapie zu unterdrücken. trienolen 3 Doppelbindungen aufweist (. Abb. 58.7). Die Anzahl
und Stellung der Methylgruppen am Chromanring bestimmt die
Wirkungsmechanismus von Calciferolen Die meisten Effekte von Zugehörigkeit zu den α-, β-, γ-, δ-Formen. Tocopherole haben
Vitamin D werden durch Aktivierung der Transkription spezifi- 3 Chiralitätszentren, die natürlicherweise in der RRR-Konfigura-
scher Gene bewirkt. 1,25-Dihydroxycholecalciferol bindet an tion vorliegen. Tocotrienole haben ein chirales Zentrum in der
den Vitamin-D-Rezeptor (VDR), der wie der Rezeptor von Vit- R-Konfiguration. Synthetische Tocopherole sind Racemate aus
amin A zu den nucleären Rezeptoren gehört und als Heterodi- den acht möglichen Kombinationen von R- und S-Konfiguration.
mer mit RXR an die entsprechenden responsiven Elemente in
der DNA bindet (7 Kap. 35.1).
58.4.2 Vorkommen
58 Pathobiochemie
Hypovitaminose Die bekannteste Hypovitaminose des Vitamin Vitamin E wird nur von Pflanzen und einigen Cyanobakterien
D ist die Rachitis. Es handelt sich um ein im Wachstumsalter synthetisiert. Oliven, Weizenkeime, Sonnenblumenkerne und
auftretendes Krankheitsbild, das durch eine schwere Mineralisie- Kerne der Färberdistel sind reich an α-Tocopherol, Mais und So-
rungsstörung des Skelettsystems gekennzeichnet ist. japflanzen enthalten γ-Tocopherol. Tocotrienole findet man in
Entscheidend ist der Calciummangel, der durch Fehlen der Samen der Ölpalme, in Reis, Weizen, Gerste und Hafer.
intestinalen Calciumresorption infolge des Calciferolmangels her-
vorgerufen wird. Diese Krankheit trat erstmals nach Industrialisie-
rung in England auf und wurde deshalb auch »Englische Krank- 58.4.3 Resorption und Verteilung
heit« genannt. Gründe für die Krankheit waren neben unzurei-
chender Zufuhr auch die unzureichende Sonneneinstrahlung Alle Formen von Vitamin E gelangen mit den Fetten in die En-
durch das Arbeiten in geschlossenen Räumen oder unter Tage. terocyten des Dünndarms. Es wurde über eine Aufnahme über
Vitamin-D-Mangel beim Erwachsenen wird als Osteomala- den scavenger-Rezeptor B1 (SR-B1) und für α-Tocopherol auch
zie bezeichnet. Sie tritt als Folge von Störungen der Vitamin-D- über das Niemann-Pick C1-like Protein-1 (NPC1L1) berichtet
Resorption (z. B. bei chronischem Gallengangverschluss) auf. (. Abb. 58.8). Mit den Chylomikronen wird Vitamin E in die
Bei chronischen Leber- und Nierenerkrankungen kommt es sehr Lymphe sezerniert und gelangt über Chylomikronen-remnants
häufig zum Calciumschwund des Skelettsystems, der wahr- (CR) in die Leber. Der Transport über Chylomikronen scheint
scheinlich durch eine verminderte Umwandlung von Calciferol nicht der einzige Weg zu sein, α-Tocopherol kann auch über
in 1,25-Dihydroxycholecalciferol ausgelöst wird und einen se- ABCA1, einem Transporter der ABC (ATP-binding cassette)-
kundären Hyperparathyreoidismus (7 Kap. 66.3) bewirkt. Familie (7 Kap. 11.5), direkt in die Portalvene exportiert werden,
wo es von HDL übernommen wird. Remnant-gebundenes Vita-
Hypervitaminose Eine Hypervitaminose des Vitamin D durch min E wird über den LDL-Rezeptor (LDL-R) oder das LDL-R-
Fehlernährung ist unbekannt, kann aber bei Überdosierung von related protein (LRP), HDL-gebundenes Vitamin E über den SR-
Vitamin-D-Präparaten vorkommen. Nettoeffekt ist eine Mobili- B1 in die Leber durch Endocytose aufgenommen.
sierung von Calcium. Dies führt zu Hypercalcämie im Plasma In der Leber wird α-Tocopherol aus allen ankommenden To-
und zu einer Osteoporose. Das freigesetzte Calcium muss über copherolen und Tocotrienolen mit Hilfe des α-Tocopherol-
die Nieren ausgeschieden werden. In Extremfällen erreicht es im transferproteins (α-TTP) aussortiert und mit VLDL wieder ins
Nierentubulus eine so hohe Konzentration, dass es zur Ausfäl- Plasma sezerniert. Alternativ ist auch der Export von
lung von Calciumphosphat und damit zur Nephrocalcinose α-Tocopherol über den ABCA1 Transporter möglich. Ob hierfür
kommt. α-TTP nötig ist, ist nicht bekannt. Die Affinität von α-TTP zu
nicht-α-Tocopherolen und zu Tocotrienolen ist vergleichsweise
niedrig, was die Präferenz des menschlichen und tierischen Or-
ganismus für α-Tocopherol entscheidend mitbestimmt.
Die Aufnahme von α-Tocopherol in periphere Zellen erfolgt
je nach Zelltyp und transportierendem Lipoprotein über den
58.4 · Vitamin E – Tocopherole und Tocotrienole
715 58
A

. Abb. 58.7 Struktur und Metabolismus von Vitamin E. A Vitamin-E-Formen und Abbauweg. CEHC: Carboxyethylhydroxychroman (Einzelheiten s. Text).
B Reaktionen als Antioxidans. Tocopherol reagiert mit einem Radikal (R ) zum Tocopheroxylradikal. Eine Regeneration über Ascorbat zum Tocopherol wird
diskutiert

LDL-Rezeptor oder SR-B1. Die Lipoproteinlipase unterstützt 58.4.4 Metabolismus


einerseits die Aufnahme über den LDL-R, andererseits kann
ein Teil des CR-gebundenen Vitamin E durch Hydrolyse der Die ersten Tocopherolmetabolite wurden in den 50er Jahren be-
Triglyceride durch die LPL direkt in periphere Zellen gelangen. schrieben. Hierbei handelt es sich um Tocopheronsäure und To-
Dies erfordert die Interaktion der LPL mit Heparansulfat. Die copheronolacton, die durch einen geöffneten Chromanring und
Abgabe erfolgt über Transporter der ABC-Familie. eine verkürzte Seitenkette gekennzeichnet sind. Der geöffnete
Der α-Tocopherolplasmaspiegel ist abhängig vom Lipidge- Chromanring wurde als Hinweis dafür genommen, dass Toco-
halt des Plasmas. Als Normalwerte für Erwachsene gelten 12– pherol als Antioxidans gewirkt haben musste, und wurde als Be-
46 µmol/l bzw. 4–7 µmol/mmol Cholesterin oder 0,8 mg/g Ge- weis für die antioxidative Funktion von Vitamin E in vivo gewer-
samtlipid. Die Plasmakonzentration von γ-Tocopherol ist etwa tet. Die meisten Metabolite sind solche mit verkürzter Seitenket-
ein Zehntel der Konzentration von α-Tocopherol. α-Tocopherol- te aber intaktem Chromanring, sie können also nicht aus oxidativ
plasmaspiegel sind sättigbar, sodass unabhängig von der Dauer zerstörtem Tocopherol entstanden sein. Der initiale Schritt der
oder Höhe einer Supplementation der α-Tocopherolplasmaspiegel Seitenkettenverkürzung ist eine ω-Hydroxylierung, die wahr-
nur auf etwa 60‒80 µmol/l erhöht werden kann. scheinlich von einem Cytochrom-P450-Enzym katalysiert wird.
Die höchsten Vitamin-E-Gewebskonzentrationen findet Danach folgt die Oxidation der Hydroxylgruppe zur Carboxyl-
man in der Leber, im Fettgewebe und in der Nebenniere. Typi- gruppe und eine β-Oxidation, wie sie für Fettsäuren mit Methyl-
sche Speicher, wie z. B. für Vitamin A, existieren für Tocophero- verzweigungen oder Doppelbindungen üblich ist. Die Endpro-
le aber nicht. Nicht aufgenommenes Tocopherol wird über dukte sind die entsprechend methylierten Carboxyethylhydroxy-
Faeces, nicht in peripheres Gewebe eingebaute Tocopherole und chromane (CEHC, . Abb. 58.7A) und deren Vorstufen die Car-
Tocotrienole über die Galle eliminiert. Abbauprodukte, die Car- boxymethylbutylhydroxychromane (CMBHC). Der Abbauweg
boxyethylhydroxychromane (CEHCs, s. u.), werden glucuroni- ist für alle Formen von Vitamin E gleich. Der Anteil, der verstoff-
diert oder sulfatiert und im Urin ausgeschieden. wechselt wird, ist jedoch für die einzelnen Vitamere deutlich
verschieden. Während α-Tocopherol nur zu einem geringen Teil
abgebaut wird, wird von den anderen Formen ein Anteil von bis
zu 50 % beschrieben. Vollständige Bilanzen, die auch längerket-

Tocopherol# Tocotrienol# Tocopheroxylradikal# Carboxyethylhydroxychromane (CEHC)#


716 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

58
. Abb. 58.8 Resorption, Transport und Verteilung von Vitamin E. ABCA1: ABC-Transporter A1; Toc: Tocopherol; T3: Tocotrienol; PLTP: Phospholipid-
transferprotein, ermöglicht einen direkten Austausch von Vitamin E zwischen den Lipoproteinen; SR-B1: scavenger-Rezeptor B1; NPC1L1: Niemann-Pick
C1-like Protein-1; LDL: low density lipoprotein; LDL-R: LDL-Rezeptor; LRP: LDL-R-related protein; LPL: Lipoproteinlipase; VLDL: very low density lipoprotein;
HDL: high density lipoprotein. (Einzelheiten s. Text)

tige Vorstufen von CEHC berücksichtigen, existieren allerdings Die antioxidativen Eigenschaften nehmen in der Reihenfolge
bislang nicht. Der quantitativ unwesentliche Abbau von α>β = γ>δ ab. Eine Regeneration von Tocopherol ist über das As-
α-Tocopherol wird neben der Spezifität des α-TTP als Erklärung corbat/Ascorbyl-Radikalsystem möglich, das ein negativeres Re-
für die bevorzugte Nutzung von α-Tocopherol herangezogen. doxpotential (280–320 mV) als das Tocopheroxylradikal/Toco-
Die hohe Metabolismusrate der anderen Formen von Vitamin E pherol-System (480–500 mV) hat (7 Kap. 59.1). Während die
dürfte deren Effizienz in vivo begrenzen. Radikalreaktionen von Tocopherolen in vitro bis ins Detail unter-
sucht und beschrieben sind, gibt es für solche Reaktionen in vivo
nur wenig überzeugende Beweise. Das Tocopheroxylradikal kann
58.4.5 Biochemische Funktionen auch als Radikal weiterreagieren und wirkt so prooxidativ, in phy-
siologischen Konzentrationen allerdings mit geringer Effizienz.
Antioxidative Funktion Alle Formen von Vitamin E haben anti- Die Reaktivität von γ-Tocopherol gegenüber Stickstoffradi-
oxidative Eigenschaften, was im strengen Sinn als die Fähigkeit, kalen ist weitaus höher als die von α-Tocopherol, da die freie
mit einem Radikal zu reagieren, definiert wird. Die hierfür nöti- Position 5 im Chromanring eine Nitrierung des Rings erlaubt.
ge Gruppe im Molekül ist die OH-Gruppe an Position 6 des Die Bildung von 5-Nitro-γ-Tocopherol (γ-NO2-TOH) ist sowohl
Chromanrings (. Abb. 58.7). Somit fungieren alle Formen von durch die Reaktion mit Peroxynitrit (ONOO–) als auch mit
Vitamin E als Antioxidantien, jedoch mit unterschiedlicher Re- NO2, das aus Peroxynitrit entsteht, möglich.
aktivität und Spezifität. Als lipophiles Molekül wird Vitamin E in
Membranen oder Lipoproteine eingebaut und kann mit Lipidra- Nicht-antioxidative Funktionen Vitamin E wurde als Faktor ent-
dikalen LO reagieren. Es wird daher als wichtigstes lipophiles deckt, der in der Lage war, in Ratten die Resorption von Feten zu
Antioxidans bezeichnet, das Membranen vor oxidativer Zer- verhindern. Diese Eigenschaft wird zur Bestimmung der biologi-
störung schützen soll. Tocopherol (TOH) reagiert mit schen Effizienz herangezogen. Im sog. Resorption-Gestations-Test
Lipidoxy/Alkoxy LO (RO )- und Peroxylradikalen (LOO ergab sich eine abgestufte Wirksamkeit von α-Tocopherol
(ROO )) nach folgenden Gleichungen: (100 %) > β-Tocopherol (57 %) > γ-Tocopherol (37 %) > α-To-
cotrienol (30 %) > β-Tocotrienol (5 %) > δ-Tocopherol (1,4 %). Die
TOH + LO (RO ) TO + LOH(ROH) antioxidative Wirkung individueller Tocopherole und Tocotrienole
in vitro korreliert also nicht mit ihrer biologischen Aktivität. Des-
TOH + LOO (ROO ) TO + LOOH(ROOH) halb wird seit einigen Jahren verstärkt nach Funktionen von Vita-
min E gesucht, die seine Essentialität besser erklären können.
58.5 · Vitamin K
717 58
α-Tocopherol hemmt die:
4 Blutgerinnung und die Plättchenaggregation 4 Vitamin E seine eigene Akkumulation verhindert und
4 Expression zellulärer Adhäsionsmoleküle dafür sorgt, dass die Konzentrationen nicht zu hoch
4 Freisetzung von Interleukin-1 aus stimulierten werden,
Makrophagen 4 den Metabolismus von Fremdstoffen und so deren
4 Proliferation von glatten Muskelzellen Entgiftung fördert, aber
4 auch den Arzneimittelabbau stimuliert, was zu einer
Auf Enzymebene hemmt α-Tocopherol die Aktivität der: Interferenz mit Therapien führen könnte.
4 NADPH-Oxidase
4 Phospholipase A2
4 Proteinkinase C (PKC)
4 Lipoxygenasen 58.4.6 Pathobiochemie

Somit kann Vitamin E Entzündungsprozesse hemmen und die Hypovitaminosen Einen nahrungsbedingten isolierten Vita-
zellvermittelte Immunität verbessern. Viele dieser Effekte lassen min-E-Mangel gibt es beim Menschen praktisch nicht. Eine aus-
sich durch die Hemmung der PKC erklären, die wiederum durch reichende Vitamin-E-Zufuhr ist offenbar ohne Supplemente
Stimulierung der Proteinphosphatase 2A (PP2A) erreicht wird. möglich. Vitamin E muss aber zusammen mit Fetten aufgenom-
PP2A dephosphoryliert und inaktiviert so PKC. Ein hauptsäch- men werden. Bei gestörter Fettresorption, wie sie z. B. bei Sprue,
lich von γ-Tocopherol ausgeübter Effekt ist die Hemmung der zystischer Fibrose, chronischer Pankreatitis oder Cholestase auf-
Cyclooxygenase 2. Auch wird die Aktivität bestimmter Gene von tritt, kommt es häufig zu Vitamin-E-Mangel. Schwerer Vitamin-
α-Tocopherol in einer Weise beeinflusst, die auf eine anti- E-Mangel tritt bei genetisch bedingten Erkrankungen auf. Ein
inflammatorische oder antikanzerogene Wirkung hindeutet. Vie- Defekt im Gen für das α-Tocopheroltransferprotein führt zu ex-
le dieser nicht-antioxidativen Funktionen können die viel disku- trem niedrigen Vitamin-E-Spiegeln im Plasma und zur Entwick-
tierten aber gerade in letzter Zeit eher widerlegten antiatheroskle- lung schwerer neurologischer Störungen, die denen der Fried-
rotischen und antikanzerogenen Funktionen von Vitamin E reich-Ataxie ähneln. Symptome sind progressive periphere Neu-
stützen, erklären aber nicht seine Essentialität. Ein gemeinsamer ropathien, die in den typischen Ataxien resultieren. Die Krankheit
regulatorischer Mechanismus, der alle genannten Effekte auf pa- wird deshalb auch als Ataxia with Vitamin E Deficieny (AVED)
thologische Prozesse und die Genexpression erklären könnte, ist oder Familial Isolated Vitamin E Deficieny (FIVE) bezeichnet.
bisher nicht beschrieben. Insbesondere wurde noch kein spezifi- Weitere Folgen sind Tremor, Muskelschwäche und geistige Re-
scher Vitamin-E-Rezeptor gefunden, der wie im Falle von Vita- tardierung, manchmal auch Retinitis pigmentosa. α-TTP wurde
min D oder A ein Transkriptionsfaktor wäre. Somit bleibt die zuerst in der Leber entdeckt. Es wird aber auch im Gehirn expri-
physiologische Funktion von Vitamin E erstaunlicherweise un- miert, insbesondere in Bergmann-Glia-Zellen, die die Purkinje-
klar. Zellen des cerebellären Cortex umgeben und diese mit Nährstof-
fen versorgen. Die Lokalisation von α-TTP im Gehirn und die
Symptome bei seinem Fehlen deuten auf eine Rolle von Vita-
Übrigens min E bei der neuromuskulären Signalübertragung hin, die aber
Zu viel Vitamin E, eliminiert wie ein Fremdstoff? keinesfalls verstanden ist. Durch sehr hohe Dosen von α-Toco-
Die beobachtete Induktion von CYP3A4 durch α-Tocopherol pherol (bis 2 g pro Tag) können die Plasma-α-Tocopherolspiegel
hat verschiedene Fragen aufgeworfen. CYP3A4 ist eines der der AVED-Patienten auf ein normales Maß gebracht werden und
wichtigsten fremdstoffmetabolisierenden Enzyme über- die Progredienz der pathologischen Symptome weitgehend be-
haupt. Es gehört zu den Phase-I-Enzymen, die Fremdstoffe herrscht werden. Kürzlich wurde α-TTP auch in menschlichen
aktivieren/deaktivieren können und sie für ihre Eliminierung Plazenten gefunden. Ein Zusammenhang mit der essentiellen
vorbereiten. Neben CYP3A4 induziert α-Tocopherol auch Rolle von Vitamin E im Fertilitätsgeschehen konnte bisher aber
sog. multidrug resistance Proteine, die nicht nur Metabolite noch nicht nachgewiesen werden.
von Fremdstoffen, zu denen auch Arzneimittel gehören,
eliminieren, sondern auch Tocopherole und wahrscheinlich Hypervitaminosen Vitamin-E-Hypervitaminosen gibt es prak-
ihre Metabolite. Damit wird nicht nur der initiale Schritt tisch nicht. Nur bei Supplementierung mit sehr hohen Dosen
des Vitamin-E-Abbaus, die ω-Hydroxylierung, der zweite kann es zu Blutungsneigungen kommen, vor allem bei Patienten,
Schritt, die Ausscheidung mit dem Urin nach Sulfatierung die wegen vorausgegangenen kardiovaskulären Störungen unter
oder Glucuronidierung von CEHC, sondern auch die Aus- Antikoagulationstherapie stehen.
scheidung über epitheliale Transporter über den Weg des
Fremdstoffmetabolismus katalysiert. Dies kann bedeuten,
dass: 58.5 Vitamin K
4 hohe Konzentrationen von Vitamin E als fremd betrach-
tet und eliminiert werden, Vitamin K ist Coenzym für die Carboxylierung
6 von Glutamylresten in Proteinen
718 Kapitel 58 · Fettlösliche Vitamine

. Tab. 58.4 Vitamin-K-abhängige Proteine (Auswahl)

Protein Funktion

Prothrombin Blutgerinnung

Faktor VII Blutgerinnung

Faktor IX Blutgerinnung

Faktor X Blutgerinnung

Protein C Antikoagulation, inaktiviert Faktor Va


und VIIIa, stimuliert Fibrinolyse durch
Hemmung von PAI-1

Protein S Antikoagulation, unterstützt Protein C


. Abb. 58.9 Strukturen von Vitamin K Protein Z Koagulationshemmer

Matrix Gla Protein (MGP) Hemmt die Calcifizierung von Nicht-


58.5.1 Chemische Struktur Knochengewebe

Osteocalcin Knochenmorphogenese
Vitamin K ist der Überbegriff für 2-Methyl-1,4-Naphthochinon Gas 6 Ligand für Rezeptor-Tyrosinkinasen,
(Menadion)-Derivate mit antihämorrhagischer Aktivität. Die reguliert Zellwachstum
einzelnen Vitamin-K-Vitamere sind Seitenkettenhomologe
Renales Gla Protein Hemmt die Kristallisation von Oxalacetat
(. Abb. 58.9): (RGP), Nephrocalcin
58 4 Vitamin K1 (Phyllochinon) trägt eine Phytylseitenkette.
Plaque Gla Protein (PGP), In atherosklerotischen Plaques der
4 Vitamin K2 (Menachinon, MK) besitzt eine Seitenkette mit
Atherocalcin Arterien
4‒13 Isopreneinheiten (MK4‒13). MK4 und 6 weisen die
höchste biologische Aktivität auf. Dentin Gla Protein (DGP) Protein im Zahnschmelz

4 Vitamin K3 (Menadion) hat keine Seitenkette.

Für die biologische Wirkung sind die Methylgruppe weise hemmend – in den Calcifizierungsprozess eingeschaltet
in Position 2 und die beiden OH-Gruppen in der sind.
Hydrochinonform essentiell. Die γ-Glutamylcarboxylierung findet in Membranen des
rauen endoplasmatischen Retikulums statt. Der Mechanismus ist
58.5.2 Vorkommen in . Abb. 58.10 zusammengefasst:
4 Die Carboxylase ist eine starke Base und deprotoniert Vita-
Phyllochinone kommen in allen grünen Pflanzen (daher der min K, das hierzu in der Hydrochinonform vorliegen muss.
Name) und vielen Ölen in größeren Mengen vor. Menachinone 4 Das Vitamin-K-Anion reagiert mit Sauerstoff, sodass als
werden u. a. von Mikroorganismen des menschlichen Darms noch stärkere Base das Vitamin-K-Alkoxid entsteht.
synthetisiert. 4 Das Vitamin-K-Alkoxid zieht ein Proton von dem zu modi-
fizierenden Glutamylrest eines VKD-Proteins ab, es entsteht
ein Carbanion, an das unter Bildung eines
58.5.3 Biochemische Funktion γ-Carboxyglutamylrests CO2 angelagert werden kann.
4 Die oxidierten Formen von Vitamin K werden von der
Die einzige bekannte Funktion für Vitamin K bei höheren Orga- Vitamin-K-Oxidoreduktase (VKOR) wieder zum Hydro-
nismen ist bisher die eines Cofaktors für die Carboxylierung von chinon reduziert.
Glutamylresten in Proteinen. γ-Carboxyglutamylreste enthal-
tende Proteine werden als Vitamin-K-abhängige Proteine bzw. Die VKOR enthält vicinale SH-Gruppen, die die Reduktions-
VKD-Proteine (VKD, Vitamin K-dependent) oder als Gla-Prote- äquivalente für die Reduktion der oxidierten Formen von Vita-
ine (Gla: Carboxyglutamatdomäne) bezeichnet. min K liefern und dabei zu intramolekularen Disulfiden oxidiert
Die wichtigsten VKD-Proteine sind in . Tab. 58.4 zusam- werden. Die Disulfide werden Thioredoxin-abhängig reduziert
mengefasst. Von besonderer Bedeutung sind die für die Blutge- und so VKOR reaktiviert. Vitamin-K-Antagonisten, wie z. B. Cu-
rinnung notwendigen γ-carboxylierten Faktoren. Durch die marine, blockieren die SH-Gruppen in VKOR und verhindern
γ-Carboxylierung erhalten die Proteine eine größere Anzahl so die Regeneration von Vitamin-K-Hydrochinon. Alternativ
negativer Ladungen, die die Wechselwirkungen der Blutgerin- kann sowohl das Epoxid als auch das Chinon von entsprechen-
nungsproteine mit den für die Aktivierung notwendigen Phos- den NADPH-abhängigen mikrosomalen Dehydrogenasen redu-
pholipiden und Calcium ermöglichen (7 Kap. 69.1.3). Gla-Prote- ziert werden. Diese Enzyme haben aber einen wesentlich höhe-
ine, die nicht zur Blutgerinnung gehören, befinden sich in calci- ren Km-Wert und sind deshalb erst bei hohen Konzentrationen
fizierten Matrices, deshalb nimmt man an, dass sie – möglicher- von Epoxid bzw. Chinon aktiv.

Vitamin K_1 (Pyllochinon)# Pyllochinon (Vitamin K_1)# Vitamin K_2 (Menachinon)# Menachinon (Vitamin K_2)# Vitamin K_3 (Me-
nadion)# Menadion (Vitamin K_3)#
58.5 · Vitamin K
719 58

. Abb. 58.10 Reaktionsmechanismus der Vitamin-K-abhängigen Carboxylierung von γ-Glutamylresten. VKOR: Vitamin-K-Oxidoreduktase.
(Einzelheiten s. Text)

58.5.4 Pathobiochemie
intestinale Absorption fettlöslicher Vitamine erfolgt über
Hypovitaminose Ein nahrungsbedingter Vitamin-K-Mangel Chylomikronen. Vitaminmangelzustände (Hypovitaminosen
kommt beim Erwachsenen praktisch nicht vor, da das Vitamin bzw. Avitaminosen) führen zu oft schweren Krankheitsbil-
in ausreichender Konzentration in Nahrungsmitteln vorhanden dern mit meist unspezifischer Symptomatik. Hypervitamino-
ist und außerdem intestinale Mikroorganismen Menachinone sen sind lediglich für die fettlöslichen Vitamine A und D so-
synthetisieren. Bei Vernichtung der gastrointestinalen Mikroor- wie für Vitamin B6 beschrieben worden und werden in aller
ganismen durch lang andauernde orale Therapie mit Antibiotika Regel nicht durch Fehlernährung, sondern durch zu hohe
und gleichzeitiger nutritiver Unterversorgung kann es zu Vita- Supplementierung ausgelöst.
min-K-Mangel kommen. Wie bei anderen fettlöslichen Vitami- Wir kennen vier fettlösliche Vitamine
nen führt eine Störung der intestinalen Fettresorption zur ver- 4 Vitamin A ist als Retinal in den Sehvorgang und als
minderten Resorption von Vitamin K. Retinsäure in die Regulation der für Wachstum und
Ein funktioneller Vitamin-K-Mangel kann durch Dauerthe- Differenzierung wichtigen Genexpression eingeschaltet.
rapie mit Antikoagulantien, z. B. Cumarinderivaten (7 Kap. 69.1.4) 4 Vitamin D steuert die Calciumhomöostase über seine
ausgelöst werden (Thrombose- und Infarktprophylaxe). Eine Zielorgane Darm, Niere und Knochen, sowie Wachstum
Überdosierung mit Vitamin-K-Antagonisten kann durch große und Differenzierung von Zellen überwiegend durch
Mengen an Vitamin K behoben werden. Eine oft übersehene Fol- Regulation der hierfür benötigten Gene.
ge eines Vitamin-K-Mangels ist die verminderte Bildung von Os- 4 Vitamin E hat unabhängig von seiner Antioxidansfunk-
teocalcin. Der dadurch gestörte Calciumstoffwechsel im Knochen tion essentielle Funktionen bei der Reproduktion und in
führt zu Osteoporose und vermehrten Knochenbrüchen. der Regulation von neuromuskulären Signalübertragun-
gen, deren Mechanismen noch nicht verstanden wer-
den. Die Präferenz des Organismus für α-Tocopherol
Zusammenfassung beruht auf seiner geringen Abbaurate und der Spezifität
Vitamine sind essentielle Nahrungsbestandteile, die dem des α-Tocopherol Transferproteins.
Organismus täglich in Mikromengen zugeführt werden müs- 4 Vitamin K ist das Coenzym für die γ-Carboxylierung von
sen und ohne die der normale Ablauf der Stoffwechselpro- Glutamylresten in spezifischen Proteinen, v. a. solchen, die
zesse nicht möglich ist. Ihrer chemischen Natur nach kann für die Blutgerinnung notwendig sind, und in Osteocalcin.
man sie in fett- bzw. wasserlösliche Vitamine einteilen. Die
6
7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

Vitamin-K-abhängige Carboxylase Carboxylase Vitamin-K-abhängige Vitamin-K-Chinon Vitamin-K-Hydrochinon Vitamin-K-Alkoxid


Vitamin-K-Epoxid Vitamin-K-Oxidoreduktase (VKOR)
59 Wasserlösliche Vitamine
Regina Brigelius-Flohé

Einleitung

Eine merkwürdige Krankheit hat immer wieder Seefahrer betroffen,


wann immer sie ausgezogen sind, die Welt zu entdecken oder zu
erobern. 1588 brach die spanische Armada auf, England zu erobern. Im
Gegensatz zur von Francis Drake angeführten englischen Navy wussten
die Spanier nicht, dass ein Cocktail aus Zuckerrohrschnaps, Limonen und
Minze die heute als Skorbut bekannte, durch Vitamin-C-Mangel verur-
sachte Krankheit verhindern konnte. So wurden die Spanier krank und
England war gerettet. Ohne dieses Wissen hätte die Geschichte vielleicht
einen anderen Verlauf genommen. Dieses Beispiel macht deutlich, wie
wichtig es ist, Inhaltsstoffe und Funktion von Nahrungsmitteln zu ken-
nen. Das folgende Kapitel soll helfen, Notwendigkeit und Wirkung der
wasserlöslichen Vitamine zu verstehen.

Schwerpunkte
59
4 Beschreibung der 9 wasserlöslichen Vitamine C, B1, B2,
Niacin, B6, Pantothensäure, Biotin, Folsäure und B12
4 Aufnahme Transport und Metabolismus im Organismus
4 Klassische und neuere biologische Funktionen und zugrun-
de liegende Mechanismen
4 Mangelerscheinungen und Gründe für einen Mangel

59.1 Vitamin C – Ascorbinsäure . Abb. 59.1 Ascorbinsäure als Redoxsystem

Vitamin C wirkt als redoxaktiver Cofaktor


von Hydroxylasen und reduziert enzymgebundenes
Fe3+ zu Fe2+ synthetisieren (7 Kap. 16.1.2). Letzteren fehlt das Enzym L-Gulo-
nolactonoxidase, das L-Gulonolacton zu 2-Ketogulonolacton
59.1.1 Chemische Struktur oxidiert, aus dem spontan, d. h. nichtenzymatisch, L-Ascorbin-
säure entsteht.
Vitamin C oder L-Ascorbinsäure (. Tab. 59.1) wird chemisch als
2,3-Endiol-L-Gulonsäure-γ-Lacton (2,3-Didehydro-L-Threo-
hexano-1,4-Lacton) bezeichnet. Die oxidierte Form ist Dehydro- 59.1.3 Stoffwechsel
ascorbinsäure (DHA) (. Abb. 59.1).
Nach der intestinalen Resorption (. Tab. 59.2) wird Vitamin C
als Dehydroascorbinsäure über das Blut zu Geweben trans-
59.1.2 Vorkommen portiert, die es ebenfalls über den SVCT aufnehmen und zur
Ascorbinsäure reduzieren. Wesentlich schneller gelangt Vita-
Ascorbinsäure kommt in erheblichen Mengen in grünen und min C als Dehydroascorbinsäure über Glucosetransporter,
roten Paprikaschoten, Petersilie, dem Saft von Tomaten, Zitro- hauptsächlich GLUT1, in die Zellen wo es wieder zu Ascorbin-
nen, Apfelsinen und Grapefruit sowie in Spinat, Kartoffeln, säure reduziert wird (s. u.). Den höchsten Ascorbinsäuregehalt
Zwiebeln und Rosenkohl vor. weist die Nebennierenrinde auf. Das Vitamin wird entweder als
Alle Tierspezies mit Ausnahme von Primaten (incl. Mensch) solches, als Diketogulonsäure oder als Oxalat über die Nieren
und Meerschweinchen können L-Ascorbinsäure aus Glucose ausgeschieden.

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_59, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Ascorbinsäure# DHA-Reduktasen Ascorbat# Dehydroascorbinsäure# Ascorbylradikal-Reduktasen Ascorbyl-Radikal#
59.1 · Vitamin C – Ascorbinsäure
721 59

. Tab. 59.1 Einteilung, Zufuhrempfehlung und Funktion von wasserlöslichen Vitaminen

Buchstabe Name Biologisch aktive Form Tägliche Zufuhr- Biochemische Funktion


empfehlung (mg)a
(upper limit)

C Ascorbinsäure Ascorbat 100b Redoxsystem, Hydroxylierungen


(2.000)

B1 Thiamin Thiaminpyrophosphat 1,0–1,2 Oxidative Decarboxylierungen, Transketolase-


reaktion, Verzweigtkettenabbau (Coenzym)

B2 Riboflavin FMN, FAD 1,2–1,5 Wasserstoffübertragungen (Coenzym)

Niacin(amid) NAD+, NADP+ 13–17 Wasserstoffübertragungen (Coenzym),


ADP-Ribosylierungen

B6 Pyridoxin Pyridoxalphosphat 1,2–1,5 Transaminierungen, Decarboxylierungen


(100)c

Pantothensäure CoA-SH, Phosphopantethein 6 Acylübertragungen (Coenzym)

Biotin Biotin an Carboxylasen gebunden 0,03–0,06 Carboxylierungen (Coenzym)


d
Folsäure Tetrahydrofolsäure 0,4 Übertragung von C1-Gruppen (Coenzym)
(1,0)

B12 Cobalamin 5’-Desoxyadenosylcobalamin, 0,003 C-C-Umlagerungen, Methylgruppenübertra-


Methylcobalamin gungen (Coenzym)
a Quelle: DACH, Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2000). Angaben für Erwachsene (Frauen – Männer).
b Raucher: 150 mg.
c Von der europäischen Kommission (Scientific Committee on Food) wurde hier ein Wert von 25 eingesetzt.
d Frauen mit Kinderwunsch mindesten 0,6 mg.

. Tab. 59.2 An der intestinalen Absorption wasserlöslicher Vitamine beteiligte Transporter

Vitamin Transporter Mechanismus Bemerkungen

C Apical: SVCT1 (sodium-dependent Na+-abhängig Aufnahme als Dehydroascorbat und Reduktion in der Mukosazelle.
vitamin C transporter, SLC23A1) Flavonoide (Quercetin) hemmen den Transport über das SVCT1-
Basolateral: SVCT2 (SLC23A2) System

B1 Apical: THTR2 (SLC19A3) pH-abhängig Regulation über intrazelluläre Ca2+/Calmodulin-vermittelte Prozesse


Basolateral: THTR1 (SLC19A2) Na+-unabhängig (Proteinphosphorylierung). Gilt für Nahrungs- und Bakterienthiamin

B2 Carrier-vermittelt Na+-unabhängig Ca2+/Calmodulin-reguliert

B6 Carrier-vermittelt pH-abhängig PKA-reguliert?

B12 Cubilin/Amnionless Aufnahme über In der Mukosazelle wird IF abgespalten, Bindung an Transcobalamin II
Erkennung des (TcII), basolateraler Transport über den Tcll-Rezeptor
Intrinsic Faktor
(IF)-B12-Komplexes

Niacin SMCT (Na+-coupled monocarbox- Na+-gekoppelt Transport als Nicotinat


ylate transporter; SLC5A8) Das System transportiert auch kurzkettige Fettsäuren und Lactat

Biotin SMVT (sodium-dependent multivi- Na+-gekoppelt Regulation über PKC und Ca2+/CaM-vermittelte Prozesse, wobei PKC
tamin transporter, SLC19A3) inhibiert und CaMK aktiviert

Pantothen- Wie Biotin


säure

Folsäure RFC (reduced folate carrier, SL- Aufnahme bei neut- Apikal im Darm, in anderen Organen auch basolateral
C19A1) ralem pH
PCFT (proton-coupled folate trans- Co-Transport mit H+ Apikal, hauptsächlicher Transporter im oberen Dünndarm
porter, SLC46A1)
722 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

ge Vitamin-C-abhängigen Reaktionen und beteiligte Enzyme


sind in . Tab. 59.3 aufgeführt.
Bei den ersten drei in der Tabelle aufgeführten Vorgängen
sorgt Vitamin C für die Aufrechterhaltung des zweiwertigen Ei-
sens im aktiven Zentrum der beteiligten Enzyme während es bei
den letzten drei Enzymen als Elektronendonor fungiert.
. Abb. 59.2 Schema des Mechanismus der Prolylhydroxylierung durch Die Prolyl-4-Hydroxylase hydroxyliert cotranslational Pro-
die Prolyl-4-Hydroxylase. Aus proteingebundenem Prolin entsteht ein Hy- linreste in Kollagenmolekülen (. Abb. 59.2). In seiner aktiven
droxyprolin unter Decarboxylierung und Oxidation von α-Ketoglutarat zu Form enthält das Enzym Fe2+. Für die Reaktion werden O2
Succinat. Ein Sauerstoffatom wird in Succinat, das zweite in Hydroxyprolin und α-Ketoglutarat benötigt. Während der Reaktion wird
eingebaut. Damit ist die Prolylhydroxylase (PHD) eine Dioxygenase mit zwei
α-Ketoglutarat decarboxyliert und ein Atom des Sauerstoffmole-
verschiedenen Substraten. (Einzelheiten s. Text)
küls in Prolin eingebaut, das andere zur Oxidation der Carbonyl-
gruppe des nach Decarboxylierung von α-Ketoglutarat entste-
henden Succinatsemialdehyds verwendet. Die Prolylhydroxylase
59.1.4 Biochemische Funktion ist somit eine Dioxygenase. Als Endprodukte entstehen Succinat
und hydroxylierte Prolinreste im Kollagen. In Abwesenheit von
Ascorbinsäure wird in zwei Ein-Elektronenschritten zu Dehyd- Kollagen wird nur α-Ketoglutarat decarboxyliert und zum Suc-
roascorbinsäure oxidiert, als Zwischenstufe entsteht das relativ cinat oxidiert, das zweite Sauerstoffmolekül verbleibt als reakti-
stabile Ascorbylradikal (. Abb. 59.1). Das Redoxpotential von ver Eisen/Oxo-Komplex im Enzym. Eisen wird zu Fe3+ oxidiert
(Asc ‒/AscH‒) beträgt +280 mV, was Ascorbat zu einem effizien- und das Enzym so inaktiviert. Ascorbinsäure reduziert Fe3+ zu
ten Elektronendonor in vielen biologischen Prozessen macht, die Fe2+ und reaktiviert das Enzym.
auch das Abfangen freier Radikale einschließen: Die Hydroxylierung der α-Untereinheit des Transkriptions-
faktors HIF (hypoxia inducible factor) verläuft entsprechend
AscH‒ + X Asc‒ + XH 7 Kap. 68.2.2).

59 Das Ascorbylradikal wird von einer NADPH-abhängigen Re-


duktase zu Ascorbinsäure reduziert oder durch Reaktion zweier 59.1.5 Pathobiochemie
Moleküle Ascorbylradikal zu Ascorbinsäure und Dehydroascor-
binsäure dismutiert. Dehydroascorbinsäure wird über eine Hypovitaminose Die klassische Vitamin-C-Mangelkrankheit ist
GSH-abhängige DHA-Reduktase, Glutaredoxin oder die Skorbut. Sie ist vor allem von Seefahrern bekannt, die zu Beginn
NADPH-abhängige Thioredoxinreduktase zu Ascorbinsäure der Neuzeit ohne ausreichende Versorgung mit Vitamin-C-hal-
reduziert. tigen Lebensmitteln auf lange Seereisen gingen. Die Krankheit
Für die Essentialität von Vitamin C sind aber nicht diese un- beginnt nach einer Latenzzeit von wenigen Monaten mit schwe-
spezifischen antioxidativen Effekte, sondern spezifische Funk- ren Störungen des Bindegewebsstoffwechsels (mangelnde Bil-
tionen entscheidend. Ascorbinsäure ist Cofaktor für eine Reihe dung von Kollagen in Knochen, Gelenken und Blutgefäßen)
von Enzymen, die Übergangsmetallionen benötigen. Die Rolle (7 Kap. 71.1.2). Es kommt zu Zahnfleischbluten, Zahnausfall,
von Vitamin C ist dabei die Aufrechterhaltung des für die Akti- gestörter Wundheilung, Knochen- und Gelenkveränderungen.
vität benötigten reduzierten Zustandes der Metallionen. Wichti- Ein Mangel vieler Vitamine kann über die Bestimmung bioche-

. Tab. 59.3 Enzymatische Reaktionen, die durch Ascorbinsäure beeinflusst werden

Vorgang Reaktion Name des Enzyms Beteiligtes Cosubstrate


Metallion

Kollagenbiosynthese Prolinhydroxylierung Prolyl-4-Hydroxylase Fe2+ α-Ketoglutarat, O2


Prolinhydroxylierung Prolyl-3-Hydroxylase Fe2+ α-Ketoglutarat, O2
Lysinhydroxylierung Lysylhydroxylase Fe2+ α-Ketoglutarat, O2

Carnitinbiosynthese Hydroxylierung von Trimethylysin Trimethyllysinhydroxylase Fe2+ α-Ketoglutarat, O2

Abbau von HIF über das Prolinhydroxylierung hypoxia-inducible factor (HIF) Fe2+ α-Ketoglutarat, O2
Proteasom bei Normoxie Prolylhydroxylase

Noradrenalinbiosynthese β-Hydroxylierung von Dopamin Dopamin-β-Hydroxylase Cu2+ O2

Tyrosinabbau Bildung von Homogentisat aus 4-Hydroxyphenylpyruvat-Oxygenase Fe2+ O2


4-Hydroxyphenylpyruvat

Bildung von Peptidhormo- Amidierung eines Peptids mit Peptidylglycinamidierende Fe2+ O2


nen aus Prohormonen C-terminalem Glycin Monooxygenase
59.2 · Vitamin B1 – Thiamin
723 59
mischer Parameter im Plasma bestimmt werden (. Tab. 59.5). Bei valerianat, α-Ketoisocapronat und α-Keto-β-Methylvalerianat),
Verdacht auf Vitamin-C-Mangel wird p-Hydroxyphenylpyruvat an der außerdem Liponamid, Coenzym A, FAD und NAD+ be-
im Urin nach Belastung mit Tyrosin gemessen. teiligt sind (7 Kap. 18.2).
Thiaminpyrophosphat ist auch Coenzym der Transketolase,
ein Enzyms des Glucoseabbaus über den Hexosemonophosphat-
59.2 Vitamin B1 – Thiamin weg (7 Kap. 14.1.2). Bei Thiaminmangel ist als Erstes die Trans-
ketolase betroffen. Dies macht sich in einem Anstieg von Pento-
Vitamin B1 (Thiamin) ist Coenzym der sephosphaten bemerkbar, der, wie die Transketolasereaktion
α-Ketosäuredecarboxylasen und der Transketolase selbst, leicht in Erythrocyten gemessen werden kann (. Tab.
59.5). Erst danach treten schwerere Symptome auf.
59.2.1 Chemische Struktur

Thiamin (. Abb. 59.3) besteht aus einem mit einer CH3- und 59.2.5 Pathobiochemie
NH2-Gruppe substituierten Pyrimidinring, der über eine CH2-
Gruppe mit einem 4-Methyl-5-Hydroxyethylthiazol verbunden Hypovitaminosen Das klassische Vitamin-B1-Mangelsyndrom
ist. Die CH-Gruppe zwischen dem N und S Atom im Thiazolring ist die Beriberi-Krankheit, die auch heute noch endemisch dort
ist wesentlich saurer als die meisten anderen CH-Gruppen. vorkommt, wo polierter Reis das Hauptnahrungsmittel ist
Durch Dissoziation entsteht ein Carbanion, das leicht an Alde- (durch Polieren geht die Vitamin-B1-enthaltende Keimanlage
hyde und Ketone addiert, was die biologische Aktivität von verloren). Besonders betroffen sind die Gewebe mit hohem Glu-
Thiamin bestimmt. coseumsatz (Nervensystem, Gastrointestinaltrakt und kardio-
vaskuläres System). Die Symptome sind Appetitmangel, Übel-
keit, Erbrechen, Müdigkeit, periphere Nervenstörungen, geisti-
ge Störungen, Muskelatrophie und gelegentlich eine Enzephalo-
pathie. Ein der Beriberi sehr ähnliches Krankheitsbild findet
sich häufig bei chronischem Alkoholismus (Wernicke-Korsa-
koff-Syndrom). Der Vitaminmangel ist dabei auf unzureichen-
de Nahrungszufuhr und die Hemmung des apikalen Thiamin-
. Abb. 59.3 Thiamin. Der für die Wirkung verantwortliche Teil des Mole- transporters in den Enterocyten zurückzuführen. Auch in der
küls ist rot hervorgehoben Schwangerschaft kommt es gelegentlich zu Thiaminmangel.

59.2.2 Vorkommen Übrigens


Die Entdeckung von Vitamin B1,
Thiamin kommt praktisch in allen pflanzlichen und tierischen Zufall oder ein gutes Gespür?
Nahrungsmitteln vor. Die höchsten Konzentrationen finden sich 1886 machte sich Christian Eijkman von Holland nach
in ungemahlenen Getreidesorten, in Leber, Herz, Nieren, Gehirn Indonesien auf, um die Ursache der Beriberi-Krankheit her-
und magerem Schweinefleisch. Bei langem Kochen wird das auszufinden. Als Schüler von Robert Koch versuchte er mit
Vitamin zerstört. Hilfe einer bakteriellen Infektion die Krankheit bei Labor-
tieren zu induzieren, ohne Erfolg. Stattdessen beobachtete
er plötzlich auftretende merkwürdige Anzeichen einer
59.2.3 Stoffwechsel Krankheit bei den Hühnern in seinem Tierstall. Die Tiere
waren schwach, ataktisch und starben. Die Symptome
In den meisten Nahrungsmitteln liegt Vitamin B1 als biologisch erinnerten ihn an die Symptome seiner Patienten. Die Krank-
aktives Thiaminpyrophosphat vor. Da in dieser Form eine Re- heit verschwand nach 5 Monaten ebenso plötzlich wie sie
sorption nicht möglich ist, wird der Pyrophosphatrest im Darm aufgetreten war. Was war geschehen? Seine Nachforschun-
durch Pyrophosphatasen abgespalten. Die Resorption im Darm gen ergaben, dass kurz vor Auftreten der Krankheit eine
erfolgt über Thiamintransporter (. Tab. 59.2). Intrazellulär er- Lieferung von braunem, d. h. unpoliertem und damit billi-
folgt die Phosphorylierung zum Thiaminpyrophosphat unter gem Reis für die Hühner ausgeblieben war und sie deshalb
Bildung von AMP durch die mitochondriale Thiaminkinase. Im mit weißem, d. h. poliertem und damit teurem Reis aus der
Blut nachweisbares Thiamin befindet sich zum größten Teil in Krankenhausküche gefüttert wurden. Diese Verschwendung
den Blutzellen. wurde von einem neuen Verwalter bemerkt und sofort un-
terbunden. Die Hühner erholten sich umgehend. Dies war
die Entdeckung von Vitamin B1 in der Schale von unpolier-
59.2.4 Biochemische Funktion tem Reis.

Thiaminpyrophosphat ist Coenzym der oxidativen Decarboxy-


lierung von α-Ketosäuren (Pyruvat, α-Ketoglutarat, α-Ketoiso-
724 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

59.3 Vitamin B2 – Riboflavin oder FMN über riboflavinspezifische Plasmaproteine. Die intra-
zelluläre Umwandlung in FMN wird von der Flavokinase kataly-
Vitamin B2 (Riboflavin) ist als Bestandteil siert, die von FMN in FAD von der FAD-Synthetase.
von Flavinnucleotiden am Wasserstoff- und
Elektronentransport beteiligt
59.3.4 Biochemische Funktion
59.3.1 Chemische Struktur
Riboflavin ist Baustein der beiden Coenzyme von wasserstoff-
Riboflavin ist ein substituierter Isoalloxazinring, der mit einem übertragenden Flavoproteine (. Abb. 59.4):
Ribitol verbunden ist (7,8-Dimethyl-10-Ribitylisoalloxazin) 4 Flavinmononucleotid (FMN) ist u. a. Bestandteil des
(. Abb. 59.4). Phosphorylierung führt zum Riboflavin-5’-Phos- Komplexes I der Atmungskette (7 Kap. 19.1.2) und der
phat oder Flavinmononucleotid (FMN), Verknüpfung von L-Aminooxidase (7 Kap. 26.3.2).
FMN mit AMP (aus ATP) zum Flavin-Adenin-Dinucleotid 4 Flavin-Adenin-Dinucleotid (FAD) ist die prosthetische
(FAD). Die Bezeichnung Flavinmononucleotid ist nicht ganz Gruppe bzw. covalent gebundener Bestandteil einer Reihe
korrekt, da es sich nicht um ein Nucleotid, d. h. ein N-Glycosid von Flavoproteinen, u. a. der Succinatdehydrogenase im
des Ribosephosphats, sondern um ein Derivat des Zuckeralko- Komplex II der Atmungskette (7 Kap. 19.1.2).
hols Ribitol handelt.
Flavoproteine katalysieren:
4 oxidative Desaminierungen (z. B. Aminosäureoxidasen,
7 Kap. 26.3.2),
4 Dehydrierungen von CH2-CH2-Gruppen zu CH=CH-
Gruppen (z. B. Acyl-CoA-Dehydrogenase, 7 Kap. 21.2.1)
4 Oxidationen von Aldehyden zu Säuren (z. B. Xanthinoxida-
se, 7 Kap. 29.5, Aldehydoxidase) und
4 Transhydrogenierungen (Dihydrolipoatdehydrogenase,
59 7 Kap. 18.2, Glutathionreduktase, 7 Kap. 62.3.1, Thiore-
doxinreduktase, 7 Kap. 30.2).

Dabei übernimmt eines der in . Abb. 59.4 hervorgehobenen


Stickstoffatome ein Hydridanion, das andere ein Proton. Es kön-
nen aber auch radikalische Zwischenstufen durchlaufen werden.

59.3.5 Pathobiochemie

Hypovitaminose Der seltene, isoliert auftretende Riboflavin-


mangel ist durch charakteristische Schäden der Lippen, Mund-
winkelfissuren (Cheilosis), lokalisierte seborrhoische Dermati-
. Abb. 59.4 Riboflavin und die von ihm abgeleiteten Coenzyme FMN tis des Gesichts, eine besondere Form der Glossitis (Landkar-
und FAD tenzunge) und verschiedene funktionelle und organische Stö-
rungen des Auges gekennzeichnet. Zum Nachweis eines Mangel
s. . Tab. 59.5.
59.3.2 Vorkommen

Riboflavin ist im Pflanzen- und Tierreich weit verbreitet. Milch, 59.4 Niacin und Niacinamid
Leber, Nieren, Herzmuskel und Gemüse sind gute Quellen. Ge-
treideprodukte haben einen niedrigen Riboflavingehalt. Bei der NAD+ und NADP+ enthalten Niacin als den
Keimung steigt die Riboflavinkonzentration in Weizen, Gerste für ihre Funktion essentiellen Bestandteil
und Mais an.
59.4.1 Chemische Struktur

59.3.3 Stoffwechsel Niacin ist die Bezeichnung für Pyridin-3-Carboxylsäure und


Derivate. Die gängigsten Vertreter sind Nicotinsäure und
Riboflavin befindet sich als solches oder als proteingebundenes Nicotin(säure)amid. Für die biologische Wirkung ist die Carbo-
FMN oder FAD in der Nahrung. Im Dünndarm wird Riboflavin xyl- bzw. Säureamidgruppe notwendig, Substitutionen führen zu
freigesetzt, in die Mukosazelle aufgenommen und dort wieder wirkungslosen Verbindungen bzw. zu Antivitaminen (3-Acetyl-
phosphoryliert. Der Transport im Plasma erfolgt als Riboflavin pyridin, Isonicotinsäurehydrazid).
59.4 · Niacin und Niacinamid
725 59
59.4.2 Vorkommen

Das Vitamin kommt bei Tieren vorwiegend als Nicotinamid, in


Pflanzen als Nicotinsäure vor. Besonders reiche Quellen sind
Hefe, mageres Fleisch, Leber und Geflügel. Beim Rösten von Kaf-
fee wird aus Trigonellin (1-Methylnicotinsäure) Nicotinsäure
freigesetzt. In Mais liegt Niacin als Niacytin, d. h. an kleine Pep-
tide, Polysaccharide oder Proteoglycane gebunden, vor und muss
durch alkalische Hydrolyse freigesetzt werden (traditionelles
Einweichen von Mais in Kalkwasser in der zentralamerikani-
schen Küche).

59.4.3 Stoffwechsel

Niacin wird nach seiner Resorption von allen Geweben des Or-
ganismus aufgenommen und zur NAD+- bzw. NADP+-Biosyn-
these (. Abb. 59.5) verwendet. Hierbei kondensiert Nicotinsäure
zunächst mit 5-Phosphoribosylpyrophosphat, wobei Nicotinsäu-
remononucleotid entsteht. Dieses reagiert unter Pyrophos-
phatabspaltung mit ATP. Die Nicotinatgruppe des dabei entstan-
denen Desamido-NAD+ wird mit Glutamin unter Verbrauch von
ATP zur Nicotinamidgruppe aminiert und das so gebildete
NAD+ ggf. mit ATP zu NADP+ umgesetzt.
Die N-glycosidische Bindung ist eine energiereiche Bindung,
die eine Übertragung der ADP-Ribose ermöglicht (s. u.).
Im NADP+ trägt der Adenosinteil in 2ʹ-Stellung einen dritten
Phosphatrest (. Abb. 59.5).
Das bei der Synthese von NAD+ als Zwischenprodukt auftre-
tende Nicotinsäuremononucleotid kann auch endogen aus Tryp-
tophan (7 Kap. 27.2.5) gebildet werden. Das Ausmaß der Nut-
zung von Tryptophan für die Niacinbildung ist abhängig von der
Tryptophanzufuhr, von hormonellen und wahrscheinlich von
genetischen Faktoren. Außerdem sind zur Niacinsynthese auch
Vitamin B6, B2 und Eisen nötig, sodass bei genereller Mangeler-
nährung schwer abzuschätzen ist, inwieweit Tryptophan zur Nia-
cinversorgung beiträgt. Als Faustregel gilt, dass aus 60 mg Tryp-
tophan 1 mg Niacin gebildet werden kann. Die Ausscheidung
von Niacin erfolgt nach Methylierung zum 1-Methylnicotinsäu-
reamid in der Leber über den Urin.
. Abb. 59.5 Biosynthese von NAD+ und NADP+ aus Niacin

59.4.4 Biochemische Funktion


4 ADP-Ribosylierungen 7 Kap. 49.3 und
Als Bestandteil von zwei Wasserstoff übertragenden Coenzymen, 4 für die Bildung von cyclo-ADP-Ribose
4 dem Nicotinamid-Adenin-Dinucleotid (NAD+) und Weiterhin ist es Coenzym für Histondeacetylasen (z. B. Sirtuine)
4 dem Nicotinamid-Adenin-Dinucleotidphosphat (NADP+) (7 Kap. 47.2.1 und 56.3.1).

ist Niacin an einer Vielzahl von Redoxreaktionen und Wasser- ADP-Ribosylierung Bei der Mono-ADP-Ribosylierung wird ein
stoffübertragungen des Intermediärstoffwechsels beteiligt. aus dem NAD+ stammender ADP-Riboserest auf entsprechende
Akzeptoraminosäuren, meist Arginin, spezifischer Proteine
Dies macht die Essentialität von Niacin für den Menschen ver- übertragen. Niacin wird hierbei freigesetzt (. Abb. 59.6). Die
ständlich. Zur Funktion von NAD+ bzw. NADP+ bei Redoxreak- Funktion einer ADP-Ribosyltransferase wurde zuerst bei bakte-
tionen s. 7 Kap. 7.1. riellen Toxinen entdeckt. Das bekannteste Beispiel ist die ADP-
Außer als wasserstoffübertragendes (hydridakzeptierendes) Ribosylierung der Gsα-Untereinheit von an die Adenylatcyclase
Coenzym wird NAD+ für eine Reihe von Proteinmodifikationen gekoppelten heterotrimeren G-Proteinen durch das Cholerato-
sowie bei der Signaltransduktion benötigt. Es ist Substrat für: xin (7 Kap. 35.3.2). Dies führt zu Hemmung der intrinsischen

Nicotinat# Niacin# 5-Phosphoribosyl-1α-pyrophosphat# Nicotinatmononucleotid# Desamido-NAD^+# NAD^+# NADP^+#


726 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

. Abb. 59.7 Bildung von cyclo-ADP-Ribose aus NAD+. (Einzelheiten


s. Text)

59 Nicotinsäure-Adenindinucleotid-Phosphat (NAADP+).
NAADP+ (nicotinic acid adenine dinucleotide phosphate) entsteht
durch Austausch von Nicotinamid gegen Nicotinsäure in
. Abb. 59.6 Mechanismus der (Poly)ADP-Ribosylierung. (Einzelheiten
NADP+. Seine Bildung wird z. B. von Glucose stimuliert.
s. Text) NAADP+ ist der potenteste Mediator einer intrazellulären Erhö-
hung des Ca2+-Spiegels, wobei die Ca2+-Quellen und die Mecha-
nismen der Freisetzung nicht bekannt sind.
GTPase-Aktivität der Gsα-Untereinheit und damit zur Dauer-
aktivierung der Adenylatcyclase.
Die Poly-ADP-Ribosylierung dient zur posttranslationalen 59.4.5 Pathobiochemie
Modifizierung von Proteinen des Zellkerns und wird von der
Poly(ADP-Ribose)Polymerase (PARP) katalysiert. Diese wird Hypovitaminose Klassisches Symptom eines Niacinmangels ist
durch DNA-Strangbrüche aktiviert. Als Folge werden ADP-Ri- die Pellagra (Pelle agra, schwarze oder raue Haut). Niacinmangel
bosereste an PARP selbst aber auch an Histone, Topoisomerasen trat in Europa erstmals nach der Einführung von Mais aus Süd-
oder DNA-Polymerasen geknüpft. Diese Reste können linear und Mittelamerika nach Spanien auf. Mais enthält Niacin in
oder verzweigt sein. Die dadurch negativ geladenen Proteine ver- Form von Niacytin und ist zudem tryptophanarm (s. 7 Abschn.
lieren ihre Affinität zur DNA und dissoziieren ab, die DNA wird »Vorkommen«). Wie bei Vitaminmangelzuständen, die durch
zugänglich. Die Funktion der PARP ist nicht vollständig geklärt. eine allgemeine Fehlernährung gekennzeichnet sind, ist auch
Sie ist an Reparaturmechanismen geschädigter Basen in der Niacinmangel mit dem anderer Vitamine (Thiamin, Riboflavin
DNA, insbesondere in nicht-transkribierten Bereichen, beteiligt. und Pyridoxin) vergesellschaftet. Eine gestörte Poly-ADP-Ribo-
Hierdurch kommt PARP, ADP-Ribosylierung und damit auch sylierung und damit eine Störung der DNA-Reparatur kann die
Niacin eine wichtige Funktion bei der Erhaltung der genomi- Ursache für Pellagra sein. Weitere Symptome sind: Dermatitis,
schen Integrität zu. ADP-Ribosepolymere werden von der Poly- Diarrhö, Demenz und Tod (death), deshalb nannte man Niacin-
ADPR-Glycohydrolase wieder gespalten. Die Spaltung von PARP mangel auch Krankheit der 4 Ds.
durch Caspase 3 ist ein Zwischenschritt des programmierten
Zelltods (Apoptose) (7 Kap. 51.2).
59.5 Vitamin B6-Pyridoxin
cyclo-ADP-Ribose Cyclo-ADP-Ribose entsteht durch die Aktivi-
tät von NAD+-Glycohydrolasen/ADP-Ribosylcyclasen aus Das vom Pyridoxin abgeleitete Pyridoxalphosphat ist
NAD+ unter Abspaltung von Nicotinsäureamid (. Abb. 59.7). das zentrale Coenzym des Aminosäurestoffwechsels
Cyclo-ADP-Ribose ist ein aktivierender Ligand des Ryanodin-
rezeptors (7 Kap. 35.3.3) und führt zu einer Erhöhung der cyto-
solischen Calciumkonzentration.

ADP-Ribosyl-Transferase NAD^+# Nicotinamid# ADP-ribosyliertes Protein#


59.5 · Vitamin B6-Pyridoxin
727 59

. Abb. 59.8 Pyridoxol, Pyridoxamin und Pyridoxal und das Coenzym Pyridoxalphosphat

59.5.1 Chemische Struktur 59.5.5 Pathobiochemie

Vitamin B6 beschreibt 3-Hydroxy-2-Methylpyridinderivate mit Hypovitaminose Die Symptome des tierexperimentellen Pyri-
der biologischen Aktivität von Pyridoxin. Zur Vitamin-B6-Grup- doxinmangels sind uncharakteristisch und unterscheiden sich
pe gehören Pyridoxol (Pyridoxin), Pyridoxamin und Pyridoxal von Spezies zu Spezies (Dermatitis, Wachstumsstörungen, Anä-
(. Abb. 59.8) und ihre phosphorylierten Formen. mien). Beim Menschen kann es zu zentralnervösen Funktions-
störungen (Ataxien, Paresen), die vermutlich mit Störungen des
Glutamatstoffwechsels zusammenhängen, kommen (pyridoxal-
59.5.2 Vorkommen phosphatabhängige Decarboxylierung von Glutamat zum Neu-
rotransmitter γ-Aminobutyrat, 7 Kap. 26.3.3).
In hoher Konzentration ist Vitamin B6 in Hefe, Weizen, Mais, Da einige enzymatische Schritte im Tryptophanabbau pyri-
Fisch, Leber und in etwas geringerer in Milch, Eiern und grünen doxinabhängig sind, können verschiedene Zwischen- und Ne-
Gemüsen enthalten. benprodukte des Tryptophanabbaus beim Pyridoxinmangel ver-

59.5.3 Stoffwechsel . Tab. 59.4 Pyridoxalphosphatabhängige Enzyme

Alle Vitamin-B6-Formen können ineinander umgewandelt und Enzym Reaktion


von der Pyridoxalkinase phosphoryliert werden. Die Ausschei-
Aminotransferasen Austausch einer Aminogruppe gegen eine
dung mit dem Urin erfolgt nach Oxidation von Pyridoxal zur Ketogruppe in Aminosäuren (7 Kap. 26.3.1)
biologisch inaktiven Pyridoxinsäure durch die Aldehydoxidase
Aminosäurede- Synthese biogener Amine (Histamin, Tyramin,
in der Leber. carboxylasen Tryptamin) und von Neurotransmittern (Dopa-
min, Serotonin, γ-Aminobuttersäure)
(7 Kap. 26.3.3)
59.5.4 Biochemische Funktion Serin-Hydroxyme- Spaltung von Serin zu Glycin und einer Hydro-
thyltransferase xymethylgruppe, die auf Tetrahydrofolsäure
Pyridoxalphosphat ist das Coenzym des Aminosäurestoffwech- übertragen wird (7 Kap. 27.2.6)
sels (7 Kap. 26.3.1). In Vitamin-B6-abhängigen Enzymen ist Py- Threoninaldolase Bildung von Glycin und Acetaldehyd aus
ridoxalphosphat als Schiff-Base an ein Lysin des Enzyms gebun- Threonin (7 Abb. 27.21)
den. Für die zu katalysierende Reaktion wird das Lysin durch die
Kynureninase Bildung von 3-Hydroxyanthranilsäure aus
Aminosäure verdrängt. Durch die Elektronen anziehende Wir- 3-Hydroxykynurenin im Tryptophanabbau
kung des Pyridinstickstoffs kommt es zu Elektronenverschie- (7 Kap. 27.2.5)
bungen innerhalb des Coenzym/Substrat-Komplexes, die die Cystathionin-β- Bildung von Cystathionin aus Homocystein
Schwächung einzelner Bindungen am α-C-Atom der Aminosäu- Synthase und Serin bei der Cysteinsynthese im Transsul-
re bewirken. Je nachdem, welche Bindung – in Abhängigkeit vom furierungsweg (7 Kap. 27.2.4)
Enzymprotein – labilisiert wird, werden δ-Aminolävulin- Bildung von δ-Aminolävulinsäure aus Succi-
4 Transaminierungen (7 Kap. 26.3.1), säuresynthase nyl-CoA und Glycin (Häm-Biosynthese)
4 Decarboxylierungen (7 Kap. 26.3.3) und (7 Kap. 32.1.3)
4 Eliminierende Reaktionen (7 Kap. 26.3.2) Lysyloxidase Quervernetzung von Kollagenfibrillen
unterschieden. (7 Kap. 71.1.2)

Serin-Palmityl- Bildung von 3-Ketosphinganin in der Biosyn-


Desaminierung Eine Auswahl pyridoxalphosphatabhängiger transferase these von Ceramid (7 Kap. 22.2)
Reaktionen ist in . Tab. 59.4 zusammengefasst.
Glycogenphos- Phosphorolytische Spaltung von Glycogen,
phorylase Bildung von Glucose-1-Phosphat (7 Kap. 14.2.2)
728 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

mehrt im Urin nachgewiesen werden (. Tab. 59.5). Bei Behand-


lung der Tuberkulose mit Isonicotinsäurehydrazid (INH) muss
gleichzeitig Pyridoxin verabreicht werden, da INH als Pyridoxin-
antagonist wirkt.

Hypervitaminose Eine Hypervitaminose, die sich in peripheren


Neuropathien äußerte, war bisher nur bei Kraftsportlern, die
Megadosen von Vitamin B6 einnahmen zu beobachten.

59.6 Pantothensäure

Coenzym A und Fettsäuresynthase enthalten


Pantothensäure

59.6.1 Chemische Struktur

Pantothensäure (. Abb. 59.9) entsteht durch Kondensation von


β-Alanin mit 2,4-Dihydroxy-3,3-Dimethylbutyrat (Pantoinsäu-
re). Säuger können Pantoinsäure und β-Alanin nicht miteinan-
der verknüpfen.

59.6.2 Vorkommen
59 Pantothensäure ist fast in allen (griech.: pantos überall her) pflanz-
lichen und tierischen Nahrungsmitteln enthalten. Besonders
hoch ist die Konzentration in Eigelb, Nieren, Leber und Hefe.
Außerdem wird Pantothensäure von Darmbakterien gebildet.

59.6.3 Biochemische Funktion

Die biologisch aktive Form der Pantothensäure ist Coenzym A,


das in der Zelle durch Koppelung mit ATP und Cystein entsteht
(. Abb. 59.9). CoA-Verbindungen sind zentrale Metabolite im
Intermediärstoffwechsel:
4 Acetyl-CoA, ist der Drehpunkt des Intermediärstoffwech-
sels. Es ist ein Endprodukt des Kohlenhydrat-, Fett- und
Aminosäurestoffwechsels.
4 Acetyl-CoA ist der Ausgangspunkt für die Bildung von
Ketonkörpern (7 Kap. 21.2.2), Fettsäuren (7 Kap. 21.2.3) und
des Cholesterins und anderer Isoprenlipide (7 Kap. 23.2.2).
4 Durch Addition von Acetyl-CoA an Oxalacetat werden
Kohlenhydrat-, Fett- und Aminosäurekohlenstoffatome in
den Citratzyklus (7 Kap. 18.2) eingeschleust.
4 Acetyl-CoA reagiert mit Cholin unter Bildung von
. Abb. 59.9 Biosynthese von Coenzym A aus Pantothensäure
Acetylcholin 7 (Kap. 74.1.8) oder mit Arzneimitteln,
die zu ihrer Ausscheidung acetyliert werden müssen
(7 Kap. 62.3.1). 4 In der β-Oxidation wird die Abtrennung von Acetylresten
4 Succinyl-CoA, eine weitere wichtige Zwischenstufe im Citrat- durch thiolytische Spaltung mit Hilfe von Coenzym A
zyklus, reagiert mit Glycin zum δ-Aminolävulinat, dem ers- bewirkt (7 Kap. 21.2.1).
ten Zwischenprodukt der Häm-Biosynthese (7 Kap. 32.1.3). 4 Bei der Fettsäurebiosynthese ist Pantothensäure in prote-
4 Im Lipidstoffwechsel (7 Kap. 21.2.1) ist CoA unabdinglich ingebundener Form Bestandteil des Acyl-Carrier-Proteins
für die Aktivierung der Fettsäuren durch Bildung des ent- (7 Kap. 21.2.3).
sprechenden Acyl-CoA-Derivats, dem ersten Schritt in der
Fettsäureoxidation.
59.7 · Biotin
729 59
Weitere Funktionen sind die posttranslationale Modifizierung
von Proteinen:
4 Acetylierung von Histonen, bei der Regulation von Genak-
tivitäten (7 Kap. 47.2.1).
4 Acylierung von Proteinen, z. B. mit Palmitinsäure, über die
Signalproteine an der Zellmembran verankert werden,
Membranrezeptoren reguliert werden oder eine Neuord-
nung des Cytoskeletts nach Stimulierung bewerkstelligt
wird (7 Kap. 49.3).

Somit übernimmt Pantothensäure nicht nur Funktionen im Me-


tabolismus von Zellen, sondern auch in der Regulation von
Wachstum und Differenzierung.

59.6.4 Pathobiochemie

Hypovitaminose Durch das weit verbreitete Vorkommen von


Pantothensäure in Lebensmitteln ist ein isolierter Pantothen-
mangel so gut wie ausgeschlossen. Lediglich das bei mangel-
ernährten Kriegssoldaten beobachtete burning-feet-Syndrom,
das durch Missempfindungen und Schmerzen im Bereich der
Fußsohlen und Zehen charakterisiert ist, wird einer unzurei-
chenden Pantothensäurezufuhr zugeschrieben. Im Tierversuch
findet man bei Pantothensäuremangel wegen der gestörten
-Aminolävulinsäurebildung häufig eine Anämie.

59.7 Biotin . Abb. 59.10 Biotin und seine Funktion als Coenzym bei Carboxylierungen

Biotin wird ATP-abhängig carboxyliert und dient als


Überträger von Carboxylgruppen durch Carboxylasen

59.7.1 Chemische Struktur

Biotin ist formal eine Verbindung aus Harnstoff und einem mit
Valeriansäure substituierten Thiophanring (. Abb. 59.10).

59.7.2 Vorkommen

Besonders biotinreich sind Leber, Niere, Eigelb und Hefe.

59.7.3 Stoffwechsel

Biotin ist covalent in einer Säureamidbindung an die


ε-Aminogruppe eines Lysylrests an Enzymproteine gebunden.
Über die Nahrung gelangt es als Biotinenzym oder nach pro-
teolytischem Abbau desselben als Biocytin (ε-N-Biotinyllysin)
in den Gastrointestinaltrakt. Dort wird Biotin über die Biotini-
dase freigesetzt und über den SMVT (. Tab. 59.2) resorbiert.
Intrazellulär wird Biotin mithilfe der Holocarboxylasesyntheta-
se an die entsprechenden biotinabhängigen Carboxylasen ge-
bunden. Durch proteolytischen Abbau entsteht wieder Biocytin,
das von der intrazellulären Biotinidase gespalten wird (. Abb.
59.11). . Abb. 59.11 Der Biotinzyklus. (Einzelheiten s. Text)

Biotin# Valeriansäure# Apocarboxylase Holocarboxylase Biocytin# NH_2-Lys-Apocarboxylase Holocarboxylasesynthetase


730 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

59.7.4 Biochemische Funktion

Biotin ist das Coenzym für vier Carboxylasen des Menschen. Es


bindet ATP-abhängig eine Carboxylgruppe in Form von HCO3–
und überträgt diese auf die zu carboxylierenden Substrate
(. Abb. 59.10).
Die vier Carboxylasen sind:
4 Acetyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 21.2.3),
4 Pyruvatcarboxylase (7 Kap. 14.3),
4 Propionyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 21.2.1) und
4 Methylcrotonyl-CoA-Carboxylase (7 Kap. 27.2.3).

Die Acetyl-CoA-Carboxylase katalysiert die Startreaktion zur


Fettsäurebiosynthese (7 Kap. 21.2.3), die Pyruvatcarboxylase ka-
talysiert die Bildung von Oxalacetat aus Pyruvat, eine sog. anap-
lerotische Reaktion des Citratzyklus (7 Kap. 18.4). Oxalacetat
kann dann als Kondensationspartner von Acetyl-CoA zur Citrat-
bildung dienen oder über die PEPCK in die Gluconeogenese
einfließen (7 Kap. 14.3). Die Propionyl-CoA-Carboxylase wird
beim Abbau ungeradzahliger Fettsäuren und verzweigtkettiger
Aminosäuren benötigt, die Methylcrotonyl-CoA-Carboxylase
beim Leucinabbau.

59.7.5 Pathobiochemie
59
Hypovitaminose Ein ernährungsbedingter Biotinmangel beim . Abb. 59.12 Die Bildung von Tetrahydrofolat aus Folat
Menschen ist selten, da die Darmbakterien substantielle Mengen
Biotin synthetisieren, die aber nicht bedarfsdeckend sind. Nur
bei biotinarmer Ernährung mit medikamentöser Stilllegung der säure-Komplex gebunden sind. Mikroorganismen bilden Ptero-
Darmflora, z. B. mit Antibiotika, kommt es zu einem Biotinman- ylmonoglutamat.
gel, dessen Symptome in Dermatitiden, Haarausfall, nervösen
Störungen und EKG-Veränderungen bestehen. Ein ähnliches
Krankheitsbild kann durch Aufnahme größerer Mengen von ro- 59.8.2 Vorkommen
hem Hühnereiweiß erzeugt werden. Dieses enthält das Glycopro-
tein Avidin, das Biotin mit hoher Affinität bindet und biotinka- Besonders reich an Folsäure sind dunkelgrünes Blattgemüse (lat.:
talysierte Reaktionen hemmt. folium das Blatt), Avocados, Bohnen, Spargel, Weizenkeimöl,
Genetische Defekte der Holocarboxylasesynthetase oder Leber, Nieren und Hefe.
der Biotinidase führen zu schwerem Biotinmangel (multipler
juveniler Carboxylasemangel), der sich in Methylcrotonylglyci-
nurie, Hautausschlägen, Haarausfall, Muskelschwäche, Ent- 59.8.3 Stoffwechsel
wicklungsrückstand, progressiven neurologischen Symptomen,
schweren Acidosen und Krämpfen äußert und der ohne lebens- Mit der Nahrung aufgenommene Folsäure wird als Monogluta-
lange Supplementierung mit sehr hohen Dosen Biotin zum Tod mat über den protonengekoppelten Folattransporter (PCFT)
führt. (. Tab. 59.2) in den Enterocyten resorbiert. Für die Abspaltung
der Glutamatreste ist die im Bürstensaum lokalisierte γ-Gluta-
mylcarboxypeptidase verantwortlich. In der Nahrung vorhande-
59.8 Folsäure nes Folsäuremonoglutamat, wie es z. B. in Leber oder Folsäure-
supplementen vorkommt, ist daher besser resorbierbar. Im Plas-
Folsäure ist das Coenzym für C1-Übertragungen ma wird Folsäure durch Bindung an folsäurebindende Proteine
transportiert. Die Aufnahme in periphere Zellen kann über den
59.8.1 Chemische Struktur RFC (. Tab. 59.2) erfolgen, der von einem Folatrezeptor (FR),
welcher mit Hilfe eines Glycosylphosphatidylinositol (GPI)-An-
Folsäure (Pteroylpolyglutamat) ist aus einem Pteridinkern, p- kers in die Plasmamembran eingebaut ist, unterstützt wird.
Aminobenzoesäure und L-Glutamat aufgebaut (. Abb. 59.12).
Folsäureformen in der Nahrung unterscheiden sich in der An-
zahl der Glutamylreste, die an den Pteridin/p-Aminobenzoe-

Pteridinkern# p-Aminobenzoesäure# Glutamat# Folat# Folatreduktase Dihydrofolat# Dihydrofolatreduktase Tetrahydrofolat#


59.8 · Folsäure
731 59

. Abb. 59.13 Funktion der Tetrahydrofolsäure als Coenzym bei Übertragungen von C1-Resten. (Einzelheiten s. Text). THF, Tetrahydrofolsäure;
MTHFR, N5, N10-Methylen-THF-Reduktase

59.8.4 Biochemische Funktion ander überführt werden. . Abb. 59.13 gibt gleichzeitig darüber
Aufschluss, aus welchen Quellen die C1-Reste stammen und
Die biologisch aktive Form der Folsäure ist die Tetrahydrofol- welche weiteren Reaktionsmöglichkeiten ihnen im Intermediär-
säure (THF), die durch Reduktion der Folsäure zu Dihydrofol- stoffwechsel zur Verfügung stehen.
säure und anschließend zu Tetrahydrofolsäure mit Hilfe der
NADPH-abhängigen Folatreduktase bzw. Dihydrofolatredukta- Herkunft der C1-Gruppen Folsäure übernimmt und überträgt
se entsteht (. Abb. 59.12). THF ist Coenzym für Übertragungen C1-Gruppen unterschiedlicher Oxidationsstufen. Die höchste
von C1-Gruppen (Methyl-, Hydroxymethyl-, Formyl-, Formia- Oxidationsstufe hat Formiat, das als N5-Formyl-, N10-Formyl-,
treste). Träger der C1-Gruppen sind die N-Atome in Position 5 N5-Formimino- oder N5,N10-Methenylrest an die Tetrahydrofol-
bzw. 10 des Pteroylrests (. Abb. 59.13). Durch Dehydrogenase- säure gebunden ist. Die nächst niedrigere Oxidationsstufe ist die
bzw. Isomerasereaktionen können die 1-Kohlenstoffreste inein- des Formaldehyd in der N5,N10-Methylen-THF, die niedrigste ist

Cholinbiosynthese Folsäure Thymidinbiosynthese Purinbiosynthese Tetrahydrofolsäure (THF) N^5^^,N^10^^-Methylen-THF


N^5^^,N^10^^-Methenyl-THF N^5^^-Formimino-THF N^10^^-Formyl-THF N^5^^-Formyl-THF Formiat N-Formylglutamat
732 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

die Stufe des Methanol in der N5-Methyl-THF. Formiat, falls vor- Folsäure- und der Cobalaminspiegel des Serums gemessen wer-
handen, kann ATP-abhängig über die Formyl-THF-Synthetase den. Eine Behandlung dieser Anämien nur durch Folsäure würde
direkt an Tetrahydrofolsäure angelagert werden. N5,N10-Methy- die durch gleichzeitigen B12-Mangel verursachten neurologi-
len-THF entsteht durch Übertragung des β-Kohlenstoffs des schen Schäden irreversibel machen (7 Kap. 59.9). Im Histidinbe-
Serins als Hydroxymethylgruppe (7 Kap. 27.1.4). Sehr wahr- lastungstest wird eine gesteigerte Ausscheidung von Formimi-
scheinlich erfolgt zunächst eine Anlagerung der Hydroxymethyl- noglutaminsäure im Urin als Folge eines Folsäuremangels nach-
gruppe an N5, gefolgt von einer intramolekularen Wasserab- gewiesen (. Tab. 59.5).
spaltung, sodass die reaktionsfreudige N5,N10-Methylenkonfigu- Medikamentös kann Folsäuremangel durch Folsäureanta-
ration entsteht. In ähnlicher Weise werden die Methylgruppen gonisten hervorgerufen werden. Durch Substitution der Hydro-
von Methionin, Cholin und Thymin nach Oxidation zur Hydro- xylgruppe an Position 4 des Pteridinkerns der Folsäure durch
xymethylgruppe in THF eingebaut. Die beim Histidinabbau ent- eine Aminogruppe entsteht die 4-Aminofolsäure, das Aminop-
stehende Formiminogruppe von Formiminoglutamat wird als terin. Wird gleichzeitig an Stellung 10 methyliert, kommt man
N5-Formimino-THF eingebaut, zu N5-Formyl-THF desaminiert zum Amethopterin/Methotrexat (7 Abb. 31.1). Beide Verbin-
und danach in N5,N10-Methylen-THF umgewandelt. dungen hemmen die Dihydrofolatreduktase und somit die Bil-
dung von Tetrahydrofolat aus Folsäure. Deshalb werden sie als
Schicksal der 1-Kohlenstoffreste N10-Formyl-THF ist Kohlen- Cytostatica bei diversen Karzinomen und Sarkomen verwendet
stofflieferant für die C-Atome 2 und 8 des Purinkerns (7 Kap. 29.1). (7 Kap. 53.5).
N5,N10-Methylen-THF liefert den Kohlenstoff für die Methyl- Die antibakterielle Wirkung von Sulfonamiden beruht auf
gruppen von Thymin und Hydroxymethylcytosin sowie den der kompetitiven Hemmung des Einbaus von p-Aminobenzoe-
β-Kohlenstoff des Serins bei der Umwandlung von Glycin in Se- säure. Damit kommt die Folsäurebiosynthese pathogener Mikro-
rin (7 Kap. 27.1.4). In einer NADPH-abhängigen Reaktion wird organismen zum Erliegen.
N5,N10-Methylen-THF irreversibel durch die N5,N10-Methylen- Folsäuremangel ist der am weitesten verbreitete Vitamin-
THF-Reduktase (MTHFR) zu N5-Methyl-THF reduziert. Die Me- mangel in der westlichen Welt und hat in der Schwangerschaft
thylgruppe von N5-Methyl-THF wird für die Cholinbiosynthese Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen zur Folge. Häufig kann der
benötigt und bei der Methioninbiosynthese auf Homocystein Bedarf der Schwangeren (. Tab. 59.1) nicht durch die Nahrung
59 übertragen (7 Kap. 27.2.4). Letztere Reaktion ist Vitamin-B12- gedeckt werden.
abhängig. Methionin wird in S-Adenosylmethionin (SAM) ein-
gebaut, als welches es wie THF als Methylgruppendonor fun-
giert. SAM hemmt die N5,N10-Methylen-THF-Reduktase. Bei 59.9 Vitamin B12 – Cobalamin
Vitamin-B12-Mangel kann N5-Methyl-THF nicht zu THF deme-
thyliert werden. Gleichzeitig wird wenig SAM gebildet, sodass Vitamin B12 (Cobalamin) wird für die intramoleku-
eine Hemmung der N5,N10-Methylen-THF-Reduktase unter- lare Umlagerung von Alkylresten und die Methylie-
bleibt. Es kommt zu ungehinderter Synthese von N5-Methyl- rung von Homocystein benötigt
THF, das nicht weiter verstoffwechselt werden kann. So kann es
trotz Folsäurezufuhr bei Vitamin-B12-Mangel zu einem funktio-
nellen Folsäuremangel kommen. Das Phänomen der Anhäufung 59.9.1 Chemische Struktur
von N5-Methyl-THF nennt man auch »Methylfalle«.
Der innere Teil des Cobalamin-(Vitamin B12)-Moleküls (. Abb.
59.14) besteht aus vier reduzierten und voll substituierten Pyrrol-
59.8.5 Pathobiochemie ringen, die um ein zentrales Cobaltion gelagert sind, das koordi-
nativ an die Stickstoffatome der Pyrrolringe gebunden ist (Cor-
Hypovitaminose Die Essentialität der Folsäure für die Biosyn- rin-Ringsystem). Cobalamin ist der einzige Naturstoff, in dem
these von Purinen und Pyrimidinen wird besonders beim Cobalt (Name!) bisher nachgewiesen wurde. Im Gegensatz zu
Wachstum und bei der Zellteilung deutlich. Da die blutbilden- den ähnlich aufgebauten Porphyrinen (7 Kap. 32.1) sind zwei der
den Zellen des Knochenmarks eine besonders hohe Teilungsrate Pyrrolringe (I und IV) direkt und nicht durch eine Methinbrücke
haben, sind Störungen des Blutbilds ein frühes Zeichen des Fol- verbunden.
säuremangels. Bei länger dauerndem Mangel kommt es zu einer Cobalamin enthält weiterhin ein 5,6-Dimethylbenzimidazol-
generellen Störung des Zellstoffwechsels. Es ist nicht nur die ribonucleotid, das über Aminoisopropanol an eine Seitenkette
Nucleinsäuresynthese, sondern auch der Phospholipidstoff- des Rings IV gebunden ist. Von dort bildet es eine Brücke zur
wechsel (Cholinbiosynthese) und der Aminosäurestoffwechsel 5. Koordinationsstelle des Cobaltions. Die 6. Koordinationsstelle
beeinträchtigt. Beim Menschen tritt ein im Blutbild nachweisba- kann mit verschiedenen Liganden substituiert sein (. Abb.
rer Folsäuremangel (megaloblastäre Anämie) dann auf, wenn 59.14). Im 5-Desoxyadenosylcobalamin ist der 5-Desoxyadeno-
über 6 Monate weniger als 5 µg Folsäure/Tag zugeführt werden. sylrest (Ado) covalent über das C5-Atom der Desoxyribose an
Eine gleichartige Symptomatik zeigt sich auch beim Cobalamin- das Cobalt gebunden. Diese Co-C-Bindung ist die einzige be-
(Vitamin B12)-Mangel (7 Kap. 59.9), die jedoch nur durch Gaben kannte Kohlenstoffmetallbindung in der Biologie.
von Cobalamin und nicht durch Folsäure behoben werden kann.
Deswegen sollte bei megaloblastären Anämien grundsätzlich der
59.9 · Vitamin B12 – Cobalamin
733 59
über den Megalin-Cubilin/Amnionless-Rezeptorkomplex. Die-
ser endocytiert den Cobalamin/intrinsic-factor-Komplex. In
Lysosomen erfolgt der proteolytische Abbau des intrinsic factors.
Freies Cobalamin wird in der Hydroxyform an Transcobala-
min II gebunden, das Cobalamin im Blut transportiert. Periphe-
re Zellen erkennen Transcobalamin II und endocytieren dieses
zusammen mit Cobalamin über einen spezifischen Rezeptor,
der in der Niere und wahrscheinlich auch in anderen Organen
der Megalinrezeptor ist. Transcobalamin II wird lysosomal ab-
gebaut. Das freigesetzte Cobalamin wird im Cytosol in Methyl-
cobalamin oder in den Mitochondrien in 5ʹ-Desoxyadenosylco-
balamin umgewandelt.

59.9.4 Biochemische Funktion

In Abhängigkeit von der Natur des 6. Liganden (. Abb. 59.14)


unterscheidet man zwei Coenzymformen des Cobalamins:
4 5ʹ-Desoxyadenosylcobalamin (Adenosylcobalamin) und
4 Methylcobalamin.

Die Biosynthese des 5’-Desoxyadenosylcobalamins erfolgt in ei-


ner zweistufigen Reaktion: Zuerst wird Cobalt durch ein
NADPH-abhängiges Flavoenzym in die Oxidationsstufe I redu-
ziert. Danach wird die aus ATP stammende 5ʹ-Desoxyadenosyl-
gruppe gebunden. Die drei Phosphatgruppen des ATP werden in
Form von anorganischem Trimetaphosphat freigesetzt und Co
wieder in die Oxidationsstufe III versetzt.
Bei Säugern sind nur zwei Vitamin-B12-abhängige Reaktio-
nen bekannt:
Die Methylmalonyl-CoA Mutase enthält 5ʹ-Desoxyadenosyl-
cobalamin und isomerisiert beim Abbau ungeradzahliger Fett-
säuren und einiger Aminosäuren Methylmalonyl-CoA zu Succi-
nyl-CoA (7 Kap. 21.2). Diese Reaktion erfolgt über einen Mecha-
. Abb. 59.14 Struktur von Cobalamin (Vitamin B12) nismus, der die Bildung freier Radikale einschließt (. Abb.
59.15). Die Reaktion beginnt mit einer homolytischen Spaltung
des 5ʹ-Desoxyadenosylrests vom Cobalt mit der Oxidationsstu-
59.9.2 Vorkommen fe 3+ (Reaktion 1 ). Es entsteht Co2+ und ein 5’-Desoxyadenosyl-
radikal (Ado ). Dieses abstrahiert ein H-Atom von der Methyl-
Die besten Quellen für die Versorgung des Menschen mit Co- gruppe des Methylmalonyl-CoA (Reaktion 2 ). Das entstehende
balamin sind tierische Lebensmittel. Nur Mikroorganismen, Radikal greift das C-Atom der Thioestergruppe an, es entsteht
auch die Bakterien der Darmflora, können dieses Vitamin syn- ein intermediäres Radikal am Sauerstoff der Thioestergruppe
thetisieren. (Reaktion 3 ). Die Bindung zwischen dem α- und β-C-Atom des
Malonylteils löst sich, es entsteht das Succinylgerüst in radikali-
scher Form (Reaktion 4 ). Danach reagiert Adenosin mit dem
59.9.3 Stoffwechsel Succinylradikal, wird selbst wieder zum Radikal und Succinyl-
CoA wird freigesetzt (Reaktion 5 ). Das Ado-Radikal reagiert
In der Nahrung liegt Cobalamin in proteingebundener Form mit dem Co2+, das Co3+-Ado ist regeneriert und kann in einen
vor. Durch proteolytische Prozesse im Speichel, im Magen und neuen Zyklus eintreten. Die Rolle des 5ʹ-Deoxyadenosylrests ist
vor allem im Duodenum wird es freigesetzt. Freies Cobalamin somit die eines Radikalgenerators in der Mutasereaktion. Bei Co-
bindet schon im Speichel zum Schutz vor der Magensäure balaminmangel wird Methylmalonyl-CoA zu Methylmalonsäure
an Haptocorrin. Im Magen wird es an den von den Belegzellen hydrolysiert und über die Nieren ausgeschieden. Die erhöhte
der Magenschleimhaut gebildeten intrinsic factor (IF) gebun- Ausscheidung dieser Säure ist deshalb ein empfindlicher Indika-
den. Der IF weist einen hohen Neuraminsäuregehalt auf, der es tor eines Cobalaminmangels (. Tab. 59.5).
vor dem Abbau durch Pankreasenzyme schützt. Haptocorrin Methylcobalamin ist an der folatabhängigen Remethylie-
wird im oberen Dünndarm abgebaut und B12 an IF übergeben. rung von Homocystein zu Methionin (Verknüpfung von Folat-
Die Resorption des Cobalamins erfolgt erst im unteren Ileum und Cobalaminstoffwechsel! 7 Kap. 59.8 Folsäure), beteiligt.

Dimethylbenzimidazolribotid# Aminoisopropanol# 5’-Desoxyadenosylcobalamin# Cyanocobalamin# Methylcobalamin#


734 Kapitel 59 · Wasserlösliche Vitamine

tabolismus, die eine Verminderung der Cholin- und damit


Phospholipidsynthese sowie eine Verminderung der Nucleinsäu-
rebiosynthese zur Folge hat, zu erklären. Zum Nachweis eines
Vitamin-B12-Mangels s. . Tab. 59.5.

59.10 Biochemischer Nachweis von Mangel-


zuständen wasserlöslicher Vitamine

Wie in den vorausgegangenen Kapiteln beschrieben, kann der


Status mancher wasserlöslicher Vitaminen über ihre Funktion als
Cofaktor bei von ihnen abhängigen Enzymen bestimmt werden.
Hierzu dienen Belastungstests, bei denen Intermediate akkumu-
lieren. Bei Vitamin-C-Mangel akkumuliert 1-Hydroxyphenylpy-
ruvat wegen der verminderten Aktivität der entsprechenden
Dehydrogenase, bei Pyridoxinmangel u. a. 3-Hydroxykynurenin
wegen der verminderten Aktivität der Kynureninase, bei Folsäu-
remangel Formiminoglutamat wegen der verminderten Aktivität
der Glutamat-Formiminotransferase. Eine Aktivierung von in
Erythrocyten lokalisierten Enzymen nach Zusatz des entspre-
chenden Coenzyms kann auf einen Mangel hindeuten. Bei Stei-
gerung der erythrocytären Transketolaseaktivität (ETKA) um
mehr als 15 % nach Thiaminzusatz kann auf Thiaminmangel
hindeuten. Die Steigerung der erythrocytären Glutathionreduk-
. Abb. 59.15 Postulierter radikalischer Mechanismus der Vitamin-B12- taseaktivität (EGRA) nach Zusatz von Riboflavin sollte weniger
59 katalysierten Methylmalonyl-CoA-Isomerisierung in der Methylmalonyl-
als 20 % sein. Bei Cobalaminmangel kann die Isomerisierung der
CoA-Mutasereaktion. Co3+-Ado: 5’-Desoxyadenosylcobalamin; Ado: 5’-Des-
oxyadenosylrest. (Einzelheiten s. Text)
Methylmalonsäure nicht stattfinden, deshalb wird sie vermehrt
ausgeschieden.

59.9.5 Pathobiochemie
. Tab. 59.5 Biochemische Tests zur Erfassung von Vitaminmangel-
zuständen
Länger dauernder Cobalaminmangel führt zu perniziöser oder
megaloblastärer Anämie. Der Mangelzustand wird dabei selte- Vitamin Symptome bei Mangelzuständen
ner durch einseitige Ernährung (wobei Veganer eher betroffen
sind als Vegetarier) ausgelöst. Seine häufigsten Ursachen sind L-Ascorbinsäure Ausscheidung von p-Hydroxyphenylpyruvat im
eine verminderte Resorption bei Erkrankungen der Dünndarm- Urin nach Belastung mit Tyrosin
mukosa (z. B. Sprue) oder eine fehlende oder mangelhafte Sekre- Thiamin Verminderung der Aktivität der Transketolase in
tion des für die Resorption unerlässlichen intrinsic factor. Diese Erythrocyten
kommt bei Erkrankungen der Magenschleimhaut, nach Gastrek- Riboflavin Verminderte Aktivität der Glutathionreduktase
tomie und in Folge spezifischer Autoimmunerkrankungen vor. im Erythrocyten
Auch hereditäre Störungen des Cobalamintransports und Pyridoxin Verringerte Aktivität von Transaminasen in
seines intrazellulären Stoffwechsels führen zur Symptomatik der Erythrocyten; vermehrte Ausscheidung von
perniziösen Anämie. Die Störungen können alle Stufen des Co- Xanthurensäure, 3-Hydroxykynurenin und Kynu-
balaminstoffwechsels betreffen. rensäure im Urin nach Belastung mit Tryptophan
Da die Leber beträchtliche Mengen an Cobalamin speichern Folsäure Vermehrte Ausscheidung von N-Formimino-
kann, vergehen meist Jahre bis zur Manifestation des Krankheits- glutamat im Urin nach Belastung mit Histidin
bildes. Hauptsymptome sind Störungen der Erythropoiese und Cobalamin Ausscheidung von Methylmalonsäure im Urin
eine Leuko- und Thrombocytopenie. In vielen Fällen treten neu-
rologische Störungen des peripheren und zentralen Nervensys-
tems vor den hämatologischen Veränderungen auf. Es kommt zu
funiculärer Myelose, einer herdförmigen Entmarkung der Hin-
terstrang- und Pyramidenbahnen mit ataktisch spastischen
Störungen und zu ähnlichen Polyneuropathien an peripheren
Nerven. Diese Symptome sind durch die Störung im Folsäureme-
59.10 · Biochemischer Nachweis von Mangelzuständen wasserlöslicher Vitamine
735 59

Zusammenfassung
Die neun wasserlöslichen Vitamine sind wie die vier fettlös-
lichen essentielle Nahrungsbestandteile. Die intestinale Ab-
sorption der wasserlöslichen Vitamine erfolgt über spezifi-
sche Transporter. Hypovitaminosen bzw. Avitaminosen füh-
ren zu oft schweren Krankheitsbildern mit meist unspezifi-
scher Symptomatik. Hypervitaminosen sind bei den
wasserlöslichen Vitaminen lediglich für Vitamin B6 beschrie-
ben worden und werden meist durch zu hohe Supplemen-
tierung ausgelöst. Mit Ausnahme von Ascorbinsäure und Thi-
amin werden alle wasserlöslichen Vitamine nach Überführung
in die jeweils biologisch aktive Form als direkt oder indirekt
gruppenübertragende Coenzyme verwendet. Übertragene
Gruppen sind:
4 Wasserstoff (Niacin und Riboflavin),
4 CO2 (Biotin),
4 Acylreste (Pantothensäure)
4 C1-Gruppen (Folsäure, Vitamin B12),
4 Aminogruppen (Pyridoxal).

Die übertragenen Gruppen modifizieren direkt oder indirekt


Proteine oder DNA, was einen erheblichen Beitrag zur Regu-
lation zellulärer Prozesse liefert:
4 Folsäure: DNA-Methylierung (Genaktivität),
4 Niacin: ADP-Ribosylierung (DNA-Reparatur),
4 Pantothensäure: Histonacetylierung (Genaktivität).

Thiamin ist als Coenzym der oxidativen Decarboxylierung


von α-Ketosäuren beteiligt. Ascorbinsäure ist ein effizientes
Reduktionsmittel und hält Eisen- bzw. Kupferionen in Enzy-
men in der für die Katalyse notwendigen reduzierten Form.
Durch die Coenzymfunktion vieler Vitamine verlieren die be-
troffenen Enzyme bei Mangel des entsprechenden Vitamins
an Aktivität. Deshalb kann bei Verdacht auf einen bestimm-
ten Vitamin-Mangel die Enzymaktivität selbst oder die Aus-
scheidung nicht umgesetzter Substrate im Urin Aufschluss
geben.

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60 Essentielle Spurenelemente
Regina Brigelius-Flohé, Petro E. Petrides

Einleitung 60.2 Chrom

Das Leben auf der Erde begann im Wasser, in dem praktisch alle Über die physiologische Bedeutung von Chrom ist wenig be-
Mineralstoffe gelöst sind. Im Laufe der Evolution haben die Organismen kannt. Es wird für den Glucosemetabolismus und zur Vermitt-
gelernt, diese Mineralien, auch einige der selteneren, als Katalysatoren lung der Effekte von Insulin gebraucht. Der Effekt scheint über
oder Botenstoffe zu nutzen. Ihr Stoffwechsel wurde abhängig von ein bestimmtes Protein, low molecular weight chromium binding
solchen »Spurenelementen«. Bei der Eroberung des Landes haben die substance (LMWCr) oder Chromodulin genannt, vermittelt zu
Organismen die inzwischen genetisch fixierte Abhängigkeit von Spu- sein. LMWCr bindet Chrom und erhöht die Tyrosinkinaseakti-
renelementen mitgenommen, waren aber mit einer weit schwierigeren vität des Insulinrezeptors. Die Entwicklung von Typ-2-Diabetes
Situation konfrontiert. Die Spurenelemente sind hier ungleich verteilt, bei postuliertem Chrommangel ist umstritten, da ein solcher
fehlen regional oder kommen in toxisch hohen Konzentrationen vor. So praktisch nicht auftritt.
ist es nicht verwunderlich, dass die Kenntnis der Toxizität verschiedener Chrom konkurriert mit Eisen um Bindestellen im Transfer-
Elemente der Einsicht in ihre Lebensnotwendigkeit vorauseilte. Als rin. Außerdem führt eine erhöhte Eisenkonzentration in der
bezeichnendes Beispiel sei Selen erwähnt, das 150 Jahre lang als übel Hämochromatose zu einer Interferenz mit dem Chromtransport
riechendes Gift bekannt war, bis erst 1957 seine Essentialität für Säuge- über Transferrin, sodass Chrom möglicherweise über Transfer-
tiere entdeckt wurde und gravierende Probleme in der Tierzucht lösen rin transportiert wird.
half. Langwierig war auch die Aufklärung der biologischen Rolle von
Spurenelementen. Sie wirken in aller Regel nicht als solche, sondern als
60 Co-Faktoren oder integrale Bestandteile von Enzymen, Hormonen oder 60.3 Cobalt
anderen biologischen Strukturen.
Cobalt (Co3+) ist Zentralion von Cobalamin (Vitamin B12) und
Schwerpunkte somit an allen entsprechenden Reaktionen und Mangelsympto-
men beteiligt (7 Kap. 59.9, Vitamin B12).
4 Kurze Beschreibung aller essentiellen Spurenelemente und
soweit bekannt ihrer physiologischen Funktion
4 Detailliertere Darstellung von Eisen, Iod, Kupfer und Selen
60.4 Eisen
mit Mangel und Überversorgung
4 Beschreibung der Synthese von Selenoproteinen
Die Menge an Eisen im menschlichen Organismus beträgt 3–4 g.
4 Beziehung zwischen Iod und Selen
Damit ist Eisen mengenmäßig das am häufigsten vertretene
essentielle Spurenelement. 60 % befindet sich in Hämoglobin,
8 % in Myoglobin, 2 % in Häm-Eisenproteinen und 3 % in Nicht-
Häm-Eisenproteinen. 18 % sind in Ferritin und 8 % in Hämosi-
60.1 Definition, Einteilung und Bedarf derin gespeichert. Funktionelles Eisen ist als Fe2+ an Proteine
gebunden, die Speicherform ist Fe3+. Der Organismus vermeidet
Spurenelemente sind Mineralstoffe, die durch ihren nur geringen ein Freiwerden von Fe2+, da dieses mit H2O2 hochreaktive Hyd-
Gehalt im Organismus und ihren geringen Tagesbedarf charak- roxylradikale ( OH) bilden kann (Fenton-Reaktion). Da der
terisiert sind. Ihr Gehalt beträgt weniger als 50 mg/kg Gewebe, Transport von Eisen über Membranen aber nur in der Fe2+-Form
der Tagesbedarf liegt unter 100 mg. Alle anderen Mineralstoffe möglich ist, hat der Organismus ein komplexes Transportsystem
sind Mengenelemente. Spurenelemente werden eingeteilt in zur Vermeidung des Freiwerdens von zweiwertigem Eisen ent-
essentielle und möglicherweise essentielle Spurenelemente. wickelt (. Abb. 60.1).
Essentielle Spurenelemente üben eine definierte biochemische
Funktion aus. Hierzu gehören Chrom, Eisen, Fluor, Iod, Cobalt,
Kupfer, Mangan, Molybdän, Selen und Zink. Möglicherweise 60.4.1 Absorption und Verteilung
essentiell sind Aluminium, Silizium, Arsen, Zinn, Nickel und
Vanadium. Im Folgenden werden nur die essentiellen Spuren- Intestinale Enterocyten nehmen Häm-Eisen über den Häm-Re-
elemente besprochen. Eine Übersicht gibt . Tab. 60.1. zeptor heme carrier protein-1 (HCP1, CD91, SLC46A1) auf. Dieser
Rezeptor ist identisch mit dem Folsäuretransporter PCFT
(7 Kap. 59.8). In der Zelle wird Häm von der Häm-Oxygenase aus

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_60, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
60.4 · Eisen
737 60

. Tab. 60.1 Essentielle Spurenelemente

Element Vorkommen Funktion Täglicher Mangelsymptome


Bedarf (mg)a

Chrom Fleisch, Leber, Eier, Pilze Cofaktor im Insulinsignaltransfer, 0,03–0,1 Erniedrigte Glucosetoleranz,
Bestandteil des Glucosetoleranz- insulinresistente Hyperglykämie
faktors

Cobalt Hülsenfrüchte, Nüsse, Weizenkeime Nur als Bestandteil von Vitamin B12 Unbekannt s. Vitamin B12
essentiell

Eisen Fleisch, Brot, Gemüse O2-Transport, Elektronenübertra- 12–15 Anämie, Müdigkeit


gung, enzymatische Katalyse

Fluor Angereichertes Speisesalz, Bestandteil von Knochen und 3,1–3,8 Gestörte Zahnbildung, Karies
Schwarztee, in Abhängigkeit von Zähnen
der Herkunft auch Trinkwasser

Iod Angereichertes Speisesalz, See- Aufbau von Schilddrüsen- 0,2 Kropf, Kretinismus
fische, in Abhängigkeit von der hormonen
Herkunft, auch Trinkwasser

Kupfer Fisch, Schalentiere, Innereien, Elektronentranport in der Atmungs- 1–1,5 Menkes-Syndrom, Osteoporose,
grünes Gemüse, Getreide, Nüsse, kette, enzymatische Katalyse Pancytopenie
Kakao, Kaffee, Tee

Mangan Pflanzen Enzymatische Katalyse 2–5 Reproduktionsstörungen, Wachs-


tumsverzögerung

Molybdän Getreide, Hülsenfrüchte Enzymatische Katalyse 0,05–0,1 Neurologische und Stoffwechsel-


störungen

Selen Fleisch, Fisch, Eier, abhängig vom Enzymatische Katalyse (mindes- 0,07–0,1 Gestörte Spermienreifung, (Kardio-)
Selengehalt der Böden in Gemüse tens 25 Selenoproteine) Myopathien, Osteoarthritis

Zink Fleisch, Milch, Eier Struktur von Proteinen (Zinkfin- 7–10 Infektanfälligkeit, Fertilitätsstörun-
ger), Speicherung von Insulin, gen, Verzögerung der Wundheilung,
enzymatische Katalyse Dermatitis, Alopezie
aQuelle: DACH, Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2012). Angaben für Erwachsene (Frauen – Männer).

dem Porphyrinring entfernt. Nicht-Häm-Eisen wird von der duo- Der Rezeptor und Transferrin werden rezykliert 4 und Transfer-
denalen Ferrireduktase (Dcytb) in der Fe2+ Form gehalten und rin über Exocytose wieder ans Blut abgegeben 5 . Der TfR ist mit
über den divalent metal transporter-1 (DMT1) in die Zelle trans- dem HFE-Protein (high Fe, hereditäre Hämatochromatose) asso-
portiert (. Abb. 60.1A). DMT1 (SLC11A2) gehört zu den solute ziiert, einem MHC-1-ähnlichen Protein, das die Aufnahme von
carrier Proteinen (SLC) der Familie 11, die H+-gekoppelt trans- Eisen in die Zelle reguliert. Cytosolisches Eisen wird je nach Be-
portieren. Eisen in Dcytb wird von Vitamin C im zweiwertigen darf in Proteine eingebaut, an Ferritin zur Speicherung gebunden
Zustand gehalten, was die Förderung der Eisenresorption durch oder über Ferroportin wieder in die Zirkulation zur Versorgung
Vitamin C erklärt. In der Zelle wird Eisen entweder als Fe3+ in der peripheren Gewebe abgegeben 6 . Die Oxidation zum Fe3+
Ferritin gespeichert oder über einen bisher unklaren Mechanis- geschieht durch die Ferroxidase Caeruloplasmin, dem Homolo-
mus von der apikalen zur basolateralen Seite transportiert. Es wer- gen zum Hephaestin der Intestinalzellen.
den ein Chaperon-vermittelter Transport mit dem shuttle protein
Mobilferrin als Fe2+ oder ein vesikulärer Transport diskutiert. An
der basolateralen Membran wird Eisen wieder in Form von Fe2+ 60.4.2 Regulation der Eisenhomöostase
über Ferroportin (FPN1, SLC40A1, SLC11A3, auch iron regulated
gene-1, IREG1, genannt) in die Zirkulation ausgeschleust. Noch an Die Regulation des Eisenstoffwechsels erfolgt über Eisen selbst
der Membran wird Fe2+ über die Kupfer-haltige Ferroxidase He- oder über Hepcidin.
phaestin wieder zu Fe3+ oxidiert. Der Transport im Blut erfolgt Die mRNAs der leichten und schweren Kette von Ferritin und
gebunden an Transferrin (Tf), die prozentuale Beladung von des TfR besitzen in ihren nicht-codierenden Bereichen (untrans-
Transferrin mit Eisen wird als Transferrinsättigung, bezeichnet. lated region, UTR) typische Sekundärstrukturen, sog. iron-res-
Mit Eisen beladenes Transferrin wird über den Transferrinrezep- ponsive elements (IRE) (. Abb. 60.2). In den mRNAs für Ferri-
tor (TfR) in die Leber endocytiert 1 . Fe3+ wird in den Endosomen tinketten liegt ein IRE in der 5’-UTR, in mRNAs für TfR mehrere
durch Ansäuern freigesetzt, durch die Ferrireduktase STEAP3 zu IREs in der 3’-UTR. An diese bindet bei Eisenmangel ein sog.
Fe2+ reduziert 2 und über DMT1 ins Cytosol ausgeschleust 3 . IRE-bindendes Protein (IRP1 und IRP2). Bindet IRP an 5’-IREs
738 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente

A B

60

. Abb. 60.1 Absorption von Eisen in intestinale Mukosazellen (A) und in Leberzellen (B). Dcytb: duodenales Cytochrom B; DMT1: divalenter Metall-
transporter-1; HFE: für den Gen-Namen high Fe, auch heriditäre Hämatochromatose-Protein; Tf: Transferrin. STEAP3: six transmembrane epithelial antigen
of the prostate-3. (Einzelheiten s. Text)

wie im Ferritin, wird die Translation gestoppt. Es wird kein Ferri- und retikulendothelialen Makrophagen, die absterbende Ery-
tin gebildet, Eisen wird nicht gespeichert und kann verteilt wer- throcyten phagocytieren. Ist genügend bzw. ein Überschuss an
den. Bindet IRP an 3’-IREs wie im TfR, wird die mRNA stabilisiert Eisen vorhanden, wird Hepcidin sezerniert. Es bindet an Ferro-
und die Translation gesteigert. Es wird TfR gebildet und Zellen portin und führt zu dessen Internalisierung und Abbau. Die Ei-
können mit Eisen versorgt werden. IRP1 entsteht aus der cytoso- senfreisetzung wird dadurch unterbrochen. Bei Eisenmangel
lischen Aconitase, einem Fe/S-Protein, das bei Eisenmangel Eisen wird die Hepcidinbildung supprimiert, Ferroportin bleibt an der
und damit seine Aconitaseaktivität verliert und IRP Eigenschaf- Membran, Eisen kann an die Zirkulation abgegeben werden. Die
ten erlangt. Neben den beiden Ferritinketten stehen auch die hepcidinvermittelte Kontrolle der Ferroportinkonzentration ist
δ-Aminolävulinsäuresynthase-1 (δ-ALA-Synthase-1), Ferro- in allen Formen der hereditären Hämochromatose defekt.
portin und DMT1 unter der Kontrolle von IRPs. Bei Eisenmangel
wird δ-ALA-Synthase-1 nicht translatiert und die mRNA des
DMT1 stabilisiert. Die Regulation von Ferroportin ist komplex, 60.4.3 Funktionen
es besitzt ein 5’-IRE, wird aber im Darm bei Eisenmangel hoch-
reguliert und bei Eisenüberschuss unterdrückt. In Makrophagen Eisen spielt eine wichtige Rolle beim Transport von Sauerstoff im
dagegen ist die Regulation wie die von Ferritin. Blut und beim Elektronentransport in der Atmungskette. Eisen
Hepcidin ist ein cysteinreiches Peptidhormon mit 25 Ami- kann Häm-gebunden oder Nicht-Häm-gebunden, dann meist
nosäuren. Es wird von der Leber gebildet und reguliert die Eisen- als Fe/S-Cluster, vorliegen. Eine Übersicht über eisenhaltige Pro-
homöostase vornehmlich über den Export aus der Mukosazelle teine gibt . Tab. 60.2.
60.4 · Eisen
739 60

. Abb. 60.2 Regulation der Expression von Ferritin und Transferrin-Rezeptor durch Eisen über das iron-regulatory protein-1 (IRP-1). Fe: Eisen; IRE: iron-
responsive element; TfR: Transferrinrezeptor. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach O’Halloran 1993)

60.4.4 Pathobiochemie
. Tab. 60.2 Funktionen von Eisen in Proteinen
Eisenmangel ist weit verbreitet und betrifft etwa 30 % der Weltbe-
Enzym/Protein Funktion
völkerung. Ursachen sind Eisenverluste durch Blutspenden,
Häm-Eisen-Proteine Menstruation und Schwangerschaft, (unerkannte) Darmblutun-
Hämoglobin O2-Transport (7 Kap. 68.2)
gen oder gestörte Resorption, z. B. bei Sprue, chronischer Gastri-
tis, oder hoher Aufnahme von absorptionshemmenden Liganden,
Myoglobin O2-Bindung und Speicherung
wie z. B. Tanninen, Ligninen oder Phytaten. Häufigstes Symptom
(7 Kap. 5.3)
ist die hypochrome mikrocytäre Anämie. Bei fortgeschrittenem
Cytochrome Elektronentransport (z. B. Atmungskette, Eisenmangel kommt es zur Atrophie der Mundschleimhaut,
Biotransformationen) (7 Kap. 19, 62.3)
Mundwinkelrhagaden, brüchigen Nägeln und Haaren.
Katalase Reduktion von H2O2 in Peroxisomen Bei chronischen Entzündungen wird Hepcidin durch IL-6,
(7 Kap. 20) einem proinflammatorischen Cytokin, induziert. Dies hat die
Myeloperoxidase bildet Hypochlorit (7 Kap. 70.2) gleiche Wirkung wie ein Eisenüberschuss, die Eisenaufnahme
wird durch Abbau von Ferroportin verhindert, es kommt zu
Cyclooxygenase bildet Prostaglandine (7 Kap. 22.3)
Eisenmangel und Anämie (der chronischen Entzündung).
Thyreoperoxidase bildet Schilddrüsenhormone Die Hämochromatose kann durch Mutationen in verschie-
(7 Kap. 41.2)
denen, für den Eisenstoffwechsel wichtigen Genen verursacht
Nicht-Häm-Eisenproteine werden. Die häufigste Hämochromatose-Form ist die HFE-Hä-
NADH-Dehydrogenase Atmungskette, Komplex I (7 Kap. 19)
mochromatose, bei der Mutationen in den Positionen 282 (C>Y),
65 (S>C) oder 63 (H>D) auftreten können. Durch die Aktivie-
Succinatdehydrogenase Atmungskette, Komplex II (7 Kap. 19) rung des HFE-Proteins kommt es zu vermehrter Eisenresorption
Xanthinoxidase Purinabbau (7 Kap. 29.4) im oberen Dünndarm und damit zu Eisenablagerungen in Leber,
Prolylhydroxylase Hydroxylierung von z. B. Kollagen
Pankreas, Haut, Hypophyse und Herzmuskel. Die HFE-Hämo-
(7 Kap. 71.1) chromatose wird autosomal rezessiv vererbt. Ziel der Therapie ist
eine Entleerung der Eisenspeicher, die am besten durch regel-
Ribonucleotid Reduktase Synthese von Desoxyribonucleosid-
Diphosphaten (7 Kap. 30.2)
mäßge Aderlässe erreicht wird. Eine kostenaufwändige Behand-
lung mit Eisenchelatbildnern, wie z. B. Deferasirox ist nur bei
740 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente

Hämochromatose-Patienten angezeigt, die schlechte Venen oder


einen niedrigen Hämoglobinwert haben. Neben der HFE-Hämo-
chromatose kommen seltenere Formen vor, bei denen die Gene
für Ferroportin, den Transferrinrezeptor, Hepcidin oder Hämo-
juvelin, einem weiteren Protein, das an der Regulation des Eisen-
stoffwechsels beteiligt ist, betroffen sind.

60.5 Fluor

75 % des Fluors im Organismus befindet sich im Knochen und


in den Zähnen. Fluorid wird im Magen und im Dünndarm ab-
sorbiert und schnell von mineralisierten Geweben (Knochen
und Zähne) aufgenommen. In weichem Gewebe ist es praktisch
nicht zu finden. Obwohl seine Rolle in der Zahnentwicklung
unumstritten ist, ist seine Essentialität nicht ganz geklärt. Es wird
zur Vermeidung von Karies und auch zur Behandlung von Os-
teoporose eingesetzt.

60.6 Iod

Iod ist Bestandteil der Schilddrüsenhormone T3 und T4. Diese


steuern Entwicklung, Wachstum, Grundumsatz, Thermoregula-
tion und viele Stoffwechselreaktionen (7 Kap. 41.2).
Auf Iodmangel reagiert die Schilddrüse mit gesteigertem
Wachstum, es kommt zur Kropfbildung (Struma), was als Kom-
60 pensationsversuch gesehen werden kann. Auch die übergeord-
neten Steuerungszentren Hypophyse und Hypothalamus versu-
chen über die Freisetzung von Thyroidea-stimulierendem Hor-
mon (TSH) bzw. thyrotropin releasing hormone (TRH) die
Schilddrüsenhormonproduktion zu erhöhen. Schwerer Iodman-
gel führt zu zwei verschiedenen Formen von Kretinismus, dem
. Abb. 60.3 Iod und Selen in der Schilddrüsenhormonfunktion.
myxödematösen Kretinismus, der mit einem Selenmangel ge- Grüne Pfeile geben den Effekt eines Iodmangels, rote den Effekt eines Selen-
koppelt ist, und dem neurologischen Kretinismus (. Abb. 60.3). mangels an. TSH: Thyroidea-stimulierendes Hormon, GPx3: Glutathion-
Peroxidase-3, TrxR: Thioredoxin-Reduktase

60.6.1 Pathobiochemie
mangel besteht, kann H2O2 reduziert werden. Es kommt zum
Myxödematöser Kretinismus Symptome des myxödematösen Kre- Struma wegen der geringen Zerstörung von Schilddrüsengewebe
tinismus sind mentale Retardierung, dysproportionaler Kleinwuchs, und zur T3-Produktion. Dadurch bleibt weniger T4 für die Ver-
Myxödeme (ödematös-teigige Infiltration im Gesicht und an den sorgung des Gehirns und es entwickeln sich neurologische Sym-
Extremitäten), aber keine Strumabildung, da das Schilddrüsenge- ptome. Besonders eklatant sind die geschilderten Situationen in
webe atrophiert. Diese Form von Kretinismus ist meist mit einem der Schwangerschaft. Ist die Mutter iodarm, aber selenadäquat,
Selenmangel und damit geringer Produktion von Selenoproteinen entwickelt sich beim Kind ein neurologischer Kretinismus, da
verbunden. Das hat zur Folge, dass das bei der Schilddrüsenhor- das fetale Gehirn T4 benötigt. Ist die Mutter iod- und selenarm,
monproduktion anfallende H2O2 nicht reduziert wird. Somit wird entwickelt das Kind einen myxödematösen Kretinismus ohne
Schilddrüsengewebe zerstört (keine Glutathion-Peroxidase-3, geistige Behinderung. Bei gleichzeitigem Iod- und Selenmangel
GPx3, 7 Kap. 60.10) und weniger Triiodthyronin aus Tetraiodthyro- hat die Substitution mit Iod Vorrang, da eine alleinige Selensub-
nin (keine 5ʹ-Deiodinasen, 7 Kap. 60.10) gebildet. Die dadurch trotz stitution die T4-Lage weiter verschlechtern würde und kein H2O2
Iodmangel relativ hohe Konzentration von T4 im Plasma stellt die für die Thyreoglobinsynthese bereit stehen würde.
Versorgung des Gehirns sicher, das auf T4 und nicht T3 angewiesen
ist. Die neurologischen Symptome sind deshalb weniger ausgeprägt.
60.7 Kupfer
Neurologischer Kretinismus Beim neurologischen Kretinismus
treten mentale Defekte, Taubheit, spastische Lähmungen und Der Gehalt an Kupfer im menschlichen Organismus ist mit 80–
Schielen, verbunden mit Strumabildung auf. Da hier kein Selen- 100 mg für ein Spurenelement relativ hoch. Es wird nur von
60.10 · Selen
741 60
Eisen und Zink übertroffen. Kupfer liegt vorwiegend proteinge-
bunden vor, 80‒90 % davon in der Ferroxidase Caeruloplasmin
(7 Kap. 60.2.3). Weitere Cu-Enzyme sind Cytochrom-c-Oxidase
in der Atmungskette, Cu,Zn-Superoxiddismutase (SOD), Me-
tallothionein, Dopamin-β-Hydroxylase, Tyrosinase, Monoamin-
oxidase und Lysyloxidase. Im Darm wird Kupfer aktiv und sät-
tigbar über einen noch unbekannten Transporter (möglicher-
. Abb. 60.4 Struktur des Molybdän Cofaktors (Moco)
weise den divalenten Metalltransporter DMT1, . Abb. 60.1) re-
sorbiert und über die Menkes-ATPase (ATP7A, MNK) über die
Basolateralmembran an die Zirkulation abgegeben. ATP7A wird
ubiquitär exprimiert, aber nicht in der Leber. Kupfer gelangt an
Albumin oder Transcuprein gebunden zur Leber und wird dort 60.8 Mangan
über den Ctr1 (copper transporter, SLC31) aufgenommen. In der
Leber wird Kupfer über Metallchaperone transportiert, da auch Mangan ist Bestandteil von Enzymen des Kohlenhydrat-, Amino-
Cu2+/Cu+ mit H2O2 OH-Radikale bilden kann. Der Transport säure- und Cholesterinstoffwechsels, z. B. sind die Pyruvatcar-
zum Golgi-Apparat, wo die Synthese von Caeruloplasmin statt- boxylase und die Arginase (Harnstoffzyklus) Manganenzyme,
findet, erfolgt durch Atox1, zu den Mitochondrien für die Cyto- die Phosphoenolpyruvatcarboxykinase (PEPCK) wird von Mn
chrom-c-Oxidase-Synthese durch Cox17 und zu den Ribosomen aktiviert. Außerdem ist Mangan Cofaktor für Glykosyltransfera-
für die Synthese von SOD durch CCS (copper chaperone for su- sen, die für die Synthese von Proteoglykanen zuständig sind. Die
peroxide dismutase). In der Membran des Golgi befindet sich eine Prolidase stellt Prolin für die Kollagenbiosynthese in der Haut
zweite, leberspezifische ATPase, die Wilson ATPase ATP7B, über bereit. Prolidasedefizienz ist genetisch bedingt und durch eine
die Kupfer in den Golgi-Apparat aufgenommen wird. Bei erhöh- Störung der Wundheilung charakterisiert. Spezifische Mechanis-
ten Kupferkonzentrationen verlagert sich ATP7B an die kanali- men für die Aufnahme und den Transport von Mangan sind
kuläre Membran und exportiert Kupfer in die Galle. ATP7B hat nicht bekannt. Es gibt aber Hinweise, dass es den DMT1 mit Ei-
somit zwei Aufgaben: sen teilen könnte.
4 sie stellt Kupfer für den Einbau in Caeruloplasmin und da-
mit für seine Verteilung im Organismus zur Verfügung und
4 reguliert gleichzeitig die Kupferhomöostase indem sie 60.9 Molybdän
Kupfer, wenn dessen Konzentration zu hoch wird, zur
Ausscheidung in die Galle transportiert. Die biologisch wirksame Form von Molybdän ist der Molybdän-
cofaktor (Moco), in dem Molybdän einen Komplex mit Molyb-
dopterin bildet (. Abb. 60.4). Molybdän ist an die beiden Schwe-
60.7.1 Pathobiochemie felatome koordiniert und hat noch 3 andere Liganden, die aus
verschiedenen Enzymen stammen. Beim Menschen ist Molyb-
Die Ursache des Menkes-Syndroms ist eine seltene X-chromoso- dän Bestandteil der Flavoenzyme Sulfitoxidase, Xanthinoxidase
mal rezessiv vererbte Mutation im ATP7A-Gen, die eine Störung und Aldehydoxidase. Moco-abhängige Enzyme katalysieren den
der Kupferresorption und Kupferverwertung bei Jungen zur Fol- Transfer eines Sauerstoffatoms von H2O auf das entsprechende
ge hat. Symptome sind ein pigmentarmer Spindelhaarwuchs Substrat (RH + H2O ROH + 2e‒ + 2H+) nach einem nicht
(kinky hair disease), Minderwuchs, verminderter Muskeltonus, endgültig geklärten Mechanismus.
Krampfanfälle und psychomotorische Entwicklungsstörungen.
Im Kleinhirn zeigt sich eine ausgeprägte Nekrose der Purkinje-
Zellen. Die Jungen sterben meist im 2. Lebensjahr an den Folgen 60.10 Selen
der cerebralen Degeneration. Morbus Wilson ist eine autosomal
rezessiv vererbbare Krankheit, bei der sich progressiv Kupfer in Selen ist kein Antioxidans, sondern ein
der Leber und im zentralen Nervensystem anreichert. Ursache ist Element, das in zahlreichen chemischen
eine Mutation im Gen für ATP7B. Kupfer akkumuliert in den Verbindungen vorkommt und als Selenocystein
Hepatocyten, was zu Leberfibrose und -zirrhose führt. Durch die integraler Bestandteil von Selenoproteinen ist
Zersetzung der Zellen gelangt freies Kupfer in die Zirkulation und Das Element Selen (Se) wurde 1817 von Jöns Jakob Berzelius
verursacht die typischen neurologischen und psychiatrischen entdeckt und nach der griechischen Göttin des Mondes, Selene,
Symptome. Kupfereinlagerungen in der Hornhaut des Auges bil- benannt. Selen galt lange als toxisch und wurde erst 1957 von
den den sog. Kayser-Fleischer-Ring. Weitere betroffene Organe Klaus Schwarz als essentiell erkannt. In Säugetieren liegt Selen als
sind Niere, Knochen und Herz. Außerdem kann die sexuelle Ent- Selenocystein (Sec) in sog. Selenoproteinen vor. Das menschli-
wicklung verzögert sein. Bei einer frühzeitigen Diagnose und che Genom enthält 25 für Selenoproteine codierende Gene
anschließenden Therapie mit Kupfer-Chelat-Bildnern können (. Tab. 60.3).
Patienten ein normales Alter erreichen. Von vielen Selenoproteinen ist die Funktion noch nicht be-
kannt. Selenocystein wird von UGA codiert, eines der drei
Stopp-Codons. Um zwischen UGA für Stopp und UGA für Sec
742 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente

A
. Tab. 60.3 Beim Menschen vorkommende Selenoproteine

Glutathionperoxidasen (GPx)
GPx1, cGPx, cytosolisch Reduktion von Hydroperoxiden,
Antioxidans
GPx2, gastrointestinal Barrriere gegen Hydroperoxid-
resorption? Aufrechterhaltung der
Mukosahomöostase? Hochregu-
liert in Krebszellen und Entzün-
dung
GPx3, extrazellulär Reduktion von Hydroperoxiden,
speziell in der Schilddrüse
GPx4, Phospholipid- Embryonale Entwicklung,
hydroperoxid GPx Spermienreifung B
GPx6, GPx3-Homolog Antioxidativer Schutz im olfaktori-
schen Epithel?

Thioredoxinreduktasen (TrxR)
TrxR1 Reduktion von Thioredoxin,
oxidierten Thiolgruppen
TrxR2 Reduktion von Thioredoxin in
Mitochondrien
TrxR3 (TGR) Thioredoxin-/Glutathionreduktase,
testesspezifisch

Iodothyronin Deiodinasen Stoffwechsel der Schilddrüsen-


hormone
5’-Deiodinase-1 T3-Synthese in Leber, Niere,
Schilddrüse, Hypophyse
5’-Deiodinase-2 T3-Synthese in Schilddrüse, Hypo-
physe, ZNS, Muskel, braunem
Fettgewebe
60 5-Deiodinase-3 Abbau von T3 und T4 in Plazenta, C
Haut, ZNS

Selenophosphatsynthetase 2 Synthese von Selenophosphat für


(SPS2) die Selenoproteinbiosynthese

Selenoprotein P Selentransport und Verteilung

Selenoprotein R (auch SelX), Reduktion von Methioninsulfoxid


ist MsrB2 in Proteinen

Selenoprotein S Humanes Homolog zu Tanis,


. Abb. 60.5 Biosynthese von Selenoproteinen. A Bildung von Seleno-
einem Typ2-Diabetes-assoziierten
phosphat. B Selenocystein-Translations-Komplex. C mRNA für Selenoprotei-
Mausprotein, ER Enzym, Immun-
ne mit Secis Struktur. Secis: selenocysteine incorporation sequence; Sec: Sele-
abwehr?
nocystein; SPS2: Selenophosphatsynthetase 2. SBP2: Secis binding protein 2;
Selenoprotein N ER Protein, Deletion ist assoziiert eEFsec: Selenocysteinspezifischer Elongationsfaktor; Rpl30: ribosomal prote-
mit rigid spine disease, Glycosylie- in L30. Einzelheiten s. Text
rung von Dystroglycan?

Redoxine
Selenoprotein W Muskelprotein, interagiert mit zu unterscheiden, haben Organismen einen komplexen Trans-
14-3-3 (Bindungspartner von lationsmechanismus entwickelt, der mehrere einzigartige Ele-
Phosphoproteinen) mente beinhaltet (. Abb. 60.5):
Selenoprotein H DNA-bindendes Protein? Regula-
4 Eine charakteristische Haarnadelstruktur im 3ʹ-UTR der
tor von Phase-II-Enzymen
Selenoprotein T Golgi- und ER-Protein, Ca2+ mRNA für Selenoproteine wird Secis (für selenocysteine in-
Homöostase serting sequence) genannt und ist für die Übersetzung von
Selenoprotein V Testes Variante von Selenoprotein UGA in Sec unabdinglich. Die Sequenz enthält Nicht-Wat-
W, Golgi-Protein son-Crick-Paarungen (A-G, G-A) im Stamm der Sekundär-
15-kDa Selenoprotein Komplex mit UDP-Glucose: Glyko-
struktur.
protein-Glucosyltransferase 1 im
ER. Proteintransport 4 Eine für Sec spezifische tRNA, tRNA(ser)sec wird zunächst
mit Serin beladen und aus diesem Sec synthetisiert. Hierfür
Selenoprotein I, K, M, O Bisher nur als Sequenz beschrieben.
M und K im ER lokalisiert
wird Selenophosphat benötigt, das in einer von der Seleno-
phosphatsynthetase (SPS) katalysierten Reaktion aus Sele-
nid (H2Se) und ATP gebildet wird. Die SPS2 ist selbst ein
Selenoprotein (. Tab. 60.3).
60.11 · Zink
743 60
4 Eine Reihe von Proteinen stabilisieren über die Bindung an 60.10.1 Pathobiochemie
die Secis (SBP2), die tRNA (EFsec) und das Ribosom
(Rpl30) den Sec-Translations-Komplex . Nach Einbau von Schwere Selenmangelkrankheiten tauchten endemisch in be-
Sec in die wachsende Peptidkette dissoziiert der Komplex. stimmten Regionen von China auf, in denen die Böden extrem
Der Einbau der nächsten Aminosäure geschieht dann nach selenarm sind. Die Keshan-Krankheit ist eine Kardiomyopathie,
dem üblichen Schema. die mit einer Coxsackie-Virus-Infektion zusammen auftritt.
Die Kashin-Beck-Krankheit ist eine ebenfalls endemische Os-
Aus der Nahrung wird Selen in Form von Selenit, Selenocystein teoarthritis, die mit einer Pilzinfektion assoziiert ist. Beide
oder Selenomethionin aufgenommen. In pflanzlicher Nahrung Krankheiten können durch Supplementation mit Selen verhin-
finden sich auch andere Selenverbindungen, wie z. B. Seleno- dert werden.
methylselenocystein und andere methylierte Selenverbindun- Symptome eines Selenmangels sind generell verzögertes
gen, die erst kürzlich identifiziert worden sind. Selenverbindun- Wachstum und Haarausfall. Es entwickeln sich speziesspezifisch
gen müssen zu Selenid metabolisiert werden, um in Selenopro- exudative Diathesen, Lebernekrosen, Myopathien und Kardio-
teine eingebaut werden zu können (s. o.). Dies geschieht bei Se- myopathien. Auftretende Reproduktionsstörungen beruhen auf
lenit durch Reduktion, bei Selenocystein durch Spaltung in H2Se einer gestörten Spermatogenese (die GPx4 ist ein Bestandteil der
und Alanin durch eine β-Lyase und bei Selenomethionin durch mitochondrialen Matrix im Mittelstück eines Spermatozoons).
Umwandlung in Selenocystein im Transsulfurierungsweg (7 Kap. Mangelnde Selenversorgung wird mit einer erhöhten Inzidenz
27.2.4) und nachfolgende β-Lyasereaktion. der Krebsentstehung assoziiert.
Selenoproteine werden entsprechend einer gewissen Hierar- Je nach chemischer Form kann Selen schnell toxisch werden.
chie mit Selen versorgt, die sowohl Organe als auch individuelle Intoxikationen machen sich durch Appetitlosigkeit, wässrigen
Selenoproteine betrifft. Das heißt, einige Selenoproteine werden Durchfall, Bewegungsstörungen, Fieber, Herzrasen, Kurzatmig-
bei Selenmangel nicht mehr gebildet, andere auch noch bei keit und Lungenödeme bemerkbar. Chronische Vergiftungen
knapp werdendem Angebot. Letztere stehen höher in der Hier- manifestieren sich in Ataxien, Sehstörungen, geschwollenen Au-
archie und haben offenbar eine wichtigere Funktion als niedrig genlidern und auch Tod durch Atemstörungen. Typisches Kenn-
stehende. Organe des reproduktiven und endokrinologischen zeichen ist ein Knoblauchgeruch der Atemluft, der durch das
Systems und das Gehirn werden bevorzugt mit Selen versorgt. Ausatmen von methyliertem Selenid verursacht wird. Die obere
Unter den hoch in der Hierarchie stehenden Selenoproteinen tolerierbare tägliche Dosis wird mit 400 µg angegeben.
befinden sich die Glutathionperoxidasen 2 und 4, die Thiore-
doxinreduktasen und die Deiodinasen 2 und 3. Die mRNA von
niedrig stehenden Selenoproteinen wird im Selenmangel abge- 60.11 Zink
baut, die von hoch stehenden bleibt stabil.
Der Gesamtbestand an Zink im Körper eines Erwachsenen be-
trägt ca. 2 g, von denen sich 70 % in Knochen, Haut und Haaren
Übrigens befinden. Die Aufnahme und Verteilung von Zink geschieht
Die Erweiterung des genetischen Codes über Zinktransporter der ZnT-Familie (SLC30) und der ZIP-
1972 wurde sowohl in den USA als auch von einer Tübinger Familie (SLC39; Zinc-regulated transporter, iron-regulated
Arbeitsgruppe der Verdacht geäußert, die Glutathionperoxi- transporter-like protein). Mitglieder der ZnT-Familie sorgen für
dase (damals kannte man nur die spätere GPx1) könnte eine Abnahme des Zn-Gehalts einer Zelle, indem sie den Efflux
Selen enthalten. Die Aminosäuresequenzanalyse bestätigte regulieren. In der Mukosazelle wird Zink über den ZnT4 aufge-
dies und identifizierte Selenocystein als integralen Bestand- nommen und von ZnT5 wieder abgegeben. Mitglieder der ZIP-
teil der GPx. Die von verschiedenen Gruppen vorgenommene Familie erhöhen den zellulären Zn-Gehalt durch Aufnahme oder
DNA-Sequenzierung ergab konsistent an der Sec Position Freisetzen aus Speichern. Zn wird über Albumin zur Leber oder
ein TGA, das Stopp bedeutet, und deshalb die Forscher lange zu peripheren Geweben transportiert.
glauben ließ, es handele sich um einen Sequenzierfehler. Zink wirkt als struktureller, katalytischer oder regulatori-
Erst 1986 traute sich ein schottischer Hämatologe, der scher Faktor von über 300 Enzymen, zu denen die Carboanhy-
eigentlich nach der Bedeutung einer cDNA aus Erythroblasten drase, Cu,Zn-Superoxiddismutase, Pankreascarboxypeptidase,
suchte, die sich als GPx-Homolog erwies, das TGA als Sec- Alkohol-, Glutamat-, Malat-, Lactat- und Retinoldehydrogena-
Codon zu publizieren. Gleichzeitig wurde dies von einer sen, tRNA-Synthetasen, DNA/RNA-Polymerasen, alkalische
Münchner Arbeitsgruppe für ein bakterielles Selenoprotein Phosphatase und Matrixmetalloproteinasen gehören. Es stabili-
bestätigt. Dies war die erste Ausnahme in der Universalität siert durch die Ausbildung sog. Zinkfinger 7 Kap. 47.2.2 beson-
des genetischen Codes seit seiner Entdeckung 1966. ders nucleäre Rezeptoren, die als Transkriptionsfaktoren wirken
(7 Kap. 35.1). Des Weiteren ist Zink für die Speicherung von
Insulin in der Bauchspeicheldrüse in Form des Zink/Insulin-
Komplexes notwendig (7 Kap. 36.2). Es ist auch an der Wund-
heilung und Immunabwehr beteiligt und für die normale Zell-
proliferation und Wachstums- und Differenzierungsprozesse
notwendig.
744 Kapitel 60 · Essentielle Spurenelemente

Zusammenfassung
Nicht alle Spurenelemente sind bisher sehr gut untersucht,
z. B. weiß man über Chrom nur die Verbindung zu Insulin,
von Cobalt seine Bedeutung in Vitamin B12, von Fluor seine
Beteiligung am Knochen- und Zahnaufbau, von Mangan
und Molybdän ihre Rolle als Cofaktor in Enzymen. Dagegen
ist die Biochemie der nachfolgend genannten Spuren-
elemente klarer:
Eisen ist in Form von Häm oder Fe/S-Clustern Bestandteil
vieler Proteine. Es dient als O2-Transporter oder Elektronen-
überträger. Für Letzteres muss es seine Oxidationsstufe
ändern: Fe2+ Fe3+. Da Fe2+ in Gegenwart von H2O2
OH-Radikale bildet, wird ein Freiwerden von Fe2+ streng
vermieden. In Form von Fe3+ wird Eisen in Ferritin in der
Zelle gespeichert und mit Transferrin im Blut transportiert.
Für den Transport über die Zellmembran muss Eisen als Fe2+
vorliegen und wird von Ferrireduktasen reduziert. Ferroxida-
sen sorgen für die Rückoxidation beim Transport aus der
Zelle über Ferroportin.
Iod ist durch seinen Einbau in Schilddrüsenhormone
essentiell.
Kupfer ist Bestandteil der Cytochrom-c-Oxidase im Kom-
plex IV in der Atmungskette. Seine Absorptions- und Vertei-
lungswege sind relativ gut untersucht. Defekte in Genen für
Kupfertransportproteine führen zu schweren Krankheiten.
So führt eine Mutation in ATP7A zu einer Fehlverteilung von
60 Kupfer mit schwerem Mangel in Leber und Gehirn, dem
Menkes-Syndrom, eine Mutation in ATP7B zu Morbus Wilson,
einer Kupferakkumulation.
Selen ist als Selenocystein in mindestens 25 Selenoproteine
eingebaut, von denen die am besten untersuchten die
Glutathionperoxidasen, die Deiodinasen und die Thiore-
doxinreduktasen sind. Selenocystein wird von UGA codiert,
was die Entwicklung eines komplexen Translationssystems
erforderte, um zwischen UGA als Stopp Codon und UGA als
Selenocystein-spezifisches Codon zu unterscheiden.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


745 61

61 Gastrointestinaltrakt
Georg Löffler, Joachim Mössner

Einleitung α-Amylase, die Stärke bis zur Maltose hydrolysiert. Infolge


ihrer geringen Aktivität und der kurzen Verweildauer der
Der Gastrointestinaltrakt ist für die Nahrungsaufnahme und damit für Speise in der Mundhöhle spielt sie allerdings nur eine gerin-
die Energieversorgung des Organismus von entscheidender Bedeutung. ge Rolle bei der Verdauung. Das pH-Optimum des Ptyalins
Die Nahrungsaufnahme wird in die beiden Phasen Verdauung und Re- liegt bei 6,7, bei pH-Werten unter 4 wird das Enzym rasch
sorption eingeteilt. Die Funktion des ersteren Vorgangs beruht auf der inaktiviert, sodass es im sauren Milieu des Magens nicht
durch die Verdauungsenzyme katalysierten hydrolytischen Spaltung mehr wirksam ist.
hochmolekularer Nahrungsstoffe in ihre monomeren Bausteine. Diese
werden dann durch den Vorgang der Resorption in die Blutbahn bzw.
das Lymphsystem aufgenommen. 61.1.2 Magensaft
Schwerpunkte Die in der Magenschleimhaut gelegenen Magendrüsen produzie-
ren täglich etwa 3.000 ml Magensaft, dessen Bestandteile von den
4 Sekrete der Speicheldrüsen, der Magenschleimhaut, des
verschiedenen sekretorischen Zellen der Magenschleimhaut ge-
Pankreas und des Duodenums sowie die Gallenflüssigkeit
bildet werden. Für die Produktion der einzelnen Bestandteile des
4 Das endokrine System des Intestinaltrakts
Magensaftes sind jeweils unterschiedliche Epithelzellen verant-
4 Verdauung und Resorption von Kohlenhydraten, Proteinen
wortlich:
und Lipiden
4 Die Nebenzellen des Antrums produzieren im Wesent-
4 Resorption und Sekretion von Wasser und Elektrolyten
lichen das für den Schutz der Magenschleimhaut vor
4 Störungen der Verdauung und Resorption von Nahrungs-
Selbstverdauung notwendige Mucin.
stoffen
4 Die Parietalzellen (Belegzellen) des Magenfundus und
4 Das Immunsystem des Intestinaltrakts
Corpus sezernieren die für den Magensaft charakteristische
Salzsäure.
4 Die Protease Pepsin wird in den Hauptzellen der Magen-
61.1 Verdauungssekrete schleimhaut gebildet.

61.1.1 Speichel Die Parietalzellen produzieren HCl


und den intrinsic factor
In den Parotiden und den submaxillaren und sublingualen Spei- . Abb. 61.1 zeigt die Vorgänge bei der Salzsäuresekretion durch
cheldrüsen werden je nach Menge und Art der aufgenommenen die Parietalzellen. Morphologisch zeichnen sich diese durch ein
Nahrung pro Tag etwa 1.000–1.500 ml Speichel produziert. Die spezifisches vesikuläres System aus, dessen Membranen nach
Speichelflüssigkeit besteht zu 99,5 % aus Wasser und hat einen Stimulierung der Belegzellen mit den Membranen eines intrazel-
pH-Wert von etwa 7. Sie enthält mehrere unterschiedliche Mu- lulären Kanalsystems fusionieren. Dieses stellt die Verbindung
cine, die die Nahrung gleitfähig machen. Verschiedene körper- mit der luminalen Seite der Belegzellen her. In die Vesikelmem-
fremde Substanzen wie Alkohol oder Morphin, außerdem anor- branen ist eine Protonenpumpe integriert, welche unter ATP-
ganische Ionen wie Kalium, Calcium, Hydrogencarbonat und Verbrauch Protonen im Austausch mit Kaliumionen gegen einen
Jodid werden teilweise in die Speichelflüssigkeit sezerniert. erheblichen Konzentrationsgradienten ins Lumen transportiert.
Die Speichelflüssigkeit enthält eine Reihe von Proteinen: Die Protonenkonzentration im Magensaft kann bis etwa 0,1 mol/l
4 Als antimikrobiell wirkende Komponenten wurden entsprechend einem pH-Wert von 1 betragen. Da die Protonen-
Lysozym, Immunglobulin A, eine Gruppe histidinreicher konzentration intrazellulär bei etwa 10–7 mol/l (pH 7,0) liegt,
Proteine, die Histatine, und die als Proteinaseinhibitoren entspricht dies einem Konzentrationsgradienten von etwa 106.
wirkenden Cystatine identifiziert. Die für den Austausch benötigte Energie entstammt der
4 Von Bedeutung für die Zahnmineralisierung sind die sog. Hydrolyse von ATP mit einer Stöchiometrie von je 2 H+ bzw. K+
prolinreichen Proteine (PRPs) und die Statherine. pro ATP.
4 Mucine machen die Nahrungsbissen gleitfähig und üben Die für die Salzsäureproduktion benötigten Protonen wer-
eine cytoprotektive Wirkung aus. den mithilfe der Carboanhydrase aus CO2 und H2O gebildet.
4 Im Speichel kommt schließlich ein die Stärke verdauendes Das dabei entstehende Hydrogencarbonat wird durch einen auf
Enzym, das Ptyalin, vor. Es handelt sich um eine der basolateralen Seite der Belegzellen lokalisierten Antiporter

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_61, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
746 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

. Abb. 61.1 Mechanismus der Salzsäurebildung in den Belegzellen B


der Magenschleimhaut. Die rot dargestellte H+/K+-ATPase ist imstande,
die luminale H+-Konzentration auf etwa 0.1 mol/l (pH 1) zu erhöhen;
7 tight junction

gegen Chloridionen ausgetauscht, die über einen speziellen


Chloridkanal in das Lumen abgegeben werden. Auch die für das
Funktionieren der Protonenpumpe notwendigen K+-Ionen ge-
langen durch einen entsprechenden Kanal auf die luminale Seite
der Belegzellen.
Salzsäure spielt eine wichtige Rolle in der Pathogenese von
Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren und der Refluxöso-
phagitis. Daher war die Aufklärung der Struktur der Protonen-
61 pumpe des Magens sowie der Regulation ihrer Expression von
großer Bedeutung. . Abb. 61.2A zeigt die aus der Aminosäurese-
quenz abgeleitete Membrantopologie der Protonenpumpe. Es
handelt sich um ein dimeres Protein aus je einer α- und
β-Untereinheit. Die α-Untereinheit ist für die ATP-Bindung, die
ATPase- und die H+/K+-Austauschaktivität verantwortlich, die
stark glycosylierte β-Untereinheit ist für die intrazelluläre Loka-
lisation und die Aktivität der Pumpe notwendig. Strukturell zeigt
die H+/K+-ATPase große Ähnlichkeit mit anderen ATPasen des
P-Typs wie der Na+/K+-ATPase der Plasmamembran oder der
Ca2+-ATPase des endoplasmatischen Retikulums (7 Kap. 11.5). . Abb. 61.2 Lokalisation und Mechanismus der H+/K+-ATPase der Beleg-
zellen der Magenschleimhaut. A Membrantopologie der humanen H+/K+-
Dieser strukturellen Ähnlichkeit entspricht auch eine Ähnlich-
ATPase. Die α-Untereinheit besitzt zehn Transmembrandomänen. Die ATP-
keit im Transportmechanismus (. Abb. 61.2B). Nach der Bin- Bindungsstelle sowie das für den Katalysezyklus wichtige Aspartat 387 be-
dung von H+ auf der cytosolischen Seite erfolgt der Transfer des finden sich auf der cytosolischen, die K+-Bindungsstelle sowie die für die
γ-Phosphats des ATP auf einen Aspartylrest der ATPase, sodass Hemmung durch Omeprazol oder andere Protonenpumpenblocker wie
ein energiereiches gemischtes Säureanhydrid (Acylphosphatbin- Esomeprazol (S-Esomer des Omeprazol), Lansoprazol, Rabeprazol und Pan-
toprazol verantwortlichen Cysteinylreste Cys 815 und Cys 892 auf der lumi-
dung) entsteht 1 . Dies löst den Transport von H+ auf die lumi-
nalen Seite. Pantoprazol bindet noch an weitere Cysteinylreste, sodass die
nale Seite aus 2 . Die Bindung von K+ 3 verursacht die Hy- Bindung möglicherweise stabiler ist. Die β-Untereinheit ist für die zelluläre
drolyse der Acylphosphatbindung und dann den Transport von Lokalisation und die Aktivität der Pumpe verantwortlich. B Katalysezyklus
K+ auf die cytosolische Seite 4 . der H+/K+-ATPase. Dargestellt ist die für den H+/K+-Antiport verantwortliche
Die Entwicklung von spezifischen Hemmstoffen der Proto- Phosphorylierung und Dephosphorylierung des Asp387. (Einzelheiten
s. Text)
nenpumpe der Belegzelle war ein wichtiger Fortschritt in der
Therapie aller Erkrankungen, bei denen die Magensäure eine
pathogenetische Rolle spielt. Diese H+/K+-ATPase-Inhibitoren, der erste Vertreter dieser Substanzklasse, der therapeutisch zum
die sog. Protonenpumpenblocker, hemmen die Säuresekretion Einsatz kam. Protonenpumpenblocker werden als ungeladene
wesentlich effektiver als Antagonisten der Histamin-2-Rezepto- Moleküle von den Belegzellen des Magens aufgenommen und
ren (H2-Blocker) oder der Muskarinrezeptoren, Subtyp 3 (Ace- erfahren im sauren Milieu der Vesikel der Belegzellen eine Um-
tylcholinrezeptorantagonisten wie Pirenzepin). Omeprazol war lagerung zu einem reaktiven Sulfenamid (. Abb. 61.3). Dieses
61.1 · Verdauungssekrete
747 61
denem Pepsin werden in Form verschiedener Peptide insgesamt
44 Aminosäuren des Pepsinogens abgespalten, wobei das aktive
Enzym Pepsin mit einer Molekülmasse von 34,5 kDa entsteht.
Eines der abgespaltenen Peptide wirkt bei neutralem pH als Pep-
sininhibitor, wird aber bei der sauren Reaktion des Magensaftes
rasch vom Pepsin verdaut. Das pH-Optimum des aktiven Pep-
sins liegt bei 1,8. Das Enzym spaltet als Endopeptidase Peptid-
bindungen im Inneren von Peptidketten, besonders leicht dieje-
nigen, an denen aromatische Aminosäuren (Phenylalanin, Tyro-
sin) beteiligt sind. Bei der Pepsinverdauung entstehen Polypep-
tide mit molekularen Massen zwischen 600 und 3.000 Da, die
früher als Peptone bezeichnet wurden.
Pepsinogen kommt in einer seiner Sekretionsrate entspre-
chenden Konzentration im Serum vor und wird auch im Urin
ausgeschieden (Uropepsinogen).
Neben Pepsin findet sich als weiteres proteolytisches Enzym
im menschlichen Magensaft das Gastricin. Es unterscheidet sich
von Pepsin durch sein weniger saures pH-Optimum von 3,0. Sei-
ne Funktion dürfte dem im Magen von jungen Wiederkäuern
vorkommenden Rennin (Labferment, Chymosin) entsprechen.
Das wichtigste Substrat dieser Protease ist das lösliche Casein
(Caseinogen) der Milch, das durch leichte Proteolyse in das un-
lösliche Casein (Paracasein) umgewandelt wird.
Außer diesen Proteasen produzieren die Hauptzellen noch
die Magenlipase. Das pH-Optimum dieses Enzyms liegt bei 4–7.
Es ist relativ säurestabil, da auch bei einem pH von 2 noch kein
Aktivitätsverlust eintritt. Für die Fettverdauung beim Erwachse-
nen spielt es wahrscheinlich keine sehr große Rolle. Man nimmt
dagegen an, dass die Magenlipase bei Säuglingen zur Hydrolyse
. Abb. 61.3 Struktur und Wirkungsweise von Omeprazol. Nach Umlage-
der Milchlipide herangezogen wird, da dieses Enzym eine beson-
rung zum Sulfenamid reagiert das rot hervorgehobene Schwefelatom mit
SH-Gruppen der H+/K+-ATPase. (Einzelheiten s. Text)
dere Affinität zu Triacylglycerinen mit kurzkettigen Fettsäuren
(Kettenlänge 4–8 C-Atome) hat, wie sie in der Milch vorkom-
men.
reagiert mit Cysteinylresten der H+/K+-ATPase und inaktiviert
auf diese Weise das Enzym in der Regel irreversibel. Eine erneu- Die Produktion von Mucinen ist eine Funktion
te HCl-Produktion ist erst nach der Synthese neuer Protonen- der Nebenzellen
pumpen möglich. Reversible Protonenpumpenblocker waren in Seitdem Ferchault de Reaumur im 18. Jahrhundert zeigte, dass
Erprobung. Diese sind aber bislang aufgrund von Nebenwirkun- Magensaft Fleisch verdauen kann, hat es Physiologen und Klini-
gen, z. B. Hepatotoxizität, nicht zur Zulassung gekommen. Diese ker beschäftigt, warum der Magen sich nicht selbst verdaut. Eine
Substanzen konkurrieren kompetitiv mit Kalium um die Auf- Erklärung für dieses Phänomen liefert die Tatsache, dass viele
nahme in die Parietalzellen (PCABs: potassium competitive acid Epithelien von Säugern eine etwa 200–500 µm dicke Schleim-
inhibiting blockers). Der Vorteil dieser Substanzgruppe könnte schicht synthetisieren können, die zwischen dem Epithel und der
ein schnellerer Wirkungseintritt der Säurehemmung sein. Umgebung lokalisiert ist. Den wichtigsten Bestandteil dieser
Die HCl-Produktion ist nicht die einzige Funktion der Pa- Schleimschicht bilden die sog. Mucine. Mucine sind Glykopro-
rietalzellen. Sie sind für die Biosynthese und Sekretion des intrin- teine mit Molekülmassen von vielen hunderttausend, die sich
sic factors verantwortlich, der bei der Resorption von Cobalamin durch einen besonders hohen Gehalt an O-glycosidisch ver-
(Vitamin B12) im terminalen Ileum eine entscheidende Rolle knüpften Saccharidseitenketten auszeichnen (mehr als 50 % der
spielt (7 Kap. 59.9). Masse). Bis heute sind die Gene von 12 unterschiedlichen Mu-
cinproteinen kloniert und analysiert worden. . Abb. 61.4 stellt
Die Hauptzellen synthetisieren Pepsinogen die Domänenstruktur des von den Nebenzellen produzierten
und einige andere Hydrolasen Mucin 1 dar, welches durch eine Transmembranhelix in der
Das wichtigste im Magensaft enthaltene Verdauungsenzym ist Membran verankert ist. Auffallend an dem Mucinmolekül sind
das Pepsin. Diese Protease wird in Form des inaktiven Proen- repetitive Aminosäuresequenzen, in denen Seryl- und Threonyl-
zyms, des Pepsinogens, von den Hauptzellen der Magenmukosa reste etwa 25–30 % der Aminosäuren ausmachen und als Träger
synthetisiert und intrazellulär in Zymogengranula gespeichert. von Kohlenhydratseitenketten dienen.
Die Molekülmasse des Pepsinogens beträgt 42,6 kDa. Im sauren Im Magen kommen darüber hinaus weitere Mucine vor, die
Milieu des Mageninhalts und unter Katalyse von bereits vorhan- nicht membranverankert sind, sondern sezerniert werden. Ein

H^+/K^+-ATPase# inaktive# aktive# Sulfenamid#


748 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

. Abb. 61.4 Domänenstruktur des Mucin 1. Das MUC1-Gen besteht aus 7 Exons und hat eine Größe von ungefähr 6 kb. Die zugehörige mRNA codiert für
eine Signalsequenz (SIG) und eine für den Einbau in die Plasmamembran notwendige Transmembrandomäne (TM). Die für die extrazelluläre Region codie-
rende Domäne enthält eine core region aus 41 repetitiven Sequenzen (dunkelblau) aus je 60 Basenpaaren. Sie ist besonders reich an Codons für die Amino-
säuren Threonin und Serin, die nach der Translation zum großen Teil glycosyliert werden. An die cytosolische Domäne (CYT) schließt sich eine nicht transla-
tierte Sequenz UT an. (Adaptiert nach Patton S et al. 1995)

61
. Abb. 61.5 Schematischer Aufbau des gastrischen Mucins 6. Der glycosylierte Anteil ist hervorgehoben und besteht überwiegend aus O-glycosidisch
verknüpften Oligosacchariden (wellenförmige Linien) sowie aus wenigen N-glycosidisch verknüpften Oligosacchariden (verzweigte Strukturen). Die darge-
stellten Disulfidbrücken werden inter- und intramolekular ausgebildet. (Adaptiert nach Bausil et al. 1995)

Beispiel hierfür ist das Mucin 6 (. Abb. 61.5). Es zeigt in der 61.1.3 Pankreassekrete
glycosylierten Domäne repetitive Aminosäuresequenzen, die
30 % Threonin und 18 % Serin enthalten. Diese sind in O-glyco- Feste Nahrungsbestandteile werden durch die Motilität des Magen-
sidischer Bindung mit Kohlenhydratketten von durchschnittlich antrums (»Antrummühle«) auf eine Partikelgröße kleiner als
12 Zuckerresten Länge verknüpft, was einem sehr hohen Glyco- 2 mm zermahlen und dann über den Pylorus in das Duodenum
sylierungsgrad entspricht. Über die Cysteinylreste kommen abgegeben. So wird der Mageninhalt oder Chymus, der von
Quervernetzungen zwischen Mucinmonomeren zustande, die cremiger Konsistenz ist, schubweise in das Duodenum befördert
ein Grund für die besonders hohe Viskosität der Mucinschicht und mischt sich dort mit dem duodenalen Verdauungssaft, einer
sind. Mischung aus den Sekreten der Mukosa und der Brunner-Drüsen
Eine Reihe von Untersuchungen hat gezeigt, dass die Mucin- des Duodenums, der Gallenflüssigkeit und des Pankreassekrets.
schicht des Magens tatsächlich dafür verantwortlich ist, dass ein
pH-Gradient mit einem pH-Wert von 1–2 im Magenlumen und Alle wichtigen Verdauungsenzyme
bis zu 6–7 an der Zelloberfläche aufrecht erhalten werden kann. werden im Pankreas gebildet
Man nimmt an, dass die von den Belegzellen synthetisierte Salz- Beim Menschen werden in Abhängigkeit von der Nahrungszu-
säure als wässrige Lösung durch kanalähnliche Strukturen der fuhr pro Tag etwa 3.000 ml Pankreassaft sezerniert, dessen En-
Mucinschicht an die luminale Oberfläche des Magens gelangt zymgehalt in . Tab. 61.1 dargestellt ist. Von seinen anorganischen
und sich dort ausbreitet. Eine Diffusion von Salzsäure erfolgt Bestandteilen ist der hohe Hydrogencarbonatgehalt hervorzuhe-
dann nicht oder nur sehr langsam. ben, der dem Pankreassaft sein typisches alkalisches Milieu von
etwa pH 8,0 verleiht und zur Neutralisierung des sauren Magen-
inhalts beiträgt.
61.1 · Verdauungssekrete
749 61

. Tab. 61.1 Wichtige gastrointestinale Verdauungsenzyme

Bildungsort Enzym Inaktive Vorstufe Cofaktoren pH-Optimum Substrat Reaktionsprodukt

Speicheldrüsen Ptyalin – – 6,7 Stärke Maltose

Magen- Pepsin Pepsinogen Cl– 1–2 Proteine Peptide


schleimhaut 2+
Rennin – Ca 3–4 Lösliches Casein Unlösliches Casein

Pankreas, Trypsin Trypsinogen – 7–8 Proteine, Polypeptide Oligopeptide


exokrin
Chymotrypsin Chymotrypsinogen – 7–8 Proteine, Polypeptide Oligopeptide

Carboxypeptida- Procarboxypepti- – 7–8 C-terminale Amino- Aminosäuren,


sen A und B dasen A und B säuren von Proteinen Peptide

Elastase Proelastase – 8,5 Elastin

Lipase – Gallensäuren, 8 Triacylglycerine Fettsäuren, α- und


Colipase β-Monoacylglycerine

Cholesterinesterase – Gallensäuren 8 Cholesterinester Cholesterin, Fettsäuren

α-Amylase – – 8 Stärke Maltose

Ribonuclease – – 7–8 Ribonucleinsäuren Ribonucleotide

Desoxy- – – 7–8 Desoxyribonuclein- Desoxyribonucleotide


ribonuclease säuren

Intestinale Aminopeptidase – – 8 N-terminale Amino- Aminosäuren, Peptide


Mukosa säuren von Proteinen

Dipeptidasen – – 8 Dipeptide Aminosäuren

Enteropeptidase – – 8 Trypsinogen Trypsin

Saccharase – – 5–7 Saccharose Fructose, Glucose

Maltase – – 5–7 Maltose Glucose

Lactase – – 5–7 Lactose Galactose, Glucose

Isomaltase – – 5–7 Isomaltose Glucose

Polynucleotidase – – 8–9 Nucleinsäuren Nucleotide

Nucleosidasen – – 6–7 Nucleoside Purin- bzw. Pyrimidin-


base, Pentose

Phosphatase – – 8 Organische Phosphor- Phosphat


säureester

Die Proteasen des Pankreas werden als Normalerweise findet dieser Vorgang erst im Duodenum statt.
inaktive Proenzyme sezerniert Die in der intestinalen Mukosa produzierte Enteropeptidase
Von besonderer Bedeutung für die Verdauung sind die im Pan- (früher Enterokinase), ein Glykoprotein mit einem Kohlen-
kreassaft reichlich vorhandenen proteolytischen Enzyme. Es hydratanteil von 45 %, aktiviert Trypsinogen zu Trypsin. Die
handelt sich um die: Umwandlung von Chymotrypsinogen zu Chymotrypsin und der
4 Endopeptidasen Trypsin und Chymotrypsin Procarboxypeptidasen zu Carboxypeptidasen erfolgt unter Ka-
4 Exopeptidasen Carboxypeptidase A und B sowie talyse von Trypsin.
4 Elastase Wie Pepsin sind Trypsin und Chymotrypsin Endopeptida-
sen, allerdings mit einem pH-Optimum zwischen 7,5 und 8,5.
Diese werden in den exokrinen Zellen (Acinuszellen) des Pank- Denaturierte Proteine werden besonders leicht gespalten. Unter
reas in Form inaktiver Proenzyme synthetisiert und intrazellulär der Einwirkung von Trypsin und Chymotrypsin werden die
in den Zymogengranula gespeichert. durch die peptische Aktivität des Magensaftes entstandenen Pro-
Ähnlich wie Pepsinogen zeichnen sich die inaktiven teinbruchstücke in kleinere Polypeptide zerlegt. Über die Subst-
Vorstufen Trypsinogen, Chymotrypsinogen und die Procarb- ratspezifität von Trypsin und Chymotrypsin 7 Kap. 8.5.
oxypeptidasen gegenüber den aktiven Enzymproteinen dadurch Die Exopeptidase Carboxypeptidase ist ein Zinkprotein mit
aus, dass sie aus einer längeren Peptidkette bestehen und durch einer Molekülmasse von 34 kDa, das vom Pankreas ebenfalls als
Abspaltung von Teilsequenzen aktiviert werden (7 Kap. 8.5). inaktive Vorstufe (Procarboxypeptidase, Molekülmasse 90 kDa)
750 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

sezerniert und erst durch die Einwirkung von Trypsin aktiviert


wird. Das Enzym spaltet die am Carboxylende stehenden Ami- . Tab. 61.2 Zusammensetzung menschlicher Leber- und Blasen-
nosäuren von Polypeptiden ab. Man unterscheidet zwei pankre- galle.

atische Carboxypeptidasen: Lebergalle Blasengalle


4 die Carboxypeptidase A hat eine besondere Affinität zu aro- (% des Gesamt- (% des Gesamt-
matischen Endgruppen (Phenylalanin, Tyrosin, Tryptophan) gewichts) gewichts)
4 die Carboxypeptidase B zu basischen Endgruppen (Lysin,
Wasser 96,64 86,7
Arginin, Histidin).
Gallensäuren 1,9 9,1
Andere hydrolytische Enzyme des Pankreassekrets Mucin und Gallenfarbstoffe 0,5 3,0
spalten Stärke, Lipide oder Nucleinsäuren
Cholesterin 0,06 0,3
Außer den proteolytischen Enzymen enthält das Pankreassekret
Hydrolasen zur Aufspaltung von Kohlenhydraten, Lipiden und Fettsäuren 0,1 0,3
Nucleinsäuren. Die Pankreasamylase oder α-Amylase ist wie Anorganische Salze 0,8 0,6
das Ptyalin eine Endoamylase, die 1,4-α-glycosidische Bindun-
pH 7,1 6,9–7,7
gen in Polysacchariden wie Stärke oder Glycogen aufspaltet. Da
das Enzym die 1,6-glycosidischen Bindungen nicht zu spalten
vermag und seine Affinität zum Substrat mit Abnahme der Ket- setzung der für die Lipidresorption notwendigen Micellenbil-
tenlänge des Polysaccharidmoleküls geringer wird, sind ihre Re- dung (7 Kap. 3.2.6) ist. Die wichtigsten Gallensäuren der mensch-
aktionsprodukte unterschiedlich große Bruchstücke der Polysac- lichen Galle sind:
charidmoleküle. 4 Cholsäure und
Die α-Amylase wird in geringen Mengen an das Blut abgege- 4 Chenodesoxycholsäure,
ben und wegen ihrer niedrigen molekularen Masse mit dem Urin deren Strukturen in . Abb. 61.6 dargestellt sind.
ausgeschieden.
Die Pankreaslipase ist zur Hydrolyse von Triacylglycerinen Ausgangspunkt für ihre Biosynthese ist Cholesterin. In einem
imstande, wobei als Reaktionsprodukte v. a. Monoacylglycerine, ersten – geschwindigkeitsbestimmenden – Schritt erfolgt die Hy-
daneben Fettsäuren, Glycerin und in geringem Umfang Diacyl- droxylierung an Postion 7. Das hierfür verantwortliche Enzym,
glycerine entstehen. Ihre Anwesenheit ist zur Fettverdauung un- die Cholesterin-7α-Hydroxylase ist Cytochrom P450-abhängig
bedingt erforderlich. Das Enzym katalysiert bevorzugt die hy- und gehört in die Gruppe der Monooxygenasen. Weitere
61 drolytische Abspaltung der in 1- bzw. 3-Positionen (α bzw. α’- Hydroxylierungen, Epimerisierungen an Position 3β, Sättigung
Position) stehenden Fettsäuren aus den Triacylglycerinen, die der Doppelbindung und Verkürzung sowie Oxidation der Sei-
dabei entstehenden β-Monoacylglycerine spielen bei der Fettver- tenkette zu einer Carboxylgruppe führen zu Cholsäure bzw. Che-
dauung als Emulgatoren eine wichtige Rolle. Weitere an der Li- nodesoxycholsäure, den primären Gallensäuren.
pidverdauung beteiligte Pankreasenzyme sind die Carboxyleste- Nach Aktivierung der Carboxylgruppe mit CoA-SH (in
rase, die u. a. die Hydrolyse der Cholesterinester katalysiert, und . Abb. 61.6 nicht dargestellt) erfolgt die Konjugation mit Glycin
die Phospholipasen. bzw. Taurin. Die Gallensäuren bzw. deren Konjugate werden in
Der Nachweis der Lipaseaktivität im Serum hat sich als wert- die Gallenflüssigkeit sezerniert. Unter der Einwirkung entero-
volles diagnostisches Hilfsmittel bei entzündlichen Pankreas- bakterieller Enzyme entstehen die sog. sekundären Gallensäu-
erkrankungen bewährt. ren Desoxylcholsäure bzw. Lithocholsäure.
Für die Verdauung von Nucleinsäuren sind schließlich im
Pankreassaft Ribonuclease und Desoxyribonuclease enthalten, Gallensäuren durchlaufen einen
deren Spezifität und Wirkungsweise in 7 Kap. 54.1.1 besprochen enterohepatischen Kreislauf
wurde. Unter der Annahme einer täglichen Gallensekretion der mensch-
lichen Leber von etwa 500 ml lässt sich anhand der in . Tab. 61.2
angegebenen Daten errechnen, dass der tägliche Umsatz an Gal-
61.1.4 Galle lensäuren 10 g beträgt. Wie experimentell mit Hilfe von radioak-
tiv markierten Vorstufen von Gallensäuren gemessen werden
Galle ist für Verdauung und Resorption unerlässlich konnte, synthetisiert die Leber jedoch täglich nur 200–500 mg
Für die im Darmlumen ablaufenden Verdauungsprozesse spielt Gallensäuren. Dieser Wert entspricht genau der täglichen Aus-
auch die Leber eine wichtige Rolle, da sie die Bildungsstätte der scheidung mit den Faeces. Offensichtlich ersetzt also die Leber
Galle ist. Beim Menschen und vielen anderen Warmblütern wird nur den täglichen Verlust von Gallensäuren im Stuhl, während
die von der Leber sezernierte Galle (Lebergalle) in der Gallenbla- eine weitaus größere Menge von Gallensäuren sich in der Gallen-
se gespeichert und konzentriert. . Tab. 61.2 zeigt die Zusammen- flüssigkeit bzw. dem Duodenalinhalt befindet. Tatsächlich konn-
setzung menschlicher Leber- und Blasengalle. te gezeigt werden, dass die mit der Galle in das Duodenum ein-
Die Bedeutung der Gallenflüssigkeit bei den Verdauungsvor- gebrachten Gallensäuren zu über 90 % im Ileum mit Hilfe eines
gängen lässt sich v. a. auf ihren hohen Gehalt an Gallensäuren aktiven Transportsystems resorbiert und über das Pfortadersys-
zurückführen, deren Anwesenheit im Duodenalsaft eine Voraus- tem zur Leber zurückgebracht werden, wo sie für die erneute
61.1 · Verdauungssekrete
751 61

. Abb. 61.6 Biosynthese von primären und sekundären Gallensäuren. (Einzelheiten s. Text)

Cholesterin# Gallensäuren# Biosynthese# 7α-Hydroxylcholesterin# Chenodesoxycholsäure# Glycochenodesoxychol-


säure# Lithocholsäure# Desoxycholsäure# Taurocholsäure# Cholsäure#
752 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

Sekretion in die Gallenflüssigkeit zur Verfügung stehen. Dieser


enterohepatische Kreislauf der Gallensäuren erfolgt mit be-
trächtlicher Geschwindigkeit, sodass die relativ geringe Gesamt-
menge an Gallensäuren des menschlichen Organismus (3–5 g)
etwa 6- bis 10-mal pro Tag den Kreislauf durchläuft.
Die Ausscheidung von Gallensäuren mit den Faeces ist für
den Organismus die einzige Möglichkeit zur Eliminierung von
Cholesterin und seinen Derivaten, da Säugetiere nicht über die
zur Aufspaltung des Ringsystems im Cholesterin notwendigen
Enzyme verfügen. Die Bestimmung der täglichen Ausscheidung
von Gallensäuren ist infolgedessen ein gutes Maß zur Bestim-
mung der Cholesterinausscheidung.

Gallensäuren sind für die Lipidresorption unerläss-


lich und beeinflussen die Cholesterinbiosynthese
Die Gallensäuren besitzen eine Reihe wichtiger Stoffwechsel-
funktionen. Für die Fettverdauung stellen sie eine unerlässliche
Komponente dar, da sie im Duodenum mit den unter der Einwir- . Abb. 61.7 Löslichkeit von Cholesterin in Lipid-Wasser-Mischungen.
kung der Pankreaslipase entstehenden Fettsäuren und Mono- Löst man Cholesterin, Phosphatidylcholin und Gallensäuren in einer Ge-
acylglycerinen Micellen bilden. Die Lipase selbst wird durch samtkonzentration von 10 % in Wasser, so bestimmt das Verhältnis von
Gallensäuren gehemmt. In micellärer Form ist die Resorption Phosphatidylcholin, Gallensäuren und Cholesterin die Löslichkeit des Letz-
teren. Bei Mischungsverhältnissen innerhalb des rot markierten Bereiches
lipophiler Substanzen beträchtlich erleichtert. Erst die durch liegt Cholesterin in micellärer Lösung vor, bei allen anderen Verhältnissen
Trypsin aktivierte Colipase bringt zusammen mit Gallensäuren befindet es sich in übersättigter Lösung und fällt aus
die Lipase in die richtige sterische Anordnung, welche für eine
optimale Triacylglycerinspaltung erforderlich ist (7 Kap. 61.3.3).
Gallensäuren sind nicht nur die Ausscheidungsform des der maximalen Löslichkeit von Cholesterin in menschlicher
Sterangerüstes, sondern regulieren auch die Cholesterinbio- Blasengalle. Es wurde aus Untersuchungen des Verhaltens von
synthese. Diese wird primär durch die Cholesterinzufuhr mit Mischungen aus Gallensäuren, Phosphatidylcholin und Choles-
der Nahrung gesteuert. An Versuchstieren mit Gallengangsfis- terin in Wasser konstruiert. Bei allen Zusammensetzungen der
61 teln konnte jedoch gezeigt werden, dass bei Ableitung der Gal- Gallenflüssigkeit, die außerhalb des Bereiches micellärer Lösun-
lenflüssigkeit nach außen die Geschwindigkeit der Cholesterin- gen liegen, kommt es zur Bildung von Cholesterinkristallen, die
biosynthese in der Leber und im Darm deutlich zunimmt. Bei die Keime von Cholesterinsteinen sein können.
Verfütterung eines nicht-resorbierbaren Ionenaustauscherharzes Da 80 % der Gallensteine cholesterinreich und 50 % reine
mit hoher Affinität zu Gallensäuren (Colestyramin) werden die Cholesterinsteine sind, nimmt man an, dass Änderungen des
Gallensäuren gebunden und ihre Rückresorption verhindert. Die Mischungsverhältnisses der drei genannten Verbindungen für
Cholesterinbiosynthese der Leber nimmt entsprechend zu. das Entstehen von Gallensteinen verantwortlich sind. Bei der
Trotzdem sinkt der Cholesterinspiegel im Blut ab, da durch die sog. lithogenen Galle findet sich dementsprechend auch häufig
Verhinderung der Gallensäurenrückresorption und die Vermin- eine Abnahme des Phosphatidylcholingehaltes. Diese Beobach-
derung der Gallensäurekonzentration in der Leber die Umwand- tungen waren der Anlass dafür, Gallensteinleiden mit Gallensäu-
lung von Cholesterin in Gallensäuren stark beschleunigt wird. ren zu behandeln. Diese greifen nicht nur ändernd in das Ver-
Der gegenteilige Effekt, nämlich eine Hemmung der Chole- hältnis von Cholesterin, Phosphoglyceriden und Gallensalzen
sterinbiosynthese, wird durch orale Zufuhr von freien und kon- ein, sondern hemmen in der Leber die Cholesterinbiosynthese
jugierten Gallensäuren in hohen Konzentrationen erreicht. und damit die Cholesterinausscheidung. In einigen Fällen konn-
Diese Wechselbeziehungen zwischen Cholesterinbiosynthe- te das Weiterwachsen von Cholesterin-(Gallen-)Steinen nicht
se und Gallensäurenresorption werden auch klinisch ausgenutzt. nur verhindert, sondern sogar eine Auflösung bereits vorhande-
So können Hypercholesterinämien durch Colestyramin oder ner Steine erreicht werden.
drastischer durch Entfernung des Ileums als Ort der Gallensäu- Die Gallenflüssigkeit ist ein wichtiges Vehikel für eine Viel-
renrückresorption behandelt werden. Die Gallensäurenrückre- zahl körpereigener und körperfremder Substanzen. So werden
sorption kann auch direkt pharmakologisch gehemmt werden. z. B.
In der Gallenflüssigkeit selbst wirken Gallensäuren als Lö- 4 die Gallenfarbstoffe Biliverdin und Bilirubin als
sungsvermittler für das dort, wenn auch nur in geringen Mengen Glucuronide und
(0,26 % der Gesamtgalle), vorkommende Cholesterin. In dieser 4 von den Hormonen v. a. die Steroide der Nebennierenrinde
Konzentration ist es praktisch unlöslich in wässrigen Medien. Ein und der Gonaden mit der Gallenflüssigkeit ausgeschieden.
Ausfallen kann nur dadurch verhindert werden, dass mit Gallen-
säuren und dem ebenfalls in der Galle vorkommenden Phospha- Mit der Galle werden auch viele Medikamente aus dem Organis-
tidylcholin micelläre Cholesterinlösungen gebildet werden. Das mus entfernt. Störungen des Gallenflusses behindern deswegen
in . Abb. 61.7 dargestellte Diagramm ermöglicht die Bestimmung häufig die Eliminierung von Arzneimitteln.
61.2 · Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie
753 61
61.1.5 Duodenalsekret tid liegen gesicherte Erkenntnisse vor (s. u.). Die Effekte der an-
deren in der . Tab. 61.3 genannten Peptide sind jedoch häufig
Die Dünndarmschleimhaut bildet täglich 1.000–2.000 ml eines nur anhand experimenteller Modellsysteme nachzuweisen. Es ist
eigenen Verdauungssekrets. Ein wesentlicher Bestandteil dieses offenbar so, dass die einzelnen funktionellen Zustände des Gas-
Darmsaftes sind Mucine, welche die Schleimhaut vor der Einwir- trointestinaltrakts jeweils durch eine Vielzahl von Regulations-
kung der Magensäure oder anderer schädigender Nahrungsbe- faktoren stabilisiert werden, deren Zusammenspiel die geordne-
standteile schützen. Daneben kommt Albumin vor, das im Darm te Funktion des Intestinaltrakts garantiert. Wie kompliziert die
durch Proteolyse abgebaut wird. Etwa ein Fünftel des gesamten Verhältnisse sind, geht aus der Tatsache hervor, dass allein für die
Albuminabbaus erfolgt durch Abgabe an das Duodenum. Die bei Regulation der HCl-Produktion im Magenfundus und -corpus
der Albuminhydrolyse entstehenden Aminosäuren werden re- 16 hemmende bzw. aktivierende Faktoren beschrieben worden
sorbiert und der Leber für eine erneute Proteinbiosynthese zur sind.
Verfügung gestellt (enterohepatischer Kreislauf von Aminosäu-
ren). Die Magensaftsekretion wird hormonell
Noch ungeklärt ist die Frage, ob auch Verdauungsenzyme aus und nerval reguliert
der Dünndarmmukosa sezerniert werden. Im Darmsaft wurden Salzsäuresekretion Die Salzsäureproduktion der Parietalzellen
zwar eine Reihe von Enzymen wie Aminopeptidasen, Dipeptida- hängt von der gleichzeitigen Erhöhung der intrazellulären Calci-
sen, Saccharase, Maltase, Isomaltase, alkalische Phosphatase, um- und cAMP-Konzentration ab. Die Wirkung beider intrazel-
Polynucleotidase und Phospholipase nachgewiesen, es ist jedoch lulärer Botenstoffe beruht auf einer Verlagerung der für die Salz-
noch nicht sicher, ob es sich hierbei um tatsächliche Sekretions- säuresekretion verantwortlichen H+/K+-ATPase aus intrazellulä-
produkte handelt oder ob die betreffenden Enzyme aus abge- ren Vesikeln in die apikale Plasmamembran. Die Einzelheiten
schilferten und zugrunde gegangenen Zellen stammen. der dabei ablaufenden Vorgänge sind nicht genau bekannt. Fol-
Gesichert ist lediglich, dass durch die duodenale Mukosa die gende extrazelluläre Signale sind für Stimulierung bzw. Hem-
für die Trypsinogenaktivierung notwendige Enteropeptidase mung der Salzsäuresekretion verantwortlich (. Abb. 61.8):
abgegeben wird. 4 Der wichtigste, die Salzsäuresekretion stimulierende Faktor
ist Histamin, das biogene Amin der Aminosäure Histidin.
Es wird in den Enterochromaffin-ähnlichen Zellen (entero-
61.2 Regulation gastrointestinaler Sekretion chromaffin-like cells, ECL-Zellen) der Magenmukosa produ-
und Pathobiochemie ziert. Diese Zellen befinden sich in enger Nachbarschaft zu
den Belegzellen (Parietalzellen), das von ihnen abgegebene
61.2.1 Das endokrine System des Intestinaltrakts Histamin wirkt als parakriner Faktor. Es reagiert mit H2-
Histaminrezeptoren der Parietalzellen. Diese stimulieren
Im Intestinaltrakt erfolgt die Aufarbeitung und Resorption eines die Adenylatcyclase, was über erhöhte intrazelluläre
ständig wechselnden Angebots an Nahrungsmitteln. Es ist daher cAMP-Konzentrationen zu einer Aktivierung der Protein-
verständlich, dass die funktionellen Zustände einzelner Darmab- kinase A führt.
schnitte und der anderen an der Verdauung beteiligten Organe 4 Enteroendokrine Zellen im Antrum des Magens, sog. Gast-
sehr genau aufeinander abgestimmt werden müssen, damit eine rinzellen (G-Zellen), setzen als Antwort auf Dehnungsreize,
optimale Verdauung und Resorption der Nahrungsstoffe ge- Anstieg des pH-Wertes, Alkohol, Coffein und vor allen
währleistet ist. Im Intestinaltrakt werden darüber hinaus große Dingen auf bei der Proteinverdauung entstehende Peptide
Mengen an Flüssigkeit umgesetzt, außerdem muss der größte das Peptidhormon Gastrin frei. Von diesem kommen durch
Teil der mit den Verdauungssäften in den Intestinaltrakt gelan- Proteolyse entstehende Formen mit 34, 17 oder 13 Amino-
genden Elektrolyte hier wieder rückresorbiert werden. Die koor- säuren vor. Für die biologische Aktivität sind vor allem die
dinierte Regulation dieser Prozesse erfolgt bei höheren tierischen 4 C-terminalen Aminosäuren der Gastrine verantwortlich.
Organismen und beim Menschen durch eine große Zahl gastro- Über den Blutweg gelangen sie zu den Parietalzellen des
intestinaler Hormone und parakrin wirksamer hormonartiger Magenfundus und reagieren dort mit Gastrinrezeptoren.
Faktoren. Diese werden nicht von einzelnen endokrinen Drüsen Diese gehören zur Familie der Cholecystokinin (CCK)-
sezerniert, sondern von endokrinen Zellen, die über den Intesti- Gastrinrezeptoren und sind heptahelicale Membranprotei-
naltrakt verstreut sind. Die Bedeutung dieses endokrinen Sys- ne. G-Protein-vermittelt führen sie zur Aktivierung der
tems wird allein aus der Tatsache verständlich, dass die Gesamt- Phospholipase Cβ und damit zu einer Erhöhung der Calci-
masse der hormonell aktiven Zellen im Intestinaltrakt größer ist um- und Diacylglycerinkonzentration (7 Kap. 35.3.3).
als die Masse aller anderen endokrinen Drüsen des Organismus. 4 Vom Zentralnervensystem über den N. vagus ausgehende
. Tab. 61.3 stellt eine Auswahl gastrointestinaler Peptidhormone Impulse stimulieren über muscarinische Acetylcholin-
und Neurotransmitter zusammen. Es handelt sich ausschließlich rezeptoren der Klasse 3 die Salzsäureproduktion der Pa-
um Peptide mit Molekülmassen unter 10 kDa. Interessanterwei- rietalzellen. Auch diese Rezeptoren lösen eine Aktivierung
se kommt ein beträchtlicher Teil von ihnen auch im Zentralner- der Phospholipase Cβ und damit eine Erhöhung der intra-
vensystem vor und wirkt dort als Neurotransmitter. zellulären Calciumkonzentration aus.
Über die physiologische Bedeutung der Enterohormone Gas- 4 Diese Regelkreise können weiter moduliert werden: Über
trin, Sekretin, Cholecystokinin und gastroinhibitorisches Pep- muscarinische Acetylcholinrezeptoren stimuliert der
754 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

. Tab. 61.3 Gastrointestinale Peptidhormone und Neurotransmitter (Auswahl)

Bezeichnung Amino- Vorkommen Wichtigste Funktion


säurereste

Hormone

Gastrin 17 bzw. 34 Antrum des Magens Stimulierung der HCl-Sekretion


Oberes Duodenum

Ghrelin 28 Parietalzellen des Magens Auslösung des Hungergefühls

Sekretin 27 Duodenum Stimulierung der pankreatischen HCO3–-Sekretion


Jejunum

Cholecystokinin/Pankreozymin 33 Duodenum Stimulierung der pankreatischen Enzymsekretion, Kontraktion


Jejunum der Gallenblase

Gastroinhibitorisches Peptid (GIP) 42 Duodenum, oberes Jejunum Stimulierung der Insulinsekretion

Motilin 22 Duodenum, oberes Jejunum Stimulierung der Motilität von Magen und Dünndarm

Neurotensin 13 Ileum und Colon Hemmung der Säuresekretion, Stimulierung der Glucagon-
sekretion

Peptid YY 36 Ileum und Colon Hemmung der Magenmotilität und der Pankreassekretion,
Sättigungsfaktor

GLP-1 (glucagon-like peptide-1) 37 Ileum und Colon Stimulierung der Insulinsekretion, Sättigungsfaktor
GLP-2 (glucagon-like peptide-2) 33 Ileum und Colon Trophischer Faktor für Epithelzellen des Intestinaltraktes

Somatostatin 14 Gesamter Intestinaltrakt Hemmung sekretorischer Vorgänge


Pankreas

Neurotransmitter

Vasoaktives intestinales Peptid 28 Neurone und Nervenfasern Vasodilatation, Relaxation der glatten Muskulatur, Wasser-
des Intestinaltrakts sekretion

GRP (gastrin releasing peptide) 27 Neuroendokrine Zellen von Stimulierung der Gastrin- und Pankreassekretion
61 Magen und Duodenum

Enkephalin 5 Gesamter Intestinaltrakt Hemmung der intestinalen Sekretion

. Abb. 61.8 Regulation der Salzsäureproduktion durch die Belegzellen. Für die Regulation der Salzsäureproduktion ist das Zusammenspiel des aus
ECL-Zellen stammenden Histamins mit dem aus den Gastrinzellen (G-Zellen) stammenden Gastrin, zentralnervösen cholinergen (Acetylcholin) Impulsen
(N. vagus) und dem durch die D-Zellen gebildeten Somatostatin notwendig. GRP: gastrin releasing peptide. (Einzelheiten s. Text)
61.2 · Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie
755 61
N. vagus sowohl die Histaminproduktion der ECL-Zellen
als auch die Gastrinsekretion der G-Zellen.
4 Von peptidergen postganglionären parasympathischen
Nervenfasern und Neuronen des enteralen Nervensystems
wird ein Peptid aus 27 Aminosäuren freigesetzt, das
Strukturhomologie zu einem Peptid in der Froschhaut, dem
Bombesin, zeigt und als gastrin releasing peptide (GRP)
bezeichnet wird. GRP stimuliert die Gastrinsekretion von
Gastrinzellen.
4 Somatostatin ist ein sehr wirkungsvoller Hemmstoff der
Salzsäureproduktion. Es wird in enteroendokrinen Zellen
des Intestinaltrakts, den sog. D-Zellen, gebildet. In der
Magenschleimhaut wird die Somatostatinfreisetzung dieser
Zellen auf der basolateralen Seite durch cholinerge Neuro-
nen, Gastrin und GRP gehemmt und von der luminalen
Seite durch hohe Protonenkonzentrationen stimuliert. So-
matostatin hemmt die Histaminfreisetzung der ECL-Zellen
und direkt die Salzsäureproduktion der Parietalzellen. Der
Somatostatinrezeptor gehört zu der Gruppe der inhibitori-
. Abb. 61.9 Regulation der Mucin- und Pepsinogensekretion der
schen Rezeptoren des Adenylatcyclasesystems, d. h. seine
Magenmukosa. Die Rezeptoren sind ockerfarbig dargestellt.
Stimulierung führt zu einer Senkung des cAMP-Spiegels (Einzelheiten s. Text)
der betroffenen Zellen (7 Kap. 35.3).

Mucinsekretion Von großer Bedeutung für den Schutz des Ma-


genepithels vor Selbstverdauung ist die Mucinsekretion durch
die Mucinzellen der Magenmukosa (. Abb. 61.9). Auch sie wird
durch eine hohe Protonenkonzentration in der Magenflüssigkeit
stimuliert, steht daneben aber ebenfalls unter neurokriner, endo-
kriner und parakriner Kontrolle:
4 Acetylcholin und Sekretin stimulieren die Mucinsekretion.
Der Sekretinrezeptor gehört zu den stimulierenden Rezep-
toren des Adenylatcyclasesystems.
4 Prostaglandine des E-Typs sind wichtige Stimulatoren
der Mucinsekretion. Diese fördern außerdem die Zellrege-
neration und die Durchblutung. Sie wirken damit cytopro-
tektiv gegen Schädigungen z. B. durch die Salzsäure. Prosta-
glandin E hemmt ferner über den Rezeptorsubtyp EP3 die
Adenylatcyclase der Parietalzellen und damit die HCl-
Sekretion.
4 Glucocorticoide sind sehr wirksame Hemmstoffe der
Mucinsekretion (über die pathobiochemische Bedeutung
der genannten Faktoren bei der Entstehung des Magen-
und Duodenalgeschwürs 7 Kap. 61.2).
. Abb. 61.10 Enzym-, Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion in Aci-
nus- bzw. Gangzellen des Pankreas. VIP: vasoaktives intestinales Peptid.
Pepsinogensekretion Die Sekretion von Pepsinogen durch die
Die Rezeptoren sind ockerfarbig dargestellt. (Einzelheiten s. Text)
Hauptzellen des Magenfundus wird durch cholinerge nervale
Reize und durch Gastrin stimuliert. Ein wesentlicher weiterer
Reiz für die Pepsinogensekretion ist eine hohe Protonenkonzen-
tration des Magensaftes (. Abb. 61.9). 4 den Pankreasgangzellen, die Wasser und Hydrogencarbonat
sezernieren.
Sekretin und Cholecystokinin/Pankreozymin
regulieren die Pankreassekretion Pankreatische Enzymsekretion Der wichtigste physiologische
Die Bildung des Pankreassekrets wird durch eine Reihe neuro- Stimulus für die pankreatische Enzymsekretion ist die durch das
kriner und endokriner Faktoren gesteuert (. Abb. 61.10). Sie parasympathische Nervensystem hervorgerufene Freisetzung
wird im Wesentlichen von zwei Zelltypen getragen: von Acetylcholin, das über muscarinische Acetylcholinrezepto-
4 den für die Sekretion der Verdauungsenzyme verantwortli- ren des Typs M1 auf den Acinuszellen zu einer Aktivierung der
chen Acinuszellen und Phospholipase Cβ führt (. Abb. 61.10). Dies löst eine Erhöhung
756 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

der intrazellulären Calciumkonzentration und damit einherge- Pankreas zu einer Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion in
hend eine Stimulierung der Enzymsekretion aus. die Gallenflüssigkeit.
Ein weiterer wichtiger Mechanismus zur Stimulierung der Ein ganz anderes Wirkungsspektrum für die Gallenbildung
pankreatischen Enzymsekretion beruht auf dem durch die im hat CCK. Es löst eine Kontraktion der Gallenblase mit Entlee-
Duodenum und Jejunum lokalisierten I-Zellen produzierten rung von Gallenflüssigkeit in das Duodenum aus.
Peptid Cholecystokinin. Dieses ist mit dem 1943 entdeckten
Pankreozymin identisch, weswegen das Hormon gelegentlich Im Intestinaltrakt werden Signale erzeugt, die Nahrungs-
auch als Cholecystokinin-Pankreozymin (CCK-PZ) bezeichnet aufnahme und Nahrungsverwertung regulieren
wird. Ähnlich wie beim Gastrin kommen auch beim Cholecys- Die Regulation der Nahrungsaufnahme durch Hunger- bzw. Sät-
tokinin Peptide unterschiedlicher Größe vor, die posttranslatio- tigungsgefühl erfolgt in den hypothalamischen Kerngebieten
nal durch Proteolyse entstehen. Die vorherrschende Form ist das und hängt von einer großen Zahl verschiedener endokrin und
CCK 33. Die biologisch aktive Region des CCK ist in den C-ter- parakrin wirkender Faktoren ab (7 Kap. 38.3). Auch die im Fol-
minalen sieben Aminosäuren lokalisiert. Die fünf C-terminalen genden aufgeführten, im Intestinaltrakt gebildeten Faktoren
Aminosäuren des CCK entsprechen denen des Gastrins, was bei spielen dabei eine große Rolle.
der Bestimmung der biologisch aktiven Formen beider Hormone
Schwierigkeiten verursachen kann. Cholecystokinin Cholecystokinin reguliert nicht nur die Funk-
Für die Freisetzung von CCK verantwortliche Stimuli sind tion des Pankreas und der Gallenblase (s. o.), sondern hemmt
Fettsäuren, Aminosäuren und Peptide im duodenalen Lumen. auch das Hungergefühl. Über CCK-A-Rezeptoren im Intestinal-
Wahrscheinlich exisitieren auch CCK-Freisetzungspeptide aus trakt bewirkt Cholecystokinin eine Unterdrückung der Nah-
dem Pankreassekret (monitor peptide) selbst und aus der Duo- rungsaufnahme, was wahrscheinlich durch den N. vagus und die
denalmukosa. Außer einer gesteigerten pankreatischen Enzym- hypothalamischen Zentren des Hunger- bzw. Sättigungsgefühls
sekretion löst CCK eine Kontraktion der Gallenblase mit Entlee- weitergeleitet wird. Auch andere intestinale Peptide wie Entero-
rung der Gallenflüssigkeit in das Duodenum und eine Aktivie- statin oder glucagon-like peptide (GLP)-1 (7 Kap. 38.3.2) vermin-
rung des Sättigungsgefühls aus (s. u.). dern das Hungergefühl.
CCK-Rezeptoren gehören zur Familie der heptahelicalen Re-
zeptoren, die die Phospholipase Cβ stimulieren und so zu einer Ghrelin Ghrelin ist ein aus 28 Aminosäuren bestehendes Peptid,
Erhöhung der intrazellulären Calciumkonzentration führen. Der das von Epithelzellen der Magenschleimhaut gebildet wird. Für
CCK-Rezeptor A ist spezifisch für CCK, der CCK-Rezeptor B ist seine Wirkung ist die Acylierung des Serins 3 mit Octanoat er-
identisch mit dem Gastrinrezeptor und wird sowohl durch CCK forderlich. Ghrelin wird bei Nahrungskarenz verstärkt sezer-
61 als auch durch Gastrin aktiviert. Bei Nagern wie der Ratte und niert. Spezifische Ghrelin-Rezeptoren finden sich in der Hypo-
der Maus finden sich CCK-Rezeptoren des Typs A direkt auf den physe und im Hypothalamus. In der Hypophyse stimuliert
Acinuszellen, weswegen CCK einen direkten stimulierenden Ghrelin die Sekretion von Wachstumshormon, im Hypothala-
Einfluss auf die Enzymsekretion hat. Beim Menschen sind die mus steigert es das Hungergefühl und wirkt als Antagonist des
Verhältnisse anders. Hier stimuliert CCK hauptsächlich intra- Leptins (7 Kap. 38.3.3).
pankreatisch die Acetylcholinsekretion. Es sind aber kürzlich
auch CCK-Rezeptoren auf menschlichen Acinuszellen beschrie- Gastroinhibitorisches Peptid (GIP) Durch Glucose, aber auch
ben worden. durch Aminosäuren und Fettsäuren, wird die Sekretion des
gastroinhibitorischen Peptids im Duodenum und oberen Je-
Pankreatische Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion Für die junum ausgelöst. Die durch GIP bewirkte Hemmung der Ma-
ebenfalls im Pankreas erfolgende Sekretion von Wasser und dem genmotorik tritt allerdings nur in unphysiologisch hohen
für die Neutralisation der Salzsäure notwendigen Hydrogencar- Konzentrationen auf. Sein physiologischer Effekt ist eine durch
bonat sind die Pankreasgangzellen verantwortlich. Ausgelöst Erhöhung der cAMP-Konzentration hervorgerufene Stimulie-
wird die Wasser- und Hydrogencarbonatsekretion dabei durch rung der Insulinsekretion durch die β-Zellen der Langerhans-
Sekretin, ein Peptid aus 27 Aminosäuren (. Abb. 61.10). Es wird Inseln des Pankreas. Es ist damit dafür verantwortlich, dass re-
im Duodenum und Jejunum gebildet und zeigt enge Verwandt- sorbierte Nahrungsstoffe auch rasch verwertet werden können
schaft mit dem vasoaktiven intestinalen Peptid (. Tab. 61.3). Der (7 Kap. 36.3).
Sekretinrezeptor gehört zur Familie der Glucagonrezeptoren, die
Bindung seines Liganden löst eine Aktivierung des Adenylatcy-
clasesystems aus. 61.2.2 Pathobiochemie

Gallensäuren stimulieren die Gallenbildung Magen- und Duodenalulcus Bei Störungen des Gleichgewichts
Substanzen, die die Gallensekretion durch Hepatocyten stimu- zwischen Salzsäure- bzw. Pepsinsekretion und Produktion der
lieren, werden als Choleretica bezeichnet. Unter physiologischen für das Epithel des oberen Intestinaltrakts essentiellen Schutz-
Bedingungen sind die wichtigsten Choleretica die Gallensäuren. schicht aus Mucinen entstehen Geschwüre, die unbehandelt zu
Damit hängt die Gallensekretion sehr eng mit dem enterohepa- schweren Blutungen und im Extremfall zu Perforationen führen
tischen Kreislauf der Gallensäuren zusammen. Eine leicht chole- können. Auslöser hierfür sind i. Allg. zwei unterschiedliche
retische Wirkung hat auch Sekretin. Es führt ähnlich wie am Pathomechanismen:
61.2 · Regulation gastrointestinaler Sekretion und Pathobiochemie
757 61
4 eine verminderte Produktion oder Funktion der Mucine
oder stieß seine Vermutung auf Unglauben, dass die Entstehung
4 eine gesteigerte Produktion von Salzsäure. von Magengeschwüren etwas mit diesen Bakterien zu tun
haben sollte. Robin Warren ließ jedoch nicht locker. Zusam-
Hemmung der Mucinproduktion Eine Hemmung der Mucinpro- men mit dem Internisten Barry Marshall gelang es, diese Bak-
duktion kann u. a. verursacht werden durch: terien zu kultivieren. Sie wurden der Ordnung Campylobac-
4 Glucocorticoide. Diese können endogen durch die Neben- teriales zugeordnet und als Helicobacter pylori bezeichnet.
nierenrinde produziert werden (z. B. bei Stress) oder als In der Vorstellung, dass diese Bakterien etwas mit Gastritis
Medikamente zugeführt werden. und Magengeschwüren zu tun haben müssten, wurden War-
4 Hemmung der Synthese von Prostaglandin E. Diese wird ren und Marshall u. a. durch einen durchaus schmerzhaften
häufig durch Aspirin (7 Kap. 25.2.2) oder nicht-steroidale Selbstversuch bekräftigt. Marshall trank den Inhalt einer
Antirheumatika (NSAR) ausgelöst. größeren Kulturflasche mit Helicobacter und erkrankte
4 verschiedenste Noxen (Hitze, Kälte, Röntgenbestrahlung, prompt an einer schweren Gastritis, die mit Antibiotika ge-
Kochsalz, Nitrate usw.) kann es zu einer Verminderung der heilt werden konnte.
Bindungsstellen für Mucine an den Mukosazellen und da- Heute weiß man, dass etwa die Hälfte der Weltbevölkerung
mit zu einer Störung der Mukosabarriere kommen. mit Helicobacter infiziert ist und dass etwa 10 % der Infizier-
ten im Laufe ihres Lebens ein Magen- oder Zwölffingerdarm-
Steigerung der Salzsäuresekretion Eine Überproduktion von geschwür entwickeln. Zur Standardtherapie der Erkrankung
Salzsäure ist die Folge einer gesteigerten Stimulierung der Beleg- gehört eine Behandlung mit Protonenpumpeninhibitoren
zellen durch Vagusreize, Histamin oder Gastrin. Das Ausmaß und Antibiotika.
der hierdurch ausgelösten Hypersekretion hängt allerdings von Weitere Informationen: http://nobelprize.org
der angeborenen Parietalzellmasse ab. Gastrinbildende Tumoren
(z. B. Zollinger-Ellison-Syndrom) führen allein durch die von
ihnen ausgelöste exzessive Säurestimulation zu schweren Ge- Pankreasinsuffizienz Die wichtigsten Störungen der exokrinen
schwüren. Pankreasfunktion sind:
In der Regel führt eine nur leicht erhöhte oder mäßige Säu-
reproduktion alleine nicht zu einem Ulcus. Eine wesentliche Vo- Akute Pankreatitis
raussetzung ist die Besiedlung der Magenschleimhaut mit dem Die häufigsten Ursachen der akuten Pankreatitis sind Erkran-
Bakterium Helicobacter pylori. Dieser an das saure Milieu der kungen der Gallenwege und Alkoholabusus (je 40 % der Fälle).
Magenschleimhaut angepasste Erreger löst eine – häufig Die Pathogenese der Erkrankung ist noch nicht vollständig ge-
asymptomatisch verlaufende – Gastritis aus. Diese ist offenbar an klärt. Auslösende Faktoren sind u. a. Steine im Pankreasgang-
der Ulcusentstehung beteiligt, sodass der Leitsatz gilt »ohne Säu- system mit dadurch ausgelöster Druckerhöhung, die zu einer
re kein Ulcus, ohne Helicobacter pylori kein Ulcus«. Man weiß veränderten Permeabilität der Acinuszellen führt. Chronischer
noch nicht genau, wie die bakteriell ausgelöste Gastritis zur Ent- Alkoholabusus führt zu Stoffwechselstörungen der Acinuszellen.
stehung von Ulcera führt. Eine Erklärung wäre, dass Helicobac- Der akuten Pankreatitis liegt immer eine vorzeitige Aktivierung
ter große Mengen an Ammoniumionen produziert, möglicher- der als Zymogene vorliegenden Proteasen, insbesondere des
weise um dem stark sauren Magenmilieu zu entgehen. Dies führt Trypsinogens, zugrunde. Dabei spielt eine Störung des Transpor-
jedoch zu einer gesteigerten Gastrinsekretion mit reaktiver Stei- tes der Zymogengranula in den Acinuszellen eine wichtige Rolle.
gerung der Salzsäureproduktion. Dies löst eine Fusionierung der Zymogengranula mit Lysoso-
Bei rezidivierendem Ulcusleiden führt meist eine erfolgrei- men, eine sog. Crinophagie, aus. Durch die in den Lysosomen
che Therapie der Infektion mit Helicobacter pylori bereits zu einer vorhandene Protease Cathepsin B wird Trypsinogen zu Trypsin
Heilung. Zusätzlich ist eine Hemmung der Salzsäuresekretion aktiviert, was zur Selbstverdauung des Pankreas (Pankreasnek-
durch Protonenpumpenblocker wie Omeprazol (7 Kap. 61.1.2) rose) führt. Diese geht mit einem schweren Krankheitsverlauf
notwendig. einher, wobei besonders die Infektion der Pankreasnekrosen
durch Dickdarmbakterien von Bedeutung ist.

Übrigens Chronische Pankreatitis


Nobelpreis für Medizin 2005 an Robin Warren Die chronische Pankreatitis ist in 60–80 % der Fälle die Folge
und Barry Marshall eines chronischen Alkoholabusus. Sie entwickelt sich wahr-
Anfang der 80er Jahre entdeckte der australische Pathologe scheinlich aus der Folge mehrerer Schübe einer akuten Pankrea-
Robin Warren in der Magenschleimhaut von Patienten mit titis und führt zur chronischen Pankreasinsuffizienz. In den letz-
Magen- oder Duodenalgeschwüren spiralförmige Bakterien. ten Jahren wurden zahlreiche genetische Veränderungen ent-
Dieser Befund wurde zunächst von der Fachwelt angezwei- deckt, die das Risiko eine Pankreatitis zu bekommen erhöhen:
felt, da die gängige Lehrmeinung besagte, dass der Magen- z. B. Mutationen des kationischen Trypsinogens bei der autoso-
inhalt wegen des stark sauren Milieus steril sei. Erst recht mal dominanten hereditären Pankreatitis (gain of function-Mu-
6 tation) oder Mutationen der Trypsininhibitoren wie z. B. SPINK
(Serinproteaseninhibitor vom Typ Kasal). Auch Funktionsein-
758 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

schränkungen des CFTR (cystic fibrosis transmembrane conduc-


tance regulator) erhöhen das Risiko, eine chronische Pankreatitis
zu bekommen (loss of function-Mutationen). Schwere Mutatio-
nen dieses CFTR, eines Chloridtransporters, führen zum Krank-
heitsbild der Mukoviszidose. Andere Ursachen der chronischen
Pankreasinsuffizienz können eine verminderte Sekretion von
Sekretin bzw. CCK sein. Durch die nicht ausreichende Freiset-
zung dieser Hormone, z. B. nach Magenresektionen, kommt es
zur sog. pankreaticocibalen Dyssynchronie. Weitere Ursachen
der chronischen Pankreasinsuffizienz können Pankreaskarzi-
nome oder Abfluss-Störungen des Pankreassekrets sein.

Zusammenfassung
Im Intestinaltrakt finden zwei unterschiedliche Vorgänge
statt:
4 der als Verdauung bezeichnete Abbau von Nahrungs-
stoffen zu monomeren Bausteinen und
4 die Resorption dieser Bausteine und damit ihre Aufnah-
me in den Organismus.
Die Verdauung der Nahrungsstoffe beginnt bereits in der
Mundhöhle, wird im Magen fortgesetzt und im Dünndarm
abgeschlossen. Sie wird katalysiert durch die Aktivität der
von den verschiedenen Verdauungsdrüsen freigesetzten
Hydrolasen. Diese spalten Polysaccharide zu Oligo- und
Monosacchariden, Proteine zu Oligopeptiden und Amino-
säuren, Lipide zu Monoacylglycerinen und Fettsäuren sowie
Nucleinsäuren zu Nucleosiden. . Abb. 61.11 Schematische Darstellung der Resorptionsorte der
Die zeitgerechte Freisetzung der Verdauungsenzyme muss wichtigsten Nahrungsstoffe im Duodenum, Jejunum und Ileum.

61 sehr genau reguliert werden, damit in der zur Verfügung (Einzelheiten s. Text)

stehenden Passagezeit durch das Duodenum und Jejunum


auch ein vollständiger Abbau als Voraussetzung für die ten. Bei der einfachen passiven Diffusion erfolgt die Aufnahme
Resorption erzielt werden kann. Diese Regulation erfolgt entlang eines Konzentrationsgefälles. Sie kann also nur dann
über eine große Zahl von Hormonen und Transmittern, die erfolgen, wenn die Konzentration der betreffenden Substanz im
durch zentralnervöse Reize, durch parakrine Signale und Dünndarmlumen höher als in der Mukosazelle ist und außerdem
durch nervale Impulse freigesetzt werden. Für die Sekretion die Möglichkeit einer unbehinderten Passage durch die luminale
des Magensaftes ist das wichtigste Hormon das Gastrin, die Membran der Mukosazelle besteht. Die wichtigste, durch passive
Pankreassekretion wird durch Sekretin und Cholecystokinin Diffusion transportierte Substanz ist das Wasser. Wegen ihrer
reguliert. Letzteres sorgt darüber hinaus durch die Entlee- guten Membrangängigkeit können lipophile Substanzen wie
rung der Gallenblase für die Bereitstellung der für die Lipid- Fettsäuren, Glyceride, fettlösliche Vitamine, aber auch lipophile
resorption benötigten Gallensäuren. Arzneimittel ebenfalls durch passive Diffusion aufgenommen
werden. Die Aufnahmegeschwindigkeit ist von der Molekülgrö-
ße abhängig. Substanzen mit einer molekularen Masse über
400 Da werden im Allgemeinen nicht mehr mit messbarer Ge-
61.3 Verdauung und Resorption schwindigkeit passiv aufgenommen.
Häufiger als durch passive Diffusion erfolgt die Resorption
Durch die enzymatischen Aktivitäten und die Oberflächenei- gegen ein Konzentrationsgefälle als aktiver Transport. Gele-
genschaften der verschiedenen Verdauungssäfte werden die gentlich muss nicht nur ein chemischer Gradient, sondern auch
Nahrungsbestandteile so aufbereitet, dass sie im Dünndarm eine Ladungsdifferenz zwischen innen und außen (elektroche-
resorbiert werden können. Für diesen Vorgang steht prinzipiell mischer Gradient) überwunden werden. Die für den aktiven
die gesamte Dünndarmlänge zur Verfügung, jedoch wird der Transport benötigte Energie wird aus der Spaltung von ATP
größte Teil der Nahrungsstoffe im Duodenum und Jejunum re- bezogen.
sorbiert (. Abb. 61.11). Durch Dünndarmzotten und Mikrovilli
der Mukosazellen wird die Resorptionsfläche auf etwa 200 m2
vergrößert.
Für die Aufnahme von Substanzen aus dem Dünndarm-
lumen in die Mukosazellen bestehen verschiedene Möglichkei-
61.3 · Verdauung und Resorption
759 61
61.3.1 Kohlenhydrate

Nahrungskohlenhydrate werden durch α-Amylase


und verschiedene Disaccharidasen gespalten
Vor ihrer Resorption müssen Kohlenhydrate in die zugrunde
liegenden Monosaccharideinheiten zerlegt werden. Der Abbau
der mengenmäßig bedeutsamsten Polysaccharide Glycogen und
v. a. Stärke beginnt durch die Einwirkung der in der Speichel-
und Pankreasflüssigkeit enthaltenen α-Amylase. Dabei entsteht
ein Gemisch aus Dextrinen (Oligosaccharide aus 4–10 Glucosyl-
resten), Maltotriose und Maltose. Neben diesen Bruchstücken
müssen außerdem noch die in manchen Nahrungsmitteln ent-
haltenen Disaccharide Saccharose und Lactose gespalten wer-
den. Die hierfür verantwortlichen Enzyme Amylo-1,6-α-
Glucosidase, Isomaltase, verschiedene Maltasen, Lactase und
Saccharase sind im Bürstensaum der Mukosazellen lokalisiert,
hier findet wahrscheinlich auch die Spaltung statt. Man nimmt
an, dass die Disaccharidasen der Mukosazellen in enger Nach-
barschaft zu den für die Monosaccharidresorption (s. u.) benö-
tigten Transportsystemen angeordnet sind.

Für die Resorption von Monosacchariden werden


spezifische Transportsysteme benötigt
. Abb. 61.12 Natriumabhängiger Transportmechanismus für Glucose.
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Ort der Disaccharidspal- (Einzelheiten s. Text)
tung im Bürstensaum der Mukosazellen befinden sich die für die
Monosaccharidresorption zuständigen Transportsysteme. Sie
zeigen folgende Eigenschaften: niedrig bleibt. Er kommt infolgedessen zum Erliegen, wenn de-
4 Verschiedene Hexosen wie Glucose oder Fructose werden ren Aktivität abnimmt, sei es durch Hemmstoffe wie Ouabain
mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten resorbiert. oder durch Störungen des Energiestoffwechsels. Auf der basalen
4 Der Transportvorgang erfolgt stereospezifisch. So wird bei- Seite der Enterocyten befindet sich ein weiteres Transportsystem
spielsweise die natürlich vorkommende D-Glucose, nicht für Glucose, das die erleichterte Diffusion intrazellulärer Gluco-
aber die L-Glucose resorbiert. se in die extrazelluläre Flüssigkeit und damit in das Blut ermög-
4 Die Konzentration resorbierter Monosaccharide, insbeson- licht. Es handelt sich um einen Glucosetransporter aus der
dere der von Glucose, ist in der Mukosazelle wesentlich GLUT-Familie, nämlich den GLUT1 (7 Kap. 15.1.1).
größer als im intestinalen Lumen. SGLT-1 zeigt eine besonders hohe Affinität für Hexosen, die
4 Der Monosaccharidtransport in die Mukosazelle erfolgt nur am C-Atom 2 die D-Konfiguration haben und dementsprechend
in Anwesenheit von Natriumionen. an dieser Stelle nicht substituiert sein dürfen. Hierzu passt, dass
SGLT-1 Galactose mit etwa der gleichen Geschwindigkeit wie
Diese Beobachtungen haben zur Entdeckung des in . Abb. 61.12 Glucose transportiert.
dargestellten natriumabhängigen Glucosetransporters SGLT Für die Resorption von Fructose wird dagegen das zur Fami-
(sodium dependent glucose transporter 7 Kap. 11.5 und 65.7) ge- lie der GLUT-Transporter gehörige GLUT5-Transportsystem
führt. An der luminalen Seite der Mukosazelle binden Glucose benötigt.
und Natriumionen an den SGLT. Da infolge der Aktivität der an
der basolateralen Seite gelegenen Na+/K+-ATPase die Natrium-
konzentration in der Mukosazelle niedrig ist und zusätzlich ein 61.3.2 Proteine, Peptide und Aminosäuren
negatives Potential von etwa ‒40 mV gegenüber dem intestinalen
Lumen besteht, kann Na+ entlang eines elektrischen Gradienten Beim Erwachsenen werden Proteine und Peptide der Nahrung
durch die Membran des Bürstensaums in die Mukosazelle ge- nicht als intakte Moleküle resorbiert und in das Blut abgegeben,
langen und nimmt dabei das am gleichen Carrier angelagerte sondern durch die proteolytischen Enzyme der gastrointestina-
Monosaccharid mit, auch wenn damit ein Transport gegen einen len Säfte und der Mukosazellen zerlegt. Dementsprechend
Konzentrationsgradienten verbunden ist. kommt es nach einer proteinreichen Mahlzeit im Pfortaderblut
Von den bis heute beschriebenen Isoformen des SGLT zu einer der Proteinzusammensetzung entsprechenden Zunah-
kommt im Intestinaltrakt nur SGLT-1 vor. In den Epithelien der me der Konzentrationen einzelner Aminosäuren; Di-, Tri- oder
renalen Tubulussysteme finden sich außer dem SGLT-1 noch die gar Oligopeptide sind dagegen nicht vermehrt nachweisbar. Da
Isoformen 2 und 3 (7 Kap. 65.7). besonders nach proteinreichen Mahlzeiten die Verweildauer im
Der SGLT-1 arbeitet solange die intrazelluläre Natriumkon- Duodenum zu kurz für eine vollständige Aufspaltung von Pro-
zentration durch die ATP-abhängige Natrium-Kalium-Pumpe tein in Aminosäuren ist, ist schon vor Jahren die Resorption klei-
760 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

Tubuli nachgewiesen wurden. PepT1 zeigt eine außerordentlich


breite Substratspezifität und transportiert außer Di- und Tri-
peptiden auch eine Reihe von Arzneimitteln, z. B. β-Lactam-
antibiotika wie Penicillin. Der für den Transport notwendige
Protonengradient wird durch einen Natrium-Protonen-Austau-
scher (blau) aufrechterhalten, der an die basolateral gelegene
Na+/K+-ATPase (rot) gekoppelt ist.

Aminosäuren werden durch spezifische


Transportproteine aufgenommen
Für die Aufnahme von Aminosäuren in die Mukosazellen des
Intestinaltrakts stehen, wie aufgrund der unterschiedlichen
Struktur und Ladung der Aminosäureseitenketten nicht anders
zu erwarten, unterschiedliche Transportsysteme zur Verfügung.
So sind apikal lokalisierte Transportsysteme für saure, neutrale
und basische Aminosäuren beschrieben worden, wobei die Letz-
. Abb. 61.13 Mechanismus der Aufnahme von Peptiden oder Peptid-
teren neben basischen Aminosäuren auch Cystin transportieren.
antibiotika durch den Peptidtransporter PepT1. Der Transport durch den
Peptidtransporter PepT1 (grün) in die Mukosazellen erfolgt gegen ein Kon- Vom Transportmechanismus her unterscheidet man:
zentrationsgefälle in Form eines Protonencotransports. Blau: Na+/H+-Anti- 4 Na+-abhängige Transportsysteme. Diese gleichen in ihrer
porter, rot: Na+/K+-ATPase, lila: Aminosäuretransporter serosaseitig. Transportkinetik den Na+-abhängigen Zuckertransport-
(Einzelheiten s. Text) systemen wie dem SGLT1 (7 Kap. 11.5).
4 Na+-unabhängige Transportsysteme. Hier handelt es sich
um eine Reihe heterodimerer Transportproteine, die
nerer Peptide als wesentlicher Mechanismus der Proteinresorp- speziell für die Aufnahme basischer Aminosäuren und des
tion postuliert worden (s. u.). Cystins verantwortlich sind.
Im Gegensatz zum Erwachsenen findet beim Neugeborenen
eine – wenn auch nur geringe – Aufnahme von intakten Protei- Auf der basolateralen Seite erfolgt die Aminosäureabgabe aus
nen durch die Mukosazellen statt, wahrscheinlich durch Pinocy- den Mukosazellen in das Blut durch entsprechende Uniporter. Es
tose. Auf diese Weise können besonders in der Muttermilch ent- besteht grundsätzlich eine große Ähnlichkeit der Aminosäure-
61 haltene Immunglobuline von der Mutter auf den Säugling über- aufnahmesysteme der intestinalen Mukosazellen mit entspre-
tragen werden. Nach neueren Untersuchungen spielt dieser chenden Transportern in den renalen Tubulusepithelien.
Vorgang jedoch im Vergleich zum placentaren Übertritt von
mütterlichen Immunglobulinen beim Menschen eine geringe
Rolle. 61.3.3 Lipide

Oligopeptide werden mit einem H+-abhängigen Infolge ihrer geringen Wasserlöslichkeit müssen Nahrungslipide
Transportsystem resorbiert (Triacylglycerine, Cholesterin und die fettlöslichen Vitamine A,
Aus Beobachtungen, dass die Verweildauer im Duodenum für D, E und K) im intestinalen Lumen in eine resorptionsfähige
vollständige Proteolyse zu Aminosäuren zu kurz, die Konzentra- Form überführt werden. Dies geschieht durch teilweisen Abbau
tionen von Di- und Tripeptiden im Duodenallumen 5- bis 10- sowie feinste Emulgierung. Nach Aufnahme in die Mukosazellen
mal größer als die Konzentration von freien Aminosäuren und erfolgt ein Umbau der aufgenommenen Lipide in eine für den
die Resorptionsgeschwindigkeiten von Di- und Tripeptiden grö- Transport im Serum geeignete Form.
ßer als diejenige freier Aminosäuren sind, muss geschlossen wer-
den, dass ein erheblicher Teil der Nahrungsproteine nicht in Triacylglycerine der Nahrung werden durch
Form freier Aminosäuren, sondern als Di- und Tripeptide von die Pankreaslipase abgebaut
den Mukosazellen aufgenommen wird. Diese enthalten außeror- Abbau und feine Dispersion der Triacylglycerine im intestinalen
dentlich aktive cytoplasmatische Peptidasen, sodass man davon Lumen werden durch deren partielle Spaltung durch Lipasen
ausgehen kann, dass die aufgenommenen Peptide intrazellulär katalysiert. Etwa 15 % der Esterbindungen in Triacylglycerinen
auf die Stufe freier Aminosäuren gespalten und von dort in das werden bereits durch die Magenlipase gespalten, der Hauptteil
Pfortaderblut abgegeben werden. jedoch im Duodenum durch die Pankreaslipase.
Die Aufnahme von Peptiden in die Mukosazelle erfolgt nach Wegen der Bedeutung der Nahrungslipide für die Aufrecht-
dem Prinzip des sekundär aktiven Transportes. Im Gegensatz zu erhaltung der Versorgung mit Energie, essentiellen Fettsäuren
der Aufnahme von Aminosäuren oder Glucose ist sie allerdings und fettlöslichen Vitaminen ist dieses Enzym von besonderem
nicht Na+- sondern H+-abhängig (. Abb. 61.13). Der in den Interesse. Seine aus einer Röntgenstukturanalyse gewonnene
intestinalen Mukosazellen nachgewiesene Peptidtransporter Raumstruktur ist in . Abb. 61.14 dargestellt. Das Enzym besteht
PepT1 (grün) gehört in eine größere Familie von Peptidtranspor- aus zwei Domänen, wobei die N-terminale Domäne das aktive
tern, die u. a. auch in den Bürstensaumepithelien der renalen Zentrum enthält, welches das für die Esterspaltung essentielle
61.3 · Verdauung und Resorption
761 61
dige Enzym, das im Intestinaltrakt des Säuglings durch die dort
vorhandenen Gallensäuren aktiviert wird.
Vervollständigt wird das Repertoire an lipidspaltenden Enzy-
men des Pankreassekretes durch eine Phospholipase A.
Die durch die Pankreaslipase katalysierte Triacylglycerinver-
dauung führt im Wesentlichen zu β-Monoacylglycerin und Fett-
säuren. Die vollständige Aufspaltung in Glycerin und Fettsäuren
findet nur in geringem Umfang statt, ebenso treten nur kleine
Mengen von Diacylglycerinen als Reaktionsprodukte auf.

Die Bildung von Micellen ist eine Voraussetzung


für die Lipidaufnahme in die Mukosazellen
Durch die Aktion der verschiedenen lipidspaltenden Enzyme im
intestinalen Lumen entsteht ein Gemisch aus Fettsäuren, Mono-
acylglycerinen und Cholesterin. Unter der Einwirkung der aus
der Gallenflüssigkeit stammenden Gallensäuren lagern sich
diese Verbindungen zu Micellen zusammen, die auch weitere
Lipide, vor allem die fettlöslichen Vitamine (7 Kap. 58.1), ein-
schließen. Die Bildung dieser Micellen ist eine Voraussetzung für
die Lipidresorption. Bei allen Störungen des Gallenflusses wird
also die Lipidaufnahme in den Organismus blockiert sein und es
zu sog. Fettstühlen kommen. Eine Ausnahme von dieser Regel
machen Triacylglycerine, die – wenn auch mit deutlich verrin-
gerter Geschwindigkeit – in Abwesenheit von Gallensäuren re-
sorbiert werden, wenn sie nur in Monoacylglycerine und Fett-
säuren aufgespalten und anschließend möglichst fein verteilt
werden.

Bei Kontakt mit dem Bürstensaum der Mukosa


zerfallen die Micellen, ihre verschiedenen Bestand-
teile werden einzeln resorbiert
. Abb. 61.14 Schematische Darstellung der Raumstruktur des Lipase/
Colipase-Komplexes und Aktivierung der Lipase durch Kontakt mit
Resorption von Acylglycerinen und Fettsäuren Es sind zwar un-
Grenzflächen. In Abwesenheit von Grenzflächen ist der Deckel über dem terschiedliche Fettsäuretransportproteine, vor allem das CD 36
aktiven Zentrum der Lipase geschlossen. Der durch die Colipase vermittelte und FATP-Proteine (7 Kap. 21.1.3) in der Mukosazelle beschrie-
Kontakt mit Grenzflächen aus Phospholipiden oder Gallensäuren führt ben worden, allerdings verläuft die Resorption von Acylglyceri-
zu einer Konformationsänderung, die den Deckel vom aktiven Zentrum
nen und Fettsäuren auch bei solchen Versuchstieren mit norma-
abzieht. (Adaptiert nach Lowe 1997)
ler Geschwindigkeit, bei denen diese Proteine gentechnisch aus-
geschaltet wurden. Fettsäuren und Monoacylglycerine scheinen
daher überwiegend passiv durch die Lipidphase der apikalen
Serin trägt. Durch eine Art Deckel ist das aktive Zentrum ver- Plasmamembran der Mukosazellen zu diffundieren.
schlossen. Die C-terminale Domäne enthält die Bindungsstelle
für ein Hilfsprotein, ohne das die Lipase nicht in die aktive Form Resorption von Sterolen Wesentlich komplexer sind dagegen die
überführt werden kann. Dieses Hilfsprotein wird als Colipase Verhältnisse beim Cholesterin und verwandten Verbindungen.
bezeichnet und vermittelt die Assoziation der Lipase an Lipid- Bei ausgewogener Diät werden pro Tag etwa 250–500 mg Cho-
grenzflächen mit Phospholipiden und Gallensäuren. Diese Asso- lesterin, aber auch 200–400 mg andere Sterole aufgenommen.
ziation führt dazu, dass sich der Deckel über dem aktiven Zent- Diese sind wie das Sitosterol (7 Kap. 3.2.5; Tafel II.5) überwiegend
rum öffnet und damit die Lipase katalytisch aktiv werden kann. pflanzlicher Herkunft. . Abb. 61.15 zeigt die Grundzüge der Re-
Neben der triacylglycerinspezifischen Pankreaslipase kommt sorption dieser Verbindungen. Für die Aufnahme der aus den
im intestinalen Lumen eine weitere Lipase vor, die im Gegensatz zerfallenden Micellen freigesetzten Sterole in die Mukosazelle ist
zur Pankreaslipase auch β-Monoacylglycerine zu spalten imstan- ein spezifisches Transportprotein verantwortlich, das als Nie-
de ist. Dieses Enzym wird durch Gallensäuren aktiviert und zeigt mann-Pick-C1 like1 (NPC1 like1) bezeichnet wird. Das Protein
eine sehr weite Substratspezifität. Außer Acylglycerinen werden gehört in die Familie der Niemann-Pick C1-Proteine, die am in-
von dieser Carboxylesterase auch Cholesterinester und Phos- trazellulären Cholesterintransport beteiligt sind und deren Mu-
pholipide gespalten. Interessanterweise ist in der Muttermilch tationen den Typ C der Niemann-Pick-Lipidspeicherkrankheit
eine hohe Aktivität dieser Carboxylesterase nachweisbar. Mut- auslösen. NPC1-like1 ist ein integrales Membranprotein der lu-
termilch liefert also nicht nur die für den Säugling notwendigen minalen Plasmamembran der intestinalen Mukosazellen, das
Triacylglycerine, sondern auch das für deren Spaltung notwen- dort mit 13 Transmembrandomänen verankert ist. Es ist für die
762 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

rolytische Abspaltung aus den aufgenommenen Monoacylglyce-


rinen mit Hilfe einer in der Mukosazelle vorkommenden Mono-
acylglycerinlipase. Das Glycerin-3-Phosphat entstammt im
Wesentlichen der Glycolyse, kann aber auch durch direkte Phos-
phorylierung von Glycerin mit Hilfe einer ATP-abhängigen Gly-
cerinkinase entstehen. Diese verschiedenen Wege zur Triacylgly-
cerinbildung bieten für die Mukosazelle Vorteile. Unter norma-
len Bedingungen werden aufgenommene Monoacylglycerine
direkt zu Triacylglycerinen acyliert. Bei einem Überschuss von
nicht veresterten Fettsäuren kann zusätzlich die Möglichkeit der
Triacylglycerinbiosynthese aus Glycerin-3-Phosphat und Fett-
säuren in Anspruch genommen werden. Durch die mukosaspe-
zifische Monoacylglycerinlipase kann schließlich ein Monoacyl-
glycerinüberschuss abgebaut und die dabei entstehenden Fett-
säuren der Triacylglycerinbiosynthese zugeführt werden. Außer
der Triacylglycerinbildung erfolgt in der Mukosazelle auch die
Veresterung von Cholesterin, das nur in freier Form resorbiert
werden kann.

. Abb. 61.15 Resorption von Sterolen. NPC1 like1: Niemann-Pick like1- Assemblierung von Chylomikronen Im Anschluss an die Biosyn-
Steroltransporter; ABCG5 und ABCG8: ABC-Transporter, die den Export von
Sitosterol und ähnlichen Verbindungen übernehmen; Chol: Cholesterin;
these von Triacylglycerinen und Cholesterinestern erfolgt ihre
Sito: Sitosterol. (Einzelheiten s. Text) Assoziation an das Apolipoprotein B48, wobei Chylomikronen
entstehen (7 Kap. 24.2). Hierzu müssen die im glatten endoplas-
matischen Retikulum synthetisierten Triacylglycerine, Choleste-
rinester und Phospholipide durch das Triglycerid-Transfer-Pro-
Cholesterinaufnahme in die Mukosazellen verantwortlich, kann tein zum Golgi-Apparat transportiert werden.
aber nicht zwischen Cholesterin und den anderen meist pflanz- Das Triglycerid-Transfer-Protein ist ein heterodimeres
lichen Sterolen unterscheiden. Erst ein in dem vesikulären Kom- Protein, dessen eine Untereinheit aus der Proteindisulfidisome-
partiment der Mukosazellen lokalisierter Sortierungsvorgang rase (7 Kap. 49.2.1) besteht und die andere wesentlich größere
61 trennt Cholesterin und die anderen Sterole. Diese werden mit Untereinheit in relativ hoher Konzentration im Intestinaltrakt
Hilfe der ABC-Transporter ABCG5 und ABCG8 wieder in das und in der Leber vorkommt. Dies sind die beiden einzigen Or-
duodenale Lumen zurücktransportiert. Hemmstoffe des NPC1- gane, die zur Biosynthese von Apolipoprotein-B-haltigen Lipo-
like1-Transporters werden auch zur Behandlung der Hypercho- proteinen imstande sind. Im Golgi-Apparat erfolgt dann die
lesterinämie (7 Kap. 25.4.2) eingesetzt. Assemblierung der Triacylglycerine, Cholesterinester und
Phospholipide mit dem Apolipoprotein B48 zu Chylomikronen.
In der Mukosazelle erfolgt die Resynthese Diese werden durch Exocytose von den Enterocyten freigesetzt
von Triacylglycerinen und die Assemblierung (7 Kap. 24.2).
von Chylomikronen
Resynthese von Triacylglycerinen Nach der Aufnahme der durch
die intestinale Lipidverdauung entstandenen Fettsäuren und 61.3.4 Resorption von Wasser und Elektrolyten
β-Monoacylglycerine finden die in . Abb. 61.16 dargestellten
Reaktionen am endoplasmatischen Retikulum der Mukosazelle Mit dem Übergang der Meeresbewohner zum Leben auf dem
statt. Ihr Zweck ist die Umwandlung der aus dem Darm aufge- Land ergab sich die Notwendigkeit, spezielle Mechanismen zur
nommenen Lipide in eine in Lymphe und Blut transportable möglichst effektiven Konservierung von Wasser und Elektroly-
Form. Dabei kommt es zunächst durch Reveresterung von Fett- ten zu entwickeln. Neben den Nieren und den Schweißdrüsen
säuren zur Triacylglycerinbildung. Der Mukosazelle stehen fällt dabei dem Magen-Darm-Trakt eine Hauptaufgabe zu. Hier-
hierfür verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Einmal für sind v. a. zwei Gründe verantwortlich. Einmal ist der Magen-
können die aus dem intestinalen Lumen aufgenommenen Darm-Trakt unter physiologischen Bedingungen die einzige
β-Monoacylglycerine direkt mit aktivierten Fettsäuren, also mit Aufnahmestelle für Wasser und Elektrolyte. Beim Menschen
Acyl-CoA, verestert werden. Acyl-CoA entsteht unter Einwir- müssen täglich etwa 2–3 l Wasser und 300 mmol (ca. 7 g)
kung der in der intestinalen Mukosa in hoher Aktivität vorkom- Natrium und 100 mmol (ca. 4 g) Kalium, die mit dem Harn und
menden Acyl-CoA-Synthetase (7 Kap. 21.2.1). Neben diesem für Schweiß verloren gehen, ersetzt werden. Zum anderen müssen
die Mukosazelle typischen Reveresterungsmechanismus kommt im Magen-Darm-Trakt erhebliche Mengen der Plasma-isotonen
als weitere Möglichkeit die Triacylglycerinbiosynthese aus Gly- Flüssigkeit resorbiert werden, die aus den Sekreten der Verdau-
cerin-3-Phosphat und Acyl-CoA in Frage, wie sie in vielen Zellen ungsdrüsen und der Leber stammt. Wie oben diskutiert, beträgt
des Organismus abläuft. Das für diesen Vorgang notwendige die Gesamtmenge dieser Sekrete beim Menschen pro Tag etwa
Acyl-CoA entsteht aus resorbierten Fettsäuren oder durch hyd- 6–9 l. Da sie eine dem Plasma entsprechende Elektrolytzusam-
61.3 · Verdauung und Resorption
763 61

. Abb. 61.16 Intestinale Spaltung und Resynthese von Triacylglycerinen. R: Acylrest. (Einzelheiten s. Text)

mensetzung haben, müssen also nicht nur Wasser, sondern auch Im Jejunum erfolgt der größte Teil
entsprechende Mengen an Elektrolyten resorbiert werden, um der Wasserrückresorption
schwere, mit dem Leben nicht zu vereinbarende Elektrolytver- Der wichtigste Ort der gastrointestinalen Wasserrückresorption
luste zu vermeiden. ist das Jejunum. Ist der Darminhalt an dieser Stelle noch hypo-
Im Gegensatz zu Aminosäuren, Zuckern oder Elektrolyten ton, verlässt Wasser infolge der osmotischen Druckdifferenz zwi-
ist die Resorption von Wasser ein passiver Vorgang und erfolgt schen Plasma und Lumen den Darm. Unter normalen Bedingun-
entlang eines osmotischen Gradienten. Da die Elektrolyte gen ist jedoch die Speiseflüssigkeit im Bereich des Jejunums eine
Natrium, Chlorid und Hydrogencarbonat den überwiegen- isotone Lösung, die sich in etwa in ionischem Gleichgewicht mit
den Teil der osmotisch aktiven Substanzen im Bereich des Ma- dem Plasma befindet. Unter diesen Bedingungen können nur
gen-Darm-Traktes ausmachen, sind die Vorgänge der Wasser- geringe Mengen von Na+, Cl– oder Wasser resorbiert werden
resorption untrennbar mit denjenigen des Elektrolyttransports (. Abb. 61.17). Der Resorptionsvorgang kommt jedoch sofort in
verbunden und werden deshalb im Folgenden auch zusammen Gang, wenn zusätzlich Zucker oder Aminosäuren im Darmlu-
behandelt. men vorhanden sind. Eine Erklärung findet dieses Phänomen
darin, dass die treibende Kraft für den passiv erfolgenden
Wasser- oder NaCl-Sekretion in Magen Wassertransport der aktive Natriumtransport aus dem Darmlu-
und Duodenum macht den Speisebrei isoton men in das Plasma ist, der wiederum in diesem Teil des Magen-
Im Magen und Duodenum findet keine Wasserresorption statt. Darm-Trakts mit dem Transport von Monosacchariden bzw.
Im Gegenteil, es kommt hier bei Vorliegen eines hypertonen Aminosäuren gekoppelt ist.
Speisebreis zur Wassersekretion in Magen- und Darmlumen bis Die im Jejunum vorliegenden Verhältnisse werden in sche-
ein annähernd plasma-isotoner Wert erreicht wird. Werden matischer Form in . Abb. 61.18 dargestellt. Natriumionen wer-
dagegen hypotone Lösungen (Wassertrinken) zugeführt, so den mit Monosacchariden oder Aminosäuren aus dem intesti-
wird Natriumchlorid bis zur Isotonie in das duodenale Lumen nalen Lumen in die Mukosazelle transportiert. Durch die vor
sezerniert. allen Dingen an der basolateralen Seite der Mukosazellmembran

Pankreaslipase Glycerinkinase Apolipoprotein B_48 β-Monoacylglycerin# α-Monoacylglycerin# Glycerin# Triacylglycerine# Glycerin-


3-Phosphat#
764 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

. Abb. 61.17 Abhängigkeit der Wasserresorption vom Hexosetransport.


30 cm normalen menschlichen Jejunums wurden mit einer Geschwindig-
keit von 20 ml/min mit den angegebenen Lösungen perfundiert und die
Wasserresorption gemessen. Die Perfusionslösungen enthielten in isoto-
nischer Kochsalzlösung (0,9 %) jeweils 2,5 % der angegebenen Zucker

. Abb. 61.19 Elektroneutrale und elektrogene Reabsorption von Na+


und Cl– im Ileum und Colon. (Einzelheiten s. Text)

Ileum und Colon enthalten spezifische Transport-


systeme für die Wasser- und Elektrolytresorption
Im Gegensatz zum Jejunum erfolgt im Ileum und Colon die
Resorption von Natrium und Wasser unabhängig von der Anwe-
61 senheit von Monosacchariden, Aminosäuren oder Hydrogencar-
bonationen. Prinzipiell können zwei unterschiedliche Transport-
mechanismen unterschieden werden.
4 Die elektroneutrale NaCl-Resorption. Für diesen Vorgang,
der in . Abb. 61.19, oberer Teil, schematisch dargestellt ist,
werden ein Na+/H+- und ein Cl–/HCO3–-Austauscher benö-
tigt. Für die Regenerierung der im Austausch gegen NaCl
aufgenommenen Protonen und des Hydrogencarbonats
sind zwei Carboanhydrasen erforderlich, von denen eine im
. Abb. 61.18 Kopplung von Na+- und Wassertransport im Jejunum. Bürstensaum, die andere in der Mukosazelle lokalisiert ist.
Rot: aktiver Transport von Na+-Ionen (Na+/K+-ATPase). (Einzelheiten s. Text)
Auf der basolateralen Seite findet der Na+- (und Cl‒-) Ex-
port durch die Na+/K+-ATPase oder entsprechende Kanäle
statt.
gelegene energieabhängige Natriumpumpe wird der Natriumge- 4 Elektrogene Na+-Aufnahme durch den epithelialen Nat-
halt der Mukosazelle niedrig gehalten, im Interzellulärspalt je- riumkanal (epithelial natrium channel, ENaC). Dieser in
doch ein osmotischer Gradient aufgebaut, sodass passiv Wasser vielen epithelialen Geweben vorkommende regulierbare
aus dem Lumen in den Interzellulärspalt nachfließt. Ein Wasser- Natriumkanal ist für die luminale Na+-Aufnahme verant-
ausgleich in Richtung des intestinalen Lumens ist unmöglich, da wortlich (. Abb. 61.19, unterer Teil). Sie wird durch eine
der Interzellulärspalt der luminalen Seite durch die tight junc- entsprechende Cl–-Aufnahme komplettiert. Diese kann
tions (Zonula occludens) verschlossen ist. über Chloridkanäle oder durch parazellulären Transport
Eine weitere wichtige Rolle bei der Wasserresorption spielt erfolgen. Auf der basolateralen Seite findet der Na+- (und
das Hydrogencarbonat. Infolge seiner hohen Konzentrationen Cl–-)Export durch die Na+/K+-ATPase oder entsprechende
in der Gallenflüssigkeit sowie im Pankreassekret gelangen relativ Kanäle statt.
große Mengen des Anions in das Jejunum, aus dem sie rasch re-
sorbiert werden. An die Hydrogencarbonatresorption ist der Von entscheidender Bedeutung für die Rückresorption von Was-
Transport von Natrium und Wasser geknüpft. Ein gleichartiger ser ist, dass durch die genannten Natriumrückresorptionsvor-
Vorgang findet in den proximalen Tubulusepithelien der Niere gänge ein osmotischer Gradient aufgebaut wird, der für den Was-
statt. sertransport aus dem luminalen in den basolateralen Raum ver-

Wasserresorption Glucose Galactose Maltose Fructose


61.3 · Verdauung und Resorption
765 61
antwortlich ist. Es ist noch nicht geklärt, inwieweit Aquaporine Transportsystemen für Na+ und K+-Ionen ist er für die Sekretion
an ihm beteiligt sind. von NaCl in das intestinale Lumen verantwortlich, dem ein ent-
sprechender Wassertransport folgt.
Aldosteron und Angiotensin regulieren Natrium- Das CFTR-Protein unterliegt einer sehr fein gesteuerten hor-
und Wasserrückresorption monellen Regulation. Es kann durch eine Reihe von Proteinki-
Die in den unteren Abschnitten des Dünndarms und im nasen (Proteinkinase A, cGMP-abhängige Proteinkinase, Prote-
Dickdarm vorhandenen Natrium- und damit auch Wasser- inkinase C, CaM-Kinase) phosphoryliert werden, was jeweils zu
konservierenden Enzymsysteme gehören zu den für Landlebe- einer Aktivierung der Chloridsekretion und damit auch des Was-
wesen essentiellen Schutzmechanismen. Sie verhindern mit den sertransports führt.
Ausscheidungsvorgängen einhergehende Verluste von Wasser
und Natrium, die mit der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Resorption anderer Nahrungsbestandteile
alleine nicht zu kompensieren wären. Funktionell gleichartige Für eine Reihe wichtiger Nahrungsbestandteile wie Vitamine,
Systeme kommen in den Nieren und den Schweißdrüsen vor, Calcium, Magnesium, Phosphat und Eisen bestehen spezielle
wo sie ebenfalls Wasser- und Elektrolytverluste zu verhindern Resorptionsmechanismen, die bei der Besprechung des Stoff-
haben. wechsels der einzelnen Substanzen abgehandelt werden.
Es ist deshalb sinnvoll, dass auch im Magen-Darm-Trakt die
Mineralocorticoidhormone im Sinne einer Natriumkonservie-
rung wirken. Dies trifft v. a. für das Aldosteron (7 Kap. 65.4.3) 61.3.5 Schicksal der Nahrungsstoffe im Colon
zu, das neben seiner renalen Wirkung auch an Ileum und Colon
die Rückresorption von Natrium stimuliert. So steigt beim nor- Duodenum, Jejunum und in geringerem Umfang Ileum sind die
malen Menschen 24 h nach Aldosterongabe die Geschwindig- Hauptorte der resorptiven Vorgänge. Hat der Speisebrei diese
keit der Natriumresorption im Colon um etwa das 3fache an. Darmabschnitte passiert, hört die Resorption mit Ausnahme der
Der Wirkungsmechanismus des Aldosterons beruht auf der oben besprochenen Wasser- und Elektrolytaufnahme auf. Die im
vermehrten Induktion der an der Na+-Rückresorption beteilig- Darminhalt noch vorhandenen Reste der Nahrungsstoffe wer-
ten Kanäle und Transporter, v. a. des ENac und der Na+/K+- den durch die im Colon vorkommenden Bakterien zersetzt.
ATPase. Kohlenhydrate und Lipide werden zu niedermolekularen
Eine weitere wichtige Rolle bei der Natrium- und Wasserkon- organischen Säuren wie Lactat, Acetat und Butyrat vergoren,
servierung im Magen-Darm-Trakt spielt das Angiotensin II wobei verschiedene Gase wie CO2, Methan und Wasserstoff
7 Kap. 65.4.3). Ähnlich wie in den Nieren stimuliert es auch im entstehen können.
Ileum und Colon die Natriumrückresorption und begünstigt so Proteine und Aminosäuren unterliegen dagegen im Dick-
die Wasseraufnahme durch den Darm. darm einem bakteriell induzierten Fäulnisvorgang.
Viele Aminosäuren werden durch die intestinale Bakterien-
Im Intestinaltrakt können Wasser flora zu toxischen Aminen decarboxyliert. Auf diese Weise ent-
und Elektrolyte sezerniert werden steht
Neben der Aufnahme von Wasser und Elektrolyten durch die 4 aus Lysin Cadaverin
Darmwand finden ständig Flüssigkeits- und Elektrolytbewegun- 4 aus Arginin Agmatin
gen in der umgekehrten Richtung, d. h. in Richtung auf das 4 aus Tyrosin Tyramin
Darmlumen, statt. Die absolute, als Absorptionsrate bezeichnete 4 aus Ornithin Putrescin und
Größe des Stofftransports durch die Darmwand ergibt sich aus 4 aus Histidin Histamin
der Geschwindigkeitsdifferenz des Transports vom Lumen durch
die basolaterale Membran und damit ins Blut (Insorption) und Tryptophan wird in einer mehrstufigen Reaktion durch die
der als Exsorption bezeichneten Bewegung von Wasser bzw. Elek- Darmbakterien in Indol und Scatol (Methylindol) umgewandelt.
trolyten durch die luminale Membran in das Darmlumen hinein. Diese mehr oder weniger toxischen Abbauprodukte werden
Dass die Exsorption nicht ausschließlich durch passive Rück- z. T. resorbiert und gelangen über die Pfortader zur Leber, wo sie
diffusion hervorgerufen wird, geht aus der Beobachtung hervor, durch Kopplung an Sulfat oder Glucuronat für die Nieren aus-
dass bei der Cholera eine massiv gesteigerte Flüssigkeits- und scheidungsfähig gemacht werden. Die aus Indol durch Kopp-
Elektrolytsekretion durch das Jejunum in das Lumen erfolgt, ob- lung an Schwefelsäure entstehende Indoxylschwefelsäure wird
wohl die Mukosa histologisch normal ist und die insorptiven auch als Indican bezeichnet und kann relativ leicht in Serum
Vorgänge wie aktiver Transport von Monosacchariden und Ami- bzw. Urin nachgewiesen werden, da sie zu Indigo oxidiert wer-
nosäuren sowie Natriumtransport ungestört ablaufen. den kann.
Eine entscheidende Rolle bei der intestinalen Sekretion von Nimmt infolge chronischer Lebererkrankungen die Fähigkeit
Elektrolyten und Wasser spielt der Chloridtransport durch das des Leberparenchyms zum Abbau bzw. zur Entgiftung toxischer
schon oben als CFTR (cystic fibrosis transmembrane conductance Amine ab, steigt deren Serumkonzentration an. Dies führt zu
regulator) bezeichnete Protein. CFTR, dessen Mutationen die Mu- einer Funktionsstörung des Zentralnervensystems, die auch als
koviszidose (im angloamerikanischen Sprachraum cystische Fib- hepatische Enzephalopathie bezeichnet wird. Ein ähnliches
rose) auslösen, ist ein in vielen Epithelzellen in der apikalen Mem- Krankheitsbild kann sich auch dann entwickeln, wenn zur Sen-
bran lokalisierter Chloridkanal. Zusammen mit entsprechenden kung des Drucks im Bereich der Pfortader ein Kurzschluss
766 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

zwischen Pfortader und V. cava operativ oder radiologisch inter- Grundsätzlich kommt es beim Erwachsenen mit der norma-
ventionell (TIPS: transjugulärer intrahepatischer portosystemi- lerweise auftretenden Verminderung der Zufuhr milchhaltiger
scher stentshunt) angelegt wird und auf diese Weise ein Teil des Nahrungsmittel zu einem relativen Disaccharidasemangel. Dieser
Pfortaderbluts ohne Leberpassage direkt in den großen Kreislauf ist im Allgemeinen reversibel, da die Disaccharidasen der Dünn-
gelangt. darmmukosa durch Zufuhr ihres Substrats induziert werden.

Glucose-Galactose-Malabsorption Die Glucose-Galactose-Mal-


61.3.6 Pathobiochemie absorption ist eine sehr seltene Erbkrankheit, die auf einem De-
fekt des luminalen Glucosetransporters SGLT-1 beruht. Die Pa-
Störungen der Kohlenhydratverdauung tienten können deswegen weder Glucose noch Galactose resor-
und Resorption beruhen auf Defekten bieren. Da diese Zucker in die tieferen Darmabschnitte gelangen,
von Enzymen oder Transportern lösen sie dort osmotische Diarrhöen aus und werden bakteriell
Eine Reihe von Störungen der Kohlenhydratverdauung und -re- abgebaut. Für die betroffenen Kinder ist dies eine lebensgefähr-
sorption sind auf verminderte Aktivitäten bzw. vollständigen liche Erkrankung, die lediglich dadurch behandelt werden kann,
Mangel an Disaccharidasen zurückzuführen. Können Nah- dass ihre Diät frei von Saccharose, Lactose, Glucose oder Galac-
rungsdisaccharide nicht verdaut und damit auch nicht resorbiert tose gehalten wird. I. Allg. wird Fructose als Kohlenhydrat ver-
werden, gelangen sie in tiefere Darmabschnitte. Dort lösen sie wendet, da diese über den GLUT5-Transporter resorbiert wird.
eine osmotische Diarrhö und wegen der Fermentierung durch
Darmbakterien Meteorismus (Blähungen) aus. Man unterschei- Mangel an Gallensäuren geht mit Störungen
det im Einzelnen zwischen primärem, sekundärem und relati- der Fettresorption einher
vem Disaccharidasemangel. Eine Reihe von Pathomechanismen führen zu Störungen der
Fettresorption, die sich i. Allg. am Auftreten von Fettstühlen
Primärer Disaccharidasemangel Die häufigste Form des primä- (Steatorrhoe) erkennen lassen und deswegen besonders bedeut-
ren Disaccharidasemangels ist der primäre Lactasemangel, der sam sind, weil sie mit Resorptionsstörungen essentieller lipophi-
auch als Lactoseintoleranz bezeichnet wird. Bei diesem Leiden ler Verbindungen wie fettlöslicher Vitamine und essentieller
kommt es zu einer genetisch fixierten Abnahme der zum Zeit- Fettsäuren einhergehen.
punkt der Geburt noch normalen Lactaseaktivität mit zuneh- Häufig werden Fettresorptionsstörungen durch eine vermin-
mendem Lebensalter. Das Leiden, das gelegentlich familiär ge- derte intestinale Gallensäurekonzentration ausgelöst, die durch
häuft vorkommt, tritt bei Afrikanern, Bewohnern des Vorderen Verlegung der ableitenden Gallenwege oder durch eine hepati-
61 Orients und der australischen Urbevölkerung wesentlich häufi- sche Störung der Gallensäuresynthese verursacht werden kann.
ger auf als bei Europäern. Das Krankheitsbild ist abzugrenzen Viel seltenere Ursachen sind Lipase- bzw. Colipasemangel bei
von dem sehr seltenen kongenitalen Fehlen der enteralen Lactase Pankreasinsuffizienz oder als hereditäre Erkrankung. Ein durch
des Säuglings. Die Behandlung des primären Lactasemangels be- massive Lipideinlagerungen in den Mukosazellen gekennzeich-
steht in der Vermeidung von Milch und Milchprodukten. Neben netes Krankheitsbild findet sich schließlich bei der sehr seltenen
dem primären Lactasemangel kommt, wenn auch wesentlich hereditären A-β-Lipoproteinämie. Die betroffenen Patienten
seltener, ein primärer Saccharase-Isomaltase-Mangel vor. zeichnen sich dadurch aus, dass in ihrem Plasma keinerlei Lipo-
proteine mit Apolipoproteinen des Typs B nachweisbar sind.
Sekundärer Disaccharidasemangel Auch beim sekundären Di- Eine genauere Untersuchung hat ergeben, dass sie zwar durchaus
saccharidasemangel überwiegt der Lactasemangel. Der sekun- imstande sind, das Apolipoprotein B100 bzw. B48 zu synthetisie-
däre Lactasemangel ist eine Begleiterscheinung bei vielen gast- ren, jedoch keinerlei Triacylglycerin-Transfer-Proteine besitzen,
rointestinalen Erkrankungen, beispielsweise bei der glutensensi- da diese durch Mutationen ausgeschaltet sind. Triacylglycerin-
tiven Enteropathie (als Sprue im Erwachsenenalter und Zöliakie Transfer-Proteine werden für die Verpackung von Triacylglyce-
im Kindesalter bezeichnet) (s. u.), dem Kwashiorkor (7 Kap. rinen in Chylomikronenvesikel benötigt. Dieser Befund weist auf
57.1.1) und dem M. Crohn (eine chronisch entzündliche Darmer- die enorme Bedeutung des Lipidtransfers zwischen Membranen
krankung) bei Dünndarmbefall. Er kann auch durch chemische für die Biosynthese von Lipoproteinen hin.
Substanzen wie Colchicin und Neomycin, Chemotherapie bei
malignen Erkrankungen oder durch Röntgenbestrahlung her- Die Sitosterolämie zeigt die Symptomatik
vorgerufen werden. einer familiären Hypercholesterinämie
Wie in 7 Kap. 61.3.3 beschrieben, erfolgt die Aufnahme von Ste-
Relativer Disaccharidasemangel Der relative Disaccharidase- rolen durch das NPC1 like1-Transportprotein, das allerdings
mangel ist durch ein Missverhältnis der in der Mukosa vorhan- nicht zwischen Cholesterin und pflanzlichen Sterolen unter-
denen Disaccharidasen zu den mit der Nahrung zugeführten scheiden kann. Unter normalen Umständen werden diese im
Disacchariden gekennzeichnet. Funktionell kann der relative vesikulären Kompartiment der Mukosazellen sortiert und durch
Disaccharidasemangel nach Magenresektion entstehen, wenn es die Lipidtransporter ABCG5 und ABCG8 wieder in das intesti-
zu einer zu raschen Entleerung des Chymus aus dem Restmagen nale Lumen exportiert. Defekte dieser beiden Lipidtransporter
kommt. Außerdem kann jede besonders disaccharidreiche Diät lösen das Krankheitsbild der Sitosterolämie aus. Bei den Patien-
einen relativen Disaccharidasemangel erzeugen. ten findet man eine erhöhte Konzentration von pflanzlichen Ste-
61.3 · Verdauung und Resorption
767 61
rolen in den Mukosazellen und im Blut. Die Betroffenen zeigen struktur sind akute oder chronische Durchfälle keinesfalls eine
Xanthome und leiden unter verfrühter schwerer Arteriosklerose Seltenheit.
mit häufiger koronarer Herzerkrankung. Für die große Gruppe der akuten Durchfallerkrankungen ist
folgende Einteilung üblich:
Defekte von Proteinverdauung und Resorption 4 osmotische Durchfälle und
haben verschiedenste Ursachen 4 sekretorische Durchfälle
Die häufigsten Defekte der Proteinverdauung und Resorption
finden sich bei der exkretorischen Pankreasinsuffizienz, bei einer Osmotische Durchfälle Zu osmotischen Durchfällen kommt es
Atrophie bzw. Funktionseinschränkung der Dünndarmzotten immer dann, wenn nicht oder nur schlecht resorbierbare nieder-
(Sprue) und auch nach Dünndarmresektion. Nicht verdaute bzw. molekulare wasserlösliche Verbindungen in die tieferen Darm-
resorbierte Proteine gelangen dann in tiefere Darmabschnitte, abschnitte gelangen. Sie lösen dort aufgrund ihrer hohen osmo-
wo sie bakteriell abgebaut werden, was häufig zur Bildung toxi- tisch wirksamen Konzentration einen Transport von Wasser in
scher Produkte führt. das intestinale Lumen aus, dem Na+ und Cl‒-Ionen nachfolgen.
Seltenere Erkrankungen sind hereditäre Defekte proteolyti- Eine Ursache für osmotische Durchfälle kann der Verzehr
scher Enzyme, z. B. des Trypsinogens oder der Enteropeptidase. nicht oder schlecht resorbierbarer Zucker sein. Beispiel hierfür
Gendefekte von Aminosäuretransportsystemen sind ist die Verwendung von Sorbitol oder Xylitol als Nahrungszu-
4 die Hartnup-Krankheit, die durch eine Aufnahmestörung sätze. Eine weitere Ursache osmotischer Durchfälle sind die oben
neutraler Aminosäuren verursacht wird, geschilderten Defekte der enzymatischen Systeme, die für die
4 die Cystinurie, Aufspaltung von Disacchariden oder die Resorption von Mono-
4 die Methioninmalabsorption und sacchariden verantwortlich sind.
4 die Prolinmalabsorption.
Sekretorische Durchfälle Sekretorische Durchfälle werden
Die Bedeutung der Peptidspaltung innerhalb der Mukosazellen durch eine gesteigerte Sekretion von Na+ und Cl–-Ionen in das
für Verdauung und Resorption lässt sich gut am Beispiel der glu- intestinale Lumen ausgelöst, denen passiv Wasser nachfolgt. Be-
tensensitiven Enteropathie zeigen (unter dem Begriff Sprue wer- sonders gut untersucht ist dabei die durch den Choleraerreger
den eine Reihe von Durchfallerkrankungen unterschiedlicher Vibrio cholerae ausgelöste Diarrhö. Dieser produziert ein Entero-
Genese zusammengefasst). Bei diesem Krankheitsbild findet sich toxin, welches aus einer dimeren A-Untereinheit und fünf iden-
eine allgemeine Störung der Verdauung und Resorption von tischen B-Untereinheiten besteht (7 Kap. 35.3.2). Die B-Unter-
Nahrungsstoffen infolge einer weitgehenden Atrophie der einheiten sind für die Bindung des Choleratoxins an das Gang-
Dünndarmzotten mit entsprechenden Veränderungen des liosid GM 1 verantwortlich, das einen wesentlichen Bestandteil
Dünndarmepithels. der intestinalen Bürstensaummembranen darstellt. Anschlie-
Diese im Kindesalter auch als Zöliakie bezeichnete Erkran- ßend kann die A-Untereinheit aufgenommen werden, die nun
kung ist eine Autoimmunerkrankung mit genetischen, immuno- die ADP-Ribosylierung (7 Kap. 49.3.6) des stimulierenden G-
logischen und Umweltkomponenten. Gliadine sind Peptide aus Proteins (Gs) der Adenylatcyclase auslöst. Hierdurch wird dieses
6 bis 7 Aminosäuren, die bei der Verdauung des Weizenproteins konstitutiv aktiv und führt zu einer Dauerstimulierung der Ade-
Gluten entstehen. Besonders nach Desamidierung von Gluta- nylatcyclase. In den Mukosazellen des Intestinaltrakts löst dies
minresten durch eine enterale Transglutaminase 2 lösen Glia- über die Proteinkinase A eine Aktivierung des CFTR-Chloridka-
dine bei den Betroffenen eine komplexe zur oben beschriebenen nals aus. Die Folge ist eine gesteigerte Sekretion von Chlorid und
Symptomatik führende Reaktion aus. Es ist bis jetzt noch nicht ihm folgend von Natriumionen und Wasser.
sicher bekannt, ob die Gliadine selbst auf das Dünndarmepithel Dieses pathogenetische Prinzip findet sich nicht nur beim
toxisch wirken oder ob es sich um eine Autoimmunreaktion auf- Choleratoxin, sondern auch bei den Toxinen einer Reihe anderer
grund von Kreuzreaktivität handelt. Gliadine werden auch in die Mikroorganismen sowie im Rahmen der IgE-vermittelten mu-
Blutbahn aufgenommen und führen dort zur Bildung spezifi- kosalen Immunantwort (s. u.). Außerdem kommt es bei einem
scher Antikörper, die sich bei allen Patienten mit Sprue nachwei- sehr seltenen endokrinen Tumor, dem Werner-Morrison-Syn-
sen lassen und die ihrerseits für die Schädigung des Dünndarm- drom vor. Dieser zeichnet sich durch eine vermehrte Sekretion
epithels verantwortlich sein könnten. Deren Nachweis hat eine von VIP (vasoaktives intestinales Peptid) aus.
sehr hohe Sensitivität und Spezifität zur Diagnosestellung einer
Sprue. Die Erkrankung ist assoziiert mit Genen, die für die
MHC-Antigene DQ2 und DQ8 codieren. Zusammenfassung
Für die Resorption von Monosacchariden, Aminosäuren und
Man unterscheidet osmotische Oligopeptiden stehen spezifische Transportmoleküle zur Verfü-
und sekretorische Diarrhöen gung, die den Na+- bzw. H+-abhängigen, sekundär aktiven
Weltweit sterben jährlich an akuten Diarrhöen mehrere Millio- Transport in die Mukosazelle ermöglichen. Auf der basolatera-
nen Patienten, vor allem Kinder. Die meisten Fälle ereignen sich len Seite der Mukosazellen erfolgt anschließend die Abgabe der
in Entwicklungsländern mit schlechten hygienischen Verhält- aufgenommenen Verbindungen in die extrazelluläre Flüssigkeit
nissen und einer unzureichenden ärztlichen Versorgung. Aber 6
auch in industrialisierten Ländern mit entsprechender Infra-
768 Kapitel 61 · Gastrointestinaltrakt

trakt lokalisiert sein muss. Diese wird durch das intestinale Im-
durch erleichterte Diffusion, ebenfalls mit Hilfe spezifischer munsystem repräsentiert.
Transportproteine. Acylglycerine werden durch Diffusion in
die Mukosazellen aufgenommen, Sterole durch den Niemann- IgA- bzw. IgE-vermittelte Immunantworten
Pick C1 like1-Transporter. Intrazellulär erfolgt eine Resynthese haben eine besondere Bedeutung für das
zu Triacylglycerinen und Cholesterinestern und dann die Ver- intestinale Immunsystem
packung mit dem Apolipoprotein B48 zu Chylomikronen. An- Die IgA-vermittelte intestinale Immunantwort Immunglobuline
schließend werden diese von den Mukosazellen sezerniert und des Typs A (IgA, 7 Kap. 70.9.3) sind ein besonders wichtiger Be-
gelangen über die Lymphbahnen in den Blutkreislauf. standteil des intestinalen Immunsystems (. Abb. 61.20). Akti-
Der Intestinaltrakt ist Ort großer Flüssigkeits- und Ionen- vierte B-Lymphocyten des Intestinaltrakts sammeln sich nach
bewegungen. Diese setzen sich aus Wasser und Elektrolyten Differenzierung zu IgA-produzierenden Plasmazellen in der La-
der Nahrung und den meist plasma-isotonen Sekreten der mina propria des Darms. Die von ihnen gebildeten IgA-Antikör-
einzelnen Abschnitte des Intestinaltraktes zusammen und per diffundieren durch die Basalmembran und assoziieren mit
machen pro 24 h etwa 8 l Flüssigkeit aus. Sowohl das Wasser einem auf der basolateralen Seite der Epithelzellen gelegenen
als auch die Elektrolyte müssen im Intestinaltrakt zum größ- Polyimmunglobulinrezeptor (PIGR) 1 . Dies löst die Internali-
ten Teil wieder reabsorbiert werden, um gravierende Flüssig- sierung des Poly-Immunglobulin-Rezeptor-IgA-Komplexes aus
keits- und Elektrolytverluste zu verhindern. 2 , der dann in einem Transportvesikel an die luminale Ober-
Durchfallerkrankungen sind häufig und nehmen oft, beson- fläche der Epithelzelle befördert wird 3 . Während dieser
ders bei Kindern, einen schweren Verlauf. Man unterscheidet: Transzytose wird der Immunglobulinrezeptor enzymatisch
4 osmotische Durchfälle, denen häufig Störungen der Ver- gespalten, sein extrazellulärer Anteil bleibt jedoch mit dem IgA-
dauung oder Resorption von Nahrungsstoffen zugrunde Dimer verknüpft 4 . Man nimmt an, dass diese sog. sekretori-
liegen, und sche Komponente 5 das IgA-Molekül im Intestinaltrakt vor
4 sekretorische Durchfälle, die durch bakterielle Infekte proteolytischer Spaltung schützt.
oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen ausge- IgA-Antikörper binden die unterschiedlichsten Antigene im
löst werden. Intestinaltrakt. Sie verhindern damit:
4 die Aufnahme bakterieller Toxine,
4 die Aufnahme von Viren und
4 die Anheftung von Bakterien an Zelloberflächen, die für die
61.4 Intestinales Immunsystem Infektiosität gerade intestinaler Bakterien von großer Be-
61 deutung ist.
Schon vor vielen Jahren ist das Konzept entwickelt worden, dass
eine besonders wichtige Barriere gegen das Eindringen von Bak- IgE-vermittelte intestinale Immunantwort Ein wichtiger Mecha-
terien, Viren, Toxinen oder anderen Fremdstoffen im Intestinal- nismus des intestinalen Immunabwehrsystems beruht auf

. Abb. 61.20 Mechanismus der Transzytose von IgA durch intestinale Mukosazellen. IgA: Immunglobulin A; PIGR: Poly-IgG-Rezeptor; SC: sekretorische
Komponente. (Einzelheiten s. Text)
61.4 · Intestinales Immunsystem
769 61

Zusammenfassung
Der Intestinaltrakt enthält zum Schutz des Organismus vor
der großen Zahl dort vorhandener Antigene eine hoch
effektive immunologische Barriere. Diese besteht aus:
4 Plasmazellen in der Lamina propria, die zur Produktion
von IgA-Molekülen imstande sind und
4 unterhalb der Epithelschicht lokalisierten Mastzellen, die
nach Stimulierung mit IgE Mediatorstoffe freisetzen
4 intraepithelialen Lymphocyten

IgA-Moleküle gelangen durch Transzytose in das Lumen des


Intestinaltraktes. Sie binden und inaktivieren viele Antigene,
z. B. Toxine, Viren, Bakterien.
Die durch IgE vermittelte Freisetzung von Mediatorstoffen
löst eine Wasser- und Elektrolytsekretion aus. Die damit
verbundene Durchfallreaktion dient der Ausschwemmung
vieler Antigene, Bakterien aber auch von Parasiten.

. Abb. 61.21 Mechanismus der IgE-vermittelten Immunantwort im 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Intestinaltrakt. (Einzelheiten s. Text)

Immunglobulin E (IgE)-vermittelten Reaktionen. Hier spielen


Mastzellen, die unterhalb der Epithelschicht lokalisiert sind, eine
entscheidende Rolle (. Abb. 61.21). Durch die Freisetzung einer
großen Zahl von Mediatorstoffen nach der Bindung entspre-
chender Antigene lösen sie eine heftige Entzündungsreaktion
aus, deren Ziel die Eliminierung und ggf. Ausschwemmung des
Antigens aus dem Intestinaltrakt ist. Ganz besonders effektiv ist
die IgE-vermittelte mukosale Immunantwort bei der Bekämp-
fung von Parasiten.
Die von den aktivierten Mastzellen freigesetzten Mediator-
stoffe sind im Wesentlichen:
4 Prostaglandine
4 Leukotriene und
4 biogene Amine wie Serotonin und Histamin

An den Epithelzellen des Intestinaltrakts lösen diese Verbindun-


gen eine Cl–, Na+- und Wassersekretion aus, gleichzeitig führen
sie zur Kontraktion der glatten Muskulatur, was Durchfall oder
Erbrechen und damit die Eliminierung des infektiösen Agens
auslöst. Wie bei anderen IgE-vermittelten Immunreaktionen be-
steht auch bei der IgE-vermittelten mukosalen Immunantwort
die Gefahr allergischer Reaktionen. Diese äußert sich z. B. in der
bekannten Symptomatik der Nahrungsmittelallergien.
Ein Sonderfall der Nahrungsmittelallergien ist die Gliadin-
induzierte Enteropathie, die auf einer T-Zell-vermittelten
Überempfindlichkeitsreaktion vom verzögerten Typ beruht
(7 Kap. 70.13.2, Kap. 49.3.2). Zum intestinalen Immunsystem ge-
hört auch das zelluläre Immunsystem, d. h. die intraepithelialen
T-Lymphocyten, die darmspezifisch sind (homing) und natürlich
die T-Zell-vermittelte Immunität in den Lymphfollikeln der
Darmwand.
62 Leber – Zentrales Stoffwechselorgan
Dieter Häussinger, Georg Löffler

Einleitung sowohl anatomisch als auch funktionell in enger Beziehung zu


den Parenchymzellen stehen:
Die Leber ist eines der größten Organe des Organismus. Etwa 70 % ihrer 4 Sinusoidale Endothelzellen. Sie bilden ein gefenstertes
Zellmasse bestehen aus Parenchymzellen, den verbleibenden Anteil bil- Endothel, wobei der Durchmesser der Fenster durch endo-
den Gallengangsepithelien, Zellen des reticuloendothelialen Systems gene oder exogene Substanzen beeinflusst werden kann.
(Kupffer-Zellen), Sternzellen und Endothelzellen. Die Leber sorgt für 4 Kupffer-Zellen. Diese sind sessile Lebermakrophagen und
die Glucosehomöostase im Organismus, indem sie glucosepflichtige gehören zum reticuloendothelialen System.
Organe bei Nahrungskarenz mit Glucose versorgt, die sie durch Abbau 4 Sternzellen (Synonyme: Fettspeicherzellen, Ito-Zellen). Sie
ihrer Glycogenspeicher bzw. über Gluconeogenese gewinnt. Ebenfalls finden sich im Dissé-Raum und sind ähnlich wie Pericyten
im Hungerzustand synthetisiert die Leber Ketonkörper, die periphere um das Endothel der Sinusoide gewickelt. Nach neueren
Organe zur Energiegewinnung verwenden. Die Harnstoffsynthese der Befunden haben Sternzellen Stammzelleigenschaften.
Leber dient nicht nur der Fixierung neurotoxischer Ammoniumionen in 4 Pit-Zellen. Als Pit-Zellen werden in der Leber große granu-
einer ausscheidungsfähigen Form, sondern auch der Aufrechterhaltung läre Lymphocyten bezeichnet, die zur Gruppe der Killer-
der Säure-Basen-Homöostase im Organismus. Die Leber produziert Zellen gehören.
VLDL, mit denen sie die von ihr synthetisierten Triacylglycerine und 4 Progenitor- oder Ovalzellen. Sie sind im Bereich der
Cholesterin den extrahepatischen Geweben zur Verfügung stellt. Spezi- Hering-Kanäle lokalisiert und können sich sowohl zu
fische Funktionen der Leber sind Vitaminspeicherung, die Oxidation von Hepatocyten als auch zu Cholangiocyten differenzieren.
Ethanol, die Gallebildung, die Synthese von Plasmaproteinen und die Schwere Leberschädigungen stimulieren die Proliferation
Metabolisierung von lipophilen Endo- und Xenobiotica zu ausschei- von Progenitorzellen, die dann zur Leberregeneration bei-
dungsfähigen Substanzen. tragen.
Die Kapazität der Leber zur Erfüllung ihrer vielfältigen Funktionen im
Stoffwechsel ist außerordentlich groß, sodass erst ein Zustand, in dem Außerdem ist die Leber sympathisch und parasympathisch
innerviert, wobei die meisten Nervenendigungen an Sternzellen
62 mehr als 80 % der Parenchymzellen zerstört sind, mit dem Leben nicht
mehr vereinbar ist. Da die Leber über eine besondere Regenerationsfä- zu finden sind. Efferente Lebernerven sind nicht nur an der Re-
higkeit verfügt, können akute und chronische Schädigungen von ihr gulation des Leberstoffwechsels und des Blutflusses durch die
relativ gut bewältigt werden. Leber beteiligt, sondern auch an der Leberregeneration nach
Schädigungen. Darüber hinaus existieren in der Leber afferente
Schwerpunkte Nerven, die Signale von Volumen- und Osmosensoren an das
Zentralnervensystem weitergeben.
4 Intermediärstoffwechsel der Leber
4 Zonierung des Glutaminstoffwechsels
4 Synthese von Plasmaproteinen
62.1.2 Allgemeine und lokalisierte
4 Biotransformation
Leberfunktionen
4 Produktion von Galleflüssigkeit
4 Ethanolstoffwechsel
Die Funktionen der Leber sind vielfältig:
4 Verwertung aufgenommener Nährstoffe
4 Aufrechterhaltung der Glucose-, Aminosäuren-,
Ammoniak- und Hydrogencarbonat-Homöostase
62.1 Der Aufbau der Leber 4 Synthese der meisten Plasmaproteine
4 Gallensäurensynthese und Gallebildung
62.1.1 Hepatocyten und andere Zellen 4 Speicherung von Spurenelementen und Vitaminen
der Leber 4 Reifungsprozesse von Thyroxin und Vitamin D3
(Cholecalciferol)
Nur etwa 60–70 % der Zellmasse der Leber bestehen aus den 4 Mitwirkung bei der Immunabwehr
eigentlichen Leberparenchymzellen oder Hepatocyten (. Abb. 4 Metabolisierung von Endobiotica und Xenobiotica
62.1). Eine weitere Gruppe epithelialer Zellen sind die als Chol- 4 Blutspeicherung
angiocyten bezeichneten Zellen der Gallengangsepithelien. Fer-
ner enthält die Leber eine Reihe nicht-epithelialer Zelltypen, die

P. C. Heinrich FUBM(Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_62, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
62.1 · Der Aufbau der Leber
771 62

. Abb. 62.1 Hepatocyten und ihre anatomischen Beziehungen zu Nicht-Parenchymzellen und dem Dissé-Raum. A: Actinfilamente; C: Gallekanalikulus;
D: Dissé-Raum; De: Desmosom; E: Endothelzelle; G: Golgi-Apparat; GER: glattes endoplasmatisches Retikulum; H: Hepatocyt; K: Kupffer-Zelle; Ly: Lysosom;
M: Mitochondrium; Mt: Mikrotubuli; MV: Mikrovilli; N: Zellkern; Ne: Nexus (gap junction); Nu: Nucleolus; P: Peroxisomen; R: Ribosomen; RER: raues endoplas-
matisches Retikulum; S: Sternzellen; T: Tonofilamente; V: perikanalikuläre Vesikel; Za: Zonula adhaerens; Zo: Zonula occludens (tight junction)

Durch ihre Stoffwechselleistungen ist die Leber 4 In der postresorptiven Phase oder Hungerphase ist sie
für die Aufrechterhaltung des konstanten dann imstande, die gespeicherten Substrate in den Blut-
inneren Milieus der extrahepatischen Organe kreislauf abzugeben und den anderen Organen und
und Gewebe verantwortlich Geweben des Körpers zur Deckung des Energiebedarfes zur
Die besondere Funktion der Leber im Intermediärstoffwechsel Verfügung zu stellen. In diesem Sinne trägt die Leber ent-
erklärt sich aus ihrer anatomischen Lage: scheidend zur Aufrechterhaltung eines konstanten inneren
4 Sie nimmt während der Resorptionsphase die über den In- Milieus und damit zur Funktionsfähigkeit aller extrahepati-
testinaltrakt aufgenommenen Nahrungsstoffe und Vitamine schen Organe und Gewebe bei.
auf. Eine Ausnahme hiervon machen die Nahrungslipide, die
über die Lymphbahnen des Intestinaltrakts gesammelt und Periportale und perivenöse Leberparenchymzellen
über den Ductus thoracicus in den großen Kreislauf gelan- unterscheiden sich funktionell
gen. Dementsprechend ist die Leber als einziges Organ daran Der Leberacinus ist die funktionelle Grundeinheit der Leber. Er
angepasst, ein von der Quantität wie auch von der Qualität erstreckt sich vom terminalen Pfortaderast entlang des Sinusoids
her sehr variables Stoffangebot zu bewältigen. Die während bis zum terminalen Lebervenenast; zu ihm gehören die das Sinu-
der Resorptionsphase angefluteten Substrate werden von ihr soid begrenzenden Parenchym- und Nicht-Parenchymzellen der
zu einem beträchtlichen Teil gespeichert. Dies trifft beson- Leber. Während einer acinären Passage strömt das Blut an etwa
ders für die als Glycogen gespeicherte Glucose und für die in 20–30 Parenchymzellen vorbei, die funktionell heterogen sind,
hepatische Proteine eingebauten Aminosäuren zu. d. h. unterschiedliche Genexpressionsmuster aufweisen. Eine
772 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

Ursache für diese funktionelle Leberzellheterogenität sind Meta- 62.2 Stoffwechselleistungen der Hepatocyten
bolit-, Sauerstoff- und Hormongradienten entlang des Leberaci-
nus. Periportale (an der acinären Einflussbahn gelegene) Hepa- 62.2.1 Glucose- und Lipidstoffwechsel
tocyten zeichnen sich aus durch höhere Aktivität:
4 des Glycogenabbaus Die Leber ist das zentrale Organ der Glucose-
4 der Gluconeogenese homöostase des Organismus
4 der Fettsäureoxidation Resorptionsphase Das Pfortaderblut enthält in Abhängigkeit
4 der Harnstoffbildung aus Aminosäurestickstoff von der Nahrungszusammensetzung erhebliche Mengen an Glu-
4 der Gallensäurenausscheidung und cose, aber auch Fructose und Galactose. Ein großer Teil dieser
4 der Bilirubinausscheidung Monosaccharide wird nach Umwandlung zu Glycogen (7 Kap.
14.2.1) gespeichert.
Dagegen sind perivenöse, an der acinären Ausflussbahn gelege-
ne Hepatocyten der bevorzugte Ort der: Postresorptions-/Hungerphase Die Leber ist für die Aufrechter-
4 Glycogensynthese haltung der Blutglucosekonzentration verantwortlich:
4 Glycolyse 4 Durch Glycogenolyse wird Glycogen mobilisiert und
4 Lipogenese wegen der für die Leber typischen hohen Glucose-6-Phos-
4 Harnstoffbildung aus Ammoniak und phataseaktivität (7 Kap. 14.3) zu Glucose abgebaut, die in
4 Biotransformation körpereigener und körperfremder Stoffe die Lebervene abgegeben wird.
4 Der Energiebedarf der obligaten Glucoseverwerter (zentra-
Unmittelbar am perivenösen Ende des Leberacinus findet sich les Nervensystem, Nierenmark und Erythrocyten) kann bei
eine besonders spezialisierte, kleine Hepatocytenpopulation, die länger dauerndem Hunger nicht mehr durch die in der
Scavenger- oder Fängerzellen. Diese enthalten als einzige Leber gespeicherten Glycogenvorräte gedeckt werden.
Leberparenchymzellen das Enzym Glutaminsynthetase Unter diesen Bedingungen wird die Gluconeogenese aus
(7 Kap. 27.1.2 und 27.2.1). Ihre Aufgabe ist es u. a., Ammoniak zu Nicht-Kohlenhydraten aktiviert, auf welche die Leber dank
entfernen, bevor das sinusoidale Blut in die Lebervene und damit ihrer enzymatischen Ausstattung besonders spezialisiert ist.
in die systemische Zirkulation gelangt. So müssen nach 24-stündigem Hunger etwa 180 g Glucose/
Tag, nach mehrwöchigem Hungern immerhin noch 60–
90 g Glucose/Tag synthetisiert werden. Substrate für die
Zusammenfassung Gluconeogenese, deren Reaktionssequenz in 7 Kap. 14.3
In der Leber sind folgende unterschiedliche Zelltypen nach- geschildert ist, sind:
weisbar: 5 glucogene Aminosäuren, freigesetzt durch Proteolyse
4 Leberparenchymzellen oder Hepatocyten (60–70 % der in den extrahepatischen Geweben (7 Kap. 26.4.2),
62 Leberzellen) 5 Glycerin, freigesetzt durch Lipolyse im Fettgewebe
daneben: 7 Kap. 21.1.2 und 38.1.3)
4 Cholangiocyten 5 Lactat, entstanden durch Glycolyse (7 Kap. 14.1.1 und
4 Endothelzellen 38.1.3).
4 Kupffer-Zellen
4 Sternzellen Jede länger dauernde Hungerphase geht mit einer spezifischen
4 Pit-Zellen Änderung der enzymatischen Ausstattung der Leberparenchym-
4 Progenitor- oder Ovalzellen zellen einher. Die für die Glycolyse benötigten Enzymaktivitäten
werden reprimiert und diejenigen der Gluconeogenese und des
Die funktionelle Grundeinheit der Leber ist der Acinus. Die Aminosäurestoffwechsels induziert. Für diese Umstellung sind
ihm zugehörigen Hepatocyten sind funktionell heterogen, neben den Katecholaminen v.a. die Glucocorticoide, beim
was durch die Gradienten von Metabolit-, Sauerstoff- und Menschen also hauptsächlich das Cortisol, verantwortlich
Hormonkonzentrationen entlang des Acinus verursacht (7 Kap. 40.2.5). Gluconeogenese findet außer in der Leber auch
wird. in den Nieren und der intestinalen Mucosa (7 Kap. 14.3) statt,
Die wichtigsten Aufgaben der Leber sind: allerdings in deutlich geringerem Umfang.
4 Aufnahme und Speicherung von Nahrungsstoffen und
deren Verarbeitung und Freisetzung Die Leber ist das wichtigste Organ für den
4 Synthese von Gallensäuren und Sekretion von Galle Ab-, Um- und Aufbau der verschiedensten Lipide
4 Metabolisierung von Endo- und Xenobiotica Resorptionsphase Die wichtigste Funktion der Leber im Lipid-
4 Synthese von Plasmaproteinen stoffwechsel ist die Biosynthese
4 Synthese von Signalmolekülen 4 von Triacylglycerinen, Phosphoglyceriden und Sphingo-
lipiden aus den aufgenommenen Kohlenhydraten und
Lipiden (7 Kap. 21.1.4, 22.1, 22.2.1),
4 von VLDL-Lipoproteinen 7 Kap. 24.2),
62.2 · Stoffwechselleistungen der Hepatocyten
773 62

. Abb. 62.2 Hepatische Glutaminsynthetase und Ammoniakeliminierung. Periportale Hepatocyten nehmen NH4+ und Glutamin auf. Durch die mito-
chondrial gelegene Glutaminase wird Glutamin zu Glutamat und NH4+ gespalten. NH4+ aktiviert die Glutaminase und ist Substrat des Harnstoffzyklus. Peri-
venöse Hepatocyten nehmen überschüssige NH4+-Ionen auf und fixieren diese mit Hilfe der Glutaminsynthetase. CPS1: Carbamylphosphatsynthetase 1.
(Einzelheiten s. Text)

4 eines großen Teils des vom Organismus benötigten Choles- Aminosäuren auf. Nach Transaminierung wird der Kohlenstoff-
terins (7 Kap. 23.2), allerdings in Abhängigkeit vom Nah- anteil der ketogenen Aminosäuren zur Ketonkörperbildung ver-
rungsangebot an Cholesterin. wendet und in extrahepatischen Geweben in den Energiestoff-
wechsel eingeschleust, derjenige der glucogenen Aminosäuren
Postresorptions-/Hungerphase Die Leber deckt ihren Energie- jedoch für die in dieser Situation notwendige Gluconeogenese
bedarf nahezu vollständig durch die Fettsäureoxidation. Da in verwendet. Dabei freiwerdende Aminogruppen werden ebenso
diesem Zustand das Fettsäureangebot den Verbrauch übertrifft, wie der durch die verschiedenen Stoffwechselprozesse entstehende
werden die überschüssigen Fettsäuren in Acetacetat und Ammoniak (7 Kap. 27.1.2) durch Umwandlung in Harnstoff ent-
β-Hydroxybutyrat, die sog. Ketonkörper, umgewandelt (7 Kap. giftet und danach über die Nieren ausgeschieden (s. . Abb. 62.2).
21.2.2). Sie werden von der Leber nicht verwertet, sondern voll- Das aufgenommene Glutamin wird durch die hepatische Gluta-
ständig zur Deckung des Substratbedarfs extrahepatischer Ge- minase zu Glutamat und NH4+ gespalten. Da die Glutaminase
webe abgegeben. durch NH4+ aktiviert wird und dieses gleichzeitig ihr Reaktions-
produkt ist, wirkt die Glutaminase als NH4+-Verstärker in den
Mitochondrien, d. h. am Ort der Carbamylphosphatsynthese.
62.2.2 Protein- und Aminosäurestoffwechsel
Die Aktivität des Harnstoffzyklus beeinflusst
Die Leber nimmt Aminosäuren sowohl in der den Säure-Basen-Haushalt
Resorptions- als auch in der Hungerphase auf Der ausschließlich in den Leberparenchymzellen lokalisierte
Resorptionsphase In der Resorptionsphase werden der Leber Harnstoffzyklus dient nicht nur der Eliminierung von Ammoniak,
über die Pfortader Aminosäuren in Abhängigkeit vom Protein- sondern fixiert auch HCO3–. Damit spielt er eine wichtige Rolle
gehalt der Nahrung angeboten und durch ein breites Spektrum für den Säure-Basen-Haushalt. Dass die Leber durch Regulation
an Transportern aufgenommen. Sie dienen v. a. als Substrate der der Geschwindigkeit der Harnstoffbiosynthese in diesen eingrei-
Proteinbiosynthese. fen kann, geht aus der Beobachtung hervor, dass die Harnstoff-
bildung immer dann reduziert wird, wenn der pH und/oder die
Postresorptions-/Hungerphase Die postresorptive Phase und HCO3–-Konzentration im extrazellulären Raum abfallen. Das
v. a. die Hungerphase ist durch eine gesteigerte Proteolyse in dabei nicht mit NH4+ fixierte Hydrogencarbonat dient dazu, die
extrahepatischen Geweben gekennzeichnet. Zusätzlich geben bestehende Acidose zu korrigieren.
diese große Mengen an Glutamin ab, das durch ATP-abhängige Jede Reduktion der Geschwindigkeit der Harnstoffbiosyn-
Fixierung von NH4+ mittels der Glutaminsynthetase entstanden these relativ zur Geschwindigkeit des Proteinabbaus führt zu
ist. Periportale Hepatocyten nehmen die vermehrt freigesetzten einem Anstieg der Ammoniakkonzentration. In einer ATP-ab-

Hepatocyten periportale perivenöse Glutaminase Glutamin-Synthetase Harnstoffzyklus Hydrogencarbonat-Fixierung irreversible Ammoni-


akfixierung Glutamin-Synthetase
774 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

. Abb. 62.3 Lokalisation der Glutaminsynthetase der Leber. Wie aus


der immunhistochemischen Anfärbung hervorgeht, ist das schwarz ange-
färbte Enzym ausschließlich in einer kleinen Hepatocytenpopulation (sog.
scavenger-Zellen) um die Zentralvene lokalisiert

. Abb. 62.4 Regulation von autophagischer Proteolyse und Protein-


hängigen Reaktion kann Ammoniak als Glutamin fixiert werden biosynthese. In Hepatocyten werden Aminosäuren Na+-abhängig auf-
(. Abb. 62.2). Die hierfür notwendige hepatische Glutamin- genommen. Dies geht mit einer zellulären Hydratationssteigerung einher,
die zusammen mit den Aminosäuren die autophagische Proteolyse hemmt
synthetase ist ausschließlich in einer kleinen perivenösen Zell-
und die Proteinbiosynthese stimuliert
population des Leberacinus lokalisiert, die kaum mehr als zwei
Zelllagen dick ist und als »scavenger-Zellen« bezeichnet werden
(. Abb. 62.3). Durch die Zonierung des Glutaminstoffwech-
sels wird erreicht, dass nur die Ammoniakmenge als Gluta- Die Leber nimmt Proteine aus dem Blutplasma aber auch
min fixiert wird, die nicht in den weiter oberhalb gelegenen über Endocytose auf und führt sie dem lysosomalen Abbau zu.
Teilen des Leberacinus durch Harnstoffbiosynthese gebunden Dies trifft besonders auf Glykoproteine zu, die über den Asialo-
worden ist. glykoproteinrezeptor (7 Kap. 49.3.3) gebunden und internali-
siert werden.
62 Für die Leber spielt die autophagische Proteolyse
eine besondere Rolle
Neben dem Proteinabbau im Proteasom spielt die autophagi- 62.2.3 Plasmaproteinsynthese
sche Proteolyse (lysosomale Autophagocytose 7 Kap. 50.4) in
der Leber eine besondere Rolle, da durch diese ein vollständiger Die Leber synthetisiert den größten Teil
Proteinabbau bis auf die Stufe von Aminosäuren gewährleistet der Plasmaproteine
ist. Ihre Regulation ist komplex und hängt u. a. vom Hydrata- Die Leber hat eine besonders hohe Kapazität zur Biosynthese der
tionszustand, d. h. dem Wassergehalt der Leberzelle, ab. Dieser verschiedensten Proteine. So werden eine große Zahl der im
ist eine dynamische Größe, die von der Aktivität von Metabolit- Blutplasma vorkommenden Proteine mit den unterschiedlichs-
und Ionentransportsystemen in der Plasmamembran mit ent- ten Funktionen, unter ihnen auch Hormone, Prohormone und
sprechendem Auf- oder Abbau osmotisch wirksamer Gradienten Lipoproteine, in den Parenchymzellen der Leber synthetisiert
abhängt. Zur Zunahme der Leberzellhydratation kommt es z. B. (. Tab. 62.1). Hierzu gehören der größte Teil der Blutgerin-
durch die kumulative Aufnahme von Aminosäuren mittels nungsfaktoren, die Proteine der Fibrinolyse und Proteinase-
sekundär aktiver, Na+-abhängiger Transportsysteme. Diese inhibitoren wie das α1-Antitrypsin und das α2-Makroglobulin.
Transporter bauen osmotisch wirksame Gradienten auf, denen Die Leber synthetisiert außerdem Transportproteine wie Trans-
Wasser passiv unter Beteiligung von Wasserkanälen (Aquapori- ferrin, Transcortin oder α2-Makroglobulin. Von besonderer Be-
ne) nachströmt. Im Rahmen einer solchen Zellschwellung wer- deutung ist die Biosynthese von Prohormonen wie des Angio-
den sog. Osmo-Signalketten im Sinne einer Mechanotransduk- tensinogens oder des Kininogens.
tion aktiviert, an denen die mitogenaktivierten Proteinkinasen Eine weitere wichtige Funktion der Hepatocyten beruht dar-
(7 Kap. 35.4.2) beteiligt sind. Sie lösen eine Hemmung des Pro- auf, dass sie die sog. Akutphase-Proteine (. Tab. 62.2) syntheti-
teinabbaus auf der Ebene der Autophagosomenbildung aus sieren und an das Blut abgeben können (7 Kap. 67.3). Den ge-
(. Abb. 62.4). Außerdem wird die Glycogenolyse gehemmt und nannten Proteinen ist gemeinsam, dass ihre Konzentration in-
die Glycogensynthese aktiviert. Einen ähnlichen Effekt hat Insu- nerhalb von 6–48 h nach dem Auftreten einer lokalen Entzün-
lin durch zelluläre Akkumulation von K+, Na+ und Cl–, während dungsreaktion im Organismus um das 2- bis 1.000fache zunimmt.
Glucagon durch Export dieser Ionen entgegengesetzt wirkt. Dadurch wird eine Ausbreitung der Entzündung verhindert.
62.2 · Stoffwechselleistungen der Hepatocyten
775 62

. Tab. 62.1 Produktion für den Organismus wichtiger Proteine


und Lipoproteine durch die Leber (Auswahl)

Proteine Siehe Kapitel

Albumin 67.3

Angiotensinogen 65.4.3

α1-Antitrypsin 67.3

α1-Antichymotrypsin 67.3

α2-Makroglobulin 67.3

Antithrombin III 69.1.4

Caeruloplasmin 60.4.1

Gerinnungsfaktoren 69.1.3
I, II, V, VII, VIII, IX, X, XI, XII

IGF-1; IGF-2 42.1.2

Kininogen 62.2.3

Komponenten des Komplementsystems 70.2.3 . Abb. 62.5 Regulation von Synthese und Sekretion von Akutphase-
C-reaktives Protein 67.3 Proteinen. Im Rahmen der Entzündungsreaktion werden Makrophagen
aktiviert und produzieren die proinflammatorischen Cytokine IL-1, IL-6 und
Fibrinogen 69.1.3 TNF-α. Diese lösen in der Leber die Synthese von Akutphase-Proteinen aus.
Plasminogen 69.1.4 (Einzelheiten s. Text)

Transcortin 40.2.3

Transferrin 60.4.1 Zum Beispiel erleichtert ein Anstieg der Fibrinogenkonzentra-


tion die Thrombusbildung und erschwert auf diese Weise die
VLDL 24
Ausbreitung eines Infektes. Die Proteinaseinhibitoren der akuten
Naszierende HDL 24 Phase, z. B. α1-Antitrypsin und α1-Antichymotrypsin, vermin-
Lecithin-Cholesterin-Acyltransferase (LCAT) 24 dern die durch freigesetzte Proteasen ausgelösten Gewebsschä-
digungen. Für andere Proteine des Akutphase-Systems ist die
Funktion noch nicht ausreichend charakterisiert. Man nimmt an,
dass das C-reaktive Protein an die Oberfläche von Fremdkör-
pern (z. B. Bakterien) bindet und auf diese Weise ihre Aufnahme
. Tab. 62.2 Akutphase-Proteine (Auswahl)
durch Phagocyten ermöglicht.
Gruppe Protein Funktion Alle bekannten Akutphase-Proteine werden von den Paren-
chymzellen der Leber synthetisiert (. Abb. 62.5). Der adäquate
Gerinnungs- Prothrombin Blutgerinnung, Hem-
faktoren Fibrinogen mung der Ausbrei-
Reiz hierfür sind die Interleukine IL-6 und IL-1, die von Makro-
tung der Entzündung, phagen, Endothelzellen und Fibroblasten in den durch die Ent-
Reparatur zündung geschädigten Gewebsteilen freigesetzt werden. Sie ge-
Komplement- Komponenten C1–C9 Opsonierung langen auf dem Blutweg zur Leber, werden dort durch entspre-
system chende Rezeptoren gebunden und lösen danach die Biosynthese
und Sekretion der Akutphase-Proteine aus. Im Allgemeinen ist
Kallikrein-Kinin- Präkallikrein Vasodilatation,
System Gefäßpermeabilität dazu jedoch zusätzlich die Anwesenheit von Glucocorticoiden
erforderlich.
Proteinase- α1-Antitrypsin Antiproteolyse
inhibitoren α1-Antichymotrypsin

Opsonine C-reaktives Protein Opsonierung


62.2.4 Vitaminspeicherung und Hormonreifung
Transportproteine α2-Makroglobulin Zinktransport
Leberparenchymzellen speichern neben Energiesub-
straten manche Vitamine sowie Spurenelemente und
sind an Reifungsprozessen von Hormonen beteiligt
In der Leber werden nicht nur Kohlenhydrate in Form von Glyco-
gen und in beschränktem Umfang Lipide als Triacylglycerine
gespeichert, sondern auch einige Vitamine und Spurenelemente.
Neben Retinoiden, die ausschließlich in den Sternzellen ge-
speichert werden (s. u.), enthält die Leber beträchtliche Mengen
776 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

wasserlöslicher Vitamine, besonders Folsäure und Vitamin B12,


was für die Pathophysiologie von Vitaminmangelzuständen von
großer Bedeutung ist (7 Kap. 59.8 und 59.9). Beispielsweise deckt
das in der menschlichen Leber gespeicherte Vitamin B12 den Be-
darf für mehrere hundert Tage.
Vitamin D3 (Cholecalciferol) wird in der Leber in Posi-
tion 25, in der Niere dagegen in Position 1 hydroxyliert. Damit
ist die Leber an der Umwandlung von Vitamin D3 in das biolo-
gisch aktive 1,25-Dihydroxycholecalciferol (Calcitriol) beteiligt
(7 Kap. 58.3). Auch die Umwandlung von Thyroxin (T4) in das
biologisch weit aktivere Trijodthyronin (T3) erfolgt zu einem
großen Teil in der Leber (7 Kap. 41.2.3). Etwa 30 % des Körper-
bestands an T3 und T4 sind in der Leber gespeichert.
Die Leber ist außerdem das zentrale Organ des Kupferstoff-
wechsels und 10 % des im Organismus vorhandenen Eisens wer-
den über Ferritin und Hämosiderin in der Leber gespeichert
(7 Kap. 60.4 und 60.7).

. Abb. 62.6 Mehrstufige Metabolisierung hydrophober Verbindungen


Zusammenfassung in der Leber. (Einzelheiten s. Text)
Die metabolischen Aktivitäten der Leber sind überwiegend
in den Hepatocyten lokalisiert:
4 Kohlenhydratstoffwechsel. Die Leber ist das wichtigste Gallenflüssigkeit ausgeschieden werden können. Derartige Ver-
Glycogenspeicherorgan des Organismus. Da sie darüber bindungen können körpereigene, endogen entstandene Stoffe,
hinaus über die Fähigkeit zur Gluconeogenese verfügt, sog. Endobiotica (z. B. schlecht wasserlösliche Steroidhormone,
spielt sie eine zentrale Rolle im Rahmen der Bilirubin) sein oder auch körperfremde Substanzen, die sog.
Glucosehomöostase. Xenobiotica (z. B. Pharmaka, Konservierungsmittel, Umwelt-
4 Lipidstoffwechsel. Die Leber synthetisiert aus Lipiden gifte). Biotransformationsreaktionen finden in beschränktem
und Kohlenhydraten triacylglycerinreiche Lipoproteine, Umfang in nahezu allen Geweben statt. Die Leber ist jedoch we-
die VLDL. Diese werden von ihr sezerniert und in den gen ihrer Masse (ca. 1.5 kg beim Menschen) und ihrer besonders
extrahepatischen Geweben metabolisiert. In der post- reichen Ausstattung mit den Enzymen der Biotransformations-
resorptiven und ganz besonders der Hungerphase reaktionen das wichtigste Organ für diese Funktion. Der größte
62 nimmt die Leber aus dem Blut große Mengen an Fett- Teil der für die Biotransformation benötigten Enzymaktivitäten
säuren auf, die jedoch nur z. T. zur Deckung des Energie- ist im glatten endoplasmatischen Retikulum lokalisiert.
bedarfs herangezogen werden, z. T. dagegen in Acet-
acetat und β-Hydroxybutyrat umgewandelt und wieder
von der Leber abgegeben werden. 62.3.1 Modifikation, Konjugation und Export
4 Proteinbiosynthese und Aminosäurestoffwechsel. von Endo- und Xenobiotica
Viele Plasmaproteine werden in der Leber synthetisiert
und von ihr sezerniert. Für die Eliminierung von Üblicherweise wird die Biotransformation in drei Phasen einge-
Ammoniak und Aminogruppen spielt die Leber infolge teilt (. Abb. 62.6):
ihrer Fähigkeit zur Harnstoff- und Glutaminbiosynthese 4 Phase 1. Modifikation der infrage kommenden Verbindun-
eine besondere Rolle. gen durch oxidative, seltener durch reduktive Reaktionen,
4 Vitamine und Spurenelemente. Die Leber dient als sodass reaktive Gruppen entstehen.
Speicherorgan für diese essentiellen Mikronährstoffe. 4 Phase 2. Bildung von Konjugaten durch Reaktion dieser
reaktiven Gruppen mit polaren oder stark geladenen
Verbindungen, sodass die dabei entstehenden gut wasser-
löslichen Produkte über die Galle oder die Nieren ausge-
62.3 Biotransformation – Metabolisierung schieden werden können.
von Endo- und Xenobiotica 4 Phase 3. Transport der auszuscheidenden Verbindungen
über die Plasmamembran der Hepatocyten durch spezielle
Die Biotransformation dient der Ausscheidung Transportproteine.
lipophiler Verbindungen
Die Funktion der sog. Biotransformation besteht darin, apolare, In der Phase 1 der Biotransformation erfolgen
lipophile und damit nicht oder nur außerordentlich langsam aus- oxidative bzw. reduktive Umwandlungen
scheidungsfähige Verbindungen in polare, wasserlösliche Sub- Den größten Beitrag zur Phase 1 der Biotransformation leisten
stanzen umzuwandeln, die dann leicht über den Harn oder die Enzyme aus der Familie der Monooxygenasen, die molekularen
62.3 · Biotransformation – Metabolisierung von Endo- und Xenobiotica
777 62
A A

B
. Abb. 62.7 Reaktionen, die durch Cytochrom-P450-Monooxygenasen
katalysiert werden. A Hydroxylierung, B O-Dealkylierung, C N-Dealkylie-
rung hydrophober Verbindungen

Sauerstoff und NADPH als Cosubstrate benutzen. Die Aktivie- C

rung des Sauerstoffs erfolgt durch Anlagerung an das Cyto-


chrom P450. Ein Sauerstoffatom wird dabei in das Substrat-
molekül eingebaut, das andere zu Wasser reduziert (7 Kap. 20.1.2).
Auf diese Weise wird hydroxyliert oder O- bzw. N-dealkyliert
. Abb. 62.8 Die wichtigsten Konjugationsreaktionen.
(. Abb. 62.7). Weitere wichtige oxidative Reaktionen der Phase 1
A Glucuronidierung von Hydroxylgruppen, primären Aminen und Carboxyl-
stellen die oxidative Desaminierung unter Bildung einer Keto- gruppen. B Sulfatierung von Hydroxylgruppen oder primären Aminen mit
gruppe und Freisetzung von Ammoniak sowie die oxidative Ab- PAPS (3‘-Phosphoadenosin-5‘-Phosphosulfat). PAMP: Phosphoadenosin-
spaltung der Seitenkette des Cholesterins unter Bildung der monophosphat. C Kopplung von Carboxylgruppen an Aminosäuren
Carboxylgruppe der Gallensäuren dar (7 Kap. 61.1.4). Seltener (Glycin). Für die Knüpfung der Amidbindung muss die Carboxylgruppe
ATP-abhängig in den CoA-Thioester umgewandelt werden
sind reduktive Modifikationen wie z. B. die Umwandlung einer
NO2-Gruppe in eine NH2-Gruppe. Unspezifische Hydrolasen
spalten Ester- bzw. Säureamidbindungen und setzen die entspre-
chenden Alkohole, Amino- und Carbonsäuren frei. Progesteron wird beispielsweise meist erst nach Sulfatie-
Durch die geschilderten chemischen Modifikationen der be- rung ausgeschieden.
treffenden Verbindungen werden also reaktive Gruppen wie 4 Neben der Sulfatierung kommt auch die Acetylierung mit
OH-, NH2-, SH- bzw. COOH-Gruppen gebildet. Acetyl-CoA vor. Eine weitere Möglichkeit ist die Kopplung
von Carboxylgruppen an die Aminosäuren Glycin, Taurin
Die Produkte der Phase 1 der Biotransformation wer- bzw. Glutamin (7 Kap. 28.3), wobei eine Säureamidgruppie-
den in Phase 2 mit polaren Substanzen konjugiert rung entsteht. Die die Kopplung eingehende Carboxylgrup-
Die Phase 2 der Biotransformation wird auch als Konjugations- pe muss dafür allerdings zunächst in das entsprechende Co-
phase bezeichnet. In ihr werden die in der Phase 1 der Biotrans- enzym-A-Derivat umgewandelt werden. Beispiele hierfür
formation entstandenen Verbindungen über ihre reaktiven sind die verschiedenen Derivate von Gallensäuren
Gruppen an polare Substanzen gekoppelt, sodass ausreichend (7 Kap. 61.1.4).
hydrophile Verbindungen entstehen (. Abb. 62.8): 4 Weitere Konjugationsreaktionen sind Methylierung,
4 Durch Kopplung mit Glucuronsäure entstehen die Glucuro- Deacetylierung und Ausbildung von Thioethern, wobei
nide (7 Kap. 16.1.2). Die Konjugation mit UDP-Glucuronat meist Glutathion-S-Derivate entstehen. Letztere werden
kann dabei mit OH-Gruppen, primären und sekundären mit Hilfe von Glutathion-S-Transferasen aus Glutathion
Aminen und mit Carboxylgruppen erfolgen. Ein wichtiges (GSH) und verschiedenen lipophilen Verbindungen, darun-
Beispiel für diesen Reaktionstyp ist die Glucuronidierung ter auch Arzneimitteln, gebildet:
von Bilirubin zu Bilirubindiglucuronid (7 Kap. 32.2.2).
4 Sulfatiert werden i. Allg. OH-Gruppen und Aminogrup- RX + GSH → RSG + HX (. Abb. 62.10)
pen. Substrat hierfür ist das aktivierte Sulfat oder
3ʹ-Phosphoadenosin-5ʹ-Phosphosulfat (PAPS, 7 Abb. 3.17).
778 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

den Hypoxie induzierten Faktor HIF (7 Kap. 65.3) eine


wichtige Rolle spielt.

Wenn mehrere Arzneimittel gleichzeitig gegeben werden, kön-


nen diese um die Enzyme des Biotransformationssystems kon-
kurrieren. Da unter diesen Umständen die Metabolisierung ver-
langsamt wird, zeigen sich ggf. Überdosierungen. Bei Neugebo-
renen sind die betreffenden Enzymaktivitäten i. Allg. außeror-
dentlich niedrig. Dies betrifft v. a. die Konjugationsreaktionen
und hier die Glucuronattransferasen. So beruht der gelegentlich
zu beobachtende Ikterus neonatorum auf einer noch ungenü-
genden Glucuronidierung von Bilirubin (7 Kap. 32.2.2).

Die Produkte der Phase 2 der Biotransformation


werden durch die Reaktionen der Phase 3 aus den
Hepatocyten exportiert
Der Export der durch die Phase 2 der Biotransformationsreak-
tion gebildeten Verbindungen erfolgt i. Allg. in die Gallenflüssig-
keit. Die dabei ablaufenden Reaktionen sind in 7 Kap. 62.4.1 ge-
. Abb. 62.9 Induktion der Metabolisierungsenzyme durch Xenobiotica. schildert.
Hydrophobe Xenobiotica oder andere Aktivatoren binden entweder direkt
im Zellkern an den SXR oder im Cytosol an den CAR, der anschließend mit
Hilfe von weiteren Proteinfaktoren in den Zellkern verlagert wird. Dort
erfolgen in beiden Fällen die Heterodimerisierung mit RXR und die
62.3.2 Giftungsreaktion
Transkriptionsaktivierung. Für polyzyklische Kohlenwasserstoffe wird der
Transkriptionsfaktor AHR verwendet, der allerdings mit ARNT hetero- Durch metabolische Aktivierung können
dimerisieren muss. SXR: Steroid-Xenobiotica-Rezeptor; CAR: konstitutiver toxische Produkte entstehen (sog. »Giftung«)
Androstanrezeptor; RXR: Retinoat-X-Rezeptor; AHR: Aryl-Hydrocarbon- Gelegentlich entstehen erst durch die Biotransformationsreak-
Rezeptor; ARNT: AHR nuclear translocator
tionen Verbindungen mit biologischer Wirkung. Dies ist häufig
bei Arzneimitteln erwünscht, häufiger entstehen aber toxische
oder sogar karzinogene Verbindungen. Im Folgenden werden
zwei Beispiele für die metabolische Umwandlung von Arznei-
Viele Verbindungen induzieren das mitteln zu toxischen Verbindungen dargestellt.
62 Biotransformationssystem Das häufig eingenommene, bisher nicht verschreibungs-
Verbindungen, die im Biotransformationssystem modifiziert pflichtige Paracetamol ist ein Acetanilid, das als mildes Analge-
werden, können die einzelnen Enzymaktivitäten der Phasen 1 tikum wirkt. Der größte Teil dieser Verbindung wird nach Glu-
und 2 induzieren (. Abb. 62.9), denn Endobiotica und v. a. curonidierung bzw. Sulfatierung wasserlöslich und damit aus-
Xenobiotica sind Liganden einer Familie von Transkriptions- scheidungsfähig. Ein Teil des Paracetamols wird jedoch oxidiert,
faktoren, die strukturell große Ähnlichkeit mit den Steroid- sodass das in . Abb. 62.10 dargestellte Zwischenprodukt entsteht.
hormonrezeptoren haben: Dieses wird als Glutathion-S-Konjugat ausgeschieden. Wenn je-
4 Der konstitutive Androstanrezeptor (CAR) sowie der doch die für diese Reaktion benötigten Glutathionmengen auf-
Steroid- und Xenobioticarezeptor (SXR; auch als PXR, gebraucht sind, reagiert das Produkt mit SH-Gruppen auf Hepa-
pregnane-X receptor bezeichnet) können unterschiedliche tocytenproteinen. Diese werden damit inaktiviert, sodass bei
Xenobiotica binden und wirken dann als ligandenaktivierte Überdosierung von Paracetamol (bereits ab 6–10 g, bei einer
Transkriptionsfaktoren der entsprechenden Gene, v. a. der üblichen Einzeldosierung von 0,5–1 g!) eine lebensbedrohliche
Cytochrom-P450-Monooxygenasen. Eine Voraussetzung für Lebernekrose entstehen kann.
ihre Wirksamkeit ist allerdings die Heterodimerisierung Häufig werden im Verlauf von Biotransformationsreaktio-
mit dem Retinoat-X-Rezeptor (RXR). nen Arzneimittel acetyliert. Bei Menschen können als genetische
4 Für die karzinogene Wirkung von polyzyklischen, aromati- Varianten ein langsamer und ein schneller Acetylierungstyp
schen Kohlenwasserstoffen wie dem Benzo[a]pyren, das unterschieden werden. Schnelle Acetylierer zeigen häufig
u. a. beim Zigarettenrauchen entsteht, ist der Arylhydro- gegenüber langsamen Acetylierern unterschiedliche Metaboli-
carbonrezeptor (AHR) verantwortlich. AHR ist ebenfalls sierungsmuster. Bei einer Reihe von Arzneimitteln hat dies we-
ein ligandenaktivierter Transkriptionsfaktor von Cyto- sentliche Konsequenzen. So beginnt der normale Abbau des
chrom-P450-Monooxygenasen, welche z. B. Benzo[a]pyren Antiarrhythmikums Procainamid (. Abb. 62.11) mit einer
in ein elektrophiles Diolepoxid umwandeln, das zur Basen- N-Acetylierung, wobei das entstehende Produkt die gleichen
modifikation an der DNA führt. Auch AHR ist nur als pharmakologischen Wirkungen wie die Ausgangsverbindung
Heterodimer aktiv, allerdings benötigt er den Transkrip- zeigt. Bei Personen des langsamen Acetylierungstyps findet da-
tionsfaktor ARNT (AHR nuclear translocator), der auch für gegen bevorzugt eine N-Hydroxylierung statt. N-Hydroxypro-
62.4 · Gallesekretion
779 62

. Abb. 62.10 Der Paracetamolstoffwechsel. Der zu toxischen Nebenprodukten führende Abbauweg des Paracetamols ist rot hervorgehoben.
(Einzelheiten s. Text)

verträglichkeit und -wirksamkeit und bildet die Grundlage für


das Forschungsgebiet der Pharmakogenetik. Es ist wahrschein-
lich, dass Polymorphismen in fremdstoffabbauenden Enzymen
an der genetischen Veranlagung zur Tumorentstehung beteiligt
sind.

Zusammenfassung
Die Leber ist das Hauptorgan für das in drei Phasen ablau-
fende Biotransformationssystem:
4 In Phase 1 werden hydrophobe Endo- bzw. Xenobiotica
meistens hydroxyliert, alternativ oxidativ oder seltener
reduktiv modifiziert.
4 In Phase 2 unterliegen die durch die Reaktionen der
Phase 1 entstandenen funktionellen Gruppen der Kopp-
. Abb. 62.11 Metabolisierungsprodukte von Procainamid. (Einzelheiten lung an hydrophile Verbindungen, häufig Glucuronat.
s. Text)
4 In Phase 3 werden die so entstandenen Verbindungen
durch spezifische Transportsysteme in die Galle oder die
cainamid bildet jedoch eine Reihe weiterer reaktionsfähiger Zwi- Blutbahn exportiert.
schenprodukte, die mit zellulären Makromolekülen, z. B. mit
Nucleinsäuren, covalente Verbindungen eingehen können. Diese Gelegentlich entstehen durch die Reaktionen des Biotrans-
wirken offensichtlich als Antigene. Jedenfalls erkranken Perso- formationssystems biologisch aktive Verbindungen, eine
nen vom langsamen Acetylierungstyp nach Behandlung mit Tatsache, die für den Stoffwechsel von Arzneimitteln oder
Procainamid in statistisch signifikant höherem Maß an syste- Xenobiotica von Bedeutung ist.
mischem Lupus erythematodes, einem mit Autoantikörpern
gegen DNA einhergehenden Krankheitsbild.
Tierexperimentell gewonnene Erkenntnisse zur Umwand-
lung von Arzneimitteln in toxische Verbindungen durch die 62.4 Gallesekretion
Reaktionen der Biotransformation sind kaum auf den Menschen
übertragbar, da große Speziesunterschiede im Metabolisierungs- Die Funktion der Leber als Ausscheidungsorgan beruht auf ihrer
muster bestehen. Darüber hinaus kann sich die Metabolisierung Fähigkeit zur Gallebildung. Diese erfolgt durch gerichtete Sekre-
bei wiederholter Applikation des gleichen Wirkstoffes ändern, da tion gallenpflichtiger Substanzen in die Gallenkanalikuli, welche
weitere biotransformierende Enzyme innerhalb derselben Spe- von benachbarten Hepatocyten gebildet werden und durch tight
zies induziert werden und dadurch andere Metabolite entstehen. junctions abgedichtet sind. Die Gallenkanalikuli vereinigen sich
Zusätzlich sind zahlreiche genetisch determinierte Polymorphis- zu immer größeren Gallengängen bis schließlich die Galle über
men der Enzyme bekannt, die Arzneimittel metabolisieren. Dies den Ductus choledochus in den Darm abfließt. Während der
begründet individuelle Unterschiede hinsichtlich Arzneimittel- Gallenwegspassage wird die Zusammensetzung der von den

N-Acetyl-Procainamid# N-Hydroxy-Procainamid#
780 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

. Abb. 62.12 An der Gallebildung beteiligte hepatozelluläre Transportsysteme. Die Abbildung stellt zwei Hepatocyten und den von ihnen gebildeten
Gallekanalikulus dar. ABC G5/G8: Cholesterintransporter; BDG: Bilirubindiglucuronid; BSEP: Gallensäuretransporter; FIC1: familiar intrahepatic cholestasis
(Aminophospholipidtransporter); GS: Gallensäuren und -konjugate; GSH: Glutathion; MDR: multidrug resistance transporter; MRP: multidrug resistance related
protein; NK: Na+/K+-ATPase; NTCP: Na+-abhängiger Gallensäuretransporter; OA: organische Anionen; OATP: Transporter für organische Anionen; T: tight junc-
tions; rot gefüllte Symbole geben ATP-abhängige Transportsysteme wieder. (Einzelheiten s. Text)

Hepatocyten gebildeten Primär- oder Lebergalle durch Gallen- Da viele der beteiligten Carrier einen primär oder sekundär
gangsepithelzellen (Cholangiocyten) weiter modifiziert. aktiven Transport katalysieren, kommt es zu einer Substratkonzen-
Beim Menschen werden täglich 600–700 ml Galle in den trierung im Gallekanalikulus mit Aufbau eines osmotisch wirksa-
Darm sezerniert, deren Hauptbestandteile Gallensäuren, Phos- men Gradienten. Dieser ist für das passive Nachströmen von Was-
pholipide und Cholesterin sind. Daneben enthält die Galle ser und Elektrolyten aus dem Parazellulärraum verantwortlich.
Proteine, Elektrolyte und Konjugate von Xenobiotica und von Gallensäuren haben einen großen Anteil an diesem Substrat-
62 endogen gebildeten Abfallstoffen (z. B. Bilirubinglucuronide). gradienten, weswegen man auch von einer gallensäureabhängi-
Die mit der Galle in den Darm ausgeschiedenen und für Verdau- gen Gallesekretion spricht. Diese macht 30–60 % der basalen
ung und Resorption von Lipiden wichtigen Gallensäuren werden Sekretion aus, kann aber bei Nahrungsresorption aufgrund des
im terminalen Ileum großteils rückresorbiert und gelangen über damit verbundenen enterohepatischen Kreislaufs von Gallensäu-
das Pfortaderblut wieder zur Leber, um erneut in die Galle aus- ren erheblich zunehmen.
geschieden zu werden (sog. enterohepatischer Kreislauf, Die gallensäureunabhängige Gallesekretion wird anteilig
7 Kap. 61.1.4). durch den Transport von Glucuronsäure- und Glutathionkonju-
gaten und durch eine sekundär aktive Sekretion von HCO3– an-
getrieben, das durch die Carboanhydrase gebildet wird. Ladungs-
62.4.1 Galleproduktion durch Leber- und Ionenausgleich besorgen in der sinusoidalen Membran ge-
parenchymzellen legene Na+/H+-Antiporter und Na+/HCO3–-Symporter und die
Na+/K+-ATPase.
Die Gallebildung beruht auf einem osmotischen,
transzellulären Transportprozess Transportsysteme der Sinusoidalmembran Folgende Transport-
Gallebildung Der Hepatocyt ist eine polarisierte epitheliale Zel- systeme der sinusoidalen Membran (. Abb. 62.12) sind von be-
le, bei der die basolaterale (sinusoidale, der Blutseite zugewand- sonderer Bedeutung bei der Gallebildung:
te) Zellmembran von der apikalen (kanalikulären) Membran, die 4 Na+/K+-ATPase, die durch Ausbildung eines elektrochemi-
den Gallekanalikulus begrenzt, zu unterscheiden ist (. Abb. schen Na+-Gradienten die Triebkraft für Na+-gekoppelten,
62.1). Beide Membranabschnitte sind an der Gallebildung betei- sekundär aktiven Transport darstellt.
ligt, indem Fremdstoffe, aber auch endogene Metabolite, über die 4 NTCP, ein Na+-abhängiges Gallensalztransportsystem (Na+/
sinusoidale Membran des Hepatocyten aufgenommen und nach taurocholate cotransporting polypeptide), welches vorwie-
Modifikation im Zellinneren (z. B. durch Konjugationsreaktio- gend die Aufnahme von rückresorbierten Gallensäuren in
nen) über die kanalikuläre Membran ausgeschieden werden. Auf die Leberzelle vermittelt.
diese Weise entsteht ein transzellulärer, vom Sinusoidallumen in 4 Transporter der OATP-Familie, die Na+-unabhängig die
den Gallekanalikulus gerichteter Transport (. Abb. 62.12). Aufnahme von organischen Anionen (z. B. Bilirubin,
62.4 · Gallesekretion
781 62
Digitalis, unkonjugierte Gallensäuren), z. T. im Gegen- Über spezifische Gallensäurerezeptoren wird
tausch mit Glutathion (GSH) vermitteln. die Expression und Aktivität von Schrittmacher-
4 Transport-ATPasen der multidrug resistance-related Protein- enzymen der Gallensäuresynthese und von
familie (MRP3 und 4), welche konjugierte Gallensäuren und Transportproteinen der Gallebildung reguliert
Bilirubin, aber auch Glutathionkonjugate aus der Leberzelle in Farnesoid-X-Rezeptor Der Farnesoid-X-Rezeptor (FXR), ein li-
das Blut transportieren können. Normalerweise ist die gandenaktivierter Transkriptionsfaktor aus der Familie der nuc-
Expression dieser Transporter gering; sie werden aber bei leären Rezeptoren (7 Kap. 33.3.1), ist ein besonders wichtiger
Cholestase vermehrt exprimiert und verhindern auf diese Regulator der Genexpression vieler an Bildung und Transport
Weise eine Überladung der Leberzelle mit gallenpflichtigen von Gallensäuren beteiligter Proteine (. Abb. 62.13A). FXR ist im
Substanzen und führen zu dem hierfür charakteristischen Zellkern von Hepatocyten lokalisiert und wird durch Bindung
Anstieg des direkten Bilirubins (7 Kap. 32.2.3). von Gallensäuren aktiviert. Dies hat zur Folge:
4 dass die Expression von kanalikulären Transportern wie
Transportsysteme der kanalikulären Membran Die Ausscheidung BSEP und MRP2 gesteigert wird,
gallepflichtiger Substanzen über die kanalikuläre Membran erfolgt 4 dass ein als SHP (small heterodimer partner) bezeichnetes
vorwiegend durch ATP-abhängige Transportsysteme, vor allem: Protein vermehrt gebildet wird.
4 BSEP (bile salt export protein) für die Ausscheidung von
Gallensäuren. Das SHP-Protein gehört zur Familie der nucleären Transkrip-
4 MRP 2 (multidrug resistance-related protein 2), welches tionsfaktoren, allerdings fehlt ihm die DNA-Bindedomäne. Es
unterschiedliche organische Anionen wie Glucuronsäure- bildet Heterodimere mit einer Reihe von Transkriptionsfaktoren,
konjugate (z. B. Bilirubinglucuronide) oder Glutathion- wodurch deren Aktivität blockiert wird. Dies führt u. a. zu einer
konjugate transportiert. Verminderung der Expression:
4 MDR-Transporter (multidrug resistance transporter), von 4 des für die zelluläre Gallensäureaufnahme benötigten
denen MDR1 an der Ausscheidung von organischen Katio- NTCP-Transporters und
nen und Xenobiotica beteiligt ist, während das humane 4 des Schrittmacherenzyms der Gallensäuresynthese, der
MDR3 Phospholipide transportiert. Cholesterin-7α-Hydroxylase (Cyp7A1; . Abb. 62.13B).
4 FIC 1 (familiar intrahepatic cholestasis) für den Transport
von Aminophospholipiden. Als Folge dieser Regulation werden weniger Gallensäuren aufge-
4 ABCG5/G8, ein Heterodimer aus zwei Halbtransportern, nommen bzw. synthetisiert und gleichzeitig der Export von Gal-
welches den Cholesterintransport in die Galle ermöglicht. lensäuren in die Gallenflüssigkeit stimuliert.
Dadurch wird nicht nur die Gallesekretion an die Gallensäure-
Außer den genannten Transport-ATPasen finden sich in der ka- konzentration angepasst, sondern auch eine Überladung der
nalikulären Membran noch Transportsysteme für Pyrimidine, Leberzelle mit Gallensäuren bei Cholestase vermieden. Dies ist
Purine und Aminosäuren. HCO3–/Cl–- und SO42 –/OH–-Anti- von Bedeutung, da hohe Konzentrationen von Gallensäuren die
porter sind für die Aufrechterhaltung einer hohen Hydrogencar- Leberzelle schädigen und zum Zelltod durch Apoptose führen
bonat- und Sulfatkonzentration der Gallenflüssigkeit verant- können.
wortlich.
TGR5-Rezeptor Der TGR5-Rezeptor ist in der Plasmamembran
Die Aktivität der für die Gallebildung verantwort- von Cholangiocyten lokalisiert. Er gehört in die Familie der G-
lichen Transportsysteme wird langfristig durch Än- Protein-gekoppelten Rezeptoren. Bindung von Gallensäuren an
derung ihrer Genexpression, kurzfristig durch rever- TGR5 führt zu einer Aktivierung der Adenylatcyclase (. Abb.
siblen Einbau in die kanalikuläre Membran reguliert 62.13C). Die dadurch gesteigerten zellulären cAMP-Spiegel akti-
Die funktionelle Aktivität der genannten Transportsysteme un- vieren die Proteinkinase A, die den Chloridkanal CFTR (cystic
terliegt nicht nur einer Langzeitregulation auf Genexpressions- fibrosis transmembrane conductance regulator) phosphoryliert
ebene, sondern auch einer Kurzzeitregulation durch raschen und aktiviert. Das vermehrt exportierte Chlorid wird durch das
Ein- und Ausbau von Transportermolekülen in die kanalikuläre Anionenantiportsystem SLC26A6 (solute carrier family 26, mem-
Membran. Es besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen ber 6) im Austausch gegen HCO3– wieder in die Cholangiocyten
aktuell in die kanalikuläre Membran eingebauten Transportern aufgenommen. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Steigerung
und solchen, die intrazellulär in subkanalikulären Vesikeln der HCO3–-Sekretion in die Gallenflüssigkeit.
gespeichert sind. Letztere können bei Bedarf rasch zur kanaliku-
lären Membran rekrutiert werden, sodass innerhalb von Minu-
ten eine Steigerung der Exkretionskapazität möglich wird. Die 62.4.2 Gallenmodifikation durch
choleretische Wirkung der therapeutisch eingesetzten Ursodes- Gallengangsepithelien
oxycholsäure (ursprünglich aus Bärengalle isoliert) beruht u. a.
auf einer Stimulation des Einbaus von intrazellulär gelagertem Gallengangsepithelzellen (Cholangiocyten) können die Zusam-
MRP2 und BSEP in die kanalikuläre Membran. mensetzung der Galleflüssigkeit modifizieren. Unter dem Ein-
fluss von Sekretin kommt es rezeptorvermittelt zur Erhöhung
der intrazellulären cAMP-Konzentration mit nachfolgend gestei-
782 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

62

. Abb. 62.13 Funktionen von Gallensäurerezeptoren in Hepatocyten und Cholangiocyten. A Gallensäuren binden in Hepatocyten an den nucleären
Rezeptor FXR (Farnesoid-X-Rezeptor). Dies löst eine gesteigerte Expression von kanalikulären Transportern wie z. B. BSEP und des Proteins SHP aus.
Letzteres hemmt die Expression zellulärer Aufnahmesysteme für Gallensäuren (z. B. NTCP) und des Schrittmacherenzyms der Gallensäuresynthese, der
Cholesterin-7α-Hydroxylase (Cyp7A1); A: Aktivator der Transkription. B Reaktion der Cholesterin-7α-Hydroxylase. C Bindung von Gallensäuren an den
G-Protein-gekoppelten Rezeptor TGR5 von Cholangiocyten führt zur Stimulierung der Adenylatcyclase und damit zur Aktivierung der Proteinkinase A
durch cAMP. Die Phosphorylierung des CFTR-Transporters löst dessen Aktivierung aus. Nach außen transportiertes Chlorid wird durch den Antiporter
SLC26A6 im Austausch gegen HCO3– wieder aufgenommen, sodass im Endeffekt eine gesteigerte Sekretion von HCO3– resultiert. (Einzelheiten s. Text)

Cholesterin
62.6 · Pathobiochemie
783 62
gerter Wasser- und HCO3–-Sekretion. Die Sekretion von Hydro- tion, zur Prostaglandinsynthese und zur Sekretion von Kollage-
gencarbonat wird auch durch Gallensäuren selbst stimuliert, da nase. Diese für die Abtötung fremder Zellen benötigten Mecha-
diese nach Bindung an den membranständigen Gallensäure- nismen dienen auch der Eliminierung von Tumorzellen. Dane-
rezeptor TGR5 die cAMP-Bildung stimulieren (. Abb. 62.13). ben geben Kupffer-Zellen bei Endotoxinkontakt Cytokine wie
Außerdem sind Cholangiocyten imstande, mit Hilfe Na+-abhän- TNF-α und Interleukin-6 ab. Letzteres bewirkt an der Leber-
giger Transportsysteme Glucose, aber auch Gallensäuren rück- parenchymzelle eine Akutphase-Antwort. Kupffer-Zellen sind
zuresorbieren. Letzteres tritt insbesondere bei Abflussbehinde- aber auch an der Beendigung von Immunantworten beteiligt,
rungen der Gallenwege auf (obstruktive Cholestase). indem sie die Apoptose von Lymphocyten einleiten.

Sternzellen können extrazelluläre Matrix


Zusammenfassung produzieren und haben Stammzellcharakteristika
Die sekretorische Funktion der Leber beruht auf ihrer Fähig- Lebersternzellen (Synonyme: Ito-Zellen, perisinusoidale Zellen,
keit zur Bildung und Ausscheidung von Galle. Diese enthält Lipidspeicherzellen) können sich in »ruhendem« und »aktivier-
als Hauptbestandteile: tem« Zustand befinden. Im Ruhezustand speichern sie Vitamin A
4 Gallensäuren (Retinol und Retinolester) und exprimieren eine Vielzahl von
4 Phospholipide stammzelltypischen Proteinen. Neuere Untersuchungen zeigen,
4 Cholesterin dass ruhende Sternzellen tatsächlich Stammzellcharakter haben
4 Konjugate und nicht nur zu Myofibroblasten, sondern auch zu Hepatocyten
4 anorganische Salze und Endothelzellen differenzieren können. Sie spielen daher bei
der Leberregeneration vermutlich eine große Rolle.
Die Gallebildung beruht mechanistisch auf der Kooperation Ruhende Lebersternzellen können bei Leberschädigung un-
einer Reihe von z. T. ATP-abhängigen Transportern, die so- ter dem Einfluss von Cytokinen (TGF-β, TNF-α und PDGF) akti-
wohl in der basolateralen als auch der kanalikulären Mem- viert werden und sich in myofibroblastenähnliche Zellen um-
bran der Hepatocyten lokalisiert sind. In den Cholangiocy- wandeln, welche für die glatte Muskulatur charakteristisches
ten erfolgt außerdem die Sekretion von Hydrogencarbonat α-Actin exprimieren. Durch ihre Befähigung, extrazelluläre
und Wasser in die Gallenflüssigkeit. Matrix (Kollagen I, III, IV und VI, Proteoglykane) zu bilden,
spielen sie eine herausragende Rolle bei der Entstehung von Le-
berfibrose und -zirrhose (7 Kap. 62.6.1).

62.5 Charakteristika von Sinusendothelien,


Kupffer- und Sternzellen Zusammenfassung
Die Nicht-Parenchymzellen der Leber sind für jeweils
Die hepatischen Endothelzellen sind für spezifische Funktionen zuständig:
die Eliminierung von Makromolekülen aus 4 die hepatischen Endothelzellen für die Aufnahme von
dem Blut verantwortlich Makromolekülen, z. B. Glykoproteinen, Immunkom-
Die Aufnahme und Eliminierung von Makromolekülen aus dem plexen oder Lipoproteinen,
Blut ist eine der Hauptfunktionen der hepatischen Sinusendo- 4 die Kupffer-Zellen für Phagocytose und Abwehr,
thelzellen. Sie verfügen, jedenfalls im Vergleich zu den anderen 4 die Sternzellen speichern Retinol, produzieren nach
zellulären Elementen der Leber, über die beste Ausstattung mit Aktivierung extrazelluläre Matrix und sind vermutlich als
Rezeptoren für: Stammzellen an der Leberregeneration beteiligt.
4 Asialoglycoproteine (7 Kap. 49.3.3)
4 Fc-Teile von Immunglobulinen (7 Kap. 70.9.1)
4 Apolipoproteine (7 Kap. 24.1) 62.6 Pathobiochemie

Sie können auch in beträchtlichem Umfang Kollagen und Proteo- 62.6.1 Lebernoxen
glykane durch Endocytose aufnehmen und so zum Abbau von
Bindegewebskomponenten beitragen. Sinusendothelzellen besit- Aufgrund ihrer besonderen anatomischen Positionierung und
zen Fenestrationen (Siebplatten) über welche der Sinusoidalraum ihrer vielfältigen Funktionen kann die Leber von einer großen
mit dem Dissé-Raum in Verbindung steht (. Abb. 62.1). Zahl unterschiedlichster Noxen getroffen werden. Sind diese
schwerwiegend, kommt es zum mehr oder weniger umfängli-
Kupffer-Zellen werden für Phagocytose chen Leberzelluntergang. Sobald der ursächliche Schaden been-
und Abwehr benötigt det wird, ist die Leber wegen ihrer besonderen Fähigkeit zur
Die Kupffer-Zellen leiten sich von den Knochenmarksstammzel- Regeneration häufig zur Wundheilungsantwort und Ausheilung
len ab und gehören in die Reihe der mononucleären Phagocyten. des Schadens imstande. Bleibt dieser allerdings bestehen, führt
Sie sind zur Phagocytose von Viren, Bakterien, Zelltrümmern, der kontinuierliche Leberzelluntergang zu Bindegewebsablage-
Immunkomplexen und Endotoxinen imstande. Gleichzeitig mit rungen, die sich zunächst ohne (Leberfibrose), später aber mit
diesem Prozess kommt es zu einer gesteigerten H2O2-Produk- Störung der Leberarchitektur und Regeneratknotenbildung
784 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

(Leberzirrhose) manifestieren. Dann kommt es zu Funktionsein- NADH und Acetyl-CoA führt zur Hemmung der Gluconeo-
schränkungen der Leber und zu Störungen der Leberhämo- genese und der Fettsäureoxidation sowie zu einer Steigerung der
dynamik, die auch auf die Funktion anderer Organe zurückwir- Ketonkörper-, Glycerin-3-Phosphat- und Fettsäuresynthese. Da-
ken können. Im Folgenden werden drei pathobiochemisch wich- raus synthetisierte Triacylglycerine akkumulieren intrazellulär,
tige Störungen angesprochen: da ihre Ausschleusung aus der Leberzelle u. a. durch eine acet-
4 akute Leberschädigung aldehydbedingte Beeinträchtigung mikrotubulärer Transport-
4 chronische Leberschädigung vorgänge (7 Kap. 13.2) gestört ist. Auch die autophagische Prote-
4 Cholestase olyse wird durch Alkohol gehemmt (Hydratationszunahme der
Leberzelle!) mit der Folge einer intrazellulären Proteinakkumu-
Viele Gifte und Infektionen lösen einen lation. Die so entstehende Fettleber ist durch Fett- und Protein-
akuten Leberzelluntergang aus anhäufung und Lebervergrößerung (Hepatomegalie) charakteri-
Auslösende Ursache einer akuten Leberschädigung können siert. Weitere Folgen der akuten Alkoholintoxikation sind Nei-
Vergiftungen (z. B. mit Tetrachlorkohlenstoff, Knollenblätterpilz- gung zu Hypoglykämie, Lactat- und Ketoacidose (Neigung zu
gift u. a.), akute, schwer verlaufende Infektionen, Medikamente Gichtanfällen!) und Interferenzen mit dem Arzneimittelabbau.
(z. B. Paracetamol) und Durchblutungsstörungen (z. B. Leber- Diese akuten alkoholbedingten Stoffwechselveränderungen sind
venenverschluss) sein. Zugrunde liegt dann häufig eine schwere bei Alkoholkarenz in der Regel reversibel.
Beeinträchtigung des Energiestoffwechsels mit Aktivierung von
Lysosomen, Schädigung des Cytoskeletts und der Zellmembra- Chronischer Alkoholkonsum Chronische Zufuhr von Alkohol
nen. Dabei kommt es zum Austritt zellulärer Bestandteile in das kann zu dauerhaften Leberschäden bis hin zur Leberzirrhose
Blut. Die Messung hepatozellulärer Enzymaktivitäten im Serum führen. Folgende Mechanismen sind daran beteiligt (. Abb.
(z. B. die Alanin-Aminotransferase und/oder die Aspartat-Ami- 62.14):
notransferase) dient neben der Bestimmung der Biosynthese- 4 Durch chronische Alkoholzufuhr kommt es zur Induktion
leistung spezifischer Proteine (z. B. Gerinnungsfaktoren) als Maß der im endoplasmatischen Retikulum lokalisierten Cyto-
für die Schwere der Leberschädigung. Wegen der kurzen Halb- chrom-P450-abhängigen Monooxygenase CYP 2E1. Dieses
wertszeit von Blutgerinnungsfaktoren sind plasmatische Gerin- Enzym hat ein breites Substratspektrum für die Metabolisie-
nungstests (z. B. die Prothrombinzeit nach Quick oder Faktor-V- rung von Endo- bzw. Xenobiotica, katalysiert aber auch die
Bestimmung) besonders gut geeignet, um Schwere und Dynamik Ethanoloxidation zu Acetaldehyd. Aus diesem Grund wird es
der Leberschädigung zu erfassen. Während starke Gifteinwirkung auch als mikrosomales ethanoloxidierendes System
den nekrotischen Zelltod auslöst, führen weniger starke Schädi- (MEOS, microsomal ethanol oxidizing system) bezeichnet.
gungen zum apoptotischen Zelluntergang. Die Übergänge zwi- 4 Die Induktion von MEOS führt zu einer Zunahme dieses
schen Apoptose (7 Kap. 51) und Nekrose sind dabei fließend. normalerweise nur in geringem Umfang beschrittenen
Eine immunologisch vermittelte Apoptose tritt häufig auch im Wegs des Alkoholabbaus, allerdings unter Verbrauch von
62 Rahmen einer Virushepatitis auf, insbesondere bei Infektionen Sauerstoff und Reduktionsäquivalenten ohne ATP-Gewin-
mit dem Hepatitis-B- und C-Virus. Die Infektion mit diesen Viren nung. Dies ist u. a. für hypoxische Leberzellschäden im
löst eine akute Hepatitis aus, deren Schwere von leichtem Krank- perivenösen Bereich des Leberacinus verantwortlich.
heitsgefühl bis hin zum akuten Leberversagen reichen kann. Letz- 4 Die gesteigerte Metabolisierung von Ethanol, aber auch der
teres ist definiert als neu aufgetretene Leberschädigung, die so anderen Substrate von CYP 2E1, begünstigt die Bildung von
schwer ist, dass gleichzeitig die Hirnfunktion durch eine hepati- Sauerstoffradikalen (oxidativer Stress). Dies führt zu
sche Enzephalopathie beeinträchtigt ist. Besteht die Hepatitis-B- Membranschäden durch Lipidperoxidation und begünstigt
oder C-Infektion länger als 6 Monate, ist aus der akuten eine chro- die Apoptose von Leberzellen.
nische Hepatitis geworden. Die bei akuter Virushepatitis häufig 4 Der Alkoholabbau über ADH wie auch über MEOS führt
anzutreffende Gelbsucht (Ikterus) (7 Kap. 32.3.2) beruht auf einer zur Bildung von Acetaldehyd. Dieses wird zum größten
cytokinvermittelten Repression von MRP2, der kanalikulären Ex- Teil über die mitochondriale Aldehydehydrogenase zu
portpumpe für konjugiertes Bilirubin. Acetat abgebaut. Acetaldehyd kann durch Proteinaddukt-
Auch Alkohol, toxische Konzentrationen von Gallensäuren bildung neue antigene Determinanten schaffen und so
und manche Medikamente können zur Apoptose von Leberzel- Immunreaktionen in Gang setzen, insbesondere aber Kupf-
len über eine teilweise ligandenunabhängige Aktivierung von fer-Zellen zur Bildung von Cytokinen wie PDGF, TNF-α
Todesrezeptoren (z. B. Fas/CD95) führen. Die Prognose der aku- und TGF-β veranlassen.
ten Leberschädigung hängt von der zugrunde liegenden Noxe ab; 4 Diese Cytokine führen zur Aktivierung ruhender Stern-
bisweilen ist die Schädigung so stark, dass eine rasche Leber- zellen, deren Proliferation und Umwandlung in myofibro-
transplantation erforderlich ist. blastenartige Zellen. Diese transformierten Sternzellen
sind kontraktil, synthetisieren große Mengen extrazellulä-
Alkoholgenuss ist eine häufige Ursache rer Matrix und fördern so die Fibrosierung. Dies führt zur
der chronischen Leberschädigung Erhöhung des sinusoidalen Durchströmungswiderstands.
Akuter übermäßiger Alkoholkonsum Die Leber ist der Hauptort 4 Aktivierte Sternzellen produzieren ihrerseits weitere Signal-
des Alkoholabbaus, der hauptsächlich über die Alkoholdehydro- stoffe wie z. B. PDGF, welches autokrin proliferationsstei-
genase (ADH) erfolgt (. Abb. 62.14). Das dabei anfallende gernd wirkt und so zur Propagierung der Fibrosierung führt.
62.6 · Pathobiochemie
785 62
4 die Rückwirkung auf die Funktion anderer Organe (z. B.
Gehirn: hepatische Enzephalopathie durch unzureichende
Ammoniakentgiftung der erkrankten Leber).

Als Folge einer chronischen Virushepatitis


kann ein Leberzellkarzinom entstehen
Chronische Virushepatitis Während Infektionen mit dem Hepati-
tis-A-Virus üblicherweise unter Hinterlassung einer lebenslangen
Immunität ausheilen, gehen Akutinfektionen mit dem Hepatitis-
B-Virus (HBV) oder dem Hepatitis-C-Virus (HCV) nicht selten
in eine chronische, d. h. länger als 6 Monate dauernde Hepatitis
über. Besteht eine chronische Hepatitis B oder C über viele Jahre
kann sie zur Leberfibrose und später zur Leberzirrhose führen, bei
der dann ein jährliches Risiko von 3–5 % besteht, ein Leberzell-
karzinom zu entwickeln. Das Hepatitis-B-Virus ist ein DNA-Vi-
rus, welches selbst nicht cytopathogen ist, sondern erst durch
Auslösung einer zellulären Immunantwort zum Untergang der
virusinfizierten Leberzelle führt. Ist die gegen HBV gerichtete T-
Zellantwort schwach, kommt es durch unzureichende Unterdrü-
. Abb. 62.14 Der Stoffwechsel des Ethanols in der Leber. Für die erste ckung der Virusreplikation zu einer chronischen, mehr oder we-
Oxidation zu Acetaldehyd stehen zwei Enzyme zur Verfügung. Die cytoso- niger frustranen Entzündungsreaktion in der Leber. Da bei Neu-
lische Alkoholdehydrogenase, die den Hauptanteil der Ethanoloxidation ka- geborenen das Immunsystem noch unreif ist, führt die HBV-In-
talysiert, liefert NADH. Das im endoplasmatischen Retikulum lokalisierte
fektion des Neugeborenen durch die Mutter im Rahmen des
mikrosomale ethanoloxidierende System (MEOS) beruht auf der Aktivität
einer Cytochrom-P450-abhängigen Monooxygenase, die durch Ethanol in- Geburtsvorgangs fast immer zur Induktion einer spezifischen T-
duziert wird. In Nebenreaktionen dieses Enzyms entstehen reaktive Sauer- Zelltoleranz und damit zur chronischen Hepatitis B. Während die
stoffspezies, die für viele Folgeschäden des chronischen Alkoholabusus ver- Chronifizierungsrate bei HBV-Infektion nur etwa 5 % beträgt,
antwortlich sind. Das Reaktionsprodukt Acetaldehyd bildet Proteinaddukte wird die Infektion mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) in mehr als
und löst Immunreaktionen und eine Fibrosierung aus. Durch die mitochon-
der Hälfte aller Fälle chronisch. Dies liegt einmal an der Mutati-
driale Aldehyddehydrogenase wird Acetaldehyd in Acetat umgewandelt.
MEOS: mikrosomales ethanoloxidierendes System. (Einzelheiten s. Text) onsfreudigkeit des RNA-Virus (sog. Quasispeziesbildung), durch
welche sich das Virus immer wieder dem Immunsystem entzieht.
Zusätzlich finden sich vielfältige Mechanismen, mit denen einzel-
4 Im Rahmen all dieser Prozesse kommt es zum progredien- ne Virusproteine mit der hepatozellulären Signaltransduktion
ten Leberzelluntergang, aber auch zum Einsetzen von und Proteinen der angeborenen und adaptiven Immunabwehr
Regenerationsvorgängen. Diese werden aber durch die interferieren. Beispielsweise führt das HCV-Kern-(core)-Protein
Fibrosierung der Leber behindert: es kommt zum Umbau zur Induktion des suppressor of cytokine signaling-3 (SOCS-3) und
der Läppchenarchitektur mit Regeneratknotenbildung und damit zur Beeinträchtigung der antiviralen Interferon-α Wirkung.
gestörter Leberdurchblutung. Dieser Zustand wird als Le-
berzirrhose bezeichnet.
4 Es sind eine Reihe von Genpolymorphismen für oxidative Übrigens
und antioxidative Enzymsysteme (z. B. manganabhängige Hepatische Enzephalopathie bei Leberzirrhose
Superoxiddismutase, Cytochrom-P450-Subspezies) sowie »I’m a great eater of beef, but believe it does harm to my wit«
Promotoren in Cytokin-Genen (z. B. TNF-α, Interleu- sagt Sir Andrew Aguecheek in Shakespeares «Was ihr wollt«.
kin-10) bekannt, welche die Empfindlichkeit der Leber für Aguecheek, der sehr dem Alkohol zusprach und daher wahr-
alkoholische Schäden beeinflussen. Dies erklärt, weshalb scheinlich an Leberzirrhose litt, beschreibt hier die Auslösung
viele, jedoch keineswegs alle Alkoholiker einen schweren einer Enzephalopathie-Episode durch Fleischgenuss. Die
Leberschaden entwickeln. hepatische Enzephalopathie ist eine in der Regel reversible
Hirnfunktionsstörung mit Verlangsamung und Konzentra-
Auch andere Formen der chronischen Leberzellschädigung (z. B. tionsstörungen bis hin zum Koma, die u. a. durch Hyper-
chronische Virushepatitis, nicht-alkoholische Steatohepatitis, ammoniämie ausgelöst wird. Fleischgenuss führt zu einer
Eisenspeicherkrankheit) können durch Auslösung dieser Reak- vermehrten Produktion von Ammoniak, welcher normaler-
tionsmuster zur Leberzirrhose führen. Die klinische Symptoma- weise von der Leber wirksam und rasch entgiftet wird. Bei
tik ist geprägt durch: Leberzirrhose dagegen gelangt Ammoniak wegen der meta-
4 den Leberfunktionsverlust (z. B. Blutgerinnungsstörungen, bolischen Leberinsuffizienz und aufgrund von Umgehungs-
verminderte Albuminsynthese), kreisläufen vermehrt zum Gehirn und entfaltet dort seine
4 die Störung der Leberdurchblutung (portale Hypertension, toxische Wirkung. Dabei kommt es im Rahmen der cerebralen
Ösophagusvarizen und andere Umgehungskreisläufe, 6
Aszites, Milzvergrößerung) und
786 Kapitel 62 · Leber – Zentrales Stoffwechselorgan

Verschluss von Gallenwegen zu Koliken, Ikterus, Gallenwegs-


Ammoniakentgiftung durch Glutaminsynthese zur leichten entzündungen und Leberzellschäden führen.
Astrocytenschwellung, außerdem zu oxidativem Stress mit Gallensteine enthalten in wechselndem Verhältnis als wich-
oxidativer Modifikation von Nucleinsäuren und Proteinen. tigste Bestandteile Cholesterin, Gallenfarbstoffe und Calcium-
Man nimmt an, dass die damit verbundene Störung der salze. Je nachdem, welche dieser Verbindungen überwiegend
synaptischen Plastizität oszillierende Netzwerke im Gehirn vorkommt, spricht man von Cholesterin- bzw. Pigmentsteinen:
beeinträchtigt und so zu Symptomen führt (7 Kap. 28.1). 4 Cholesterinsteine machen etwa 90 % aller Gallensteine aus
und haben einen Cholesteringehalt von etwa 70 %. Sie ent-
stehen durch Auskristallisation von Cholesterin in der Gal-
Cholestase ist Folge einer Störung lenblase und sind Folge einer übermäßigen Cholesterinaus-
hepatobiliärer Transportsysteme oder eines scheidung oder einer Störung des Verhältnisses von Choles-
gestörten Galleabflusses terin und seinen Lösungsvermittlern, den Gallensäuren und
Cholestase Störungen der Gallebildung können auf mechanischer Phospholipiden. Solche Missverhältnisse an sezernierten
Verlegung abführender Gallenwege (z. B. Tumoren, Gallensteine) Gallensäuren, Phospholipiden und Cholesterin können er-
beruhen (»obstruktive Cholestase«), aber auch primär auf hepato- worben (z. B. bei intestinalen Gallensäureverlustsyndromen
zellulärer Ebene durch Störungen der hepatobiliären Sekretion oder verminderter Synthese bei Leberzirrhose), aber auch
(»hepatozelluläre Cholestase«) zustande kommen. Letztere tritt genetisch bedingt sein. So wurden sog. Lith-Gene identifi-
meist auch sekundär bei obstruktiver Cholestase hinzu. Ursache ziert, deren Polymorphismen die Cholesterinsteinbildung
des hepatozellulären Sekretionsdefekts sind Infektionen, Toxine, begünstigen. Zu ihnen zählen BSEP, MDR3 und der
aber auch angeborene Defekte der hepatobiliären Transportsyste- Cholesterintransporter ABCG5/G8.
me. So führen TNF-α und andere inflammatorisch wirkende Cyto- 4 Pigmentsteine bestehen überwiegend aus den Calcium-
kine zu verminderter Expression von NTCP, MRP2 und BSEP salzen des Bilirubins sowie Calciumphosphat und -carbonat.
(. Abb. 62.12) und damit zur gestörten Ausscheidung von Gallen- Zu ihrer Entstehung tragen eine gesteigerte Ausscheidung
säuren und organischen Anionen. Diese reichern sich im Blut an von nicht an Glucuronsäure konjugiertem Bilirubin bei, wie
und führen zu Juckreiz (Gallensäuren) und Gelbsucht (Ikterus sie bei hämolytischen Krankheitsbildern (Sichelzellanämie,
durch unzureichende Bilirubinausscheidung). Auch medikamen- Thalassämie, fetale Erythroblastose, 7 Kap. 68.3) oder Defek-
tös und hormonell bedingte Cholestasen beruhen auf einer ver- ten der Glucuronidierung der Leber auftreten. Ein wichtiger
minderten Expression solcher Transportsysteme. Im Falle der Auslöser der Pigmentsteinbildung ist darüber hinaus die De-
intrahepatischen Schwangerschaftscholestase lässt sich bei der konjugierung von Bilirubinglucuronid in der Gallenblase.
Hälfte der Patientinnen eine Mutation im MDR3-Gen nachwei- Sie tritt bei bakterieller Besiedelung der Gallenwege, beson-
sen. Demgegenüber führen schwere Defekte im MDR3-Gen zur ders mit E. coli auf. Diese setzen große Mengen der
familiären progressiven intrahepatischen Cholestase Typ 3 β-Glucuronidase frei und sind so für die gesteigerte Dekon-
62 (PFIC 3), welche ebenso wie PFIC Typ 1 (Defekt des FIC-1-Gens) jugierung und die dramatische Verschlechterung der Lös-
und PFIC Typ 2 (Defekt des BSEP-Gens) oft bereits im Kindesalter lichkeit von Gallenfarbstoffen verantwortlich.
eine Lebertransplantation erfordern. Andere Mutationen von
BSEP und FIC 1 können klinisch unter dem Bild der benignen
rekurrenten intrahepatischen Cholestase (BRIC) in Erscheinung Zusammenfassung
treten. Unterschiedliche Mutationen in ein und demselben Trans- Die Leber kann von einer großen Zahl unterschiedlichster
porter haben offensichtlich unterschiedliche funktionelle Auswir- Noxen getroffen werden. Diese können zum mehr oder
kungen und können daher zu klinisch unterschiedlichen Krank- weniger umfänglichen Leberzelluntergang mit nachfolgen-
heitsbildern führen. Dem Ikterus beim Dubin-Johnson-Syndrom der Wundheilungsantwort und Regeneration führen. Man
liegen ein isolierter genetischer Defekt von MRP2 und damit eine unterscheidet:
Bilirubinausscheidungsstörung zugrunde, während die Sekretion 4 akute Leberschädigungen, z. B. durch Gifte, Endotoxine
von Gallensäuren über BSEP nicht beeinträchtigt ist. Über die Pa- oder schwere Infekte,
thogenese der verschiedenen Formen des Ikterus s. 7 Kap. 32.3.2. 4 chronische Leberschädigungen, die neben der Schädi-
Alle Formen der Cholestase können die Leber schädigen, da gung der Hepatocyten einen v. a. durch die aktivierten
Gallensäuren in der Leberzelle akkumulieren und so Apoptose Sternzellen ausgelösten fibrotischen Umbau der Leber mit
auslösen. der Entwicklung einer Leberzirrhose nach sich ziehen, und
4 Schädigungen durch Cholestase, die durch Verlegung
der abführenden Gallenwege oder durch Störungen der
62.6.2 Cholelithiasis Gallebildung in den Hepatocyten einhergehen.
Sehr häufig sind Konkremente in den ableitenden Gallen-
Eine der häufigsten Erkrankungen in Westeuropa ist das Gallen- wegen. Nach ihrer Zusammensetzung unterscheidet man
steinleiden. Allein in Deutschland wird die Zahl der Steinträger zwischen Cholesterin- und Pigmentsteinen.
auf über 5 Mio. geschätzt, wobei Frauen mehr als doppelt so häu-
fig betroffen sind wie Männer. 75–80 % aller Gallensteine bleiben
symptomlos und werden zufällig entdeckt. Der Rest kann durch 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
787 63

63 Quergestreifte Muskulatur
Dieter O. Fürst, Rolf Schröder

Einleitung

Skelett- und Herzmuskulatur bilden die Hauptkomponenten der quer-


gestreiften Muskulatur. Der Skelettmuskulatur kommt primär eine überge-
ordnete Bedeutung bei allen lokomotorischen Leistungen des Menschen
zu; die geordnete Kontraktion der Herzmuskulatur gewährleistet die
Pumpfunktion des Herzens und somit die Regulation des Blutkreislaufs.
Der menschliche Körper besitzt mehr als 600 verschiedene Muskeln, die in
ihrer Gesamtheit etwa ein Drittel der Körpermasse ausmachen.
Über die motorischen Aspekte hinaus kommt der Skelettmuskulatur
eine wichtige Bedeutung bei der Wärmeregulation und Elektrolyt-
homöostase und bei zentralen Stoffwechselprozessen zu. Die Kenntnis
der Anatomie, Funktion und biochemischer Charakteristika der quer- . Abb. 63.1 Funktioneller Aufbau des Skelettmuskels: Bündel von
gestreiften Muskulatur ist essenziell für das Verständnis der großen und Muskelfasern sind über myotendinöse Übergangszonen und Sehnen
für die ärztliche Praxis relevanten Gruppe angeborener und erworbener an Knochen verankert. Mehrere Muskelfasern werden von einzelnen
Motorneuronen innerviert (= motorische Einheit)
Erkrankungen der Herz- und Skelettmuskulatur.

Schwerpunkte
Der Ablauf einer willkürlichen Muskelkontraktion läuft über
4 Aufbau der motorischen Einheit
folgende Stationen:
4 Struktur des kontraktilen Apparats der Skelettmuskulatur
4 Aktivierung von Neuronen im prämotorischen und motori-
4 Mechanismus des Kontraktionsvorgangs
schen Cortex,
4 Stoffwechsel der Muskelzelle
4 Generierung von Aktionspotentialen in den zentralen
4 Der Herzmuskel
(ersten) Motorneuronen,
4 Pathobiochemie
4 Umschaltung auf die peripheren (zweiten, α-)Motor-
neurone im Hirnstamm oder im Rückenmark,
4 Signalübertragung auf der Ebene der motorischen End-
platten,
63.1 Funktioneller Aufbau 4 Depolarisation der Muskelmembran mit konsekutiver
der Skelettmuskulatur Calciumfreisetzung aus dem sarkoplasmatischen
Retikulum,
Die quergestreifte Skelettmuskulatur ist morphologisch durch 4 Verkürzung der Myofibrillen, die letztlich den Bewegungs-
Bündel parallel angeordneter Muskelfasern gekennzeichnet, die effekt erzeugt.
den Muskelbauch ausmachen, und die an ihren proximalen und
distalen Enden in myotendinöse Übergangszonen übergehen. Motorische Ausfälle können durch Schädigungen in jedem der
Letztere gehen dann in Sehnen über, die den Muskel am Kno- sechs genannten funktionellen Kompartimente hervorgerufen
chensystem verankern (. Abb. 63.1). werden.
Die Muskelfasern innerhalb eines Muskelfaszikels sind von Mehrere Muskelfasern innerhalb eines Muskelfaszikels wer-
perimysialen Bindegewebsstrukturen umhüllt; einzelne Muskel- den von den terminalen Axonen eines einzelnen Motorneurons
fasern werden von endomysialen Bindegewebsscheiden (einer innerviert und aktiviert; als motorische Einheit werden hierbei
Form von extrazellulärer Matrix) umgeben. Normale Skelett- alle von einem Motorneuron innervierten Muskelfasern wie
muskelfasern sind ein Synzytium mit bis zu mehreren 100 Zell- auch das Motorneuron selbst definiert (s. auch Lehrbücher der
kernen, weisen eine Länge zwischen mehreren Millimetern bis Anatomie). Die Größe der motorischen Einheit hat einen we-
zu mehreren Zentimetern auf und sind im Erwachsenenalter sentlichen Einfluss auf die Kraftabstufung: kleine motorische
zwischen 40 und 80 μm dick. Das bei lichtmikroskopischer Be- Einheiten mit maximal mehreren hundert Muskelfasern ermög-
trachtung sichtbare, typische Querstreifungsmuster ist durch lichen feine Kraftabstufungen bei gleichzeitig geringerer Maxi-
den hochregelmäßigen Aufbau des kontraktilen Apparates be- malkraft (z. B. kleine Handmuskeln), während große motorische
dingt (s. Lehrbücher der Anatomie und Physiologie). Einheiten mit mehreren tausend Muskelfasern zwar höhere

P. Synzytium myotendinöse
C. Heinrich eUBM Übergangszone
(Hrsg.), Löffler/Petrides α-Motorneuron
Biochemie und Pathobiochemie, Muskelfasern
DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_63, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
788 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

Kräfte ermöglichen, die aber nur grob abgestuft werden können 4 Die mechanische Verankerung von Cytoskelettstrukturen
(z. B. große Beinmuskeln). Abhängig von ihrer spezifischen innerhalb der Muskelfaser mit der extrazellulären Matrix
Enzymausstattung lassen sich die Muskelfasern hauptsächlich in (. Abb. 63.2A). Diese Funktion ist von besonderer Be-
Typ I (langsam, oxidativ), Typ IIA (schnell, oxidativ, glycoly- deutung, da sie es erst ermöglicht, die Verkürzung der Myo-
tisch) und Typ-IIB-Fasern (schnell, glycolytisch) einteilen. Diese fibrillen in den Kontraktionsvorgang des Muskels zu über-
Differenzierung erlaubt eine weitere Spezialisierung in ausdau- setzen. Entscheidend hierfür ist der Dystrophin/Dystro-
ernde Fasern mit Haltefunktion (Typ I) und schnelle Fasern glykan-Komplex und der Integrin-Komplex. Beide stellen
(Typ II) mit Bewegungsfunktion. die Verbindung zwischen dem Cytoskelett und der extra-
zellulären Matrix dar (7 Kap. 63.2.5).
4 Der aktive und passive Transport von Ionen und Metaboli-
Zusammenfassung ten. Für die De- und Repolarisation der Muskelzellen ist ein
Die willkürliche Motorik ist an die funktionelle Integrität komplexes System von sarkolemmalen Ionentransportpro-
des zentralen und peripheren Nervensystems, der neuro- teinen notwendig (. Abb. 63.3B). Eine besondere Rolle
muskulären Endplatte sowie der Skelettmuskelfaser selbst spielen dabei Einstülpungen des Sarkolemms, die als das
gekoppelt. Als motorische Einheit sind alle von einem T-tubuläre System bezeichnet werden (7 Kap. 63.2.2, . Abb.
Motorneuron innervierten Muskelfasern wie auch das 63.2C). Außerdem verfügt das Sarkolemm über verschie-
Motorneuron selbst definiert. Die innerhalb eines Faszikels denste Transporter, die u.a. für den Stoffwechsel von
liegenden Muskelfasern sind von endo- und perimysialem Metaboliten (z. B. Glucose, Fettsäuren, Aminosäuren)
Bindegewebe umgeben; ein ganzer Faszikel wird von benötigt werden.
Perimysium eingescheidet. Skelettmuskelfasern sind 4 Transduktion der verschiedensten extrazellulären Signale
ein Synzytium mit multiplen Zellkernen, die hinsichtlich mittels geeigneter Rezeptoren (z. B. Insulin, Adrenalin,
ihrer spezifischen Enzymausstattung in Typ-I-Fasern Noradrenalin, Wachstumshormon u.v.a.). Auf diese Weise
(langsam, oxidativ), Typ-IIA-Fasern (schnell, oxidativ, wird die Anpassung der Muskulatur an die unterschiedli-
glycolytisch) und Typ-IIB-Fasern (schnell, glycolytisch) ein- chen funktionellen Erfordernisse ermöglicht. Von beson-
geteilt werden. derer Bedeutung sind Caveolae, 50 bis 100 nm große Mem-
branmikrodomänen in Form von Einsackungen, in denen
zahlreiche Rezeptoren (z. B. Insulin-Rezeptor) angereichert
sind. Den Caveolae wird ferner eine bedeutende Funktion
63.2 Molekularer Aufbau und Funktion bei Reparaturvorgängen der Membran zugesprochen.
der Skelettmuskulatur

Für das Verständnis der Funktionsweise der normalen und pa- 63.2.2 Neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli
thologisch veränderten Skelettmuskulatur ist die Kenntnis der und sarkoplasmatisches Retikulum
folgenden Strukturelemente essentiell (. Abb. 63.2):
63 4 das Sarkolemm mit der assoziierten extrazellulären Matrix, Synchronisierte Muskelkontraktionen mehrerer motorischer
4 die auf die Erregungsausbreitung spezialisierten Membran- Einheiten erfolgen über die Aktionspotentiale der zugehörigen
systeme (neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli, sarkoplas- zweiten Motorneurone. Im Bereich der neuromuskulären End-
matisches Retikulum), platte erfolgt hierbei eine Umwandlung des elektrischen Impul-
4 der kontraktile Apparat mit seinen parallel angeordneten ses in ein chemisches Signal (. Abb. 63.3B). Dies führt zur
Myofibrillen, Freisetzung von Acetylcholin (ACh) aus präsynaptischen
4 das für die Verankerung des myofibrillären Apparats Vesikeln in den synaptischen Spalt. Die Bindung des Acetylcholins
zuständige Cytoskelett, an die Acetylcholinrezeptoren (AChR) induziert initial an der
4 das Sarkoplasma (Cytoplasma der Muskelzellen), postsynaptischen Membran und konsekutiv am gesamten
4 die für die Energieversorgung notwendigen Mitochondrien Sarkolemm die Öffnung von Natriumkanälen, die eine kurzzei-
und tige Depolarisation der Membran bewirken. Um eine möglichst
4 die Zellkerne der Muskelfasern. schnelle Erregungsausbreitung innerhalb der gesamten Muskel-
faser zu gewährleisten, weist das Sarkolemm eine raffinierte Spe-
zialisierung in Form des T-tubulären Systems auf: Die T-Tubuli
63.2.1 Sarkolemm und extrazelluläre Matrix sind schlauchförmige Membraneinstülpungen, die sich tief ins
Innere der Muskelfaser erstrecken (. Abb. 63.2B, C). Im Bereich
Die einzelnen Muskelfasern sind an ihrer Oberfläche durch der sog. Triaden stehen die T-Tubuli mit meist zwei terminalen
das Sarkolemm begrenzt. Es entspricht der Plasmamembran Zisternen des sarkoplasmatischen Retikulums (SR), die die
anderer Zellen, stellt also eine Lipiddoppelschicht mit einge- Myofibrillen umhüllen, in engem, synapsenartigem Kontakt.
lagerten Proteinkomplexen dar, wodurch die Kontaktstellen Diese Anordnung gewährleistet die synchrone Übertragung der
zwischen dem Sarkoplasma und der extrazellulären Umgebung Depolarisation des Sarkolemms auf das gesamte SR. Im nächsten
herstellt werden. Dem Sarkolemm kommen drei Hauptfunk- Schritt aktiviert die Depolarisation des Sarkolemms den
tionen zu: Dihydropyridinrezeptor (DHPR), der in direkter Verbindung
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
789 63

. Abb. 63.2 Schematische Darstellung der wichtigsten Funktionseinheiten der Skelettmuskelzelle. In der Mitte der Abbildung (B) ist eine Muskelzelle
dargestellt, deren Hauptbestandteile die Myofibrillen sind. Die Ausschnittsvergrößerung in A zeigt eine Darstellung des Sarkolemms. Mit der extrazellu-
lären Matrix verbundene Integrin- bzw. Dystrophinkomplexe sind über Adapterprotein-Komplexe mit F-Actin und Intermediärfilamenten verknüpft. Diese
sind ihrerseits mit der Peripherie der Z-Scheiben der Myofibrillen verbunden. Die Ausschnittsvergrößerung in C zeigt eine vergrößerte Darstellung einer
Triade. Diese besteht aus einer als transversaler Tubulus (T-Tubulus) bezeichneten Einstülpung des Sarkolemms, das in engem Kontakt mit dem sarkoplas-
matischen Reticulum steht. Außerdem ist ein vergrößerter Querschnitt durch ein Mitochondrium gezeigt

mit dem Ryanodinrezeptor (RyR) in der Membran des SR steht. lichen Überführung von primär elektrochemischen Ionenver-
Konsekutiv wird die Calciumpermeabilität primär des RyR ge- schiebungen in die Biomechanik der Myofibrillenkontraktion.
steigert, wodurch innerhalb von Millisekunden Calciumionen
aus dem SR in das Sarkoplasma ausströmen (. Abb. 63.3A). Diese
Erhöhung der Konzentration an freien Calciumionen im 63.2.3 Kontraktiler Apparat
Sarkoplasma bewirkt dann eine Verkürzung der Myofibrillen, die
den eigentlichen Bewegungseffekt der Muskulatur ausmacht Die Myofibrillen (. Abb. 63.2B) machen etwa 80 % der Ge-
(s. u.). Im Myocard dient der Dihydropyridinrezeptor dagegen samtmasse einer Muskelfaser aus. Ihre regelmäßige Anordnung
als Calciumkana (7 Kap. 63.4). und Substruktur bedingen die namengebende Querstreifung bei
Parallel zu der ablaufenden Muskelkontraktion erfolgt eine lichtmikroskopischer Betrachtung von Skelettmuskelgewebe
Repolarisierung des Sarkolemms vorwiegend durch die Aktivierung (. Abb. 63.4). Im Polarisationsmikroskop wechseln sich die prote-
der Na+/K+-ATPase, um sie für eine erneute Kontraktion erregbar inreichen A-Banden (anisotrop, doppelbrechend) mit den weniger
zu machen (. Abb. 63.3C). Die beschriebenen Vorgänge sind der proteinreichen I-Banden (isotrop, nicht-doppelbrechend) ab. Im
erste Teil der sog. elektromechanischen Kopplung, also der zeit- Zentrum der I-Bande liegt eine schmale, stark lichtbrechende

Skelettmuskulatur Integrin-Komplex Laminin Dystrophin-Komplex Adapterprotein-Komplex Z-Scheibe Sarkolemm sarkoplastisches Reticulum


790 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

A B

C D

63

. Abb. 63.3 Zusammenhang zwischen Erregung durch Membrandepolarisation, Erregungsausbreitung und Kontraktion. A Die Depolarisation des
Sarkolemms als Folge eines Aktionspotentials, die transiente Erhöhung der Konzentration an Calcium-Ionen und die Generierung von Kraft durch die
Kontraktion der Myofibrillen sind konsekutiv ablaufende Vorgänge. B Durch Öffnung von ligandengesteuerten Natriumkanälen (Acetylcholinrezeptoren)
sowie konsekutiv spannungsgesteuerten Natriumkanälen (Nav) kommt es zur Depolarisation der Muskelzelle; C Die Aktivierung des Dihydropyridin-
rezeptors (DHPR) und des Ryanodinrezeptors (RyR) führt zum Einstrom von Ca2+ aus den Zisternen des sarkoplasmatischen Reticulums ins Sarkoplasma
und damit zur Kontraktion der Myofibrillen, während gleichzeitig die Membran durch die Na+/K+-ATPase repolarisiert wird; D Ca2+ wird wieder ins sarko-
plasmatische Reticulum zurückgepumpt, die Myofibrillen relaxieren. AcR: Acetylcholinrezeptor; DHPR: Dihydropyridinrezeptor; RyR: Ryanodinrezeptor;
SR: sarkoplasmatisches Reticulum. Weitere Einzelheiten s. Text

Skelettmuskulatur
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
791 63

. Abb. 63.4 Feinbau des kontraktilen Apparats. A Myofibrillen sind aus aneinander gereihten Sarkomeren aufgebaut (elektronenmikroskopische
Aufnahme in B). C Schematische Darstellung der Filamentsysteme und der verbindenden Strukturen, die das Sarkomer aufbauen: dünne Myofilamente
werden in den Z-Scheiben miteinander verbunden, während die dicken Myofilamente im Bereich der M-Bande organisiert werden. Nur das Riesenprotein
Titin, die Hauptkomponente des sarkomeren Cytoskeletts, verbindet beide Filamentsysteme

Struktur, die Z-Scheibe. Als Sarkomer, das als kleinste kontraktile molekularen Proteinstruktur. Eine streng definierte Anzahl von
Einheit der Myofibrillen fungiert, ist der I- und A-Bandenbereich Myosin-Molekülkomplexen (294 an der Zahl) baut jeweils ein zy-
zwischen zwei benachbarten Z-Scheiben definiert. In relaxierten linderförmiges dickes Filament mit einer festgelegten Länge von
Myofibrillen beträgt die Sarkomerlänge circa 2,5 µm. Die elektro- 1,5 µm auf. Elektronenmikroskopische Analysen der Filamente
nenmikroskopische Untersuchung von Muskelgewebe hat wesent- zeigen an der Oberfläche des Zylinders in regelmäßigen Abstän-
lich zur weiteren Feinkartierung der Struktur und zur Funktions- den radial nach außen weisende Köpfchen, die dicke und dünne
aufklärung beigetragen (7 Kap. 63.2.4). Im Mittelteil der A-Bande Filamente beim Kontraktionsvorgang als Querbrücken verbinden.
lässt sich ein weiterer dichter Bereich, die sog. M-Bande, identi- Für das Grundverständnis der Bildung und der Funktion der
fizieren. Ausgehend von den Z-Scheiben sind actinenthaltende dicken Filamente ist die Kenntnis des genauen Aufbaus der Myo-
dünne Filamente von jeweils 1 µm Länge identifizierbar; der sinmoleküle erforderlich. Jedes der 294 Myosinmoleküle ist un-
Bereich der A-Bande ist hingegen durch 1,5 µm lange, myosinent- ter nativen Bedingungen ein Proteinkomplex mit einer Masse
haltende dicke Filamente gekennzeichnet. Die feste Verankerung von ca. 520 kDa, der wiederum jeweils aus den folgenden
der dünnen Filamente erfolgt in der Z-Scheibe, die der dicken 6 Untereinheiten besteht (. Abb. 63.5):
Filamente in der M-Bande. Die einzige Verbindung zwischen die- 4 zwei schwere Ketten (myosin heavy chain),
sen unabhängigen Filamentsystemen wird durch das Riesenprotein 4 zwei »essentielle« leichte Ketten (essential light chains),
Titin gewährleistet, das als Einzelmolekül die Distanz von der 4 zwei »regulatorische« Ketten (regulatory light chains).
Z-Scheibe bis zur M-Bande überbrückt. Mit einer molekularen
Masse von etwa 3 Millionen Dalton (Da) ist Titin das größte bisher Zwei schwere Ketten mit einer Masse von je 220 kDa besitzen
bekannte menschliche Protein (. Abb. 63.4C). carboxyterminal eine 150 nm lange Stabdomäne und aminoter-
minal eine etwa 20 nm große Kopfdomäne. Die Stabdomänen
Wichtigster Bestandteil der dicken Filamente bilden eine typische -helicale coiled-coil-Struktur aus, die durch
ist das Protein Myosin Abfolgen von 7 Aminosäuren (heptad-repeat) gekennzeichnet
Die Ausbildung der dicken Filamente ist ein klassisches Beispiel ist, in denen jeweils die erste und vierte Position von hydro-
für die physiologische Ausbildung einer hochgeordneten makro- phoben Resten besetzt sind, die im Dimer eine starke hydrophobe

Skelettmuskulatur A-Bande M-Bande Myosin Z-Scheibe I-Bande M-Bandenproteine


792 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

63

. Abb. 63.5 Molekularer Aufbau des Myosinmoleküls und der dicken Myofilamente. A Aufbau des Myosinhexamers aus 2 schweren (grün) und
2 Paaren von leichten Ketten (gelb und rot). B Assoziation der Myosinmoleküle zu dicken Myofilamenten. Auffällig ist die regelmäßige Abfolge der Kopf-
domänen, die die Querbrücken zu den dünnen Myofilamenten bilden

Wechselwirkung eingehen. Die Selbstassoziation der Stab- Biochemisch lässt sich eine Vielzahl der aus 6 Protein-
domänen der Myosinmoleküle ist die molekulare Grundlage für untereinheiten zusammengesetzten Myosinmoleküle identi-
die strukturelle und funktionelle Ausbildung der dicken Fila- fizieren, die sich hinsichtlich ihrer ATPase-Aktivität (z. B. Ge-
mente (. Abb. 63.5). schwindigkeit des ATP-Umsatzes bei definierten pH-Werten)
Im Gegensatz zu der primär strukturellen Funktion der und ihrer Verkürzungsgeschwindigkeit deutlich unterscheiden.
Stabdomäne gewährleisten die Kopfdomänen über ihre enzy- Diese Unterschiede ermöglichen eine physiologische Speziali-
matische Aktivität die Hydrolyse von ATP (ATPase). Hierdurch sierung von Muskelfasern hinsichtlich schnellerer bzw. langsa-
erfolgt eine Konformationsänderung des Köpfchens, welche letzt- merer Kontraktionsgeschwindigkeiten und unterschiedlicher
endlich die molekulare Grundlage der Muskelmechanik (sliding Haltekräfte. Die spezifischen Unterschiede der ATPase-Aktivität
filament theory) darstellt (. Abb. 63.7). Die Funktionsweise der erlauben ferner eine histologische Unterteilung in langsame
Myosinköpfe wird durch das Vorhandensein von jeweils einer (Typ I) und schnelle (Typ II) Muskelfasern; dieser Differen-
essenziellen und einer regulatorischen leichten Kette mit bedingt. zierung der Fasertypen kommt eine wesentliche Rolle in der

Skelettmuskulatur Skelettmuskelfasern
63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
793 63
Myosinköpfchen an das Actin. Stöchiometrisch zeigt sich die
folgende Zusammensetzung: ein Troponinkomplex sitzt jeweils
auf einem Tropomyosindimer, das sich über sieben Actinmoleküle
erstreckt (. Abb. 63.6).
In Analogie zu den zahlreichen Myosinisoformen finden sich
auch für Tropomyosin und die Troponinuntereinheiten mehrere
unterschiedliche Gene, die für spezialisierte Isoformen kodieren.
Mutationen in den Genen der Komponenten der dünnen Fila-
mente sind die Ursache für verschiedene seltene Myopathien und
Kardiomyopathien.

63.2.4 Molekularer Mechanismus der


Muskelkontraktion und -relaxation

Muskelkontraktion und -relaxation beruhen auf der geordneten


Wechselwirkung zwischen dünnen und dicken Filamenten. Bei
der Kontraktion kommt es zu einer Verkürzung des Sarkomers,
während es sich bei der Relaxation verlängert. Die Längen der
. Abb. 63.6 Molekularer Aufbau der dünnen Myofilamente aus Actin,
Tropomyosin und dem Troponinkomplex
dicken und dünnen Filamente bleiben bei diesem Vorgang kon-
stant; die Verkürzung des Sarkomers entsteht hier lediglich durch
eine verstärkte Überlappung (ein Aneinander-entlang-Gleiten)
histopathologischen Analyse krankhaft veränderter Skelett- beider Myofilamentsysteme. Diese Zusammenhänge wurden
muskulatur zu. Die bedarfsadaptierte Zusammenstellung unter- durch licht- und elektronenmikroskopische Arbeiten in den La-
schiedlicher Myosinisoformen in einzelnen Muskelfasern geht bors von A.F. Huxley und H.E. Huxley gezeigt und führten zur
auf beinahe unbegrenzte Kombinationsmöglichkeiten genetisch Formulierung der Gleitfilamenttheorie der Muskelkontraktion
festgelegter Varianten der schweren und leichten Ketten zurück. (sliding filaments). Im Rahmen der Verkürzung eines Sarkomers
Im Verlauf der Individualentwicklung werden konsekutiv (Kontraktion) bewegen sich gleichsam die Köpfchen der Myo-
embryonale, fetale und neonatale Isoformen der schweren sinmoleküle der dicken Filamente entlang der Längsachse der
Myosinketten exprimiert. Nach der Geburt erfolgt eine weiterge- dünnen Filamente auf die angrenzenden Z-Scheiben zu (. Abb.
hende Spezialisierung durch die Expression verschiedener 63.7A).
Isoformen der schweren Myosinketten, die auf die Funktionsweise Im Rahmen der elektromechanischen Kopplung (7 Kap. 63.2.2,
einzelner Muskelfasern abgestimmt ist. Insgesamt existieren im . Abb. 63.3) führt die Erhöhung der Konzentration freier
menschlichen Genom mindestens 13 Gene, die für schwere Calciumionen (von 10–8 auf 10–5 mol/l) im Sarkoplasma zur
Myosinketten kodieren. Die exakte quantitative Verteilung der Sarkomerverkürzung (Muskelkontraktion). Hierbei wird zunächst
Varianten der leichten und schweren Myosinketten unterliegt eine Konformationsänderung des Tropomyosin-Troponin-
dem regulatorischen Einfluss von Cytokinen (z. B. Myostatin) Komplexes initiiert. Troponin C fungiert hierbei als Ligand und
und Hormonen (z. B. Schilddrüsenhormone). Sensor für die Calciumkonzentration und macht bei Calcium-
bindung eine Konformationsänderung durch, die sich konsekutiv
Das Protein Actin ist der wichtigste Bestandteil auf die Troponine I und T fortsetzt. Dies bewirkt in einem weiteren
der dünnen Filamente Schritt die Freigabe der im Ruhezustand durch das Tropomyosin
Die Hauptkomponente der dünnen Filamente ist das Protein Ac- blockierten Myosinbindungsstelle des Actins (. Abb. 63.7B).
tin. Actin kommt als das monomere, globuläre G-Actin (42 kDa Die eigentliche Verkürzung bzw. Relaxation der Sarkomere
Molekülmasse) und das polymere, fadenförmige F-Actin vor beruht auf dem Myosinquerbrückenzyklus, der der beschriebe-
(7 Kap. 13.1). In der quergestreiften Skelettmuskulatur bilden nen Freigabe der Myosinbindungsstellen an den dünnen Fila-
etwa 360 G-Actin-Moleküle die 1 µm langen dünnen Filamente. menten folgt. Dieser beschreibt eine ATP-abhängige zyklische
Der strukturelle Aufbau des F-Actins ergibt sich aus der Assozi- Änderung der räumlichen Beziehung der Köpfchen der Myosin-
ation zweier Stränge (Protofilamente) in einer schraubig ge- moleküle zu den dünnen Filamenten. Die für diesen Vorgang
wundenen Geometrie. Die Funktion und Regulation der dünnen notwendige Energie wird aus der in den Myosinköpfen stattfin-
aus F-Actin bestehenden Myofilamente beruht auf der Assozia- denden Hydrolyse von ATP (Myosin-ATPase-Aktivität) gewon-
tion mit Tropomyosin und dem Troponinkomplex (bestehend nen. Für diese Funktion des Myosinköpfchens sind die ATP-
aus dem tropomyosinbindenden Troponin T, der Ca2+-regulier- Bindungsstelle und die Actinbindungsstelle von zentraler
ten Komponente Troponin C und der inhibitorischen Unter- Bedeutung. Der Querbrückenzyklus beinhaltet den folgenden
einheit Troponin I). Die ca. 40 nm langen starren Tropomyosin- molekularen Reaktionsablauf (. Abb. 63.7C).
moleküle, von denen jedes aus zwei Polypeptidketten aufgebaut 4 Bei niedrigen Konzentrationen von ATP bildet sich eine
ist, lagern sich in den Rinnen zwischen den beiden Actinproto- starke Interaktion zwischen den Myosinköpfen und den
filamenten an und blockieren im Ruhezustand die Bindung der dünnen Actinfilamenten aus 1 .

Skelettmuskulatur G-Actin F-Actin Troponinkomplex Tropomyosin Actin G-Actin globuläres F-Actin fadenförmiges Tropomyosin
Troponinkomplex
794 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

63

. Abb. 63.7 Molekulares Modell der Kraftentwicklung im Muskel. A Schematische Darstellung der Sarkomerverkürzung durch das Aneinander-vorbei-
Gleiten der dünnen und dicken Myofilamente. B Sterische Anordnung von Actin, Tropomyosin, Troponin C, I und T und des Myosinkopfes bei Kontraktion
und Relaxation. In Abwesenheit von Calcium verdeckt Tropomyosin die Myosinbindungsstelle am Actinmolekül. Anlagerung von Calcium an eine spezi-
fische Bindungsregion des Troponin C führt über Konformationsänderungen der Troponine zur Freigabe der Myosinbindungsstelle. Durch Abfall des
Calciumspiegels wird der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt. C Konformationelle Änderungen im Myosinkopf bei Kontraktion und Relaxation.
Der Myosinkopf verfügt über eine Bindungsstelle für ATP (aktives Zentrum der Myosin-ATPase) und eine für Actin. Der Arbeitstakt, in dem die Arbeit am
Actinfilament erfolgt, wird durch die Öffnung der ATP-Bindungsstelle (aktives Zentrum des Enzyms) nach Freisetzung der Produkte der ATP-Hydrolyse
angetrieben. (Einzelheiten s. Text). (Adaptiert nach Rayment I, Holden HM 1994)

Skelettmuskulatur Myofilamente dünne dicke Z-Scheibe Myosinkopf Tropomyosin Skelettmuskel


63.2 · Molekularer Aufbau und Funktion der Skelettmuskulatur
795 63
4 Die ATP-Bindung an das enzymatisch aktive Köpfchen des und dünnen Myofilamenten her. Hierbei ist Titin mit seinem
Myosins resultiert in einer Erniedrigung der Bindungs- aminoterminalen Ende in der Z-Scheibe verankert, wohingegen
affinität und Loslassen des Myosins vom Actinfilament 2 . das carboxyterminale Ende in der M-Bande gebunden ist. An
4 Die Dissoziation des Myosins führt zur Hydrolyse des ge- beiden Stellen findet eine komplexe Interaktion zwischen Titin
bundenen ATP zu ADP und einem anorganischen Phos- und den verschiedenen Proteinen der Z-Scheibe und der
phatrest (Pi) 3 . M-Bande statt. Entlang der Myosinfilamente wird das
4 In dieser Konstellation bindet Myosin wieder schwach an Titinmolekül durch das MyBP-C (myosin-binding protein C) in
Actin 4 . der A-Bande verankert. Ein einzelnes Titinmolekül besitzt daher
4 Die eigentliche Bewegung des Myosinkopfes um ca. 5 nm eine Länge von mehr als 1 µm, wobei der in der I-Bande gelegene
und der damit verbundene Übergang in den kraftproduzie- Teil des Proteins elastische Eigenschaften aufweist und sich wäh-
renden Zustand erfolgt mit der Freisetzung des Phosphat- rend der Sarkomerkontraktion verkürzt und bei der Relaxation
restes. Durch die feste Verbindung von Myosin und Actin entsprechend verlängert.
wird diese Bewegung auf das Actinfilament übertragen und Das extrasarkomerische Cytoskelett hat eine essenzielle
führt somit zu dem Bewegungseffekt. In diesem Prozess Aufgabe in der Verankerung des myofibrillären Apparates inner-
wirkt die Halsregion des Myosinkopfes wie ein Hebelarm halb der Muskelfasern. Benachbarte Z-Scheiben der Myofibrillen
5 und 6 . werden untereinander durch Desmin- und Plectin-enthaltende
4 Zum Abschluss des Bewegungsvorganges wird ADP freige- Intermediärfilamente verbunden. Von den Z-Scheiben gehen
setzt, und das Myosinköpfchen assoziiert wieder fest mit außerdem Bündel von Actinfilamenten und Intermediärfila-
Actin 6 . Ein neuer Kontraktionszyklus wird über die er- menten, v.a. Desmin, zu subsakolemmal gelegenen Adap-
neute Bindung von ATP initiiert. terproteinkomplexen. Diese assoziieren mit Integrin- bzw.
Dystrophinkomplexen im Sakolemm. Da diese sich mit
Eine Muskelkontraktion bedingt die konsekutive Abfolge einer Bestandteilen der extrazellulären Matrix verknüpft sind, ergeben
großen Anzahl von Querbrückenzyklen. Alle dicken Filamente sich so ein feste Verbindungen zwischen den Myofibrillen und
sind mit annähernd 600 Myosinköpfchen ausgestattet; jedes ein- extrazellulärer Matrix. Diese ist dafür verantwortlich, dass die
zelne dieser Myosinköpfchen kann bis zu 5 Querbrückenzyklen Verkürzung der Sarkomeren in eine Kontraktion des Muskels
pro Sekunde durchlaufen. übertragen werden kann. Das Desmin-Plectin-Inter mediär-
Der klinische Befund der Totenstarre der Muskulatur (Rigor filament-System hat ferner eine entscheidende Rolle in der
mortis) erklärt sich aus der hohen Bindungsaffinität der Myosin- Positionierung der Mitochondrien in direkter räumlicher Nähe
köpfe zu Actin bei gleichzeitig niedriger ATP-Konzentration. der Myofibrillen.

63.2.5 Cytoskelett Zusammenfassung


Das Sarkolemm bildet die Kontaktstelle zwischen dem Sar-
Um eine optimale und synchrone Kontraktion aller Myofibrillen koplasma der Muskelfasern mit der umgebenden extrazellu-
innerhalb einer Muskelfaser zu gewährleisten, sind deren paral- lären Matrix. Die wesentlichen Funktionen des Sarkolemms
lele Ausrichtung und mechanische Kopplung notwendig. Dies sind eine mechanische Verankerung von Cytoskelettstruktu-
wird durch das Cytoskelett der Muskelzellen gewährleistet, das ren innerhalb der Muskelfaser mit der extrazellulären Matrix,
sich in sarkomerische und extrasarkomerische Strukturkompo- der aktive und passive Transport von Ionen und Metaboliten
nenten unterteilen lässt. sowie Signaltransduktionsprozesse. Für die Erregungsaus-
Das sarkomerische Cytoskelett hat die Hauptaufgabe, die breitung innerhalb der Muskelfaser sind spezialisierte Mem-
dünnen wie auch die dicken Filamente zu jeweils getrennten bransysteme, wie die neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli so-
funktionellen Einheiten zu verbinden. So werden die dicken wie das sarkoplasmatische Retikulum verantwortlich. In den
Myofilamente im Bereich der M-Bande durch verschiedene Triaden stehen die T-Tubuli in engem Kontakt zu den Zister-
Strukturproteine (z. B. Myomesin, M-Protein, MuRF) in einem nen des sarkoplasmatischen Retikulums. Die Depolarisation
hexagonalen Packungsmuster organisiert. Die dünnen des Sarkolemms führt zur Aktivierung des Dihydropyridin-
Myofilamente hingegen werden im Bereich der Z-Scheibe durch rezeptors und konsekutiv des Ryanodinrezeptors, wodurch
verschiedene Verankerungsproteine (z. B. -Actinin, capZ, Calciumionen aus dem sarkoplasmatischen Reticulum in das
ZASP, Filamin) miteinander verbunden und polar ausgerichtet. Sarkoplasma ausströmen. Diese Vorgänge sind der erste Teil
Hierbei ist immer das sog. schnell wachsende Ende der der elektromechanischen Kopplung.
Actinfilamente (barbed end) in der Z-Scheibe verankert, und das Myofibrillen machen etwa 80 % der Gesamtmasse der Mus-
langsam wachsende Ende (pointed end) reicht in die A-Bande kelfaser aus. Die kleinste funktionelle Einheit der Myofibrille
hinein und überlappt hier mit den dicken Myofilamenten (. Abb. ist das Sarkomer mit einer durchschnittlichen Länge von
63.4). Für die Funktionalität des Sarkomers bei Kontraktion und 2,5 µm, das durch die A- und I-Banden zwischen benachbar-
Relaxation kommt dem Titinmolekül, das mit einer Masse von ten Z-Scheiben definiert ist. Die dicken, 1,5 µm langen Myo-
etwa 3 Millionen Dalton das größte bisher bekannte menschliche sinfilamente sind in der M-Bande, die dünnen, 1 µm langen
Protein darstellt, eine zentrale Bedeutung zu. Titin stellt die ein- 6
zige permanente strukturelle Verbindung zwischen den dicken
796 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

ten eine gewisse Zeit. Prinzipiell stehen drei unterschiedliche


Actinfilamente in der Z-Scheibe verankert. Myosinmoleküle Möglichkeiten der Energieerzeugung zur Verfügung, die auch
bestehen aus einer für die Filamentbildung essenziellen Stab- zeitlich gestaffelt eingesetzt werden:
domäne und zwei Kopfdomänen, die ATPase-Aktivität besit- 4 Erzeugung von ATP durch Übertragung eines energie-
zen. Die dadurch ausgelöste Konformationsänderung ist die reichen Phosphats des Phosphokreatins,
molekulare Grundlage der Muskelmechanik (sliding filament 4 Erzeugung von ATP durch anaerobe Glycolyse,
theory). Die kettenförmige Anlagerung von Actinmolekülen ist 4 Erzeugung von ATP durch aerobe Oxidation von Glucose,
die Basis der dünnen Filamente, deren Funktion und Regula- Fettsäuren und in geringem Umfang Aminosäuren
tion auf dem Tropomyosin und dem Troponinkomplex beruht.
Während der Verkürzung eines Sarkomers (Kontraktion) Phosphokreatin dient direkt der ATP-Erzeugung
bewegen sich die Köpfchen der Myosinmoleküle der dicken Zur schnellen Überbrückung der Energieversorgung steht der
Filamente entlang der Längsachse der dünnen Filamente auf Muskelzelle neben dem intrazellulären ATP eine weitere ener-
die angrenzenden Z-Scheiben zu (sliding filament theory). giereiche Verbindung, das Phosphokreatin, zur Verfügung.
Die durch die elektromechanische Kopplung ausgelöste Phosphokreatin ist für den Energiestoffwechsel der Muskelzelle
Erhöhung der Calziumkonzentration führt initial zu einer unerlässlich, da es ein energiereiches Phosphat für die Rephos-
Konformationsänderung des Tropomyosin-Troponin-Kom- phorylierung von ADP bereitstellt (. Abb. 63.8).
plexes und damit zur Freigabe der Myosinbindungsstelle des 4 Bei ATP-Mangel, also immer dann, wenn der ATP-Ver-
Actins. Der Querbrückenzyklus beschreibt die zyklische Än- brauch die Kapazität zur ATP-Erzeugung in der Atmungs-
derung der räumlichen Beziehung der Köpfchen der Myosin- kette übersteigt, wird mit Hilfe von cytosolischen
moleküle zu den dünnen Filamenten, wobei die notwendige Kreatinkinasen ADP unter Verbrauch von Phosphokreatin
Energie aus der in den Myosinköpfen stattfindenden Hydro- zu ATP phosphoryliert. Dieses steht dann dem Kontrak-
lyse von ATP (Myosin-ATPase-Aktivität) gewonnen wird. tionsvorgang zur Verfügung. Von besonderer Bedeutung ist
Das Cytoskelett der Skelettmuskelzelle wird in sarkomerische diese Möglichkeit der ATP-Gewinnung während der ersten
und extrasarkomerische Komponenten unterteilt. Das sarko- 20 bis 30 s nach Beginn der Muskelkontraktionen
merische Cytoskelett (mit seiner Hauptkomponente Titin) ver- 4 Bei hohen ATP-Spiegeln wird Kreatin unter Katalyse von
bindet die funktionell getrennten Einheiten der dünnen und mitochondrialen Kreatinkinasen unter ATP-Verbrauch zu
dicken Filamente. Das extrasarkomerische Cytoskelett ver- Phosphokreatin phosphoryliert.
ankert die Myofibrillen innerhalb der Muskelfasern und ist an 4 Die Phosphokreatinkonzentration des ruhenden
der Positionierung der Mitochondrien beteiligt. Skelettmuskels liegt um ein Mehrfaches über derjenigen
des ATP.

Bei dem im Cytosol der Muskelzelle herrschenden leicht sauren


63.3 Stoffwechsel der Muskulatur pH liegt das Gleichgewicht der Kreatinkinasereaktion ganz auf
der Seite der ATP-Bildung. Dies ermöglicht die Aufrechterhal-
63 63.3.1 Stoffwechselleistungen in Cytosol tung des ATP-Spiegels in einem großen Bereich. In der Erho-
und Mitochondrien lungsphase erfolgt eine rasche Rephosphorylierung des Kreatins
zu Phosphokreatin (. Abb. 63.8, 63.9).
Das Cytosol der Muskelzelle wird als Sarkoplasma bezeichnet. Die Biosynthese von Phosphokreatin ist in . Abb. 63.9 dargestellt
Es ist das wesentliche Kompartiment für zahlreiche Stoff- und verläuft in folgenden Schritten:
wechselwege, Signalkaskaden, die den Muskelauf- bzw. -abbau 4 Die Aminosäure Arginin überträgt ihre Guanidinogruppe
regulieren, und die Mechanismen der Qualitätskontrolle myo- auf Glycin, sodass Guanidinoacetat und Ornithin entstehen.
fibrillärer und nicht-myofibrillärer Proteine. 4 Guanidinoacetat wird mit Hilfe von S-Adenosylmethionin
Die Funktion der Skelettmuskulatur ist in hohem Maße ab- (7 Kap. 27.2.4) N-methyliert, wobei Kreatin entsteht.
hängig von ausreichen Mengen des Energieträgers ATP, das die 4 Kreatin kann in einer reversiblen Reaktion mit ATP zu
unmittelbare Energiequelle für die Myofibrillenkontraktion dar- Phosphokreatin phosphoryliert werden. Dank der benach-
stellt. Darüber hinaus wird etwa ein Drittel des zur Verfügung barten Guanidinogruppe handelt es sich um eine ener-
stehenden ATP für die im Sarkolemm und im sarkoplasmatischen giereiche Bindung, deren Hydrolyseenergie im Bereich der-
Retikulum lokalisierten Ionenpumpen benötigt. Schließlich be- jenigen des ATPs liegt. Hieran beteiligte Enzyme werden als
steht ein hoher ATP-Bedarf durch den gezielten turnover und die Kreatinkinasen bezeichnet. Über die diagnostische Bedeu-
Qualitätskontrolle der Proteine durch das Ubiquitin-Proteasom- tung der Kreatinkinase beim Myocardinfarkt (7 Kap. 9.2).
System. Die muskuläre ATP-Erzeugung findet im Sarkoplasma 4 Kreatin wird als Kreatinin ausgeschieden. Der hierfür not-
und den Mitochondrien statt. Sie hängt sehr stark vom jeweiligen wendige Ringschluss (. Abb. 63.9) erfolgt unter Abspaltung
Funktionszustand der Muskulatur ab. Ein besonderes Problem von anorganischem Phosphat aus Phosphokreatin. Da die
entsteht hierbei beim Übergang vom Ruhezustand zur Arbeit. Geschwindigkeit der Kreatininbildung nur von der Muskel-
Während die Muskelkontraktionen unmittelbar mit dem Ein- masse abhängt, sind – bei normaler Muskelfunktion –
treffen des nervalen Reizes einsetzen, benötigt die intrazelluläre Erhöhungen des Kreatininspiegels im Blutplasma Ausdruck
und erst recht extrazelluläre Bereitstellung von Energiesubstra- von Nierenfunktionsstörungen.

Muskelstoffwechsel Skelettmuskulatur ATP-Mangel Myocardinfarkt Kreatinase


63.3 · Stoffwechsel der Muskulatur
797 63

. Abb. 63.8 Regeneration von ATP durch die Kreatinkinasereaktion. CKcyt = cytosolische Kreatinkinase; CKmt = mitochondriale Kreatinkinase;
IMM = innere Mitochondrienmembran; ÄMM = äußere Mitochondrienmembran. Weitere Einzelheiten siehe Text

Der Bestimmung der Gesamtkreatinkinase (CK-Aktivität) kommt


eine besondere Bedeutung bei der Diagnose des Herzinfarkts wie
auch der verschiedenen erworbenen und genetisch bedingten
Skelettmuskelerkrankungen zu. Da eine Erhöhung der Gesamt-
CK-Aktivität mit beiden Erkrankungsgruppen vereinbar ist, ist für
die Differenzierung einer primär kardialen Erkrankung gegenüber
verschiedenen Skelettmuskelerkrankungen die Bestimmung ge-
websspezifischer Isoformen der CK wichtig. Eine Erhöhung der
herzspezifischen Isoform (CK-MB) über 6 % der Gesamt-CK
spricht für eine primär kardiale Herkunft des Enzyms.
Eine weitere Möglichkeit zur schnellen ATP-Erzeugung ist
die Adenylatkinasereaktion (. Abb. 63.10). Sie nutzt das im
Rahmen von ATP-verbrauchenden Prozessen gebildete ADP
direkt als eine Energiequelle für die Bildung von ATP. Das Enzym
Adenylatkinase katalysiert dabei die folgende Reaktion:

2 ADP ATP + AMP

Die primären Substrate des Energiestoffwechsels


der Muskelzelle sind Glucose und Fettsäuren.
Im Ruhezustand sind, bei nüchternen Probanden, Plasmafett-
säuren die wichtigste Energiequelle zur Erzeugung des benötig-
ten ATP. Dies ändert sich sehr rasch nach Beginn einer Arbeits-
belastung (. Abb. 63.10):
4 Nach 20-30 s sind die Vorräte an Phosphokreatin aufge-
braucht. ATP wird während der folgenden Minuten über
anaerobe Glycolyse erzeugt. Da dabei Protonen entstehen,
kommt es relativ schnell zur Acidose, die mit Schmerzen
und einem Ermüdungsgefühl einhergeht.
4 Jede länger dauernde Muskelarbeit benötigt ATP, welches
durch mitochondriale oxidative Phosphorylierung erzeugt
wird. Die hierfür benötigten Substrate entstammen ent-
weder der aeroben Glycolyse oder der β-Oxidation von
Fettsäuren (7 Kap. 14, 19, 21).
4 Während der ersten ein bis zwei Stunden körperlicher
. Abb. 63.9 Stoffwechsel des Kreatins. Die Kreatinbiosynthese benötigt
Belastung spielen als Substrate für den energieliefernden
Glycin, die Guanidinogruppe von Arginin und die Methylgruppe von
Methionin. Der Abbau von Phosphokreatin erfolgt durch Umwandlung in
Stoffwechsel muskuläres Glycogen und muskuläre Triacyl-
Kreatinin mit anschließender renaler Ausscheidung. SAM = S-Adenosyl- glycerine eine wichtige Rolle. Je länger die Arbeitsphase je-
methionin doch anhält, umso mehr müssen wegen der Erschöpfung
der zellulären Speicher Substrate aus dem Blutplasma zur

Phosphokreatin Biosynthese Arginin# Glycin# Ornithin# Guanidinoacetat (GAA)# Kreatin# Phosphokreatin# Kreatinin# S-Adenosylhomocystein
Kreatinkinase Skelettmuskulatur Energiestoffwechsel Triacylglycerine
798 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

nisierten Genoms sind. Dieses Genom kodiert hierbei für ein-


zelne Untereinheiten der Atmungskette und für Komponenten der
mitochondrialen Transkription und Translation. Den Mitochond-
rien kommt auch eine wesentliche Rolle bei apoptotischen Prozes-
sen zu, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die ATP-Erzeugung durch
oxidative Phosphorylierung. Im Rahmen von Muskeltraining
kann die Mitochondrienzahl deutlich erhöht werden, was zu einer
Steigerung der oxidativen Kapazität führt. In trainierten Muskeln
hat dies zur Folge, dass die gespeicherten Triacylglycerine effizien-
ter zur Energiegewinnung eingesetzt werden können.

63.3.2 Zellkern

Die quergestreifte Skelettmuskelzelle ist ein Synzytium mit mul-


tiplen Muskelfaserkernen, die sich im adulten Muskel subsarko-
lemmal über die gesamte Länge der Muskelfaser verteilen. Diese
Anordnung mit verschiedenen myonucleären Domänen (einzel-
ne Muskelfaserkerne in definierten Längsabschnitten der Faser)
trägt den spezifischen Struktur- und Stoffwechselanforderungen
in den jeweiligen Arealen Rechnung.
. Abb. 63.10 Übersicht über den Energiestoffwechsel der Skelett-
muskelzelle. Die Hauptenergielieferanten Glucose und Fettsäuren werden
Die Zellkerne lassen sich grob in die Kernhülle und die Kern-
über das Sarkolemm aufgenommen und entweder in die internen Spei- matrix einteilen. Die Kernhülle besteht aus einer äußeren und
cherstoffe Glycogen bzw. Triacylglycerine umgewandelt oder direkt in der inneren Kernmembran, in die Kernporen eingebettet sind. Mit
Glycolyse bzw. der oxidativen Phosphorylierung zur Generierung von ATP der inneren Kernmembran ist ein Gerüst von Intermediärfila-
eingesetzt. Für Glucose steht dabei entweder die anaerobe oder die aerobe menten der Laminfamilie, die Kernlamina, assoziiert, das wiede-
Glycolyse zur Verfügung. Zur Regeneration des hauptsächlich bei der Mus-
kelkontraktion entstehenden ADP zu ATP verfügt die Muskelzelle über
rum das genetische Material (Chromatin bzw. Chromosomen)
die Kreatinkinasereaktion und die Adenylatkinasereaktion. Weitere Einzel- verankert. Die Kenntnis dieser Strukturen ist für das Grundver-
heiten s. Text ständnis zahlreicher mit Lamin A/C-assoziierten Muskel- wie
auch Multisystemerkrankungen (z. B. Progerie, vorzeitiges
Deckung des Energiebedarfs herangezogen werden. Wichtig Altern) notwendig.
ist hier neben Plasmafettsäuren v.a. die Blutglucose, die Die Zellkerne steuern mit Ausnahme der vom mitochondri-
durch den sarkolemmalen Glucosetransporter GLUT4 alen Genom kodierten Proteine die Expression aller muskulären
aufgenommen wird. Dieser wird nicht nur durch Insulin, Proteine. Das jeweilige Belastungsprofil der Muskulatur (Wech-
63 sondern auch durch Muskelkontraktionen aus intrazellulä- sel zwischen Aktivität und Inaktivität) hat hierbei über verschie-
ren Vesikeln in die Plasmamembran verlagert. Bei sehr dene Signalwege einen direkten Einfluss auf die Steuerung der
hoher Glucoseaufnahme dient das Glycogen der Leber zur Proteinsynthese im Rahmen des Protein-turnovers. Eine ver-
Aufrechterhaltung der Blutglucosekonzentration. Ist auch mehrte Belastung (wie auch Doping mit anabolen Substanzen)
dieses aufgebraucht, entstehen Hypoglycämien, die auch als führt zu einer vermehrten Bildung von Myofibrillen und einer
»Hungerast« bezeichnet werden und besonders bei Renn- Hypertrophie der Muskelfasern. Körperliche Inaktivität resul-
radfahrern gefürchtet sind. Um diesen Zustand zu ver- tiert hingegen in einem vermehrten Abbau der Myofibrillen und
meiden, müssen Kohlenhydrate über die Nahrung aufge- einer entsprechenden Atrophie der Muskelfasern. Eine entspre-
nommen werden. chende Inaktivitätsatrophie, die primär die Typ-II-Fasern be-
trifft, lässt sich bereits nach wenigen Tagen von Bettlägrigkeit
Bei maximaler Muskelarbeit kann die Sauerstoffkapazität nicht histopathologisch nachweisen. Die Besonderheiten der huma-
mehr für eine vollständige Oxidation der Glucose ausreichen. In nen Skelettmuskulatur sind ein limitierender Faktor der be-
diesem Fall wird die Glucose zusätzlich anaerob durch Glycolyse mannten Raumfahrt. Trotz intensiven körperlichen Trainings
zu Lactat abgebaut, welches von den Muskelzellen abgegeben entwickeln Astronauten in der Schwerelosigkeit eine ausgepräg-
und über den Blutweg zur Leber transportiert wird. Dort erfolgt te Schwäche und Atrophie der Muskulatur, die nach Rückkehr
die Resynthese zu Glucose (»Gluconeogenese«), welche wieder- zur Erde bis zum Verlust der Gehfähigkeit führen kann. Dies il-
um zurück zu den Muskelzellen gelangt und dort wie bereits lustriert eindrucksvoll, welchen unmittelbaren Einfluss komple-
geschildert zur ATP-Synthese genutzt wird. Durch diese Prozes- xe mechanosensitive Signalwege auf die Struktur und den Funk-
se kann sich ein Kreislauf des Glucosekohlenstoffs zwischen tionszustand der normalen Muskulatur ausüben.
Muskulatur und Leber einstellen, der nach seinem Entdecker Zusätzlich zu biomechanischen Einflüssen unterliegt der
Carl Cori als Cori-Zyklus bezeichnet wird. Auf- bzw. Abbau der Myofibrillen der Steuerung durch Cytokine
Jede Muskelzelle enthält mehrere Hundert bis Tausend Mito- und Hormone. Wesentliche Vertreter sind die Cytokinrezeptoren
chondrien, die jeweils Träger eines eigenen, prokaryotisch orga- der IL-6-Familie, der Insulinrezeptor sowie weitere Rezeptor-

Energiestoffwechsel Skelettmuskulatur Glycolyse Fettsäuren β-Oxidation Triacylglycerine Citratzyklus Phosphorylierung oxidative


Kreatinkinase Adenylatkinase
63.4 · Besonderheiten der Herzmuskulatur
799 63

A B

. Abb. 63.11 Aufbau des Herzens und morphologische Besonderheiten der Kardiomyocyten. A Schnitt durch das vierkammrige Herz. B Schematische
Darstellung eines Längsschnittes von Kardiomyocyten. Zur Verdeutlichung ist ein Kardiomyocyt farblich hervorgehoben. (Aus Zilles/Tillmann 2010)

Tyrosinkinasen, die über Wachstumsfaktoren adressiert werden. Eine Subpopulation von Herzmuskelzellen am Sinusknoten
Die Bindung eines Liganden an den Rezeptor im Sarkolemm des rechten Vorhofs und im Bereich des Atrioventrikularknotens
bewirkt über nachgeschaltete Signalwege eine Aktivierung sar- hat die Fähigkeit, sich rhythmisch selbst zu erregen. Diese spezi-
koplasmatischer Transkriptionsfaktoren der NF-AT-Familie, die alisierten Herzmuskelzellen, auch Schrittmacherzellen genannt,
nach Phosphorylierung in den Kern translozieren und dort die bewirken primär die Herzkontraktion. Das Herz kontrahiert
Transkription ihrer Zielgene initiieren. Klassische Signalwege, nach dem Alles-oder-Nichts-Gesetz. Eine geordnete Weiterlei-
die den Muskelaufbau stimulieren, aktivieren hierbei die tung der primär im Sinusknoten generierten Erregung des Her-
Transkriptionsfaktoren GATA2 und MEF2, während FOXO-1 zens erfolgt hierbei über spezialisierte Muskelzellen im Reizlei-
über die Expression von Atrogin-1 und MuRF-1 die Muskelatro- tungssystem und breitet sich so über das ganze Herz aus.
phie steuern (7 Kap. 38.1.4; 38.2). Die Herzfrequenz und die Herzleistung werden zusätzlich
über das vegetative Nervensystem beeinflusst. Eine Stimulation
über sympatische Nervenfasern (Noradrenalin) führt hierbei zu
Zusammenfassung einer Steigerung der Herzfrequenz, während eine parasympati-
Im Cytosol und in den Mitochondrien laufen die Hauptstoff- sche Stimulation (Acetylcholin) die Herzfrequenz vermindert.
wechselaktivitäten der Muskelfaser ab. Von zentraler Be- Über diese Frequenzregulation hinaus wird die Kraftentfaltung
deutung ist die Bereitstellung ausreichender Mengen des des Herzens zusätzlich auf der Ebene der Kardiomyocyten durch
Energieträgers ATP. Die wichtigsten Energielieferanten sind Katecholamine direkt beeinflusst. Diese binden an die in das Sar-
Glucose und Fettsäuren. Unter aeroben Bedingungen wird kolemm eingelagerten -adrenergen Rezeptoren, was über sti-
ATP primär durch die oxidative Phosphorylierung in den mulierende G-Proteine eine Aktivierung der Adenylatcyclase
Mitochondrien generiert, unter anaeroben Bedingungen und damit zu gesteigerte cAMP-Bildung auslöst. Dies wiederum
durch die Glycolyse, die Kreatinkinase-Reaktion und die aktiviert die Proteinkinase A (PKA), die mehrere Proteine phos-
Adenylatkinase-Reaktion. phoryliert und damit zu dem positiv inotropen Effekt der Kate-
Die Zellkerne bestehen aus einer Kernhülle (äußere und in- cholamine führt (. Abb. 63.12A):
nere Kernmembran) und der Kernmatrix. Im Kern wird die 4 Eine Steigerung und Beschleunigung des Calciumeinstroms
Expression fast aller Proteine gesteuert, wobei belastungs- wird hierbei durch die Phosphorylierung des spannungsab-
abhängige Signalwege einen starken Einfluss besitzen. hängigen Calciumkanals bewirkt.
4 Die Phosphorylierung des auf den dicken Myofilamenten
der Myofibrillen gebundenen Myosinbindungsproteins C
führt direkt zu einer erhöhten Kraftentwicklung.
63.4 Besonderheiten der Herzmuskulatur 4 In den dünnen Myofilamenten wird Troponin I phosphory-
liert, wodurch die Calciumabhängigkeit der Kontraktion
Die quergestreifte Skelett- und Herzmuskulatur unterscheiden herabgesetzt und die Relaxation beschleunigt wird.
sich in einigen wichtigen Aspekten. Im Gegensatz zu den Skelett- 4 Auf der Ebene des sarkoplasmatischen Retikulums wird
muskelzellen sind die Herzmuskelzellen einkernig und fusionie- die Aktivität der Ca2+-ATPase erhöht, weil sie durch das
ren nicht zu mehrkernigen Synzytien. Herzmuskelzellen sind phosphorylierte Phospholamban weniger stark gehemmt
hierdurch deutlich kürzer und dünner. Die einzelnen Kardiomyo- wird. Dies führt zu einer verstärkten Aufnahme des
cyten sind über Glanzstreifen (Disci intercalares, Area composita) Calciums in das SR, wodurch sich die Relaxationszeit
miteinander mechanisch verbunden, und über gap junctions elek- verkürzt.
trisch gekoppelt. Durch diese Anordnung bilden die Herzmuskel-
zellen ein funktionelles Synzytium aus (. Abb. 63.11).

Sinusknoten Atrioventrikulärknoten Discus intercalaris


800 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

63

. Abb. 63.12 Regulation der cytosolischen Calciumkonzentration im Myokard. A. Effekte von β1-Agonisten auf die elektromechanische Kopp-
lung im Myokard. B. Mechanismen des Calciumeinstroms in das Cytosol (links) und des Calciumausstroms aus dem Cytosol (rechts). AC: Adenylatcyclase;
CS: Calsequestrin; DHPR: Dihydropyridinrezeptor (spannungsabhängiger Calciumkanal); Gs: stimulierendes G-Protein; PK A: Proteinkinase A;
RyR: Ryanodinrezeptor; SR: sarkoplasmatisches Retikulum. (Einzelheiten s. Text)

Für die Kontraktion der Kardiomyocyten sind die Oszillationen Extrazellularraum einfließt. Umgekehrt wird die Calciumkon-
der Konzentration an freiem Ca2+ im Sarkoplasma von entschei- zentration bei der Relaxation hauptsächlich durch die in der
dender Bedeutung. In Analogie zum Skelettmuskel wird der Membran des SR lokalisierte Calcium-ATPase und über den im
Großteil des für die Aktivierung der Kontraktion benötigten Cal- Sarkolemm befindlichen Na+/Ca2+-Antiporter herabgesetzt
ciums aus dem SR freigesetzt, wo es primär an das Protein Cal- (. Abb. 63.12B).
sequestrin gebunden ist. Eine Besonderheit des Herzmuskels ist Für die Repolarisation der sarkolemmalen Membran wird
jedoch, dass für die Kontraktion zusätzlich Calcium aus dem die Na+/K+-ATPase benötigt. Diese Ionenpumpe ist pharmako-

Calciumkanal Phospholamban Troponin I Myosin-Bindungsprotein-C Herzmuskelkontraktion


63.5 · Pathobiochemie angeborener und erworbener Muskelerkrankungen
801 63
logisch durch Herzglycoside hemmbar, die therapeutisch zur nisch betroffenen Muskeln, eine diagnostische Muskelbiopsie
Verstärkung der Herzleistung eingesetzt werden. Herzglycoside sowie ggf. eine genetische Diagnostik. Im Folgenden sind einzel-
(7 Kap. 3.1.2) bewirken indirekt eine Erhöhung der sarkoplasma- ne Erkrankungen zu den ausgewählten Kompartimenten als
tischen Calciumkonzentration, indem zunächst die Na+-Kon- Fallbeispiele oder Muskelbiopsiebefund aufgeführt.
zentration erhöht und in der Folge die Aktivität des Na+/Ca2+-
Antiporters im Sarkolemm verringert wird.
Eine weitere strukturelle Besonderheit der Herzmuskulatur 63.5.1 Primäre Myopathien
ist ihre hohe Anzahl an Mitochondrien, die perlschnurartig
zwischen den Myofibrillen angeordnet sind. Das Herz ist durch Die Muskeldystrophie Duchenne ist die häufigste
einen fast vollständig aeroben Stoffwechsel gekennzeichnet, und primäre Myopathie des Menschen
greift auf Fettsäuren, Ketonkörper, Lactat und Glucose als Die klassische Krankheitsentität mit einer primären Pathologie
Energiequellen zurück. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur des Sarkolemms und der assoziierten extrazellulären Matrix ist
findet sich in der Herzmuskulatur fast kein Glycogen. die X-chromosomal vererbte Muskeldystrophie Duchenne, die
häufigste (1:5.000) genetisch bedingte Muskelerkrankung des
Menschen (. Abb. 63.13). Sie wird durch Mutationen des Dys-
Zusammenfassung trophin-Gens verursacht.
Herzmuskelzellen sind einkernig und über Glanzstreifen und
gap junctions miteinander verbunden und bilden so ein Fallbeispiel 1
funktionelles Synzytium. Das Herz kontrahiert nach dem Anamnese Ein 9-jähriger Junge zeigt eine seit dem 6. Lebensjahr
Alles-oder-Nichts-Gesetz. Schrittmacherzellen sind speziali- fortschreitende proximale Muskelschwäche, die mittlerweile zu
sierte Herzmuskelzellen, die primär die Herzfrequenz steu- einer deutlichen Beeinträchtigung der Gehfähigkeit geführt hat.
ern. Zusätzlich wird die Herzleistung über das vegetative
Nervensystem beeinflusst: Noradrenalin (sympatisches Ner- Familienanamnese Der 15-jährige Bruder leidet an einer ähnli-
vensystem) steigert die Herzfrequenz, Acetylcholin (para- chen Symptomatik, die bereits zu einem vollständigen Verlust
sympatische Nervenfasern) reduziert die Herzfrequenz. Die der Gehfähigkeit geführt hat.
Kraftentfaltung kann durch die Gabe von Katecholaminen
erhöht werden. Für die Kontraktion der Herzmuskulatur ist Neurostatus Proximale Muskelschwäche, Ausfall des Patellar-
ein Einstrom von Calciumionen aus dem Extrazellularraum sehnenreflexes, Wadenhypertrophie, watschelndes Gangbild.
erforderlich. Der Stoffwechsel der Herzmuskelzellen ist fast Labor: CK-Werte 5.730 U/l (Norm: <190 U/l).
vollständig aerob.
Muskelbiopsie Nachweis ausgedehnter muskeldystrophischer
Veränderungen. Fehlen der Dystrophin-Immunreaktion im
Patientenmuskel (. Abb. 63.13).
63.5 Pathobiochemie angeborener
und erworbener Muskelerkrankungen Genetische Analyse Nachweis einer Deletion im X-chromo-
somalen Dystrophin-Gen.
Muskelerkrankungen im engeren Sinn werden generell als Myo-
pathien bezeichnet. Dieser Begriff umfasst alle Erkrankungen, Weitere kongenitale Muskeldystrophien beruhen auf Mutationen
bei denen die Muskelfaser direkt betroffen ist. Im Einzelnen un- in den Genen für den Dystrophin-Dystroglycan-Komplex oder
terscheidet man: für die Komponenten der extrazellulären Matrix. Mutationen in
4 primäre Myopathien, die auch als angeborene Muskel- Genen die für schwere Myosinketten kodieren, sind die
erkrankungen bezeichnet werden und die durch genetische Grundlage für verschiedene, zum Teil schwer verlaufende Kar-
Defekte verursacht werden, diomyopathien. Mutationen des Titin-Gens, wie auch der Gene
4 sekundäre Myopathien, die auch als erworbene verschiedener Z-Bandenproteine, führen zu seltenen, erblich
Muskelkrankheiten bezeichnet werden. bedingten Muskeldystrophien. Dem MyBP-C-Gen kommt eine
wichtige Rolle bei der Entstehung hypertropher Kardiomyopathien
Die Kenntnis der in 7 Kap. 63.2 dargestellten subzellulären Kom- zu. Mutationen in den Genen für Desmin und Plectin sind mit
partimente ist essenziell für das Verständnis der angeborenen verschiedenen seltenen Muskeldystrophien assoziiert. Mutatio-
und erworbenen Muskelerkrankungen. Das klinische Leitsymp- nen in Proteinen des Kompartiments des kontraktilen Apparates
tom dieser Erkrankungen ist die Muskelschwäche, die sich pri- (Myofibrillen) und des verankernden Cytoskeletts führen zu ei-
mär in distalen oder proximalen Muskelgruppen manifestiert. nem breiten Spektrum progressiver Erkrankungen der Skelett-
Zentrale Bausteine für die korrekte Diagnosestellung sind eine und Herzmuskulatur. Betroffen sind hierbei Gene die einerseits
sorgfältige Anamneseerhebung (Beginn, welche Muskelgruppen für myofibrilläre Strukturproteine (z. B. Myosin, Actin, Titin,
sind betroffen, Familien- und Medikamentenanamnese), der kli- Tropomyosin, Troponin, Myosinbindungsprotein C) und ande-
nische Untersuchungsbefund, die Bestimmung von Kreatin- rerseits für Cytoskelettproteine (z. B. Desmin, Plectin, Filamin)
kinase (CK), Schilddrüsen- und Entzündungsparametern, eine codieren. . Abb. 63.14C und D illustrieren das lichtmikroskopi-
elektromyographische Untersuchung von mindestens zwei kli- sche und ultrastrukturelle Bild einer Desmin-Myopathie.
802 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

B
A

C D

. Abb. 63.13 Muskeldystrophie Typ Duchenne. A Zeichnung eines betroffenen Jungen durch den Erstbeschreiber der Erkrankung Guillaume B.A.
Duchenne de Boulogne. B Hämatoxilin-Eosin-gefärbter Schnitt einer Muskelbiopsie eines betroffenen Jungen mit ausgeprägten muskeldystrophischen
Veränderungen: Vermehrung von Bindegewebsstrukturen, Abrundung und pathologische Kalibervariationen der Muskelfasern, Vermehrung zentral-
ständiger Muskelfaserkerne. C Reguläre sarkolemmale Dystrophin-Immunfluoreszenzmarkierung in normalem Muskelgewebe. D Vollständiges Fehlen
der sarkolemmalen Dystrophin-Immunfluoreszenzmarkierung bei Muskeldystrophie Typ Duchenne

Charakteristisch bei diesem Krankheitsbild ist eine partielle Metabolische Myopathien beruhen auf Störungen
Zerstörung des extrasarkomerischen Cytoskeletts sowie eine cytoplasmatischer oder mitochondrialer Vorgänge
Akkumulation von Proteinen (Protein-Aggregationsmyopathie) Glycogenspeicherkrankheiten Als klassische Vertreter der
63 innerhalb des Sarkoplasmas der Muskelzellen. Gruppe von Erkrankungen, die ihren Ausgangspunkt im
Sarkoplasma der Muskelzellen haben, sind die autosomal rezes-
Mutationen des Ryanodinrezeptors führen siv vererbten Glycogenspeichermyopathien zu nennen (z. B.
zur malignen Hyperthermie Morbus Pompe, α1,4-Glucosidasedefizienz). Morphologisch ist
Die Kenntnis der auf die Erregungsausbreitung spezialisierten die Glycogenspeicherung durch die Akkumulation PAS-
Membransysteme (neuromuskuläre Endplatte, T-Tubuli, sarko- positiven Materials im Cytoplasma gekennzeichnet (. Abb.
plasmatisches Retikulum) ist für das Verständnis mehrerer 63.14B). Für den Morbus Pompe besteht seit einigen Jahren die
klinisch relevanter Erkrankungen notwendig. Ein Beispiel ist Möglichkeit einer Enzymersatztherapie, bei der die α1,4-
die maligne Hyperthermie. Sie tritt als Folge von Mutationen Glucosidase systemisch appliziert wird. Durch die Kopplung des
im RyR-kodierenden Gen als eine gefürchtete Narkosekompli- Enzyms an einen Mannoserest gelangt das Enzym über die
kation auf. Bei entsprechender genetischer Disposition wird Muskelmembran in die Lysosomen der Muskelzellen.
die maligne Hyperthermie durch die Gabe von fluorierten In-
halationsnarkotika (z. B. Enfluran) oder Muskelrelaxantien Mitochondriopathien Hierbei handelt es sich um Erkrankungen,
(Succinylcholin) ausgelöst. Hierbei kommt es zu einer massiven bei denen die energieliefernden mitochondrialen Vorgänge (v. a.
Freisetzung von Calcium aus dem sarkoplasmatischen Re- Substratoxidation, Atmungskette) betroffen sind (7 Kap. 19.2).
tikulum, was zu einer überschießenden Erregung und Kon- Häufig werden sie durch Mutationen im mitochondrialen
traktion der Muskulatur und als Nebeneffekt zu einem lebens- Genom verursacht. Mitochondriopathien manifestieren sich
gefährlichen Anstieg der Körpertemperatur. Neben isolierten vornehmlich in Geweben, die durch einen hohen ATP-Verbrauch
Formen der MH kommt diese von Anästhesisten sehr gefürch- gekennzeichnet sind (Auge, Gehirn, quergestreifte Muskulatur).
tete Komplikation vornehmlich im Rahmen seltener kongenita- Als Fallbeispiel mit multisystemischem Charakter wird im
ler Myopathien wie der Central Core Myopathie (. Abb. 63.14A) Folgenden eine Patientin mit einem MELAS-Syndrom (mito-
vor. chondrial encephalopathy with lactate-acidosis and stroke-like
episodes) vorgestellt.
63.5 · Pathobiochemie angeborener und erworbener Muskelerkrankungen
803 63
Fallbeispiel 2 A C
Anamnese 43-jährige Patientin mit akut aufgetretener, nach 7 h
voll regredienter sensomotorischer Halbseitensymptomatik
rechts.

Familienanamnese Mutter Diabetes mellitus, rezidivierende


Schlaganfälle, verstorben mit 46 Jahren.

Neurologischer Status Bei Aufnahme gemischte Aphasie, zentra-


le Facialisparese rechts, sensomotorisches Hemisyndrom rechts. B

D
Labor CK-Werte 270 U/l (Norm: <170 U/l), erhöhte Lactatwerte
im Serum und im Liquor, leicht erhöhtes HbA1c mit 6,8 %
(Norm: <6).
E
Muskelbiopsie Nachweis multipler »ragged red-Fasern« (. Abb.
63.14E).

Genetische Analyse Nachweis einer A3424G-Mutation der


mitochondrialen DNA.

. Abb. 63.14 Histologische Befunde bei primären Myopathien. A NADH-


63.5.2 Erworbene Myopathien Tetrazolium gefärbter Schnitt einer Muskelbiopsie von einem Patienten mit
einer Central Core Myopathie. Als central cores (C) werden die zentralen un-
gefärbten Areale der Muskelfasern bezeichnet. B Vermehrte Glycogen-
Neben der großen Gruppe der erblich bedingten Myopathien einlagerung (G) in einer PAS-gefärbten Muskelprobe von einem Patienten
und Kardiomyopathien gibt es zahlreiche erworbene Muskeler- mit Morbus Pompe. C Vermehrte subsarkolemmale und sarkoplasmatische
krankungen auf der Grundlage immunologischer oder entzünd- Desmin-Immunfluoreszenzmarkierung (Pfeile) in einer Muskelbiopsie von
licher Prozesse, hormoneller Störungen wie auch toxischer einem Patienten mit einer Desmin-Myopathie. D Elektronenmikroskopische
Genese. Als charakteristische Leitsymptome bei diesen Erkran- Darstellung pathologischer Proteinaggregate (P), Myofibrillen (Myo) und
Mitochondrien (M) bei einer Desminopathie. E Ragged red-Fasern (R) als ty-
kungen sind – analog zu den genetisch bedingten Erkrankungen pische histopathologische Veränderungen einer Mitochondriopathie
– die Muskelschwäche und die Erhöhung der Kreatinkinase-
Aktivität im Serum zu nennen.
Die Bildung von Autoantikörpern gegen den Acetylcholin-
rezeptor führt zum Krankheitsbild der Myasthenia gravis. Therapie Erhöhung der Acetylcholinkonzentration an der
Infolge der dadurch bedingten Störung der Signaltransduktion Endplatte durch Hemmstoffe der Acetylcholinesterase sowie
an der motorischen Endplatte kommt es zu rezidivierenden Thymektomie
Lähmungen. Bei der einfachen Form der Myasthenia gravis
betreffen diese v. a. die Augenmuskulatur, schwerere Verläufe Toxische (iatrogene) Myopathien werden u. a. durch die Medi-
betreffen die übrige Muskulatur, wobei Lähmungen der Atem- kation mit Statinen/Fibraten (Cholesterinsenker) und Corticos-
muskulatur lebensbedrohlich werden. Die klinische Sympto- teroiden (Immunsuppression) ausgelöst. Erstere können im
matik dieser autoimmun bedingten Erkrankung ist im folgen- Extremfall zur gefürchteten, als Rhabdomyolyse bezeichneten
den Fallbeispiel umrissen. Auflösung der quergestreiften Muskulatur führen. Schließlich
sind noch die endokrinen Myopathien (z. B. Schilddrüsen-
Fallbeispiel 3 unterfunktion) wie auch die entzündlichen Muskelerkrankungen
Anamnese 49-jährige Patientin mit in den Abendstunden auf- (Dermatomyositis, Polymyositis) hervorzuheben.
tretenden Doppelbildern und beidseitiger Ptosis.

Familienanamnese Unauffällig. Zusammenfassung


Erkrankungen der Muskelfaser werden als Myopathien
Neurologischer Status Morgens – regelrecht, abends – Ptosis bezeichnet. Alle Myopathien gehen mit Muskelschwäche
beidseits, nebeneinander stehende Doppelbilder beim Blick nach bis hin zu Muskellähmung einher. Nach ihrem Auslöser
rechts und links. kann zwischen
4 primären, d. h. angeborenen Myopathien und
Labor Nachweis von Autoantikörpern gegen Acetylcholinre- 4 sekundären, d. h. erworbenen Myopathien
zeptoren. unterschieden werden.
6
Computertomogramm des Thorax Nachweis eines Thymoms.
804 Kapitel 63 · Quergestreifte Muskulatur

Bei den primären Myopathien sind je nach Krankeitsbild


Komponenten des kontraktilen Apparats, des Sarkolemms,
der extrazellulären Matrix oder verschiedener Stoffwechsel-
prozesse betroffen. Es handelt sich um schwere, meist un-
heilbare Erkrankungen.
Die Ursachen sekundärer Myopathien sind außerordentlich
vielfältig. Sie reichen von Autoimmunvorgängen wie bei der
Myasthenia gravis bis zu endokrinologischen und toxischen
Mechanismen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

63
805 64

64 Die glatte Muskulatur


Gabriele Pfitzer

Einleitung 4 Tonisch versus phasisch kontrahierende glatte Muskeln


Diese Einteilung beruht auf dem Kontraktionsmodus. Im
Die glatte Muskulatur ist mit Ausnahme des Herzens Bestandteil der Gastrointestinaltrakt sind beide Kontraktionstypen verwirk-
Wände der inneren Hohlorgane und der Blutgefäße. Sie stellt den Blut- licht: Die phasisch rhythmische Aktivität ist die Grundlage
druck ein und regelt die Funktion der Atemwege, des Gastrointestinal- der Peristaltik, während die tonisch kontrahierenden
und Urogenitaltrakts. Obwohl die Hauptkomponenten des kontraktilen Sphinkteren wie Ventile für den gerichteten Transport des
Apparats der glatten Muskulatur Ähnlichkeiten mit denen der im voran- Speisebreis von oral nach aboral verantwortlich sind. To-
gegangenen Kapitel beschriebenen Skelettmuskulatur haben, ergeben nisch kontrahierende glatte Muskeln findet man vor allem in
sich im Einzelnen wichtige Unterschiede, welche die Erfüllung der viel- den Wänden der Blutgefäße und des Bronchialbaums.
fältigen Aufgaben der glatten Muskulatur möglich machen. 4 Single unit versus multi unit-Typ
Diese Unterscheidung orientiert sich an der Art der Steue-
Schwerpunkte rung der Kontraktilität. Beim single unit-Typ sind mehrere
glatte Muskelzellen mittels gap junctions (7 Kap. 12.1.1) elek-
4 Einteilung und Funktionen der glatten Muskulatur
trisch zu einem funktionellen Synzytium verbunden. Dieser
4 Der kontraktile Apparat der glatten Muskulatur
Typ zeigt Spontanaktivität, die von spezialisierten glatten
4 Die Kopplung von Erregung und Kontraktion
Muskelzellen (Schrittmacherzellen) ausgeht. Vegetative Ner-
4 Aktivierung des Querbrückenzyklus
venfasern modulieren diese myogene Aktivität. Als Beispiel
4 Mechanismen der Relaxation der glatten Muskulatur
eines funktionellen Synzytiums sei der M. detrusor der
4 Pathobiochemie
Harnblase genannt, bei dem ein Aktionspotential, das in
einer Zelle generiert wird, sich über gap junctions sehr rasch
ausbreitet, sodass es zu einer nahezu synchronen Kontrak-
tion der Blase kommt. Beim multi unit-Typ (z. B. die Iris-
64.1 Aufgaben der glatten Muskulatur und Ziliarmuskeln des Auges) kontrahieren die glatten Mus-
und funktionelle Einteilungsprinzipien kelzellen unabhängig voneinander und sind kaum spontan
aktiv. Die Steuerung des Spannungszustandes erfolgt primär
Die glatte Muskulatur ist verantwortlich für die Aufrechterhal- über die Transmitter des vegetativen Nervensystems.
tung des Blutdrucks und reguliert die Weite der Blutgefäße, wo- 4 Kontraktiler versus synthetisch-proliferativer Phänotyp
durch die Durchblutung der Organe an ihren metabolischen Diese Einteilung orientiert sich am Expressionsgrad der
Bedarf angepasst wird. Sie beeinflusst den Strömungswiderstand kontraktilen Proteine und der Syntheseleistung und Prolife-
der Atemwege und treibt in peristaltischen Wellen den Speisebrei rationsrate der glatten Muskelzellen. Der kontraktile Phäno-
durch den Gastrointestinaltrakt und den Harn durch die Urete- typ ist charakteristisch für die adulte, reife glatte Muskulatur
ren. Sie bildet funktionelle Sphinkteren, die sich an kritischen während der synthetisch-proliferative Phänotyp vor allem in
Stellen des Gastrointestinal- und Urogenitaltraktes befinden und der Embryonalperiode vorkommt. Der kontraktile Phänotyp
den gerichteten Transport und die Kontinenz gewährleisten. Die zeichnet sich durch eine hohe Expression der kontraktilen
glatte Muskulatur spielt bei der Funktion reproduktiver Organe Proteine aus, während die Syntheseleistung und Prolifera-
eine wichtige Rolle. Besondere Eigenschaften der glatten Musku- tionsrate niedrig sind. Umgekehrt ist die Expression der
latur erlauben es, dass der Inhalt der Gallenblase, des Magens, kontraktilen Proteine und damit die Kontraktilität in der
der Harnblase oder des Rektums ohne nennenswerten Druckan- embryonalen glatten Muskulatur niedrig, während die Syn-
stieg gespeichert werden kann, und dass diese Speicher durch die theseleistung und Proliferationsrate sehr hoch ist. Syntheti-
synchrone Aktivierung der glatten Muskulatur auf ein zentrales siert werden u. a. die Komponenten der Extrazellulärmatrix
Signal hin entleert werden. Fehlfunktionen der glatten Muskula- wie Kollagen und Elastin aber auch Integrine und Cad-
tur spielen bei vielen Erkrankungen der inneren Organe eine herine. Die adulten, differenzierten glatten Muskelzellen
zentrale Rolle und können lebensbedrohlich sein. sind jedoch äußerst plastisch und können ihren Phänotyp in
Diese Beispiele zeigen, dass an die glatte Muskulatur ganz Richtung dedifferenzierter glatter Muskelzellen, d. h. zum
unterschiedliche Anforderungen gestellt werden, an die sie we- synthetisch-proliferativen Phänotyp hin, ändern. Insbeson-
gen der hohen Variabilität ihres kontraktilen Phänotyps und des- dere unter pathologischen Bedingungen wie etwa beim
sen Steuerung bestens adaptiert ist. Diese Diversität spiegelt sich Bluthochdruck, in arteriosklerotischen Plaques und beim
in verschiedenen Klassifikationen wider: Asthma bronchiale tritt dieser unreife Phänotyp wieder auf.

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_64, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
806 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

A C

. Abb. 64.1 Schematische Darstellung der Anodnung der Intermediär- bzw. Myofilamente der glatten Muskulatur. A: Spindelförmige glatte Muskel-
zellen sind von seitenpolaren Actin- bzw. Myosinfilamenten durchzogen, die im Sarkoplasma mit dense bodies verknüpft sind, die funktionell den Z-Schei-
ben der quergestreiften Muskulatur entsprechen. Die Anheftung an das Sarkolemm erfolgt mit dense bands. Dense bodies und dense bands sind außerdem
Ansatzpunkte von Intermediärfilamenten. B: Antiparallele Anordnung der seitenpolaren Myofilamente. C: Verkürzung der Minisarkomere bei der
Kontraktion. Durch die seitenpolare Anordnung können die Actinfilamente beiderseits der Myosinfilamente in entgegengesetzte Richtung an diesen vor-
bei und über sie hinausgleiten. (Adaptiert nach Rüegg 1992)

Bei aller Diversität gibt es jedoch Grundprinzipien des Aufbaus, 64.2 Struktur der glatten Muskulatur
der chemomechanischen Energietransformation und der Regu- und Proteine des kontraktilen Apparats
lation des Spannungszustandes, die im Folgenden dargestellt
werden. Für die jeweiligen organspezifischen Eigenschaften wird 64.2.1 Ultrastruktur der differenzierten
64 auf die entsprechenden Darstellungen der Organfunktionen (s. glatten Muskelzellen
Lehrbücher der Physiologie) verwiesen.
Differenzierte glatte Muskelzellen haben einen zentralen Kern
und sind im relaxierten Zustand dünn und spindelförmig. Der
Zusammenfassung Name »glatt« rührt daher, dass im Lichtmikroskop keine Quer-
Die glatte Muskulatur ist von vitaler Bedeutung für die Funk- streifung sichtbar ist. Dies liegt daran, dass die elektronen-
tion des Kreislaufsystems, des Gastrointestinal- und Urogeni- mikroskopisch erkennbaren Filamente weit weniger regelmäßig
taltraktes und der Lunge. Funktionell weist sie eine hohe angeordnet sind als in der quergestreiften Muskulatur. Man kann
Plastizität aus. Sie wird zum einen in die spontan aktiven drei Filamenttypen unterscheiden: Actinfilamente, die Myosin-
phasisch-rhythmisch und die tonisch-kontrahierenden glat- filamente, die beide parallel verlaufen, sowie die Intermediär-
ten Muskeln eingeteilt und zum anderen in den single unit- filamente.
Typ, der spontan aktiv ist, und den multi unit-Typ, der über Die zahlreichen dünnen Actinfilamente verlaufen diagonal
Neurotransmitter und Hormone reguliert wird. Glatte Muskel- in Längsrichtung der glatten Muskelzellen (. Abb. 64.1A). Zwi-
zellen sind nicht terminal differenziert und können vom kon- schen ihnen befinden sich die dicken Myosinfilamente, deren
traktilen zum synthetisch-proliferativen Phänotyp wechseln. Zahl viel geringer als die der Actinfilamente ist. Die Actinfila-
mente sind im Zellinneren und an der Plasmamembran an elek-
tronendichten Strukturen verankert, den »dichten Körperchen«
(dense bodies) bzw. »dichten Bänder« (dense bands). Diese ent-
halten das Z-Scheibenprotein α-Actinin. Funktionell entspricht
diese Anordnung einem Sarkomer, man spricht in der glatten
Muskulatur folgerichtig auch von sog. Minisarkomeren (. Abb.

glatte Muskulatur Myofilamente dünne dicke


64.3 · Molekulare Grundlagen der Kontraktion
807 64
64.1B, C). Die dense bands sind für die mechanische Ankopplung
des kontraktilen Apparats an die Zellmembran und an die extra- Zusammenfassung
zelluläre Matrix sowie für die mechanische Kopplung der glatten Der glatten Muskulatur fehlt die Querstreifung. Die dünnen
Muskelzellen untereinander von Bedeutung. Die intermediären Actinfilamente verlaufen diagonal durch die glatten Muskel-
Filamente enthalten die Proteine Desmin und Vimentin, die zu zellen und sind an »dense bodies« in der Zelle und an »dense
den Cytoskelett-Proteinen gerechnet werden. Sie vernetzen die bands« an der Zellmembran verankert. Zwischen den Actin-
dense bodies und dense bands miteinander (. Abb. 64.1A). filamenten liegen die seitenpolaren Myosinfilamente. Man
spricht von Minisarkomeren. Die dense bodies sind durch die
Intermediärfilamente des Cytoskeletts miteinander vernetzt.
64.2.2 Proteine des kontraktilen Apparats Die dünnen Filamente besitzen keinen Troponinkomplex.
der glatten Muskulatur Der Ca2+-Sensor der glatten Muskulatur ist Calmodulin.

Die dünnen Filamente bestehen aus Actin


und mit Actin assoziierten Proteinen
Actin ist ein globuläres Protein, das unter physiologischen Salz- 64.3 Molekulare Grundlagen
konzentrationen spontan zu Filamenten aggregiert (7 Kap. 13.1 der Kontraktion
und 7 Kap. 63.2.3). In Längsrichtung der Actinfilamente sind Tro-
pomyosin und Caldesmon, beides fadenförmige Moleküle, sowie 64.3.1 Mechanische Besonderheiten
Calponin gebunden. Ein wesentlicher Unterschied zur querge- der glatten Muskulatur
streiften Muskulatur besteht darin, dass der Troponinkomplex
fehlt. Die Rolle des Ca2+-Sensors übernimmt das ubiquitär vor- Wegen der größeren Länge der Filamente und der seitenpolaren
kommende, cytoplasmatische Protein Calmodulin. Calmodulin Anordnung der Myosinköpfe kann die glatte Muskulatur erheb-
ist ein hoch konserviertes, hantelförmiges Molekül mit zwei glo- lich stärker passiv gedehnt werden als die quergestreifte Musku-
bulären Enden, die je zwei Ca2+-Ionen mit hoher Affinität binden latur, bevor sie ihre Fähigkeit zur aktiven Kontraktion einbüßt.
können (7 Kap. 35.3.3). Caldesmon und Calponin greifen mögli- Umgekehrt kann sich die glatte Muskulatur aktiv auch sehr viel
cherweise modulierend in die Regulation der Kontraktion ein. stärker als die quergestreifte Muskulatur verkürzen (. Abb.
64.1C). Dies ist besonders wichtig in viszeralen Organen mit
In den Myosinfilamenten der glatten Muskulatur Speicherfunktion, wie etwa der Harnblase und dem Magen, die
sind die Myosinköpfe seitenpolar angeordnet durch den Inhalt sehr stark gedehnt werden, sich aber bei der
Das Myosin der glatten Muskulatur gehört zum Typ II der Myo- aktiven Entleerung erheblich verkürzen müssen. Verantwortlich
sin-Superfamilie. Wie alle Mitglieder dieses Typs besteht es aus für diese Eigenschaft ist die seitenpolare Anordnung der Myos-
sechs Untereinheiten: den beiden schweren Ketten (myosin heavy infilamente, die es den Actinfilamenten erlaubt, über einen gro-
chain, MHC) und pro MHC jeweils einer essentiellen leichten ßen Bereich entlang der Myosinfilamente zu gleiten, ohne dass
Kette (essential myosin light chain, EMLC) und einer regulatori- sich die Myosinfilamente gegenseitig behindern, wie dies in der
schen leichten Kette (regulatory myosin light chain, RMLC), wel- quergestreiften Muskulatur bei sehr kurzen Sarkomerlängen der
che phosphoryliert werden kann (7 Kap. 64.3.3). Die leichten Fall ist. Obwohl das Verhältnis von Myosin- zu Actinfilamenten
Ketten befinden sich in der Halsregion am Übergang der N-ter- in der glatten Muskulatur geringer ist als in der quergestreiften,
minalen globulären Motordomäne (Kopfregion) zur C-termina- kann sie auf den Querschnitt bezogen gleich große oder sogar
len α-helicalen Schwanzregion. Auch in der glatten Muskulatur noch größere Kräfte entwickeln. Ein Grund dafür liegt wieder in
kommt Myosin in mehreren Isoformen vor, die sich in den der seitenpolaren Anordnung der Myosinköpfe und der insge-
schweren und den essentiellen leichten Ketten unterscheiden. samt größeren Filamentlänge, da dadurch mehr Myosinköpfe,
Allen Isoformen gemeinsam sind die Bindestellen für Actin und d. h. molekulare Kraftgeneratoren parallel aktiv sein können.
ATP in der Kopfregion, die unter Hydrolyse von ATP mit Actin
stereospezifisch im sog. Querbrückenzyklus interagiert (7 Kap.
63.2.4). 64.3.2 Querbrückenzyklus
Mit ihrer Schwanzregion können die Myosinmoleküle zu der glatten Muskulatur
antiparallel orientierten Dimeren assoziieren (. Abb. 64.1B), die
sich unter physiologischen Bedingungen zu Filamenten aneinan- Die Kontraktion der glatten Muskulatur beruht genau wie die des
der lagern und zwar dergestalt, dass die Myosinköpfe seitenpo- Skelettmuskels auf dem sog. Gleitfilamentmechanismus (7 Kap.
lar orientiert sind (. Abb. 64.1B). Dies bedeutet, dass sie beidseits 63.2.4). Hierbei gleiten die Actin- und Myosinfilamente sowohl
der Filamente entgegengesetzte Orientierung haben. Entlang bei passiver Dehnung als auch bei aktiver Kontraktion aneinan-
einer Seite des Filaments haben die Myosinköpfe alle dieselbe der vorbei, ohne dass die einzelnen Filamente ihre Länge verän-
Orientierung. Die Myosinfilamente der glatten Muskulatur un- dern. Bei aktiver Kontraktion verkürzen sich die Minisarkomere
terscheiden sich also fundamental von den bipolaren Myosinfi- angetrieben durch den Querbrückenzyklus. Dieser läuft wie in
lamenten der quergestreiften Muskulatur (7 Kap. 63.2.3). Diese der quergestreiften Muskulatur ab (7 Kap. 63.2.4), jedoch etwa
Struktur hat enorme funktionelle Konsequenzen wie in 7 Kap. 100- bis 1.000-mal langsamer. Dies liegt vermutlich an der viel
64.3.1 erläutert wird. höheren ADP-Affinität des glattmuskulären Myosins. Dadurch

Myofilamente glatte Muskulatur Intermediärfilamente


808 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

dissoziiert ADP viel langsamer am Ende des Kraftschlags ab (vgl.


Querbrückenschema Skelettmuskel in 7 Abb. 63.7C, Schritt F),
d. h. die Querbrücken verweilen länger im kraftgenerierenden
Schritt. Dies hat wichtige funktionelle Konsequenzen:
4 die Verkürzungsgeschwindigkeit der glatten Muskulatur ist
sehr viel langsamer als die der quergestreiften Muskulatur,
4 die Halteökonomie ist sehr hoch.

Während lang anhaltender tonischer Kontraktionen kann die


glatte Muskulatur ihren Energieumsatz zusätzlich drosseln. Die-
sen Zustand nennt man latch-Zustand (latch = Riegel, s. u.). Da
der ATP-Umsatz sehr viel niedriger ist als in der Skelettmusku-
latur, ist auch der Sauerstoffverbrauch sehr niedrig (. Abb. 64.2).

. Abb. 64.2 Zeitliche Beziehung zwischen Kraft, Phosphorylierung der


64.3.3 Aktivierung des Querbrückenzyklus regulatorischen leichten Ketten (RMLC) und dem Sauerstoffverbrauch in
durch Ca2+-abhängige einem tonisch kontrahierenden glatten Muskel am Beispiel eines Blutge-
fäßes. Die Aktivierung mit einem kontrahierenden Stimulus, z. B. durch
Phosphorylierung des Myosins Membrandepolarisation oder Noradrenalin, führt zu einem raschen Anstieg
der RMLC-Phosphorylierung, der zeitlich dem Kraftanstieg vorauseilt. Wäh-
Voraussetzung für die Aktivierung des Querbrückenzyklus ist rend der tonischen Phase sinkt die RMLC-Phosphorylierung auf niedrigere
die Phosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten des Werte ab. Parallel dazu nimmt auch der Sauerstoffverbrauch als Ausdruck
Myosins (RMLC) an einem Serinrest (Ser 19) kurz Myosinphos- des erniedrigten ATP Verbrauchs ab, d. h. die Kraft wird sehr ökonomisch
aufrechterhalten. Dieser Zustand, der auch latch genannt wird, wird wahr-
phorylierung genannt (. Abb. 64.3). Myosin ist also ein Enzym, scheinlich durch sehr langsam ablaufende Querbrückenzyklen aufrecht-
das chemisch gespeicherte Energie in mechanische Arbeit und erhalten (. Abb. 64.3)
Wärme umwandelt und dessen Aktivität durch Phosphorylie-
rung reguliert wird (7 Kap. 8.5). Je höher der Phosphorylierungs-
grad der glatten Muskulatur ist, desto mehr Myosine sind »ange-
schaltet«, desto höher ist die Kontraktionsstärke. Im dephospho- 4 die durch Ca2+-Calmodulin aktivierte, Myosin-leichte-
rylierten Zustand ist Myosin inaktiv, da einer der beiden Köpfe Ketten-Kinase (MLCK) und
des Myosins statt an Actin an den zweiten Myosinkopf bindet 4 die Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP).
und zwar so, dass dieser auch nicht mehr in der Lage ist, eine
kraftgenerierende Wechselwirkung mit Actin einzugehen. In Die MLCK ist ein langgestrecktes Protein mit N-terminalen
diesem Punkt unterscheidet sich das glattmuskuläre Myosin von Actin- und C-terminalen Myosinbindungsstellen, die die MLCK
dem des Skelettmuskels, welches permanent aktiv ist. Die Rela- mit dem kontraktilen Apparat verankern. C-terminal von dem
xation der quergestreiften Muskulatur resultiert daraus, dass bei katalytischen Zentrum mit den Bindungsstellen für die bei-
Ca2+-Konzentrationen <10–7 mol/l Troponin zusammen mit den Substrate ATP und der regulatorischen leichten Kette
64 Tropomyosin die kraftgenerierende Bindung der Myosinquer- (RMLC) befindet sich eine autoinhibitorische Domäne, die
brücken an Actin blockiert (7 Kap. 63.2.4). eine hohe Sequenzhomologie zu den RMLC hat (Pseudosub-
Während lang andauernder tonischer Kontraktionen nimmt strat). Diese Domäne schirmt bei niedrigen Ca2+-Konzentratio-
der Grad der Myosinphosphorylierung in der Regel etwas ab, nen (<10–7 mol/l) das katalytische Zentrum ab, sodass es nicht an
obwohl die Kraft weiter aufrechterhalten wird. Gleichzeitig sinkt die RMLC binden und diese phosphorylieren kann. Steigt die
auch die Verkürzungsgeschwindigkeit, die ein Maß für die Höhe Ca2+-Konzentration im Cytoplasma auf über 10–7 mol/l an, bin-
der Querbrückenzyklusfrequenz ist, sowie der Sauerstoffver- den Ca2+-Ionen an Calmodulin, wodurch sich die Konformation
brauch (. Abb. 64.2). Eine Erklärung hierfür ist, dass die Zeit- des Calmodulins ändert. Der (Ca2+)4-Calmodulin-Komplex bin-
dauer, die die Myosinquerbrücken im aktiven kraftgenerieren- det an die autoinhibitorische Domäne der MLCK, die sich da-
den Schritt verweilen, von der Phosphorylierung ihrer regulato- durch vom katalytischen Zentrum entfernt. Der (Ca2+)4-Cal-
rischen leichten Ketten abhängt. Wegen der höheren ADP-Affi- modulin-MLCK-Holoenzym-Komplex kann nun sein Substrat,
nität dissoziieren dephosphorylierte Querbrücken langsamer die regulatorischen leichten Ketten des Myosins (RMLC), binden
vom Actin als phosphorylierte Querbrücken, sodass sie länger im und diese phosphorylieren. Unter Spaltung von ATP kann dann
kraftgenerierenden Schritt verweilen. Dies könnte die hohe Hal- der Querbrückenzyklus ablaufen.
teökonomie während tonischer Kontraktionen, d. h. den latch-
Zustand, erklären. Die Dephosphorylierung des Myosins erfolgt durch
eine Myosin-Leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP)
Die Myosinphosphorylierung erfolgt durch Sinkt die Ca2+-Konzentration unter Werte von 10–7 mol/l, dann
eine Ca2+-aktivierte Proteinkinase dissoziiert der Ca2+-Calmodulin-MLCK-Komplex. Dies genügt
Der Grad der Myosinphosphorylierung wird durch zwei gegen- jedoch nicht für die Auslösung der Relaxation! Der Querbrü-
läufige Enzyme eingestellt (. Abb. 64.3): ckenzyklus läuft nämlich noch so lange weiter ab, wie die Myo-
64.3 · Molekulare Grundlagen der Kontraktion
809 64

. Abb. 64.3 Phosphorylierung und Dephosphorylierung der regulatorischen leichten Ketten des Myosins und der Myosinquerbrückenzyklus.
Wenn die cytosolische Ca2+-Konzentration durch Einstrom durch Ca2+-Kanäle der Plasmamembran oder aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (SR) auf
ca. 10–6 mol/l ansteigt, bildet sich der (Ca2+)4. Calmodulin (CaM)-Komplex, der die Myosin-leichte-Ketten-Kinase (MLCK) aktiviert. Der aktive MLCK-Holo-
enzym-Komplex überträgt die γ-Phosphatgruppe von ATP auf Serin 19 der regulatorischen leichten Ketten des Myosins (RMLC). A: Actinfilamente, M und
MP: Myosinquerbrücken, deren RMLC dephosphoryliert, bzw. phosphoryliert sind. MP können im Querbrückenzyklus unter Spaltung von ATP kraftgene-
rierende Verbindungen mit Actin (AMP) eingehen. AM: angeheftete Querbrücken, die durch Dephosphorylierung von an Actin angehefteten Querbrücken
entstehen. Zur Kraft tragen sowohl AMP als auch AM bei. AM-Querbrücken (sog. latch-Brücken) dissoziieren viel langsamer als AMP-Querbrücken vom
Actin, sodass die Halteökonomie im latch-Zustand sehr hoch ist. Sinkt die Ca2+-Konzentration auf Werte <10–7 mol/l ab, dann dissoziiert der MLCK-Holo-
enzym-Komplex, die Myosinphosphatase (MLCP) dephosphoryliert die RMLC, neue kraftgenerierende Querbrücken können nicht mehr gebildet werden,
die glatte Muskulatur relaxiert. SERCA: sarcoplasmic/endoplasmic reticulum ATPase

sinquerbrücken phosphoryliert sind. Erst wenn diese durch die te Querbrücken können jedoch mehrmals den Querbrückenzy-
MLCP dephosphoryliert werden, kommt es zur Relaxation. Die klus durchlaufen, bevor sie dephosphoryliert werden. Sie müssen
MLCP ist eine Typ-1-Phosphoprotein-Phosphatase. Wie alle rephosphoryliert werden um wieder an Actin binden zu können.
Phosphatasen dieses Typs (7 Kap. 15.2) besteht sie aus einer ka-
talytischen (PP1c) und einer regulatorischen Untereinheit,
MYPT1 (myosin phosphatase targeting subunit) genannt. Letzte- Übrigens
re bindet die katalytische Untereinheit an ihr Zielprotein Myo- Skinned fibers als Modellsystem
sin und ist für die Substratspezifität verantwortlich. Der Nachweis, dass die Phosphorylierung der RMLC notwen-
Die MLCP ist konstitutiv aktiv, sodass Myosin nur dann dig und ausreichend für die Auslösung der Kontraktion ist,
phosphoryliert wird, wenn die MLCK aktiver als die MLCP ist. wurde in sog. »gehäuteten« glatten Muskelfasern (skinned
Dies bedeutet, dass im aktivierten glatten Muskel die Phospho- fibers) erbracht. In diesen Präparaten werden die Phospho-
rylierungs- und Dephosphorylierungsreaktionen kontinuierlich lipide der Zellmembran mit einem Detergenz aus der Zell-
ablaufen. In der glatten Muskulatur muss ATP also nicht nur für membran gelöst. Da die kontraktilen und cytoskeletalen
die mechanische Arbeit zur Verfügung gestellt werden, sondern 6
auch für den Aktivierungsmechanismus. Einmal phosphorylier-
810 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

. Abb. 64.4 Modulation der Myosinphosphatase-Aktivität durch Proteinkinasen: Ca2+-Sensitivierung und Ca2+-Desensitivierung. Die Myosinphos-
phatase (MLCP) besteht aus der katalytischen (PP1c) und einer regulatorischen Untereinheit (MYPT1) und ist konstitutiv aktiv. Ca2+-Sensitivierung: Die
MLCP kann gehemmt werden durch Phosphorylierung der MYPT1 durch die Rho-Kinase und durch das Inhibitorprotein CPI-17, dessen Wirkung durch
Phosphorylierung durch die PKC und Rho-Kinase (ROK) verstärkt wird. Die Aktivitätsabnahme der MLCP hat zur Folge, dass sich das Gleichgewicht zwi-
schen MLCK und MLCP zugunsten der MLCK verschiebt und die Myosinphosphorylierung und damit die Kraft bei konstanter cytoplasmatischer Ca2+-Kon-
zentration steigt, die Kraft-Calcium-Kurve ist nach links verschoben zu niedrigeren Ca2+-Konzentrationen. Ca2+-Desensitivierung: Die cAMP-PKA bzw.
cGMP-PKG Signalkaskaden aktivieren die MLCP, indem sie Telokin durch Phosphorylierung aktivieren und die inhibitorische RhoA-ROK-Signalkaskade
hemmen. Dadurch wird MYPT1 durch noch nicht charakterisierte Phosphatasen dephosphoryliert. Die Aktivitätszunahme der MLCP führt zu einer Ver-
schiebung der Kraft-Calcium-Kurve nach rechts zu höheren Ca2+-Konzentrationen

64
64.3.4 Ca2+-unabhängige Modulation
Filamente intakt bleiben, kann in einem Myographen die der Myosinphosphorylierung
Kontraktion aufgezeichnet werden. Die Präparate befinden
sich in einer pH-gepufferten Nährlösung, die MgATP und Sowohl die MLCK als auch die MLCP sind das Ziel von intrazel-
den Ca2+-Puffer EGTA enthält, der Ca2+ puffert, sodass die lulären Signalkaskaden, an deren Ende Proteinkinasen stehen,
Nährlösung Ca2+-frei ist, die Präparate sind relaxiert. Gibt die die Aktivität dieser beiden Enzyme modulieren. Die Modu-
man nun eine konstitutiv aktive MLCK in die Nährlösung, lation der Aktivitäten dieser Enzyme hat zur Folge, dass die Be-
die frei zu den Minisarkomeren diffundieren kann, da die ziehung zwischen Kraft und cytosolischer Ca2+-Konzentration
Membranbarriere durch das Detergenz entfernt wurde, variabel ist.
dann kommt es zur Phosphorylierung der RMLC und zur Die MLCK kann an mehreren Serinresten durch die cAMP-
Kraftentwicklung ganz ohne einen Anstieg der Ca2+-Konzen- aktivierte PKA und CaM-Kinase II phosphoryliert werden, wo-
tration. Die konstitutiv aktive MLCK erhält man dadurch, durch die Affinität der MLCK für den (Ca2+)4-Calmodulin-
dass durch limitierte Proteolyse die autoinhibitorische Komplex sinkt. Die phosphorylierte MLCK ist also bei einer ge-
Domäne entfernt wird, d. h. sie muss nicht durch den geben Ca2+-Konzentration weniger aktiv als die dephosphory-
(Ca2+)4-Calmodulin-Komplex aktiviert werden. lierte. Funktionell führt dies zu einer Verschiebung der Beziehung
zwischen aktiver Kraft und cytoplasmatischer Ca2+-Konzentra-
tion (der Kraft-Calcium-Kurve) nach rechts zu höheren Ca2+-
Konzentrationen. Man spricht von Ca2+-Desensitivierung. Es ist
nicht abschließend geklärt, ob die in vitro beobachtete PKA-ab-
hängige Phosphorylierung der MLCK unter physiologischen
64.3 · Molekulare Grundlagen der Kontraktion
811 64

. Abb. 64.5 Ca2+-Fluxe bei der Erregungs-Kontraktions Kopplung und der Relaxation. Elektromechanische-Kopplung: Aktionspotentiale oder auch eine
langdauernde Depolarisation der Zellmembran öffnen spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (voltage operated Ca2+-channels, VOC). Die Lage des Membranpo-
tentials wird durch K+-Kanäle beeinflusst: Verschluss dieser Kanäle führt zur Depolarisation, Öffnen dieser Kanäle zur Hyperpolarisation. Pharmakomechani-
sche Kopplung: Öffnung von rezeptorgesteuerten Ca2+-Kanälen (receptor operated Ca2+-channels, ROC) und Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasmatischen
Retikulum (SR) über die Gq gekoppelte Rezeptoren (z. B. der α1-adrenerge Rezeptor) und die Aktivierung der Phospholipase C (PLC)-IP3-Kaskade.
Passive Relaxation: Nach Beendigung der Stimulation überwiegen die Transportwege, die Ca2+ aus dem Cytoplasma entfernen: die Ca2+-ATPasen des sarco-
plasmatischen Reticulums (sarcoplasmic/endoplasmic reticulum ATPase, SERCA) und der Plasmamembran sowie des 3 Na+/1 Ca2+-Austauschers. aktive Rela-
xation: Antagonisierung kontraktiler Stimuli durch die Aktivierung von Gs-gekoppelte Rezeptoren (z. B. der 2-adrenerge Rezeptor) und der Adenylatcy-
clase (AC) führt zur Bildung von cAMP, das die Proteinkinase A (PKA) aktiviert. Stickstoffmonoxid (NO) aus Endothelzellen und nicht-adrenergen, nicht-cho-
linergen Neuronen des vegetativen Nervensystems führt zur Aktivierung der cytosolischen Guanylatcyclase, zum Anstieg von cGMP und der Aktivierung
der Proteinkinase G (PKG). PKA und PKG senken mit Hilfe indirekter Mechanismen die cytosolische Ca2+-Konzentration durch gesteigerte Aufnahme in das
sarcoplasmatische Reticulum, Aktivierung der K+-Kanäle und Hemmung der IP3-Rezeptoren

Bedingungen relevant ist. Sie wird jedoch klinisch dazu ausge- cAMP- oder cGMP-abhängige Phosphorylierung inakti-
nutzt, um mit β2-Mimetika das Asthma bronchiale zu therapie- viert wird.
ren.Die Phosphorylierung der MLCK durch die CaM-Kinase II, 4 Das Protein CPI-17 (C-Kinase activated PP-1 inhibitor), das vor
die ebenfalls ein Ca2+-Calmodulin reguliertes Enzym ist, könnte allem in der tonischen glatten Muskulatur exprimiert wird,
einen feedback-Mechanismus darstellen, der eine überschießen- hemmt die MLCP, insbesondere dann, wenn es durch die Pro-
de Aktivierung der MLCK durch Ca2+ verhindert. teinkinase C oder die Rho-Kinase phosphoryliert wurde.
Die Aktivität der MLCP wird durch unterschiedliche Mecha- 4 Das Protein Telokin, das vor allem in phasischen glatten
nismen moduliert (. Abb. 64.4): Muskeln vorkommt, aktiviert die MLCP. Dieser Effekt wird
4 Die regulatorische Untereinheit MYPT1 wird durch die durch Phosphorylierung durch die cAMP- bzw. cGMP-ab-
Rho-Kinase (ROK) an zwei Threoninresten phosphory- hängige Proteinkinase verstärkt.
liert, was zu einer Aktivitätsminderung der MLCP führt,
u. a. durch Dissoziation der regulatorischen von der Die Aktivitätsminderung der MLCP führt dazu, dass bei einer
katalytischen Untereinheit (7 Kap. 15.2). Die ROK wird konstanten Ca2+-Konzentration, d. h. konstanter Aktivierung
durch das kleine G-Protein RhoA aktiviert, das durch der MLCK, die leichten Ketten des Myosins vermehrt phospho-

glatte Muskulatur pharmakomechanische Kopplung elektromechanische Kupplung


812 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

ryliert werden, die Kraft-Calcium-Kurve ist nach links zu nied- eher tonisch – an die organspezifischen Funktionen angepasst.
rigeren Ca2+-Konzentrationen verschoben, man spricht von Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Regulationsme-
Ca2+-Sensitivierung (. Abb. 64.6). Umgekehrt ist bei einer Ak- chanismen höchst komplex sind und die Ausprägung der ver-
tivitätssteigerung der MLCP die Kraft-Calcium-Kurve nach schiedenen Komponenten, d. h. Expression verschiedener Io-
rechts verschoben, man spricht von Ca2+-Desensitivierung nenkanäle und intrazellulärer Signalmoleküle, organspezifische
(. Abb. 64.6). Die Aktivierung der MLCP hat also dieselbe Wir- Besonderheiten aufweisen. Die glatte Muskulatur ist selten völlig
kung auf die Kraft-Calcium-Beziehung wie die Hemmung der relaxiert oder maximal aktiviert. Kontraktile und relaxierende
MLCK (s. o.). Diese Prozesse spielen bei der hormonellen Regu- Mechanismen stehen in einem dynamischen Gleichgewicht, das
lation des Tonus der glatten Muskulatur eine wichtige Rolle sich je nach Situation eher in Richtung Kontraktion oder in Rich-
(7 Kap. 64.4.2 und 64.5.2). tung Relaxation verschiebt. Manche Hormone können sowohl
eine Kontraktion als auch eine Relaxation auslösen. Dies hängt
davon ab, welcher Rezeptor und welche nachgeschalteten intra-
Zusammenfassung zellulären Signalkaskaden von dem Hormon aktiviert werden. So
Grundlage der Kontraktion ist der Gleitfilamentmechanis- wirkt beispielsweise in Blutgefäßen Noradrenalin über den α1-
mus, der durch den Querbrückenzyklus angetrieben wird. adrenergen Rezeptor kontrahierend und über den β2-adrenergen
Dieser erfolgt im Vergleich zur quergestreiften Muskulatur Rezeptor relaxierend. Im Folgenden werden zunächst die Mecha-
100- bis 1.000-mal langsamer. Dadurch kontrahiert die glatte nismen beschrieben, die für die Kontraktion und daran anschlie-
Muskulatur außerordentlich ökonomisch, allerdings ist die ßend jene, die für die Relaxation verantwortlich sind.
Verkürzungsgeschwindigkeit niedrig.
Die glatte Muskulatur ist damit bestens adaptiert für uner-
müdliche Haltefunktionen. Sie kann sich über einen weit 64.4.1 Regulation der cytosolischen
größeren Längenbereich aktiv verkürzen und auch passiv Ca2+-Konzentration
sehr viel stärker gedehnt werden, ohne ihre aktive Kontrak-
tionsfähigkeit einzubüßen. Diese Besonderheiten haben ihre Grundsätzlich wird die Höhe der cytosolischen freien Ca2+-
Ursache in den katalytischen Eigenschaften des Myosins und Konzentration durch das Verhältnis des Ca2+-Einstroms zum
der seitenpolaren Struktur der Myosinfilamente. Ca2+-Ausstrom bestimmt. Diese Fluxe befinden sich in einem
Das Myosin unterscheidet sich von dem der quergestreiften dynamischen Gleichgewicht. Überwiegt der Einstrom, dann
Muskulatur darin, dass es aktiviert werden muss. Dies ge- steigt die cytosolische Ca2+-Konzentration an, die glatte Mus-
schieht durch die Phosphorylierung der regulatorischen kulatur kontrahiert, überwiegt der Ausstrom, dann sinkt die
leichten Ketten des Myosins (RMLC). Auch im glatten Muskel cytosolische Ca2+-Konzentration, die glatte Muskulatur relaxiert
wird die Kontraktion durch den Anstieg der cytoplasmati- (. Abb. 64.5).
schen Ca2+-Konzentration angestoßen. Ca2+ bindet an Cal- Am Ca2+-Einstrom in das Cytoplasma sind folgende Mecha-
modulin, der Ca2+-Calmodulin-Komplex aktiviert die Myosin- nismen beteiligt:
leichte-Ketten-Kinase (myosin light chain kinase, MLCK), die 4 spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (voltage operated calcium
wiederum die RMLC phosphoryliert. channels, VOCs)
Die Phosphorylierungsreaktion wird beendet, wenn die 4 rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (receptor operated calcium
64 cytosolische Ca2+-Konzentration unter 10–7 mol/l abfällt. Der channels, ROCs)
Querbrückenzyklus wird beendet, wenn die RMLC durch 4 mechanosensitive Kationenkanäle (nicht dargestellt)
eine Myosin-leichte-Ketten-Phosphatase (MLCP) 4 Ca2+-Kanäle des sarkoplasmatischen Retikulums
dephosphoryliert werden. Dies leitet die Relaxation ein.
Die MLCK und die MLCP können durch Proteinkinasen Ca2+- Da die freie extrazelluläre Ca2+-Konzentration etwa bei
unabhängig reguliert werden. Von großer Bedeutung ist die 1,5 mmol/l, die cytoplasmatische Ca2+-Konzentration des rela-
Hemmung der MLCP durch Phosphorylierung über den xierten glatten Muskels etwa bei 0,1 µmol/l und das Ruhemem-
RhoA-Rho-Kinase Signalweg. Dies führt zu einer Ca2+-Sensi- branpotential bei etwa –40 bis –70 mV liegt, besteht ein sehr
tivierung. Durch zyklische Nucleotide wird die Aktivität der großer elektrochemischer Gradient für Ca2+. Dies gewährleistet
MLCP erhöht, und dadurch eine Ca2+-Desensitivierung be- einen raschen Ca2+-Einstrom, sobald die Ca2+-Kanäle »offen«
wirkt. sind. Da das sarkoplasmatische Retikulum vergleichsweise ge-
ring ausgeprägt ist, ist die glatte Muskulatur essentiell auf den
Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellularraum angewiesen.

64.4 Erregungs-Kontraktions-Kopplung
64.4.2 Elektromechanische Kopplung:
Die Aktivierung der glatten Muskulatur kann elektrisch durch Einstrom von Ca2+ durch spannungs-
Depolarisation der Zellmembran wie auch durch Aktionspoten- gesteuerte Ca2+-Kanäle
tiale, chemisch durch eine Vielzahl extrazellulärer Botenstoffe
und mechanisch durch Dehnung erfolgen. Wie eingangs geschil- Eine lang anhaltende Depolarisation in tonisch kontrahierender
dert, ist der Kontraktionsmodus – phasisch/rhythmisch oder glatter Muskulatur führt zur Öffnung von spannungsgesteuerten
64.4 · Erregungs-Kontraktions-Kopplung
813 64
Ca2+-Kanälen (VOCs), deren wichtigster Vertreter der L-Typ Ca2+- beruht auf einer G-Protein vermittelten Hemmung der MLCP
Kanal ist, der durch die therapeutisch wichtigen sog. Ca2+-Kanal- über zwei unterschiedliche Signalwege (. Abb. 64.6):
blocker blockiert werden kann (. Abb. 64.5). Im Gegensatz zur 4 Aktivierung der PKC. Die Spaltung von PIP2 durch die Gq
phasisch/rhythmisch aktiven glatten Muskulatur werden durch aktivierte PLC setzt neben IP3 auch Diacylglyercin (DAG)
die Depolarisation in der Regel keine Aktionspotentiale ausgelöst. frei, das die PKC aktiviert, die wiederum die MLCP durch
Die Kontraktionsstärke hängt vom Ausmaß der Depolarisation ab. Phosphorylierung des endogenen MLCP-Inhibitors CPI-17
In der spontan aktiven, phasisch kontrahierenden glatten hemmt (7 Kap. 64.3.4).
Muskulatur entstehen dagegen Aktionspotentiale (sog. spikes). 4 Aktivierung der Rho-Kinase (ROK). ROK wird durch Hor-
Diese werden durch den Ca2+-Einstrom getragen, da die glatte mone wie Angiotensin II, Thromboxan und Endothelin-1,
Muskulatur kaum spannungsgesteuerte Na+-Kanäle hat. Ursache aber auch durch die klassischen Neurotransmitter Noradre-
für die spikes sind spontane rhythmische Depolarisationen, sog. nalin und Acetylcholin über deren G12/13-gekoppelte Rezep-
slow waves, von Schrittmacherzellen (Cajal-Zellen). In den toren aktiviert. Das heterotrimere G12/13-Protein aktiviert
Schrittmacherzellen lösen diese Spontandepolarisationen seinerseits Guaninnucleotidaustauschfaktoren (GEFs) für
jedoch keine Aktionspotentiale aus. Sie werden vielmehr die monomere GTPase RhoA. Die GEFs überführen inakti-
elektrotonisch über die gap junctions in die glatten Muskelzellen ves GDP-gebundenes RhoA in aktives GTP-gebundenes
weitergeleitet, wo dann Aktionspotentiale entstehen, vorausge- RhoA. RhoA transloziert zur Zellmembran und aktiviert
setzt das Schrittmacherpotential erreicht die Schwelle für die dort verschiedene Zielproteine, unter anderem die Rho-
Öffnung der L-Typ Ca2+-Kanäle. Einzelne Aktionspotentiale Kinase (ROK). Neben weiteren Substraten phosphoryliert
lösen Einzelzuckungen aus, die mit steigender Aktionspotential- ROK wie die PKC CPI-17 und außerdem die regulatorische
frequenz verschmelzen – es kommt zum Tetanus. Die Frequenz Untereinheit der MLCP (s. o. und . Abb. 64.4). ROK kann
der Aktionspotentiale wird durch die Neurotransmitter des ve- außerdem auch unabhängig von RhoA durch Arachidon-
getativen Nervensystems beeinflusst (Frequenzmodulation). säure und einige ihrer Metabolite aktiviert werden. Gegen-
Einzelheiten finden sich in den Lehrbüchern der Physiologie. über der PKC scheint die ROK-Signalkaskade der wichti-
gere Mechanismus für die Hemmung der MLCP, auch unter
pathologischen Bedingungen, zu sein.
64.4.3 Pharmakomechanische Kopplung:
Einstrom von Ca2+ durch rezeptor-
gesteuerte Ca2+-Kanäle Zusammenfassung
Die glatte Muskulatur kann durch langdauernde Membran-
Hormone und Neurotransmitter führen zur pharmakomechani- depolarisation, Aktionspotentiale (spikes), Neurotransmitter,
schen Kopplung. Sie lösen einen Ca2+-Einstrom durch rezeptor- zirkulierende und lokal gebildete Hormone sowie durch
gesteuerte Ca2+-Kanäle (ROCs, ionotrope Rezeptoren) aus (. Abb. mechanische Dehnung aktiviert werden.
64.5). Bemerkenswerterweise kann der rezeptorvermittelte Ca2+- Elektromechanische Kopplung: In spontan aktiven, phasi-
Einstrom aus dem Extrazellulärraum ohne merkliche Depolarisa- schen glatten Muskeln werden durch oszillatorische Schritt-
tion der Plasmamembran erfolgen. Außerdem setzen die durch macherprozesse sog. spikes ausgelöst, die durch den Ca2+-
Aktivierung von Gq-Protein gekoppelten Rezeptoren (metabotro- Einstrom durch spannungsgesteuerte Ca2+-Kanäle (VOCs)
pe Rezeptoren) über die Phospholipase-C-IP3-Kaskade Ca2+ aus getragen sind. Die spikes lösen Einzelzuckungen aus, die sich
intrazellulären Speichern frei (. Abb. 64.5, 7 Kap. 35.3.3). Ein Bei- zu tetanischen Kontraktionen überlagern können. VOCs
spiel eines Gq-gekoppelten Rezeptors ist der α1-adrenerge Rezep- können in tonisch aktiven Muskeln auch durch lang
tor. Da die Ca2+-Speicherkapazität allerdings gering ist, reicht die anhaltende Membrandepolarisationen geöffnet werden.
Menge an freigesetztem Ca2+ nur für den initialen Kraftanstieg aus. Pharmakomechanische Kopplung: Hormone und Neurotrans-
Für die Aufrechterhaltung tonischer Dauerkontraktionen ist der mitter öffnen rezeptorgesteuerte Ca2+-Kanäle (ROCs) und
Ca2+-Einstrom aus dem Extrazellularraum zwingend erforderlich. lösen so ohne Membrandepolarisation eine Kontraktion aus.
Die Aktivierung von metabotropen Rezeptoren setzt über die
Phospholipase C-IP3-Kaskade Ca2+ aus intrazellulären Spei-
64.4.4 Ca2+-Sensitivierung durch die chern frei. Die Ca2+-Freisetzung aus den Speichern reicht aber
pharmakomechanische Kopplung nicht aus, um tonische Kontraktionen aufrechtzuerhalten. Es
muss zusätzlich Ca2+ aus dem Extrazellulärraum einströmen.
Durch die pharmakomechanische Kopplung wird meist weit Häufig ist der Ca2+-Anstieg im Cytoplasma bei der hormo-
weniger Ca2+ in das Cytoplasma freigesetzt als bei der elektro- nellen Aktivierung geringer als bei der elektromechanisch
mechanischen Kopplung. Trotzdem sind die rezeptorvermittelten ausgelösten Kontraktion. Trotzdem ist die Kontraktion gleich
Kontraktionen gleich stark oder sogar noch stärker. Der Grund stark oder stärker. Dies liegt daran, dass Hormone in der Re-
liegt in einer erhöhten Ca2+-Sensitivität. Dadurch kann ein Ago- gel zusätzlich die Ca2+-Sensitivität steigern, indem sie über
nist bereits bei einem minimalen Anstieg der cytoplasmatischen PKC und die RhoA-Rho-Kinase-Kaskade die MLCP hemmen.
Ca2+-Konzentration eine Kontraktion auslösen. Dieser geringe
Ca2+-Anstieg hätte dagegen bei einer reinen Membrandepolarisa-
tion noch keine Kontraktion ausgelöst. Die Ca2+-Sensitivierung
814 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

. Abb. 64.6 Pharmakomechanische Kopplung und aktive Relaxation. Viele kontraktile Agonisten (z. B. Noradrenalin oder Angiotensin II) erhöhen die
intrazelluläre Ca2+-Konzentration über die in . Abb. 64.5 gezeigten Mechanismen und steigern die Ca2+-Sensitivität durch Aktivierung der Rho Kinase
(ROK) und der Proteinkinase C (PKC). Beide Mechanismen wirken synergistisch und erhöhen die Kontraktionskraft viel stärker als ein reiner Anstieg der
cytoplasmatischen Ca2+-Konzentration (linker Einschub, rote Kurve). Relaxierende Agonisten (z. B. Adrenalin) und NO erhöhen die intrazelluläre Konzentra-
tion von cAMP bzw. cGMP (. Abb. 64.5). Sie senken die intrazelluläre Ca2+-Konzentration und erniedrigen die Ca2+-Sensitivität. Beide Mechanismen wirken
synergistisch und relaxieren die glatte Muskulatur viel stärker als jeder für sich alleine (rechter Einschub, blaue Kurve). Die dargestellten Signalwege erfolgen
häufig über Zwischenschritte, die der Übersichtlichkeit halber nicht dargestellt sind

64
64.5 Relaxation der glatten Muskulatur Der Querbrückenzyklus kann nicht mehr ablaufen. Es kommt
zur Relaxation.
64.5.1 Passive Relaxation durch Beendigung
der Stimulation
64.5.2 Aktive Relaxation durch Hormone
Die Beendigung der Stimulation, d. h. die Repolarisation der Zell- und Neurotransmitter
membran wie auch die Dissoziation kontraktiler Agonisten von
ihren Rezeptoren führt zu einer Abnahme des Ca2+-Einstroms Eine Relaxation muss nicht notwendigerweise durch die Beendi-
über VOCs und ROCs. Nun überwiegen die Transportprozesse, gung des kontraktilen Stimulus ausgelöst werden. Sie kann auch
die Ca2+ aus dem Cytosol entfernen und zwar (. Abb. 64.3; 64.5): aktiv durch Hormone oder Neurotransmitter erfolgen, die in den
4 die ATP-getriebenen Pumpen der Plasmamembran und des glatten Muskelzellen Signalkaskaden aktivieren, die zum Anstieg
sarkoplasmatischen Retikulums SERCA (sarcoplasmic/ der cAMP- bzw. cGMP-Konzentration führen. Diese Signalwege
endoplasmic reticulum Ca2+-ATPase), und hemmen sowohl die elektromechanisch als auch pharmakome-
4 der Na+/Ca2+-Austauscher in der Plasmamembran, der chanisch ausgelösten Kontraktionen (. Abb. 64.6).
sekundär aktiv 1 Ca2+-Ion im Austausch für 3 Na+-Ionen Die Bildung von cAMP aus ATP wird durch die Adenylatcy-
aus der Zelle entfernt. clase katalysiert, die durch das Gs-Protein aktiviert wird (7 Kap.
35.3.1) Guanylatcyclasen katalysieren die Bildung von cGMP aus
Die cytoplasmatische Ca2+-Konzentration sinkt, die MLCK wird GTP. Einer ihrer wichtigsten Aktivatoren ist Stickstoffmonoxid
inaktiviert und Myosin wird durch die MLCP dephosphoryliert. (NO) (7 Kap. 27.2.2, 35.6.1). Die Effekte von cAMP und cGMP

glatte Muskulatur Organerkrankungen innere Hypertonie arterielle


64.7 · Die glatte Muskulatur ist an vielen Erkrankungen der inneren Organe beteiligt
815 64
werden in der Regel durch die cAMP- bzw. cGMP- aktivierte durch die Expression eines für den kontraktilen Phänotyp spezi-
Proteinkinase (PKA bzw. PKG) vermittelt, die zum Teil überlap- fischen Transkriptoms aus, zu denen die glattmuskulären Isofor-
pende Substratspezifitäten haben. Die Relaxation der glatten men der schweren Ketten des Myosins, des Actins ( α-Actin), des
Muskulatur wird durch verschiedene Wege erreicht, die alle letzt- Caldesmons (h-Caldesmon) sowie Calponin gehören. Dieses
lich durch Abnahme der intrazellulären Ca2+-Konzentration und Transkriptom wird ergänzt durch die organspezifische Expres-
der Ca2+-Sensitivität zur Dephosphorylierung der leichten Ket- sion von Ionenkanälen, Rezeptoren, Signalmolekülen etc., ange-
ten des Myosins führen: passt an die jeweiligen funktionellen Besonderheiten.
4 Die Abnahme der cytosolischen Ca2+-Konzentration beruht Noch sind bei weitem nicht alle Regulationsmechanismen
u. a. auf der Aktivierung von K+-Kanälen der Plasmamem- für diese Differenzierungs-/Dedifferenzierungsvorgänge be-
bran und der gesteigerten Aufnahme in das sarkoplasmati- kannt. Wichtig scheint der Transkriptionsfaktor SRF (serum res-
sche Retikulum sowie im Falle der PKG auf der Hemmung ponse factor) zusammen mit seinem Coaktivator Myokardin zu
der IP3 induzierten Ca2+-Freisetzung aus dem sarkoplasma- sein. Während SRF ubiquitär exprimiert wird, wird Myokardin
tischen Retikulum (. Abb. 64.5). nur in der glatten Muskulatur und im Herzen exprimiert. Ein
4 Die Abnahme der Ca2+-Sensitivität ist im Wesentlichen da- Ca2+-Einstrom über VOCs und die Aktivierung von RhoA trans-
durch bedingt, dass cGMP und cAMP die Aktivierung der lozieren SRF vom Cytoplasma in den Zellkern, wo er an sog.
inhibitorischen RhoA-ROK-Signalkaskade blockieren CArG-Elemente in der Promotor-enhancer-Region der Gene für
(. Abb. 64.4). Da jetzt ROK inaktiv ist, wird MYPT1 de- die Markerproteine des kontraktilen Phänotyps bindet. An der
phosphoryliert und somit die Hemmung der MLCP aufge- Regulation der Proliferation scheint dagegen der Transkriptions-
hoben. In glatten Muskeln, in denen Telokin exprimiert faktor CREB beteiligt zu sein.
wird, kann die MLCP durch Phosphorylierung dieses Pro-
teins auch direkt aktiviert werden (7 Kap. 64.3.4).
64.7 Die glatte Muskulatur ist an vielen Erkran-
Die Beendigung dieser relaxierenden Signale erfolgt, wenn kungen der inneren Organe beteiligt
cAMP bzw. cGMP durch verschiedene Phosphodiesterasen
(PDE) zu AMP bzw. GMP hydrolisiert werden. Erkrankungen des Kreislaufsystems, der Lunge, des Urogenital-
und Gastrointestinaltraktes gehen oft mit Funktionsstörungen
der glatten Muskulatur einher, die häufig für die Symptomatik
Zusammenfassung eine entscheidende Rolle spielen, obwohl sie nicht ursächlich an
Die glatte Muskulatur relaxiert passiv, wenn die Stimulation der Krankheitsentstehung beteiligt sind. Meist ist die Kontrakti-
beendet ist. Ca2+ wird durch die Ca2+-ATPase des sarkoplas- lität gesteigert, in manchen Fällen kommt es auch zu einer Hypo-
matischen Retikulums und der Plasmamembran aktiv sowie kontraktilität. Im ersten Fall findet man häufig ein Überwiegen
in einem sekundär-aktiven Transport über den Na+/Ca2+- des RhoA-ROK-Weges relativ zum NO-cGMP-Weg. Bei der Hy-
Austauscher aus dem Cytoplasma entfernt. pokontraktilität ist dagegen der NO-Weg überaktiv. Neben den
Alternativ kommt es zur sog. aktiven Relaxation, wenn im reinen Funktionsstörungen kommt es häufig auch zum Phäno-
Cytosol cAMP oder cGMP ansteigt und die Proteinkinasen A typwechsel in Richtung des sekretorischen/proliferativen Phäno-
bzw. G aktiviert werden. Die zyklischen Nucleotide hemmen typs. Im Folgenden sollen beispielhaft einige Erkrankungen ge-
über verschiedene Mechanismen den Ca2+-Einstrom in die nannt werden.
Zelle und fördern die Wiederaufnahme in das sarkoplasmati-
sche Retikulum. Außerdem senken sie die Ca2+-Sensitivität,
indem sie die MLCP enthemmen. Phosphodiesterasen been- 64.7.1 Kreislaufsystem
den die relaxierende Wirkung der zyklischen Nucleotide.
Bei der arteriellen Hypertonie besteht häufig eine endotheliale
Dysfunktion mit einer reduzierten Verfügbarkeit von NO sowie
eine erhöhte Aktivierung der ROK in den glatten Muskelzellen.
64.6 Plastizität der glatten Muskulatur Beides trägt zu einer gesteigerten Kontraktilität der glatten Mus-
kulatur bei. Zur Blutdrucksenkung werden Medikamente einge-
Die glatte Muskulatur ist im Gegensatz zu der quergestreiften setzt, die in die Erregungs-Kontraktions-Kopplung eingreifen,
Muskulatur nicht terminal differenziert. Sie ist vielmehr äußerst nämlich
plastisch und kann ihren Phänotyp auch im adulten Organismus 4 Ca2+-Kanalblocker,
von der kontraktilen zur synthetischen Form ändern, die wäh- 4 ACE-Inhibitoren, die die Bildung von Angiotensin II aus
rend der Embryonalentwicklung dominiert. Der synthetische Angiotensin I hemmen,
Phänotyp ist kaum kontraktil, zeichnet sich aber durch eine hohe 4 Blocker des Angiotensin-II-Rezeptors (sog. AT1-Blocker).
Proliferations- und Migrationsrate aus. Er synthetisiert und se- 4 Medikamente, die ROK hemmen, werden derzeit bei
zerniert unter anderem die Komponenten der extrazellulären Gefäßspasmen eingesetzt
Matrix sowie Wachstumsfaktoren, Cytokine wie auch Adhäsions-
moleküle. Reife glatte Muskelzellen haben dagegen eine äußerst Andere medikamentöse Therapien setzen an den Mechanismen
niedrige Proliferations- und Syntheserate. Sie zeichnen sich der aktiven Relaxation an:
816 Kapitel 64 · Die glatte Muskulatur

4 Nitrate werden im Angina-pectoris-Anfall gegeben. Sie 64.7.3 Lunge


setzen NO frei und aktivieren die Guanylatcyclase.
4 Aktivatoren des Gs-gekoppelten Prostacyclinrezeptors Beim Asthma bronchiale besteht unter anderem eine gesteigerte
führen zum Anstieg von intrazellulärem cAMP. Reagibilität der glatten Muskulatur des Bronchialtraktes, an der
4 Inhibitoren der Phosphodiesterase 5 (z. B. Sildenafil (Viagra), Entzündungsmediatoren und in der glatten Muskelzelle wahr-
die zum Anstieg von cGMP führen, werden bei der pulmo- scheinlich eine gesteigerte Aktivität der RhoA-ROK-Signalkas-
nalen Hypertonie und der erektilen Dysfunktion, eingesetzt. kade beteiligt ist. Im akuten Asthmaanfall lässt man den Patien-
ten Medikamente inhalieren, die den β2-Adrenoceptor und die
Bei diesen Erkrankungen liegt aber nicht nur eine Hyperkon- cAMP-Signalkaskade aktivieren. Inhibitoren der Phosphodieste-
traktilität der glatten Muskulatur vor. Es kommt vielmehr zu rase 4, die zum Anstieg von cAMP führen, wie z. B. das Thera-
einem mehr oder weniger ausgeprägten Umbau der Gefäßwän- peutikum Roflimulast, werden zur Behandlung schwerer chro-
de, die alle Zellen der Gefäßwand, d. h. auch die Endothelzellen nisch obstruktiver pulmonaler Erkrankungen (COPD) und
betrifft. Dieses vaskuläre Remodeling wird als die pathogene- chronischer Bronchitis eingesetzt.
tisch entscheidende Determinante angesehen. Im Zuge dieses
Remodelings kommt es zur Hypertrophie der glatten Muskelzel-
len sowie zu deren Umwandlung in den proliferativen/sekreto- Zusammenfassung
rischen Phänotyp. Die Sekretion von autokrin und parakrin Bei vielen Erkrankungen der inneren Organe ist die glatte
wirkenden inflammatorischen Cytokinen hält diesen Prozess Muskulatur mit betroffen. Häufig ist die Kontraktilität patho-
aufrecht. logisch gesteigert, manchmal ist sie auch erniedrigt. Steige-
Beim septischen Schock (7 Kap. 35.5.4) ist die überschießen- rungen der Kontraktilität bestehen beim arteriellen und
de NO-Produktion für die massive Vasodilatation und den Blut- pulmonalen Hochdruck, bei spastischen Kontraktionen der
druckabfall mit verantwortlich. Koronar- und Hirngefäße, dem Asthma bronchiale, bei ver-
minderter NO-Freisetzung aus Neuronen der vegetativen
Ganglien als Folge einer diabetischen Neuropathie, welche
64.7.2 Motilitätsstörungen zu Motilitätsstörungen des Gastrointestinaltrakts und zur
des Gastrointestinaltraktes erektilen Dysfunktion führen kann. Fehlfunktionen der
Schrittmacherzellen liegen wahrscheinlich dem Reizdarm-
Das kongenitale Megakolon (Morbus Hirschsprung) ist eine syndrom zugrunde. Eine Hypokontraktilität ist für den Blut-
neuromuskuläre Erkrankung (Häufigkeit 1:5.000) der glatten druckabfall bei der Sepsis verantwortlich. Allen Funktions-
Muskulatur und die häufigste angeborene Motilitätsstörung des störungen liegen pathologisch veränderte Regulationen der
gastrointestinalen Trakts. Sie ist durch das Fehlen der Ganglien- Signalmoleküle, die letztlich die Aktivität des kontraktilen
zellen des Plexus myentericus und des Plexus submucosus in Apparats regulieren, zugrunde. Häufig besteht eine Dysba-
einem variabel großen Segment des Rektums und Sigmoids ge- lance zwischen dem relaxierenden NO-cGMP- und dem kon-
kennzeichnet. Bei den erkrankten Neugeborenen kommt es in trahierenden RhoA-ROK-Signalweg.
dem betroffenen Segment zu einem Verlust der Peristaltik. Der Neben den Störungen der Kontraktilität kommt es sehr häu-
Muskeltonus ist massiv erhöht, da vermutlich die Ca2+-unabhän- fig zu einem Phänotypwechsel vom kontraktilen zum syn-
64 gigen Kontraktionsmechanismen überproportional aktiv sind. thetischen Phänotyp, der sich durch eine hohe Prolifera-
Ohne entsprechende operative Therapie führt die Erkrankung tions- und Migrationsrate auszeichnet, und der neben den
zum Tode. Proteinen der extrazellulären Matrix auch Cytokine, Chemo-
Die diabetische Gastroparese ist eine erworbene Motilitäts- kine und Adhäsionsmoleküle synthetisiert, die den Umbau-
störung des Magens, die auf dem Boden eines lange bestehenden prozess aufrechterhalten.
Diabetes mellitus entsteht und zu einer verzögerten Entleerung
des Magens führt. Ursächlich ist ein selektiver Untergang von
NO-freisetzenden Ganglien des Plexus myentericus. 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
Dem sehr häufig vorkommenden Colon irritabile oder Reiz-
darmsyndrom liegt möglicherweise eine Fehlfunktion der
Schrittmacherzellen des Darmes zugrunde. Die Darmmotilität
kann auch als Folge von entzündlichen Erkrankungen des Dar-
mes abgeschwächt sein. Dies liegt unter anderem an einer verrin-
gerten Erregbarkeit, da der L-Typ Ca2+-Kanal weniger aktiv, da-
für aber der KATP-Kanal aktiver ist, sowie an einer Ca2+-Desensi-
tivierung, da die Expression des MLCP Inhibitors CPI-17 (7 Kap.
64.3.4) reduziert ist.
817 65

65 Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten


Armin Kurtz

Einleitung 4 Regulatoren des Säure-Basen-Haushalts,


4 Hauptorgan für die Ausscheidung wasserlöslicher toxischer
Die Nieren scheiden wasserlösliche Stoffwechselendprodukte, anorga- oder nicht benötigter Substanzen,
nische Stoffe und Substanzen aus. Weitere Aufgaben sind die Konstanz 4 Produzenten des Hormons Erythropoetin und an der
der Extrazellulärflüssigkeit zu erhalten und das Volumen und die Regulation der Angiotensinbiosynthese beteiligt,
Osmolarität der Körperflüssigkeiten zu regulieren. Dies wird durch 4 verantwortlich für die Produktion des für den Calcium-
spezifische Rückresorption oder Ausscheidung von Ionen und Wasser stoffwechsel notwendigen 1,25-Dihydroxycholecalciferol
erreicht. Des Weiteren sind sie für die Erhaltung des Säure-Basen-Gleich- aus 25-Hydroxycholecalciferol,
gewichts wichtig, da sie überschüssige Säuren und Basen ausscheiden. 4 nach der Leber das wichtigste Organ der Gluconeogenese.
Darüber hinaus sind die Nieren an der Blutdruckkontrolle, der Erythro-
poese und des extrazellulären Calciumspiegels beteiligt und synthetisie-
ren wichtige Verbindungen wie Glucose. Die Funktion der Nieren steht 65.1.2 Aufbau des Nephrons
in engem Zusammenhang mit den Regelsystemen, die für den Wasser-
und Elektrolythaushalt verantwortlich sind. Jede Niere enthält 1–1,5 Millionen Nephrone
Für die Regulation des Wasserhaushalts und des Natrium- und Kalium- Die kleinste morphologisch und funktionell zusammengehörige
stoffwechsels sind die Hormone Vasopressin, Aldosteron und das atriale Grundeinheit der Nieren ist das in . Abb. 65.1 schematisch
natriuretische Peptid von besonderer Bedeutung. Ihr Ziel ist es, Natrium- dargestellte Nephron. Jede Niere enthält etwa 1‒1,5 Millionen
und Kaliumverluste gering zu halten und eine ausgeglichene Wasser- Nephrone, die jeweils in folgende Abschnitte unterteilt werden
bilanz zu erreichen. können:
4 Glomerulus mit Bowman-Kapsel
Schwerpunkte 4 proximaler Tubulus
4 Henle-Schleife
4 Aufbau und Funktionen des Nephrons
4 Macula densa
4 Substrate der renalen Energiegewinnung
4 distaler Tubulus
4 Produktion von 1,25-Dihydroxycholecalciferol und Erythro-
4 Verbindungstubulus
poetin durch die Nieren
4 corticales und medulläres Sammelrohr
4 Renale Natriumreabsorption und das Renin-Angiotensin-
System
Der Extrazellulärraum der Niere ist kompartimentiert
4 Bedeutung von Mineralocorticoiden und dem atrialen
Das Harnkanalsystem durchzieht zweimal die Nierenrinde und
natriuretischen Peptid ANP
zweimal das Nierenmark und wechselt dabei jeweils die Umge-
4 Wasserausscheidung und antidiuretisches Hormon
bungsbedingungen im Extrazellulärraum: Zwischen Rinde und
4 Haushalt von Natrium und Kalium
Mark bestehen wesentliche Unterschiede in den O2-Partialdru-
4 Renale Reabsorption von Monosacchariden, Peptiden und
cken (. Abb. 65.2). Wegen der relativ geringen Durchblutung des
Aminosäuren
Nierenmarks nimmt die O2-Versorgung von der Nierenrinde bis
4 Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts
zur Papille hin ab. Dementsprechend findet man die höchsten
mittleren O2-Drucke in der Rinde (ca. 80 mmHg), die dann zur
Papillenspitze bis auf 10 mmHg abfallen.
Zwischen Rinde und Mark bestehen auch wesentliche Un-
65.1 Funktionen und Aufbau der Nieren terschiede in der Osmolarität des Interstitiums, welche in der
Rinde 290 mosmol/l beträgt und bis zur Papillenspitze auf
65.1.1 Funktionen der Nieren 1.300 mosmol/l ansteigt (. Abb. 65.2). Die Erhöhung der Osmo-
larität beruht je zur Hälfte auf einem Anstieg der interstitiellen
Die Nieren haben eine Reihe von Funktionen, die für den Orga- Konzentrationen von NaCl und Harnstoff. Dieser Osmolaritäts-
nismus von besonderer Bedeutung sind. Sie sind: gradient ist für die Wasserresorption in der Niere essentiell (zu
4 verantwortlich für die ausgeglichene Bilanz von Na+- seiner Entstehung 7 Lehrbücher der Physiologie).
und K+-Ionen,
4 verantwortlich für eine ausgeglichene Wasserbilanz,
4 Ausscheidungsorgane für Calcium, Phosphat und Sulfat,

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_65, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
818 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Abb. 65.1 Anordnung der Nephronsegmente und des Sammelrohrsystems in den verschiedenen Nierenzonen. Zu beachten ist die charakteristische
Ultrastruktur der jeweiligen Tubulusabschnitte, insbesondere die Ausbildung des Bürstensaums zur Oberflächenvergrößerung und die Größe und Dichte
von Mitochondrien als Ausdruck aerober Energiegewinnung. 1 proximaler Tubulus, gewundener Teil; 2 proximaler Tubulus, gerader Teil; 3 dünne ab-
steigende Henle-Schleife; 4 dünne aufsteigende Henle-Schleife; 5 dicke aufsteigende Henle-Schleife; 6 Macula densa; 7 distaler Tubulus, gewundener
Teil; 8 Verbindungstubulus; 9 cortikales Sammelrohr (Hauptzelle); 10 innermedulläres Sammelrohr (Hauptzelle). (Adaptiert nach Kaissling u. Kriz aus
Seldin u. Giebisch 2000)

65.1.3 Funktionen des Nephrons TNF-α) bilden. Diese Vorgänge spielen eine Rolle bei intraglo-
merulären Entzündungsvorgängen (z. B. Glomerulonephritis).
In den Glomeruli werden wasserlösliche Die Funktion der Glomeruli ist die Herstellung eines weitge-
Plasmabestandteile nach ihrer Größe und Ladung hend protein- und lipidfreien Filtrates aus dem die glomerulären
als Primärharn abfiltriert Kapillarschlingen durchströmenden Blut. Dabei erfolgt eine Fil-
65 Aufbau und Funktion eines Glomerulus Die Glomeruli in jeder tration nach Molekülgröße und -ladung.
Nierenrinde verbinden das Blutgefäß- mit dem Harnkanalsystem.
Sie haben einen Durchmesser von 150–300 μm und bestehen aus Filtration nach Molekülgröße Durch einen dreilagigen Filter, der
ca. 30 miteinander verbundenen Kapillarschlingen, die sich aus aus dem fenestrierten Endothel im Kapillarinneren, der Basal-
einer afferenten Arteriole aufteilen. Ein Glomerulus enthält membran an der Außenseite der Kapillaren und der Schlitzmem-
3 Zelltypen (s. Lehrbücher der Anatomie und Physiologie): bran zwischen den Fußfortsätzen der Podocyten besteht, wird in
4 gefensterte Endothelzellen, welche die Kapillarschlingen den Glomeruli aus dem Blutplasma der Primärharn abgefiltert
innen auskleiden, und über die als Trichter wirkende Bowman-Kapsel dem Harn-
4 Podocyten, welche mit langen fußförmigen Fortsätzen kanalsystem zugeleitet. Die Poren der Endothelzellen (Durch-
außen auf den Kapillarschlingen aufsitzen und messer 50–100 nm) verhindern den Durchtritt von Blutzellen.
4 Mesangiumszellen im Inneren des Glomerulus, welche der Die dreischichtige 300 nm dicke Basalmembran enthält Lami-
mechanischen Halterung und Stützung der Kapillarschlin- nin, Fibronectin und Kollagen-Typ-IV und stellt einen mechani-
gen dienen. schen Filter für Stoffe dar, deren relative Molekülmasse größer als
400 kDa ist. Die Fortsätze der Podocyten stehen mit verbreiter-
Im Rahmen immunologischer Abwehrprozesse können die Mes- ten Füßchen direkt auf der Basalmembran und lassen zwischen
angiumszellen stimuliert werden, worauf sie über Expression von sich membranverbundene Schlitze frei, welche in vivo schmaler
MHC-II-Komplexen (7 Kap. 70.4.2) zur Antigenpräsentation als 5 nm sind. Der effektive Porenradius des Glomerulusfilters
fähig werden und große Mengen an Cytokinen (z. B. IL-1β, beträgt etwa 1,5–4,5 nm. Damit können Moleküle mit einer

Nierenrinde Nierenmark Außenstreifen Innenstreifen Nierenglomerulus


65.1 · Funktionen und Aufbau der Nieren
819 65

. Tab. 65.1 Glomeruläre Filtrierbarkeit biologischer Moleküle

Molekül Molekülmasse Glomeruläre Filtrierbarkeit


(Da) (%)

Wasser 18 100

Harnstoff 60 100

Glucose 180 100

Insulin 5.500 99

Myoglobin 16.000 75

Hämoglobin 64.458 3

Albumin 66.248 1

Plasmavolumens als wässriger, zellfreier und eiweißarmer Pri-


märharn abfiltriert. In beiden Nieren eines Erwachsenen werden
zusammen pro Minute im Normalfall ca. 125 ml Plasma-Ultra-
filtrat als Primärharn erzeugt. Dieser Wert wird als glomeruläre
Filtrationsrate (GFR) bezeichnet.
Der Primärharn enthält nicht nur ausscheidungspflichtige
Verbindungen, sondern auch für den Körper noch sehr wert-
volle Moleküle, auf die er unter keinen Umständen verzichten
kann. Hierzu gehören Monosaccharide, Aminosäuren, Oligo-
. Abb. 65.2 Profil des Sauerstoffdrucks (oben) und der Osmolarität
(unten) im Interstitium der verschiedenen Nierenzonen
peptide, Salze und natürlich auch Wasser. Das an den Glomeru-
lus angeschlossene Kanalsystem hat die Aufgabe, die wertvollen
Stoffe der Rückresorption zuzuführen und die möglichst effizi-
ente Eliminierung giftiger Stoffwechselendprodukte zu gewähr-
Masse bis zu 5 kDa ungehindert filtriert werden (. Tab. 65.1). leisten.
Darunter fallen Stoffwechselendprodukte wie Harnstoff, Kreati-
nin, Harnsäure etc., aber auch für den Körper wertvolle Substan- Die verschiedenen Funktionen der Niere sind jeweils
zen wie Wasser, Monosaccharide, Aminosäuren, Peptide, Elek- verschiedenen Tubulussegmenten zugeordnet
trolyte etc. Die verschiedenen Tubulusabschnitte haben jeweils spezifische
Funktionen zu erfüllen. Entsprechend werden die dafür not-
Filtration nach Ladung Die Schlitzmembranen zwischen den wendigen Funktionsproteine auch streng lokal exprimiert. Das
Fußfortsätzen der Podocyten sind von einer dicken negativ gela- gilt nicht nur für die zelltypspezifische Expression als solche,
denen neuraminsäurereichen Glycocalix (Hauptprotein Podoca- sondern auch für die subzelluläre Lokalisation der Funktions-
lixin, Molekülmasse 144 kDa) überzogen, welche die Molekül- proteine. Deren selektiver Einbau entweder in die luminale
durchlässigkeit durch die Filtrationsschlitze noch zusätzlich oder basolaterale Zellmembran bestimmt das Funktionsverhal-
hinsichtlich der Ladung der Stoffe beeinflusst. Damit spielt für ten der verschiedenen Tubuluszellen. So finden sich in den ver-
die Filtrierbarkeit neben der mechanischen Einschränkung schiedenen Tubuluszellen beispielsweise unterschiedliche lumi-
durch die Molekülgröße auch die Nettoladung der Moleküle eine nale Transportsysteme für die tubuläre Natriumresorption,
wichtige Rolle. Moleküle mit negativer Ladung treten schwerer während alle Tubuluszellen in der basolateralen Membran die
als solche mit positiver Ladung in die Schlitze zwischen den Na+/K+-ATPase enthalten, mit welcher sie aus der Tubulusflüs-
negativ geladenen Podocytenfortsätzen ein. Das ist funktionell sigkeit eintretendes Natrium wieder in die Blutbahn zurück-
besonders bedeutsam für die Proteinfiltration, da die Plasma- pumpen.
eiweißmoleküle in der Regel eine negative Überschussladung Wegen der Größe der glomerulären Filtrationsrate erbrin-
tragen, was neben ihrer Größe die Filtrierbarkeit zusätzlich re- gen die Nieren eine gewaltige Leistung bei der notwendigen Re-
duziert. absorption von Metaboliten, Elektrolyten und Wasser. Hieran
sind die verschiedenen Abschnitte des Nephron in unterschied-
Das tubuläre Kanalsystem der Nephrone ist lichem Ausmaß beteiligt (. Tab. 65.2). Die Reabsorption von
für die Rückresorption der für den Organismus Wasser und Natriumionen macht mengenmäßig den größten
wichtigen Verbindungen verantwortlich Anteil aus.
Aufgrund der Druckdifferenz zwischen dem Kapillarinneren
und der Bowman-Kapsel werden ca. 20 % des durchfließenden
820 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Tab. 65.2 Reabsorptionsleistung der verschiedenen Abschnitte des Nephrons

Gesamt Reabsorbiert in
(mol/24 h)
Proximalem Tubulus Henle-Schleife Distalem Tubulus
(%)
Dünner Teil Dicker, aufsteigender Ast Sammelrohr
(%) (%) (%)

Na+ 23 65 – 25 9
+
K 0,7 80 – 10 –
2+
Ca 0,2 65 – 25 9
2+
Mg 0,1 15 – 70 10

Cl 19 65 – 25 10

HCO3 – 4,3 80 – 10 10

H 2O 104 65 18 – 10

65.2 Energiestoffwechsel in der Niere


Zusammenfassung
Die Niere besitzt ein streng organisiertes Blutgefäßsystem, Die Natriumresorption determiniert wesentlich
das die Glomeruli speist. An diesen entspringt ein speziell den Energieverbrauch der Niere
aufgebautes Tubulussystem, das den filtrierten Primärharn Die Segmente des proximalen Tubulus, der dicken aufsteigenden
zum Endharn aufbereitet und über das Sammelrohrsystem Henle-Schleife und des Konvoluts des distalen Tubulus besitzen
dem Nierenbecken zuleitet. eine hohe Dichte an Mitochondrien, welche palisadenartig an
In den Glomeruli wird der Primärharn als Ultrafiltrat des Blut- der basalen Zellmembran angeordnet sind. Dieser Mitochondri-
plasmas gewonnen. Die Filtrationsrate des Primärharns enreichtum ist ein Hinweis auf den hohen Bedarf an oxidativ
hängt vom effektiven Filtrationsdruck und der filtrierenden erzeugter Energie in Form von ATP. 80 % des Energieumsatzes
Kapillaroberfläche ab. Die Zusammensetzung des Primär- wird zum Betrieb der Na+/K+-ATPase verwendet, welche in der
harns wird von der Filtereigenschaft des Glomerulus nach basalen Membran sitzt und den für den Natriumtransport wich-
Molekülradius und Molekülladung bestimmt. tigen transzellulären Natriumgradienten erzeugt und aufrechter-
Im proximalen Tubulus werden hält. Entsprechend korreliert der Energieverbrauch der Niere mit
4 über 60 % des filtrierten Wassers, Kochsalzes und der tubulären Na+-Resorption, da alle luminalen Na+-Aufnah-
Kaliums resorbiert, mesysteme von diesem Gradienten abhängig sind. Weil die tubu-
4 filtrierte Glucose und Aminosäuren vollständig und läre Na+-Resorption von der filtrierten Na+-Menge abhängt,
Hydrogencarbonat zu über 90 % resorbiert, wird der Energieverbrauch der Niere von der glomerulären Filt-
4 Ammoniak und Protonen in Form von Ammoniumionen rationsrate (GFR) bestimmt.
65 ausgeschieden.
Die Sauerstoffversorgung der Niere ist inhomogen
Der interstitielle Osmolaritätsgradient zwischen Mark und Die Niere erzeugt ATP hauptsächlich durch oxidative Phospho-
Rinde ist die Voraussetzung für die Harnkonzentrierung im rylierung. Bei normaler GFR liegt der O2-Verbrauch bei
dünnen absteigenden Teil der Henle-Schleife und im Sam- 0,06 ml × min–1 × g–1. Da die Durchblutung mit 4 ml × min–1 × g–1
melrohr. recht hoch ist, braucht die Niere damit nur ca. 7 % (0,015 ml O2/
Die Henle-Schleife und der distale Tubulus resorbieren aktiv ml Blut) des antransportierten Sauerstoffs zu extrahieren, wo-
über 30 % des filtrierten NaCl sowie Ammonium, Calcium, durch der Sauerstoffdruck im Nierenvenenblut mit etwa
Magnesium und Wasser. Im konvergierenden Sammelrohr- 60 mmHg noch sehr hoch bleibt. Diese Luxusdurchblutung darf
system wird die Endzusammensetzung des Harns festgelegt. aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sauerstoffversor-
gung innerhalb der Niere recht inhomogen ist und die O2-Drucke
im schlecht durchbluteten inneren Nierenmark bis auf 10 mmHg
absinken. Entsprechend ist der spezifische O2-Verbrauch in der
Papille (0,004 ml . min–1 . g–1) um den Faktor 20 niedriger als in
der Rinde (0,09 ml . min–1 . g–1).
65.3 · Endokrine Aktivitäten der Niere
821 65
Fettsäuren und Ketonkörper sind die
Hauptsubstrate für die renale Energiegewinnung
Die quantitativ bedeutsamsten Substrate für die oxidative Phos-
phorylierung in der Niere sind Acetacetat, β-Hydroxybutyrat
und Fettsäuren.
Glucose spielt im proximalen Tubulus der normalen Niere als
Energieträger eine nachgeordnete Rolle. Erst in den nachgeschal-
teten Tubulusabschnitten wird vermehrt Glucose verstoffwech-
selt, wobei die Aktivität der Glycolyse zum distalen Nephron hin
zunimmt.
Der proximale Tubulus ist hingegen zur Gluconeogenese
fähig. Hierfür nutzt er v. a. die Aminosäure Glutamin, aus wel-
cher durch Glutaminase und Glutamatdehydrogenase zweimal
NH3 abgespalten wird und α-Ketoglutarat entsteht, das als Aus-
gangssubstrat für die Gluconeogenese dient.

Zusammenfassung
Die tubuläre Natriumresorption bestimmt hauptsächlich den
Energieverbrauch der Niere. Die Energiegewinnung erfolgt in
der Rinde primär aerob, im Mark zunehmend auch anaerob,
weil die Sauerstoffversorgung des Nierenmarks wesentlich
schlechter als die der Rinde ist. Der proximale Tubulus hat die
. Abb. 65.3 Abhängigkeit der Plasmakonzentration des Erythropoetin
Fähigkeit zur Gluconeogenese, nutzt selbst aber keine Glu- von der Hämoglobinkonzentration des Blutes bei Nierengesunden und
cose, sondern Fettsäuren zur oxidativen Energiegewinnung. Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz. Der gelbe Punkt gibt den
Normalwert wieder

Für die EPO-Bildung ist der O2-Gehalt des Blutes entschei-


65.3 Endokrine Aktivitäten der Niere dend. Eine verminderte O2-Zufuhr zur Nierenrinde stimuliert
die EPO-Bildung, eine erhöhte O2-Zufuhr unterdrückt sie. Ent-
1,25-Dihydroxycholecalciferol Die Bildung von aktivem Vita- sprechend führen arterielle Hypoxie und Anämie abhängig von
min D3 ist ein mehrstufiger Prozess, der im proximalen Tubu- ihrem Schweregrad zu Steigerungen der EPO-Produktion und
lus  der Niere seinen Abschluss findet. Durch das Enzym EPO-Plasmaspiegeln, wobei bis zu 10.000fache Erhöhungen ge-
1α-Hydroxylase entsteht dort aus 25-Hydroxycholecalciferol das genüber dem Normwert gemessen werden können. Ein O2-
1,25-Dihydroxycholecalciferol als die biologisch aktive Wirk- Überangebot an die Niere, z. B. bei Polyzythämie, führt zu einer
form von Vitamin D3 (7 Kap. 58.3.3). Hemmung der EPO-Produktion. Zwischen der Hämoglobin-
konzentration und der Plasma-EPO-Konzentration ergibt sich
Erythropoetin Das Cytokin Erythropoetin (EPO) ist der zen- so ein inverser Zusammenhang (. Abb. 65.3). Die EPO-Bildung
trale hormonelle Regulator der Erythropoese. Daneben mehren in den peritubulären Fibroblasten wird direkt vom Gewebe-
sich die Befunde, dass EPO zusätzlich in ischämischen Geweben sauerstoffdruck reguliert, welcher vom Verhältnis des O2-An-
(Gehirn, Herz) protektiv wirkt. Im Rahmen der Erythropoese transportes zum O2-Verbrauch bestimmt wird.
wirkt es als Mitogen, als Differenzierungsfaktor und als Überle- Bei degenerativen Nierenerkrankungen ist die Regulation der
bensfaktor für erythroid determinierte Vorläuferzellen im Kno- EPO-Bildung deutlich gestört. Augenfällig wird dieser Defekt bei
chenmark (7 Kap. 68.1.1). Betrachtung der Beziehung zwischen der Hämoglobinkonzentra-
EPO ist ein Glykoprotein mit einer Molekülmasse von tion und der Plasma-EPO-Konzentrationen. Die für den Nieren-
30 kDa, wovon 16 kDa auf den Proteinanteil und 14 kDa auf den gesunden charakteristische inverse Beziehung zwischen der
Kohlenhydratanteil entfallen. Der Kohlenhydratanteil (v. a. die Hämoglobinkonzentration und der EPO-Konzentration ist beim
terminalen Sialinsäuren) wird für die Interaktion von EPO mit chronisch Nierenkranken dahingehend verändert, dass die kran-
seinem zur Familie der Cytokinrezeptoren zählenden Rezeptor ken Nieren bei Anämie nicht vermehrt EPO bilden (. Abb. 65.3),
auf der Zelloberfläche der erythroiden Zielzellen nicht benötigt. weshalb eine kompensatorische Stimulation der Erythopoese
Er ist aber für die biologische Halbwertszeit und damit für die ausbleibt. In der Folge bildet sich eine immer ausgeprägtere Anä-
Verfügbarkeit von EPO sehr wichtig. EPO wird in Niere, Leber mie aus, welche charakteristisch für chronische Nierenerkran-
und Gehirn gebildet. Während es vom Feten hauptsächlich noch kungen ist und als renale Anämie bezeichnet wird. Menschliches
in der Leber produziert wird, bilden ab dem Kindesalter die Nie- EPO wird mittlerweile gentechnisch hergestellt und steht so zur
ren ca. 90 % des gesamten EPO im Körper. In der Niere wird EPO effektiven Therapie der renalen Anämie zur Verfügung.
von speziellen Fibroblasten zwischen den proximalen Tubuli in Die EPO-Bildung ist die Folge einer verstärkten Transkrip-
der Nierenrinde gebildet. tion des EPO-Gens. Diese wird durch den Transkriptionsfaktor
822 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

ning. Wegen des verminderten Sauerstoffdruckes in der


Höhe führt es zu einer verstärkten Bildung des körpereige-
nen EPOs, wodurch dann die Erythropoese angeregt wird.
Das Ausmaß der Erythropoesesteigerung durch Höhentrai-
ning ist allerdings begrenzt.
Wesentlich stärkere Anstiege der Erythrocytenzahl ohne
Höhenaufenthalt lassen sich mit der Verabreichung von
gentechnisch hergestelltem EPO erzielen. Dieser Einsatz
birgt allerdings gesundheitliche Risiken, weil sich durch den
Anstieg der Erythrocytenzahl die Blutviskosität erhöht.
Dadurch erhöht sich aber die Gefahr der Thrombenbildung,
außerdem ist eine verstärkte Herzarbeit erforderlich, um das
Blut (v. a. bei körperlicher Belastung) durch das Kreislauf-
system zu treiben. Diese Komplikationen führen nicht selten
zum plötzlichen Herztod. Die Leistungssteigerung durch
EPO-Gabe ist bei Sportlern daher nicht erlaubt und unter-
. Abb. 65.4 Transkriptionsregulation des Erythropoetin-Gens durch den liegt dem Doping-Verbot.
Hypoxie-induzierbaren Faktor (HIF). (Einzelheiten s. Text)

HIF (hypoxia-inducible factor) ausgelöst, der als Heterodimer aus Zusammenfassung


einer - und einer β-Untereinheit besteht. Beide Untereinheiten Die Niere ist ein endokrines Organ:
werden ständig mit konstanter Rate synthetisiert, die Stabilität 4 Durch die Bildung von aktivem Vitamin D3 tragen die
des HIF-α-Proteins ist jedoch abhängig vom O2-Druck. Bei Nieren wesentlich zur Regulation des Calciumhaushaltes
höheren O2-Drucken wird HIF-α durch eine O2-abhängige bei.
Prolinhydroxylase hydroxyliert. Dies ist ein Signal zur verstärk- 4 Mit der Bildung von Erythropoetin steuert die Niere
ten Ubiquitinierung mit anschließendem Abbau im Proteasom essentiell die Neubildungsrate von Erythrocyten.
(7 Kap. 50). Mit verminderter Verfügbarkeit von O2 (sinkender
pO2) nimmt daher die Ubiquitierung von HIF-α ab; es wird
weniger rasch abgebaut. Dadurch steigt die HIF-α-Konzentra-
tion in der Zelle, es wird mehr aktiver HIF gebildet. HIF bin- 65.4 Natriumhaushalt und renale
det an ein enhancer-Element in der nichtcodierenden 3ʹ-Re- Natriumreabsorption
gion des EPO-Gens und steigert so dessen Transkriptionsrate
(. Abb. 65.4). 65.4.1 Natriumbilanz
Zusätzlich hemmt eine O2-abhängige Asparaginhydroxylie-
rung noch das Transaktivierungspotential von HIF-α. Über 90 % des Körpernatriums befinden sich in
Dieser Mechanismus der O2-abhängigen Modulierung von freier oder gebundener Form im Extrazellulärraum
HIF ist in vielen Körperzellen zu finden und dient den Zellen Der Gesamtnatriumbestand des Menschen liegt bei 55–60 mmol/
65 zum Schutz vor Sauerstoffmangelzuständen. HIF aktiviert näm- kg Körpergewicht (entspricht 1,2‒1,4 g Natrium/kg), welches
lich nicht nur die Bildung von EPO, sondern auch die Bildung sich zu 95 % auf den Extrazellulär- und zu 5 % auf den Intrazel-
von z. B. Glucosetransportern, glycolytischen Enzymen und Ge- lulärraum verteilt. Davon befinden sich 30–40 % des Natriums
fäßwachstumsfaktoren (VEGF). in gebundener Form im Knochen, weshalb nur 60–70 % des Kör-
pernatriums rascher austauschbar sind (. Tab. 65.3).
Die obligaten täglichen Natriumverluste betragen bei norma-
Übrigens ler Schweißproduktion weniger als 3 g NaCl pro Tag. Normaler-
Doping mit Erythropoetin weise führt man mit der Nahrung täglich 5–20 g NaCl (80–
Da der durch die Erythrocyten vermittelte Sauerstofftrans- 320 mmol) zu. Diese Menge liegt damit über dem täglichen Be-
port im Blut leistungslimitierend v. a. für Ausdauersport- darf. Dabei enthält die täglich zugeführte Nahrung selbst selten
arten wirkt, versuchen Sportler über eine Erhöhung ihrer mehr als 200 mmol Natrium, der Rest wird in Form von Tafelsalz
Erythrocytenzahl ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Eine (Kochen und Würzen) aufgenommen.
Erhöhung der Hämoglobinkonzentration um 0,3g/100 ml Die Ausscheidung erfolgt im Wesentlichen über den Urin
führt zu einer Steigerung der Ausdauerleistungsfähigkeit und liegt bei 100–150 mmol/24 h, abhängig von der zugeführten
um etwa 1 %, was im Spitzensport entscheidend sein kann. Salzmenge. Die Ausscheidung unterliegt einem 24-h-Rhythmus.
Eine traditionelle, legale Methode ist dabei das Höhentrai- Eine geringe Menge (5 mmol/24 h) wird auch über den Stuhl
6 ausgeschieden. Die Verdauungssäfte enthalten zwar viel Nat-
rium, da sie aber normalerweise im Darm reabsorbiert werden,
65.4 · Natriumhaushalt und renale Natriumreabsorption
823 65

. Abb. 65.5 Die Mechanismen der Natriumresorption in den verschiedenen Tubulusabschnitten. Rote Kreise: Na+/K+-ATPase. AS: Aminosäuren.
(Einzelheiten s. Text)

geht dem Organismus kein Natrium verloren. Störungen der Re-


. Tab. 65.3 Daten zum Natriumstoffwechsel absorption (Durchfälle) können dagegen zu Natriumverlusten
führen.
Verteilung von Natrium mmol/kg Prozentualer
im Organismus Körper- Anteil an der Über die Haut geht bei starkem Schwitzen Natrium verloren
gewicht Gesamtmenge (20–80 mmol/l).

Plasma 6,5 11,2 Eine Erhöhung der Natriumausscheidung erfordert


Interstitielle Flüssigkeit, Lymphe 16,8 29,0 oft auch eine Erhöhung der Wasserausscheidung
Sehnen und Knorpel 6,8 11,7 Die natriumkonservierenden Mechanismen sind wie bei allen
terrestrischen Lebewesen sehr effektiv, sodass es unter physio-
Transzelluläre Flüssigkeit 1,5 2,6
logischen Bedingungen und bei normaler Kost nicht zu einem
Knochen (gesamte Menge) 25,0 43,1 signifikanten Natriummangel kommen kann. Da die durch-
Knochen (austauschbare Menge) 8,0 13,8 schnittliche Natriumzufuhr deutlich über dem obligaten
Gesamt- im Extrazellulärraum 39,6 68,3 Natriumverlust liegt (s. o.), ist die Konstanz des auch das Extra-
menge (austauschbar) zellulärvolumen bestimmenden Natriumbestands des Orga-
im Extrazellulärraum 56,6 97,6
nismus an die fortlaufende renale Elimination von überschüs-
(gesamt) sigem Kochsalz gebunden. Dabei ist zu bedenken, dass wegen
der Harnstoffausscheidung bei maximaler Konzentration des
im Intrazellulärraum 1,4 2,4
Endharns (1.200 mosmol/l) die Konzentration von NaCl im
im Organismus 58,0 100,0
Endharn höchstens 200 mmol/l (entspricht 400 mosmol/l)
Natriumkonzentration des Blutplasmas 140 mmol/l betragen kann. Entsprechend können höhere NaCl-Mengen
Normalbereich 135–145 mmol/l nur über ein erhöhtes Urinvolumen ausgeschieden werden,
Tägliche Ausscheidung mit dem Urin 100–150 mmol
was natürlich auch eine erhöhte Trinkmenge an freiem Wasser
Tägliche Zufuhr mit der Nahrung 70–350 mmol
erfordert (s. o.).
824 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Abb. 65.6 Modell der Membranintegration des Na+/H+-Austauschers-1 (NHE-1). Die Zylinder stellen die transmembranären Domänen dar. Die für den
Ionentransport verantwortlichen Domänen sind rot hervorgehoben. Die Regulation der Aktivität erfolgt über das C-terminale cytosolische Ende. In der
Zellmembran bilden wahrscheinlich zwei Antiportmoleküle ein Dimer. (Adaptiert nach Ritter M et al. 2001)

65.4.2 Renale Reabsorption von Natrium

Über 99 % des filtrierten Natriums werden


im Tubulussystem reabsorbiert
Das glomerulär filtrierte Na+ (23 mol/Tag) wird zu etwa 65 % im
proximalen Tubulus, zu 25 % in der aufsteigenden Henle-Schleife,
zu 7 % im distalen Tubulus und zu 3 % im Verbindungstubulus/
Sammelrohr rückresorbiert. Im Normalfall werden weniger als 1 %
des filtrierten Natriums mit dem Urin ausgeschieden (. Abb. 65.5).
Allgemeine Triebkraft für die Na+-Resorption ist das zellein-
wärts gerichtete Konzentrationsgefälle für Natrium zwischen der
Tubulusflüssigkeit und der Tubuluszelle. Dieses Konzentrations-
gefälle wird durch die Aktivität der Na+/K+-ATPase (7 Kap. 11.5)
erzeugt, welche in der basolateralen Membran der Tubuluszellen . Abb. 65.7 Regenerierung von Protonen für den Na+/H+-Austausch im
lokalisiert ist. proximalen Tubulus bei gleichzeitiger Hydrogencarbonatresorption. CA II:
Der Mechanismus der Na+-Aufnahme in die Tubuluszellen Carboanhydrase II, im Cytosol lokalisiert; CA IV: Carboanhydrase IV, mit einem
65 hängt von deren Lokalisation ab (. Abb. 65.5). GPI-Anker in der Membran des Bürstensaums verankert; 7 tight juction

Proximaler Tubulus Hier erfolgt die apikale Na+-Aufnahme Dünner aufsteigender Teil der Henle-Schleife Hier wird Natrium
hauptsächlich durch Symport mit Glucose, Aminosäuren passiv reabsorbiert. Diese Tubuluszellen besitzen eine hohe
(. Abb. 65.5) oder Säureanionen (s. u.) oder durch Antiport mit Chloridpermeabilität wegen zahlreicher Chloridkanäle (ClC-
Protonen. Der Na+/H+-Austauscher (. Abb. 65.6) befördert pro Ka, chloride channel-kidney a) in der luminalen und basolatera-
eintretendem Na+-Ion ein Proton aus der Tubuluszelle in die Tu- len Membran. Da die Interzellularkontakte in diesem Tubulusab-
bulusflüssigkeit. Der Mechanismus der Regenerierung der für schnitt für Kationen permeabel sind, diffundiert aufgrund eines
den Na+-Transport benötigten Protonen ist in . Abb. 65.7 darge- starken Konzentrationsgradienten zwischen der aufkonzentrier-
stellt und entspricht einem gleichartigen Transportsystem im ten Tubulusflüssigkeit und dem Interstitium NaCl passiv aus der
Ileum (7 Kap. 61.3.4). Der Export des durch die Carboanhydra- Tubulusflüssigkeit in das Interstitium.
se II gebildeten HCO3‒ erfolgt durch einen Na+/HCO3‒-Sympor-
ter in der basolateralen Membran. Er transportiert 3 HCO3– pro Dicker aufsteigender Teil der Henle-Schleife Na+ wird hier über
Na+ (Stöchiometrien in . Abb. 65.7 nicht dargestellt). Eine nicht- einen Na+/K+-2Cl–-Symport in der luminalen Membran resor-
selektive passive Na+-Resorption im proximalen Tubulus erfolgt biert. Über zahlreiche Kaliumkanäle in der luminalen Mem-
zusätzlich durch den starken parazellulären Wasserfluss (solvent bran diffundieren die über den Cotransport in die Zelle eintreten-
drag, s. u.). Die Na+-Resorption im proximalen Tubulus wird den K+-Ionen zum größten Teil in die Tubulusflüssigkeit zurück
durch Angiotensin II stimuliert (7 Kap. 65.4.3). und stehen somit wieder für den Cotransport zur Verfügung. Die
65.4 · Natriumhaushalt und renale Natriumreabsorption
825 65
Cl–-Ionen verlassen mittels Diffusion die Zelle über spezifische
Chloridkanäle (ClC-Kb, chloride channel-kidney b) und zu einem
geringeren Teil über einen KCl-Symport an der basolateralen Sei-
te. Dabei entsteht bei diesem Transport eine negative Überschuss-
ladung im Interstitium. Diese Potentialdifferenz treibt Kationen
(Na+, Mg2+, Ca2+, NH4+) parazellulär in das Interstitium.

Konvolut des distalen Tubulus Natrium wird über einen lumina-


len NaCl-Symport reabsorbiert, wobei auch hier das Konzentra-
tionsgefälle für Natrium zwischen der Tubulusflüssigkeit und der
Tubuluszelle die Triebkraft für den Cotransport liefert. Na+ wird
basolateral hinausgepumpt und Chlorid verlässt die Zelle über
einen KCl-Symport. Das hierfür benötigte K+ rezirkuliert über
die Aktivität der Na+/K+-ATPase.
. Abb. 65.8 Biosynthese und Abbau von Angiotensin II. Die Umwandlung
von Angiotensin I in Angiotensin II erfolgt v. a. an den Gefäßendothelien
Überleitungsstück und Sammelrohr Die Na+-Reabsorption
er- durch das angiotensin converting enzyme (ACE)
folgt über spezifische Na+-Kanäle (ENaC) in der apikalen Mem-
bran der Hauptzellen, während K+ im Gegenzug durch apikale
K+-Kanäle aus der Hauptzelle in die Tubulusflüssigkeit diffun- aus der Duplikation eines Vorläufergens entstanden sein muss,
diert. Da basolateral über die Na+/K+-ATPase Na+ aus der Zelle da es zwei alternative Promotoren enthält:
und K+ in die Zelle gepumpt werden, findet in den Hauptzellen 4 Die unter Benutzung des 5ʹ-gelegenen Promotors abgelese-
somit netto eine Natriumresorption und eine Kaliumsekretion ne mRNA codiert für das somatische ACE, welches eine
statt. Die Zahl und Aktivität der Na+-Kanäle und der Na+/K+- molekulare Masse von 170 kDa hat und zwei funktionelle
ATPase in den Hauptzellen wird durch das Nebennierenrinden- Domänen mit je einem aktiven Zentrum enthält. Die Ami-
hormon Aldosteron (s. u.) gesteigert. nosäuresequenz am aktiven Zentrum entspricht derjenigen
einer Zinkprotease.
4 Außer diesem somatischen ACE gibt es noch ein Keimzell-
65.4.3 Regulation des Natriumhaushalts ACE, welches in reifen Spermatiden exprimiert wird, und
für die männliche Fertilität wichtig ist. Es entsteht dadurch,
Die Regulation der Natriumkonzentration des Intrazellulär- dass der zweite Promotor des ACE-Gens benutzt wird und
raums erfolgt über die Na+/K+-ATPase (7 Kap. 11.5), die des Ext- führt zu einer ACE-Form, die nur über ein aktives Zentrum
razellulärraums hauptsächlich über das Renin-Angiotensin- verfügt.
Aldosteron-System und das atriale natriuretische Peptid.
Zusätzlich zu diesem klassischen ACE ist mittlerweile eine zwei-
Das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) te Form eines angiotensin converting enzyme (ACE-2) bekannt,
sorgt für eine Zunahme des Natriumbestands welches Angiotensin I und II um jeweils eine Aminosäure ver-
Renin Renin ist eine Aspartylprotease mit einer Molekülmasse kürzt und so Ang1–9 bzw. Ang1–7 erzeugt. Die biologische Be-
von ca. 40 kDa. Es wird als enzymatisch inaktive Vorstufe (Pro- deutung von ACE-2 liegt darin, dass es zum einen das biologisch
renin) von den Epitheloidzellen des juxtaglomerulären Apparats aktive Angiotensin II abbaut und dabei mit Ang1‒7 einen neuen
synthetisiert und darin in Speichergranula verpackt. In diesen biologischen Effektor erzeugt, welcher gegensätzliche Wirkun-
Vesikeln wird es durch Proteolyse zu Renin aktiviert, welches gen zum AngII entfaltet.
durch regulierte Exocytose aus den Zellen ausgeschleust wird.
Angiotensin Das ursprünglich aus Angiotensinogen gebildete
Angiotensinogen Das einzige Substrat der Protease Renin ist das Peptid Angiotensin II ist das eigentliche Hormon des Renin-
Glykoprotein Angiotensinogen (Molekülmasse ca. 60 kDa), das Angiotensin-Systems. Seine biologischen Wirkungen sind:
hauptsächlich in der Leber, daneben aber auch vom Fettgewebe 4 zentrale Auslösung von Durstgefühl und Salzappetit, was
gebildet wird. Renin spaltet im Plasma vom Angiotensinogenmo- die Salz- und Wasserzufuhr in den Körper erhöht (7 Kap.
lekül ein N-terminales Dekapeptid ab, das Angiotensin I, welches 65.5.3),
durch das angiotensin-I-converting-enzyme (ACE) um zwei Amino- 4 Steigerung der Freisetzung von antidiuretischem Hormon
säuren zum Oktapeptid Angiotensin II (AngII) verkürzt wird (ADH) aus dem Hypophysenhinterlappen, welches die Was-
(. Abb. 65.8). Wegen ihrer hohen Aktivität an converting enzyme serreabsorption in den Sammelrohren der Niere erhöht
spielen die Lunge und die Niere eine besonders wichtige Rolle. (7 Kap. 65.5.3),
Das menschliche ACE ist über eine C-terminale, hydropho- 4 Steigerung der Natriumreabsorption direkt am proximalen
be, α-helicale Region in der Plasmamembran vieler Zellen, vor Tubulus,
allen Dingen von Endothelzellen und glatten Muskelzellen, ver- 4 Stimulation der Bildung des Mineralocorticoidhormons
ankert. In geringer Aktivität lässt sich ACE auch im Plasma nach- Aldosteron in der Zona glomerulosa der Nebennierenrinde,
weisen. Es wird von einem Gen von 21 kb Größe codiert, welches 4 durch Vasokonstriktion Erhöhung des arteriellen Blutdrucks.
826 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

An der Signaltransduktion von Angiotensin II sind A


AT1- und AT2-Rezeptoren beteiligt
Alle genannten Angiotensin-II-Wirkungen werden über Angio-
tensin-II-AT1-Membranrezeptoren vermittelt. Sie gehören zur
Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (7 Kap. 35.3).
Ihre Effekte beruhen auf einer Aktivierung der Phosphatidylino-
sitolkaskade und damit auf einer Erhöhung der intrazellulären
Calciumkonzentration und Stimulation der Proteinkinase C
(7 Kap. 35.3.3). AT1-Rezeptoren können außerdem die Ade-
nylatcylase sowie bestimmte K+-Kanäle hemmen und damit Zel-
len depolarisieren. In zahlreichen (v. a. fetalen) Geweben finden
sich als weitere Isoform der Angiotensinrezeptoren die AT2-
Rezeptoren. AT1- und AT2-Rezeptoren sind in der Aminosäure-
sequenz zu 34 % identisch. Die physiologische Bedeutung und
der Signaltransduktionsmechanismus des AT2-Rezeptors sind
noch nicht eindeutig geklärt. Beim Erwachsenen wird der AT2-
Rezeptor im Areal von Hautverletzungen besonders stark expri-
miert. Man nimmt daher an, dass er eine Rolle bei der Wundhei-
lung spielt. Beobachtungen an AT2-Knockout-Mäusen sprechen
weiterhin dafür, dass AT2-Rezeptor-vermittelte Wirkungen die
Blutdruckwirkungen des AT1-Rezeptors abschwächen. B

Die Aktivität des Renin-Angiotensin-Systems (RAS)


wird durch Rückkopplung reguliert
Die wesentliche physiologische Funktion des RAS besteht in der
Erhöhung oder Normalisierung eines erniedrigten Extrazellulär-
volumens oder Blutdrucks. Dabei kommt dem Renin eine
Schlüsselfunktion zu:
4 Seine Freisetzung wird durch einen Blutdruckabfall in den
afferenten Arteriolen der Niere und durch eine Reduktion
des Extrazellulärvolumens, z. B. bei Natriummangel, stimu-
liert (. Abb. 65.9A). Ein expandiertes Extrazellulärvolumen
bei Salzüberschuss bewirkt eine Hemmung der Reninfrei-
setzung und damit eine Hemmung der AngII-Bildung. . Abb. 65.9 Regulation von Reninsynthese und Reninsekretion in rena-
len juxtaglomerulären Epitheloidzellen. A Regulation der Reninsekretion
4 Weiterhin stimulieren Adrenalin und Noradrenalin (β1-
durch negative Rückkopplung. B Antagonistische Regulation der Renin-Gen-
Rezeptoren) und Dopamin (D1-Rezeptoren) die Reninfrei- expression und Reninsekretion durch Adrenalin (über Adrenorezeptoren)
setzung über die Aktivierung des cAMP-Signalwegs (. Abb. und Angiotensin II (über AngII-AT1-Rezeptoren). Aktivierung der Adenylat-
65.9B). Entsprechend führt auch eine Aktivitätssteigerung cyclase (AC) und der damit verbundene Anstieg von cAMP stimuliert die
der sympathischen Nierennervenfasern zu einer Stimula- Reningentranskription und die Reninsekretion. Die Aktivierung der Phos-
65 tion der Reninsekretion, was erklärt, warum Stress-Situatio- pholipase C (PLC) und die damit verbundene Steigerung der IP3-Konzentra-
tion (PKC) lösen einen Anstieg der cytosolischen Calciumkonzentration aus,
nen mit einer verstärkten Reninsekretion einhergehen. wodurch Renin-Gentranskription und Reninsekretion gehemmt werden
4 Die blutdruck- und volumensteigernde Wirkung des RAS
wird dadurch begrenzt, dass ein erhöhter Blutdruck bzw.
Salzüberschuss die Reninfreisetzung wieder hemmt (. Abb.
65.9A).
4 Auch AngII selbst hemmt im Sinne einer direkten negativen Angiotensin stimuliert die Bildung des
Rückkopplung über AT1-Rezeptoren die Reninfreisetzung Mineralocorticoidhormons Aldosteron
(. Abb. 65.9A), was sich auch daran erkennen lässt, dass die Folgende Faktoren sind für die Regulation der Aldosteronbio-
Behandlung mit AT1-Rezeptorblockern oder ACE-Inhibi- synthese und Sekretion von besonderer Bedeutung:
toren zu einer deutlichen Steigerung der Reninsekretion 4 AngII stimuliert über AT1-Rezeptoren die Aldosteronbio-
führt. synthese und -sekretion. ACTH (7 Kap. 39.1.3) hat dagegen
4 Auf zellulärer Ebene wird die Renin-Genexpression durch eine geringere Bedeutung.
cAMP und durch Calcium (Phosphatidylinositolweg) ge- 4 Jeder Anstieg der Plasmakaliumkonzentration stellt einen
genläufig reguliert (. Abb. 65.9B). starken direkten Reiz für die Aldosteronsynthese dar (s. u.).
4 Zu einem Sistieren der Aldosteronbildung und Sekretion
kommt es dagegen, wenn die Natriumretention durch die
Nieren bzw. die Kaliumausscheidung ansteigt und sich das
65.4 · Natriumhaushalt und renale Natriumreabsorption
827 65
extrazelluläre Volumen bei gleichzeitigem Kaliumverlust
erhöht.

Die Mineralocorticoide Corticosteron und


Aldosteron werden aus Cholesterin synthetisiert
Die Mineralocorticoide 11-Desoxycorticosteron und Aldoste-
ron werden aus Cholesterin synthetisiert (. Abb. 65.10). Durch
Oxidation am C-Atom 3 und Verschieben der Doppelbindung
zwischen C5 und C6 entsteht Progesteron. Durch Hydroxylie-
rung an den Positionen 21β, 18β und 11β wird daraus 18-Hy-
droxycorticosteron. Das beim Menschen wichtigste Mineralo-
corticoid, das Aldosteron, wird aus 18-Hydroxycorticosteron
durch Oxidation der Hydroxylgruppe am C-Atom 18 gebildet.
Die dabei entstehende Aldehydgruppe, welche dem Aldosteron
seinen Namen gibt, kommt der Hydroxylgruppe am C-Atom 11
so nahe, dass sich eine Halbacetalform des Aldosterons ausbil-
den kann, in der es in wässriger Lösung bevorzugt vorliegen
dürfte.

Mineralocorticoide fördern
die Natriumretention in der Niere
Mit Ausnahme der Androgene steigern alle Corticosteroidhor-
mone, besonders jedoch die Mineralocorticoide, die Rückre-
sorption von Natriumionen in den Verbindungstubuli und Sam-
melrohren der Niere. Parallel zur gesteigerten Natriumretention
kommt es zu einer gesteigerten Ausscheidung von Kalium-, Was-
serstoff- und Ammoniumionen, was zu einer Abnahme der Ka-
liumkonzentration im Serum führt. Auch in den Schweißdrüsen,
den Speicheldrüsen und im Intestinaltrakt wird die Ausschei-
dung von Natriumionen verlangsamt.
In ihrer Wirksamkeit auf den Mineralstoffwechsel unter-
scheiden sich die einzelnen Steroidhormone der Nebennieren-
rinde beträchtlich voneinander. Aldosteron ist 1.000-mal wirk-
samer als Cortisol und ungefähr 35-mal effektiver als 11-Desoxy-
corticosteron.

Aldosteron wirkt über einen Rezeptor aus


der Superfamilie der Steroidhormonrezeptoren
Der molekulare Wirkungsmechanismus des Aldosterons ähnelt
dem der anderen Steroidhormone der Nebennierenrinde.
Das Hormon wird in die Zelle aufgenommen und bindet an
einen cytosolischen Mineralocorticoidrezeptor, der zur
Superfamilie der Steroidhormonrezeptoren gehört (7 Kap. 35.1).
An diesen Rezeptor können prinzipiell auch Cortison und
Corticosteron binden, welche im Plasma in 100- bis 1.000fach
höherer Konzentration als Aldosteron vorkommen. Die Zielge-
webe von Aldosteron bilden daher das Enzym 11β-Hydroxy-
steroiddehydrogease 2, welches 11β-Hydroxyglucocorticoide
(Cortisol, Corticosteron) inaktiviert, womit sie für Aldosteron
selektiv werden.
Eine besonders hohe Konzentration von Aldosteronrezep-
toren findet sich in den corticalen Abschnitten der Sammelroh-
re der Niere, darüber hinaus im Colon und den Schweißdrüsen, . Abb. 65.10 Biosynthese der Mineralocorticoide 11-Desoxycorticosteron
was auf diese Organe als besondere Zielgewebe für die Mineralo- und Aldosteron. Für die Biosynthese des Aldosterons ist eine Hydroxylierung
corticoidwirkung hinweist. an den Positionen 21, 18 und 11 des Progesterons notwendig. Vgl. hierzu die
Hydroxylierung bei der Biosynthese des Cortisols (7 Kap. 40.2.2)
Wie aus der . Abb. 65.11 hervorgeht, gelangt der Mineralo-
corticoidrezeptorkomplex nach entsprechender Aktivierung in

Cholesterin# Pregnenolon# Progesteron# 11-Desoxycorticosteron# 18-Hydroxycorticosteron# Aldosteron# Halbacetalform#


828 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Abb. 65.12 Struktur des Aldosteronantagonisten Spironolacton. Man


beachte die Lactonstruktur an der Seitenkette des Rings D

Das atriale natriuretische Peptid senkt den


Natriumbestand des Körpers
Die Funktion von Mineralocorticoiden und ADH (s. 7 Kap.
65.5.3) besteht in der Natrium- und Wasserretention. Damit
regulieren sie eine speziell für terrestrische Lebewesen essen-
tielle  Funktion. Ein antagonistisches, natriuretisch wirkendes
Hormon ist das v. a. im rechten Vorhof des Herzens synthetisier-
te, gespeicherte und sezernierte atriale natriuretische Peptid
. Abb. 65.11 Molekularer Mechanismus der Aldosteronwirkung auf die
Tubulusepithelien. Aldosteron (A) bindet an ein Rezeptorprotein (R), das
(ANP).
nach Konformationsänderung im Zellkern die Transkription spezifischer
Gene induziert. Es kommt damit zur gesteigerten Biosynthese eines ANP wird in den Herzvorhöfen
Natriumkanals, der Na+/K+-ATPase und verschiedener mitochondrialer als Prohormon gebildet
Enzyme. (Einzelheiten s. Text)
Das atriale natriuretische Peptid (ANP) wird in myoendokrinen
Zellen des Herzmuskels synthetisiert und in Sekretvesikeln ge-
speichert, die sich vorwiegend im rechten Vorhof, daneben aber
den Zellkern und beeinflusst dort die Expression spezifischer auch im linken Vorhof und nur ganz vereinzelt im Herzkammer-
Gene. Das führt in natriumreabsorbierenden Zellen zur ver- gewebe befinden. . Abb. 65.13 gibt einen Überblick über die
mehrten Expression ANP-Biosynthese:
4 eines in der apikalen Zellmembran gelegenen Natrium- 4 Das Gen für ANP (beim Menschen auf Chromosom 1) ent-
kanals (ENaC), hält 3 Exons und 2 Introns.
4 der Na+/K+-ATPase und 4 Nach Transkription und posttranskriptionaler Prozessie-
4 einer Reihe von Enzymen des Citratzyklus, welche wahr- rung entsteht aus ihm die Prä-Pro-ANP-mRNA, welche für
scheinlich einen gesteigerten Substratdurchsatz und damit ein Protein mit 151 Aminosäuren codiert.
eine vermehrte Bereitstellung des für den Transport benö- 4 Abtrennung des N-terminalen, aus 25 Aminosäuren beste-
tigten ATP ermöglichen. henden Signalpeptids führt zum Pro-ANP mit 126 Amino-
säuren, welches in Vesikel gepackt wird.
65 Zusätzlich erhöht Aldosteron über die Aktivierung der SGK-1 4 Vom Carboxyterminus des Pro-ANP wird ANP als ein 28
(serum- und glucocorticoidstimulierte Kinase) die Verweildauer Aminosäuren umfassendes Peptid abgespalten. Hierfür ist
des ENaC in der Plasmamembran der Hauptzellen der Sammel- die membrangebundene Serinprotease Corin verantwort-
rohre. lich.

Spironolactone Sie sind eine Gruppe von aldosteronanalo- Da die Primärstruktur von ANP für die bislang untersuchten
gen Verbindungen, die über einen C-17-Lactonring verfügen Säuger praktisch identisch ist, scheint das ANP-System in der
(. Abb. 65.12). Sie wirken als Mineralocorticoidantagonis- Evolution hoch konserviert zu sein. In wesentlich geringerem
ten und werden als solche auch bei der Behandlung des primä- Ausmaß als im Herzen wird Pro-ANP auch noch in anderen Or-
ren Hyperaldosteronismus eingesetzt. Ihr Wirkungsmechanis- ganen wie Gehirn, Nebenniere und Niere gefunden. In der Niere
mus beruht darauf, dass sie Aldosteron kompetitiv vom cyto- wird in den Sammelrohrzellen spezifisch ein 32 Aminosäure
plasmatischen Rezeptor verdrängen. Der dabei gebildete Rezep- umfassendes Peptid vom Carboxyterminus des Pro-ANP abge-
torantagonistkomplex kann aber nicht die zum Übertritt in den spalten, das als Urodilatin bezeichnet wird. ANP und Urodilatin
Kern notwendige Konformationsänderung (Aktivierung) zeigen dieselben biologischen Wirkungen (s. u.), haben aber eine
durchmachen, weswegen die Änderung der Genexpression un- unterschiedliche biologische Stabilität. So erscheint Urodilatin
terbleibt. wesentlich resistenter als ANP gegenüber einer proteolytischen
Degradation durch die neutrale Endopeptidase zu sein, die ge-
rade in der Niere in hoher Aktivität vorkommt.
65.5 · Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption
829 65
gefunden worden, daneben aber auch im Zentralnervensystem,
der Nebennierenrinde sowie Gefäßmuskel- und Endothelzellen.
Die Wirkung von ANP und Urodilatin wird über den sog.
A-Rezeptor vermittelt. Dieser gehört zu den membrangebunde-
ne Guanylatcylasen (7 Kap. 35.6.2), deren Aktivierung zu er-
höhten cGMP-Konzentrationen in den Zielgeweben führt
(. Abb. 65.14). Ein ebenfalls nachgewiesener C-Rezeptor vermit-
telt keine derzeit bekannte Signalwirkung. Man nimmt an, dass
es sich dabei um einen sog. clearance-receptor handelt, der die
natriuretischen Peptide bei hohen Konzentrationen abfischt und
einer endosomalen Degradation zuführt. Dieser Mechanismus
trägt so zur Elimination der natriuretischen Peptide bei, die
hauptsächlich aber durch proteolytischen Abbau durch eine
Metalloproteinase, die neutrale Endopeptidase (NEP), in Lunge,
Leber und Niere erfolgt. Eine neue Strategie bei der Behandlung
. Abb. 65.13 Biosynthese des atrialen natriuretischen Peptids (ANP). von Kreislauferkrankungen (v. a. Bluthochdruck) beruht auf
Das zugehörige Gen besteht aus drei Exons und zwei Introns. Die Exons der pharmakologischen Hemmung dieser Endopeptidase, wo-
codieren für ein Prä-Pro-ANP aus 151 Aminosäuren. Dieser Präkursor trägt
durch die Konzentration der zirkulierenden vasodilatierenden
C-terminal das aus 28 Aminosäureresten bestehende ANP. S, Signalpeptid
natriuretischen Peptide erhöht werden kann.

Der auslösende Reiz für die ANP-Sekretion ist ein Anstieg


des Vorhofdrucks, der zu einer Wanddehnung und damit Deh- Zusammenfassung
nung der Myocyten führt. Über einen calciumabhängigen Der Natriumbestand des Körpers wird v. a. über die Kontrolle
Prozess führt eine solche Dehnung dann zur Sekretion von ANP. des Extrazellulärvolumens reguliert.
Der Anstieg des Vorhofdrucks kann durch eine Expansion des Eine Abnahme des Volumens aktiviert über arterielle Presso-
Extrazellulärvolumens (Plasmavolumen), z. B. durch vermehrte rezeptoren den Sympathikus, was in der Niere direkt die
Kochsalzzufuhr, aber auch durch Hormone wie ADH, Na+-Reabsorption fördert und über eine Stimulation der
Katecholamine oder Angiotensin II, ausgelöst werden. Reninsekretion das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System
aktiviert.
ANP relaxiert Blutgefäße und fördert die renale Die durch Angiotensin II induzierte Bildung von Aldosteron
Natrium- und Wasserausscheidung fördert die renale Natriumresorption im Sammelrohr, beglei-
ANP hat wie alle natriuretischen Peptide folgende Wirkungen: tet von einer ADH-bedingten Wasserretention.
4 Eine Relaxation der glatten Muskulatur der Arteriolen. Ein Anstieg des Natriumbestands des Körpers und damit
Dies senkt den arteriellen Gefäßwiderstand und wirkt da- verbunden eine Vergrößerung des Extrazellulärvolumens
mit blutdrucksenkend. hemmt die:
4 Der vasodilatierende Effekt ist auch an den renalen prä- 4 Reninsekretion und damit die Angiotensin-II-Bildung
glomerulären Blutgefäßen sehr ausgeprägt. Dadurch erhöht 4 Aldosteronproduktion und
sich die glomeruläre Filtrationsrate, und es kommt zu 4 ADH-Sekretion
einer Durchblutungsteigerung des Nierenmarks, was prin-
zipiell die renale Wasser- und Salzausscheidung erhöhen Ein Anstieg des Drucks im Niederdrucksystem aktiviert in
kann. den Herzvorhöfen die Freisetzung von ANP, welches die Aus-
4 Über luminale Rezeptoren im Sammelrohrsystem der Niere scheidung von Natrium und Wasser in der Niere stimuliert.
vermindert ANP direkt die Natrium- und
Wasserresorption.
4 ANP hemmt die Aldosteronfreisetzung sowohl durch einen
direkten Effekt auf die Nebennierenrinde als auch indirekt 65.5 Wasserhaushalt und
durch Hemmung der Reninfreisetzung. renale Wasserreabsorption

In der Tat scheint diese Wechselwirkung mit dem Renin-Angio- 65.5.1 Wasserbilanz
tensin-Aldosteron-System sehr wichtig zu sein, da man eine
deutliche natriuretische Wirkung von ANP nur bei einem stimu- Das Körperwasser verteilt sich
lierten Renin-Angiotensin-Aldosteron-System beobachten auf verschiedene Kompartimente
kann. Möglicherweise ist Urodilatin für die renalen Wirkungen Da das Fettgewebe im Vergleich zu anderen Körpergeweben
wesentlich bedeutsamer als ANP selbst. einen deutlich geringeren Wassergehalt besitzt, sollte das Kör-
Rezeptoren für natriuretische Peptide sind in einer Reihe perwasser eigentlich auf die fettfreie Körpermasse (lean body
von Geweben wie z. B. den Nierenglomerula, Sammelrohrzellen mass) bezogen werden. Bei einer großen Zahl von Säugetieren
und den medullären und papillären Vasa recta der Nieren einschließlich des Menschen beträgt der Wasseranteil der fett-
830 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Abb. 65.14 Aktivierung des A-Typ-Rezeptors für natriuretische Peptide durch ANP. Der Rezeptor besteht aus einer Extrazellulär- und Transmembran-
domäne, einer intrazellulären kinaseähnlichen und einer intrazellulären Guanylatcyclasedomäne. Bindung von ANP an die Extrazellulärdomäne führt zur
Homodimerisierung des Rezeptors, wodurch ATP an die kinaseähnlichen Domänen bindet. Dies führt dann zur Aktivierung einer Guanylatcyclaseaktivität

. Tab. 65.4 Tägliche Zufuhr und Verlust von Wasser beim


Erwachsenen

Wasserzufuhr ml Wasserverlust ml

Trinken (Wasser 1.200 Urin 1.400


und Getränke) (500–1.600) (600–1.600)

Wasser der 900 Lungen und 900


Nahrungsstoffe (800–1.000) Haut (850–1.200)
(Gehalt: 60–97 % (Perspiration)
Wasser)

Oxidationswasser 300 Faeces 100


(200–400) (50–200)

Insgesamt 2.400 2 400


. Abb. 65.15 Beziehung zwischen Körperwasser und fettfreier Körper- (1.500–3.000) (1.500–3.000)
masse bei verschiedenen Säugern. (Daten nach Wang Z et al. 1999)

freien Körpermasse konstant 72–74 % (. Abb. 65.15). Da das Die Wasserzufuhr dient der Kompensation obligater
Körperwasser mit der Isotopendilutionsmethode gut bestimmt und nichtobligater Wasserverluste
werden kann, lässt sich diese Beziehung zur Berechnung des Der Mensch kann wochenlang auf die Zufuhr von Nahrungsstof-
Körperfettgehalts verwenden: fen verzichten, jedoch nur wenige Tage auf die von Wasser und
65 Elektrolyten. Die Wasserbilanz eines 70 kg schweren Erwachsenen
Körperfett = Gesamtmasse – fettfreie Masse ist in . Tab. 65.4 zusammengestellt. Damit sie ausgeglichen ist,
= Gesamtmasse – (Körperwasser/0,73) muss die Zufuhr die Wasserverluste kompensieren. Dabei ist zu
beachten, dass fast 40 % der Wasserverluste als Wasserdampf über
Bezieht man den Wassergehalt auf die Gesamtmasse, so ist dieser die Lungen und die Haut erfolgen. Hierdurch gehen etwa 25 % der
im Wesentlichen vom Körperfett abhängig, das je nach Ge- Wärmeproduktion des Körpers verloren. Dieser obligate Wasser-
schlecht und Lebensalter schwankt. Bei Säuglingen macht das verlust spielt eine Rolle bei der Regulation der Körperwärme und
Körperwasser noch etwa 75 % der Körpermasse aus, beim er- nimmt auch bei hochgradigen Flüssigkeitsverlusten nur wenig ab.
wachsenen Mann etwa 60 %, und bei der erwachsenen Frau etwa Im Organismus entsteht Wasser bei der mitochondrialen
50 % (wegen eines höheren Fettgewebsanteils). Oxidation der Nahrungsstoffe (Biooxidation). Die Oxidation
Innerhalb des Körpers lassen sich 2 Wasserräume unter- von 100 g Fett liefert 107 ml, die von 100 g Kohlenhydraten 55 ml
scheiden, nämlich der größere Intrazellulärraum (60–65 % des und die von 100 g Protein 41 ml Wasser. Die vom Menschen täg-
Körperwassers) und der kleinere Extrazellulärraum (35–40 % lich gebildete Menge Oxidationswasser beträgt etwa 300 ml. Der
des Körperwassers). Der Extrazellulärraum lässt sich weiter un- darüber hinausgehende Teil der Wasserbilanz muss durch Ge-
terteilen in den interstitiellen Raum (75 % des Extrazellulärvo- tränke und den Wassergehalt der Nahrungsmittel ausgeglichen
lumens), das Blutplasma (25 % des Extrazellulärvolumens) und werden.
die transzelluläre Flüssigkeit (z. B. Liquor cerebrospinalis etc.), In die Bilanz gehen die 5–10 l Verdauungssekrete, die in den
die aber beim Erwachsenen nur etwa 1 Liter ausmacht. Magen-Darm-Trakt abgegeben werden, nicht mit ein, da sie
65.5 · Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption
831 65
65.5.2 Wasserausscheidung in den Nieren

In den Nieren wird glomerulär filtriertes Wasser


zu 99 % reabsorbiert
Das glomerulär filtrierte Wasser (180 l/Tag) wird zu etwa 65 %
im proximalen Tubulus, zu 18 % im absteigenden Segment der
dünnen Henle-Schleife und im Konvolut des distalen Tubulus
und zu 10 % im Verbindungstubulus/Sammelrohr rückresor-
biert (. Abb. 65.16). Im Normalfall wird daher nur weniger als
1 % des filtrierten Wassers mit dem Urin ausgeschieden. Durch
die transzelluläre Resorption von Natrium und anderen osmo-
tisch wirksamen Molekülen (z. B. Monosaccharide, s. u.) im pro-
ximalen Tubulus sinkt die Osmolarität der Tubulusflüssigkeit
gegenüber dem Niereninterstitium ab. Zum Osmolaritätsaus-
gleich strömt nun Wasser aus dem Tubuluslumen in das Intersti-
tium. Dies geschieht zum einen transzellulär durch spezifische
Wasserkanäle (Aquaporin 1) in der Membran der proximalen
Tubuluszellen und zum anderen parazellulär durch die Interzel-
lularverbindungen zwischen den Zellen. Bei diesem starken pa-
razellulären Wasserfluss werden gleichzeitig Ionen (z. B. Na+, K+,
Ca2+, Mg2+ und Cl–) entsprechend ihrer Konzentration mitgeris-
sen (solvent drag) und so resorbiert.
Das Tubulusepithel des dünnen absteigenden Teils der Hen-
le-Schleife enthält einen spezifischen Wasserkanal, das Aquapo-
rin 1 (. Abb. 65.17), und ist daher gut wasserdurchlässig.
Da das Interstitium des Nierenmarks und der Papille hyper-
ton gegenüber dem Plasma ist (. Abb. 65.2), wird im Bereich der
dünnen absteigenden Henle-Schleife Wasser aus der Tubulusflüs-
sigkeit entzogen, wodurch der Harn konzentriert wird. Wie stark,
hängt von der Länge der Schleife ab. Das Epithel des Konvoluts
des distalen Tubulus in der Nierenrinde ist ebenfalls gut wasser-
. Abb. 65.16 Die Mechanismen der Wasserresorption in den verschiede-
durchlässig. Da durch die Elektrolytresorptionsaktivität der vor-
nen Tubulusabschnitten. AP: Aquaporin. (Einzelheiten s. Text) geschalteten wasserimpermeablen dicken aufsteigenden Henle-
Schleife die Tubulusflüssigkeit hypoton (100 mosmol/l) wurde,
strömt im distalen Tubulus zum Osmolaritätsausgleich Wasser
schließlich wieder reabsorbiert werden. Sie sind aber beim Er- aus dem Tubulus in das Interstitium und wird so resorbiert.
brechen oder bei Durchfällen von Bedeutung. Die Einstellung der endgültigen Urinosmolarität erfolgt über
die Hauptzellen des Verbindungstubulus und des Sammelrohrs.
Die Regulation des Wasserhaushalts erfolgt Die Sammelrohre tauchen auf ihrem Wege von der Rinde (in den
hauptsächlich durch Osmoregulation Markstrahlen) an die Papillenspitze in Regionen zunehmender
Der Wasserhaushalt des Körpers wird über die Osmolarität der Osmolarität ein (. Abb. 65.2). Da der aus dem distalen Tubulus
Extrazellularflüssigkeit geregelt, die normalerweise bei ca. 290– in das Sammelrohrsystem geleitete Harn plasmaisoton ist, ent-
295 mosmol/l liegt und deren Konstanz vom Körper angestrebt steht mit zunehmender Passage durch das Sammelrohrsystem
wird. Entscheidend für die effektive Osmolarität im Extrazellu- ein immer größerer osmotischer Gradient zwischen dem Nieren-
lärraum sind vorwiegend Natriumionen, welche in einer Konzen- interstitium und der Tubulusflüssigkeit und damit ein zuneh-
tration von 140 mmol/l vorliegen, zusammen mit Chlorid- und mender Sog auf das Wasser im Tubuluslumen. Die Interzellular-
Hydrogencarbonatanionen. Die Osmolarität im Intrazellulär- kontakte im Sammelrohr sind wasserimpermeabel. Deshalb
raum entspricht der des Extrazellulärraums. Im Intrazellulärraum kann das Wasser nur transzellulär durch die Zellen aus dem Tu-
sind die Träger der effektiven Osmolarität im Wesentlichen Kali- bulus in das Interstitium diffundieren.
umionen und die organischen Phosphate bzw. die Proteine. Die Diffusion durch die luminale und basolaterale Membran
Die Osmolarität wird ständig durch die Osmorezeptoren des erfolgt ebenfalls durch Aquaporine. In der luminalen Membran
Hypothalamus kontrolliert, die Änderungen der Osmolarität der Hauptzellen findet man Aquaporin 2, in der basolateralen
des Extrazellulärraums mit hoher Sensitivität erfassen. Membran die Aquaporine 3 und 4 (. Abb. 65.16). Die Anzahl der
Diese regeln die Wasseraufnahme und -ausscheidung derart, luminalen Aquaporin-2-Kanäle limitiert die transzelluläre Was-
dass die Osmolarität im Extrazellulärraum konstant bleibt, so- serdiffusion.
dass sich im Normalfall Wasseraufnahme und -ausscheidung die
Waage halten.
832 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

. Abb. 65.17 Modellvorstellung zur Struktur eines Aquaporins (AP-1). Die


Aquaporinmonomere bestehen aus 6 Transmembrandomänen (1–6). Die mit
. Abb. 65.18 Chemische Struktur des Nonapeptids Vasopressin. Die
Großbuchstaben gekennzeichneten Verbindungsschleifen zwischen den Do-
Cysteinreste in Position 1 und 6 sind durch eine Disulfidbrücke verknüpft,
mänen 2 und 3 sowie 5 und 6 tauchen nur teilweise in die Lipiddoppelschicht
sodass eine zyklische Struktur entsteht. Im Oxytocin sind Phenylalanin
ein und bilden darin jeweils eine halbe Pore. Sie enthalten jeweils das konser-
durch Isoleucin und Arginin durch Leucin ersetzt
vierte Motiv Asparagin – Prolin – Alanin (NPA). Durch Zusammenlagerung der
beiden Halbporen entsteht dann ein Wasserkanal aus hydrophilen Aminosäu-
ren. In der Membran liegen die Aquaporine als Tetramere vor (7 Abb. 1.9).
(Adaptiert nach Arge et al. aus Seldin u. Giebisch 2000) Prä-Provasopressin. Nach Abtrennung der N-terminalen Signal-
sequenz entstehen Provasopressin und aus diesem durch weitere
limitierte Proteolyse das N-terminal gelegene Nonapeptid Vaso-
65.5.3 Regulation des Wasserhaushalts pressin, ein als Neurophysin II bezeichnetes Protein und ein
Glykoprotein. Das Oxytocin-Gen ist sehr ähnlich aufgebaut und
Das antidiuretische Hormon (ADH) oder codiert für ein über weite Bereiche homologes Prä-Prooxytocin.
Vasopressin ist das zentrale Hormon in der Aus ihm entstehen Oxytocin und Neurophysin I. Eine zum Gly-
Regulation des Wasserhaushalts koprotein des Vasopressinpräkursors analoge Verbindung
Als blutdrucksteigerndes, antidiuretisches Peptid kommt im kommt beim Oxytocin nicht vor. Man nimmt an, dass das Vaso-
Hypophysenhinterlappen das aus 9 Aminosäuren bestehende anti- pressin- und Oxytocin-Gen von einem gemeinsamen Vorläufer-
diuretische Hormon, ADH (Synonym: Vasopressin oder Pitressin) gen abstammen. Die Neurophysine dienen als Trägerproteine für
65 vor (. Abb. 65.18). Die Cysteine in den Positionen 1 und 6 bilden Vasopressin bzw. Oxytocin während ihres Transports vom Ort
eine Disulfidbrücke. Ein sehr ähnliches, ebenfalls im Hypophysen- der Biosynthese entlang entsprechender Axone in den Hypophy-
hinterlappen vorkommendes Peptidhormon ist das Oxytocin. Es senhinterlappen, dem Ort ihrer Sekretion. Über die Funktion des
unterscheidet sich vom Vasopressin lediglich in 2 Aminosäuren. C-terminalen Glykoproteins ist nichts bekannt.
Das Phenylalanin des Vasopressins ist im Oxytocin durch Isoleucin
ersetzt, das Arginin durch Leucin. Oxytocin ist die wichtigste zur ADH (Vasopressin) wirkt vasokonstriktorisch
Uteruskontraktion führende Substanz und wird infolgedessen in über V1-Rezeptoren und fördert die renale Wasser-
der Geburtshilfe zur Stimulierung der Wehentätigkeit verwendet. rückresorption über V2-Rezeptoren
Außerdem führt es zu einer Kontraktion der glatten Muskulatur Gefäßwirkungen ADH (Vasopressin) löst über V1-Rezeptoren
der Brustdrüse, wodurch es zur Milchexkretion kommt. eine Kontraktion der glatten Muskelzellen der Blutgefäße aus.
Das bewirkt einen Blutdruckanstieg durch die Erhöhung des
ADH (Vasopressin) wird als Prohormon Kreislaufwiderstands. Die V1-Rezeptoren gehören zur Familie
im Hypothalamus gebildet der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren und aktivieren die Phos-
Vasopressin wird – wie Oxytocin – in den neurosekretorischen phatidylinositolkaskade, führen also zu einer Erhöhung der cy-
Neuronen der paraventrikulären Kerne des Hypothalamus gebil- tosolischen Calciumkonzentration.
det. Das Vasopressingen (. Abb. 65.19) ist ein Polyprotein-Gen,
welches aus 3 Exons und 2 Introns besteht. Die nach Transkrip- Renale Wirkungen Über V2-Rezeptoren wirkt ADH (Vasopres-
tion und Entfernung der Introns entstehende mRNA codiert für sin) durch eine Stimulierung der Wasserrückresorption im
65.5 · Wasserhaushalt und renale Wasserreabsorption
833 65

. Abb. 65.19 Genstruktur und Biosynthese von Vasopressin. Das Vasopres-


sin-Gen enthält 2 Introns (I1 und I2) und 3 Exons (E1–E3). Nach Transkription
und posttranskriptionaler Prozessierung codiert die mRNA für das Prä-Pro-
vasopressin, das posttranslational durch Entfernung der Signalsequenz und
Spaltung zu Vasopressin, Neurophysin II und einem C-terminal gelegenen
Glykoprotein prozessiert wird. Vasopressin (V) ist ein Nonapeptid (rot)
. Abb. 65.20 Wirkungsmechanismus von Vasopressin (V) an den Sam-
melrohrepithelien der Nieren. Über V2-Rezeptoren (V2-R) kommt es zu
einem Anstieg der zellulären cAMP-Konzentration. Diese löst über unbe-
Sammelrohrsystem der Niere (7 Kap. 65.1.3) antidiuretisch. Da kannte Mechanismen eine Translokation von Wasserkanälen aus intrazellu-
die Halbwertszeit des zirkulierenden ADH als Peptidhormon lären Vesikeln in die Plasmamembran aus. PKA: Proteinkinase A
ca. 5 min beträgt, wirken sich Änderungen der ADH-Frei-
setzung schnell auf die ADH-Konzentration im Plasma aus. So 4 Die Plasmaosmolarität ist für die ADH-Sekretion von be-
kann der Organismus sehr rasch auf Änderungen des Wasserbe- sonderer Wichtigkeit. Die Schwelle für die ADH-Freiset-
stands bzw. der Osmolarität reagieren und verhindern, dass es zu zung liegt bei ca. 275–280 mosmol/l, weshalb auch bereits
unerwünschten Volumenänderungen des Intrazellulärraums im Normalzustand ADH sezerniert wird. Ein Anstieg der
kommt. Osmolarität um nur 1 % führt bereits zu einer messbaren
Der biochemische Mechanismus der ADH (Vasopressin)- Zunahme der ADH-Sekretion. Der osmotische Druck wird
Wirkung beruht auf einer Steigerung des Einbaus von Aquapo- kontinuierlich in verschiedenen Bereichen des Hypothala-
rinkanälen in die luminale Membran (. Abb. 65.20). Dabei mus durch spezifische Osmorezeptoren erfasst, deren Sig-
erhöht es in der apikalen Membran der Sammelrohrepithelien nale auf die ADH produzierenden Zellen des N. supraopti-
die Zahl der Wasserkanal (Aquaporin 2)-Moleküle, indem es cus und N. paraventricularis weitergegeben werden. Auch
eine Translokation von präformierten aber funktionslosen Was- diese selbst sind an der Osmorezeption beteiligt.
serkanälen, die sich in intrazellulären Vesikeln befinden, in die 4 Der Füllungszustand des Extrazellulärraums bzw. der Blut-
apikale Plasmamembran induziert. Diese Wirkung wird durch druck beeinflusst die ADH-Freisetzung über Barosensoren.
den V2-Rezeptor vermittelt. Ähnlich wie der V1-Rezeptor gehört Dadurch kann unabhängig von der Osmolarität eine Steige-
er zu den G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Im Gegensatz zu rung der ADH-Produktion bei signifikantem Volumen-
diesem ist er jedoch an die Adenylatcyclase gekoppelt. Dieser mangel und/oder Blutdruckabfall ausgelöst werden. Eine
Vorgang hat Ähnlichkeit mit der Insulin-induzierten Transloka- Überfüllung des Extrazellulärraums bzw. ein Blutdruckan-
tion des GLUT4-Transporters (7 Kap. 15.1.1). stieg wirkt sich dagegen dämpfend auf die ADH-Freiset-
ADH kontrolliert so mit seiner Aktivität ca. 10 % der glome- zung aus. Hierfür genügen bereits Wasserdefizite oder Was-
rulär filtrierten Wassermenge. Bei maximaler ADH-Sekretion serzufuhr von 0,3–0,5 l.
kann das Urinvolumen auf etwa 0,7 l pro Tag reduziert werden 4 Angiotensin II aktiviert die ADH-Sekretion durch einen
(maximale Antidiurese), während bei starker ADH-Suppression direkten Effekt auf die Zellen des N. supraopticus und
das Urinvolumen auf 20 l pro Tag ansteigen kann (maximale N. paraventricularis.
Diurese). 4 Am Hypophysenhinterlappen stimulieren Acetylcholin,
Nicotin und Morphin die ADH-Freisetzung, Adrenalin und
Die ADH-Freisetzung wird durch eine Erhöhung Ethanol sind dagegen Hemmstoffe.
der Plasmaosmolarität, eine Verringerung des Extra-
zellulärvolumens und durch Hormone stimuliert Das Durstgefühl wird von Osmorezeptoren vermittelt
Die Freisetzung von ADH aus dem Hypophysenhinterlappen Auch das Durstgefühl wird wesentlich über hypothalamische
wird durch osmotische und nichtosmotische Signale gesteuert: Osmorezeptoren ausgelöst, die jedoch nicht genau lokalisiert
834 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

sind. Angiotensin II wirkt ebenfalls fördernd auf die Entwick-


lung des Durstgefühls. Die Schwelle für die Auslösung des Durst- . Tab. 65.5 Daten zum Kaliumstoffwechsel
gefühls liegt nur 5–10 mosmol über der für die ADH-Frei-
Verteilung des Kaliums mmol/kg Prozentualer
setzung. Dadurch wird vermieden, dass es zu einer Erhöhung im Organismus Körperge- Anteil an der
des osmotischen Drucks über den physiologischen Bereich wicht Gesamtmenge
(290–295 mosmol/l) kommt.
Plasma 0,2 0,4

Interstitielle Flüssigkeit, Lymphe 0,5 1,0


Zusammenfassung
Sehnen und Knorpel 0,2 0,4
Der Wasseranteil des Körpers sinkt mit zunehmendem
Lebensalter und ist bei Männern höher als bei Frauen. Knochen (gesamte Menge) 4,1 7,6

Die Wasserräume des Körpers gliedern sich in den größeren Transzelluläre Flüssigkeit 0,5 1,0
Intrazellulärraum und den kleineren Extrazellulärraum, wel- Gesamt- im Extrazellulärraum 5,5 10,4
cher auch das Plasmavolumen umfasst. menge
im Intrazellulärraum 48,3 89,6
Der Wasserhaushalt des Körpers wird v. a. durch ADH regu-
liert, welches die orale Wasseraufnahme (über das Durstge- im Organismus 58,0 100,0
fühl) und die renale Wasserausscheidung aufeinander ab- Kaliumkonzentration des Blutplasmas 4,0 mmol/l
gleicht. Die Sekretion von ADH wird wesentlich von der Os- Normalbereich 3,5–5,5 mmol/l
molarität und dem Volumen des Extrazellulärraums bestimmt. Tägliche Ausscheidung mit dem Urin 60–80 mmol
Tägliche Zufuhr mit der Nahrung 50–150 mmol
(Durchschnitt 65 mmol)

65.6 Kaliumhaushalt und wichtspotential (Nernst-Potential) für Kalium und damit vom
renale Kaliumausscheidung Verhältnis der intra- und extrazellulären Kaliumkonzentratio-
nen ab (s. Lehrbücher der Physiologie). Wegen der stark unter-
65.6.1 Kaliumbilanz schiedlichen Konzentrationen von Kalium im Intrazellulärraum
(ca. 140 mmol/l) und Extrazellulärraum (ca. 4 mmol/l) können
Das Körperkalium befindet sich zu 98 % bereits quantitativ geringe Relativverschiebungen von Kaliumio-
im Intrazellulärraum nen zwischen den beiden Kompartimenten das Verhältnis der
Kalium ist in mehrfacher Hinsicht ein biochemisch-physiolo- Konzentrationen und damit das Membranpotential stark beein-
gisch sehr bedeutsames Ion. Es bestimmt wesentlich das Mem- flussen. Besonders empfindlich auf solche Veränderungen re-
branpotential und damit das elektrische Verhalten von Zellen. agieren dabei elektrisch erregbare Gewebe wie Nerven- oder
Weiterhin aktiviert es eine Reihe von Enzymen. Es ist außerdem Muskelzellen. Am Herzmuskel resultieren daraus Störungen der
wichtig für die Regulation des Zellvolumens wie auch für die Erregungsbildung und -fortleitung, die lebensbedrohlich (Kar-
zelluläre pH-Regulation. dioplegie!) sein können. Entsprechend müssen die intrazellulä-
Den obligaten Kaliumverlusten in Höhe von 25 mmol/24 h ren und extrazellulären Kaliumkonzentrationen sehr genau re-
steht eine durchschnittliche Nahrungszufuhr von 50–150 mmol/ guliert werden.
24 h gegenüber. Dieser nahrungsbedingte Kaliumüberschuss muss Nach der Resorption wird mit der Nahrung aufgenommenes
eliminiert werden, wobei sich die Kaliumausscheidung durch die Kalium zum größten Teil in den Intrazellulärraum überführt,
65 Nieren problemlos auf 500 mmol/24 h steigern lässt. Etwa 10 % wobei das während der Nahrungsaufnahme aus der Bauch-
der täglichen Kaliumausscheidung erfolgt im Intestinaltrakt. speicheldrüse freigesetzte Insulin eine wichtige Rolle spielt
Die Gesamtkaliummenge des Körpers liegt bei 40–50 mmol/ (7 Kap. 36.5). Es stimuliert die Na+/K+-ATPase-Aktivität in Le-
kg Körpergewicht (d. h. 3,5 mol bei einer Person mit 70 kg), wo- ber und Muskel, die dadurch zusätzlich Kalium aufnehmen. Der
von sich 98 % im Intrazellulärraum befinden. Die intrazelluläre im Extrazellulärraum verbleibende Rest des Nahrungskaliums
Kaliumkonzentration liegt bei durchschnittlich 140 mmol/l. Die wird unmittelbar über die Nieren ausgeschieden. So wird eine
Kaliumkonzentration des Blutplasmas beträgt demgegenüber im Überflutung des Extrazellulärraums mit Kalium und damit eine
Mittel nur 4 mmol/l (Normbereich 3,5–5,5 mmol/l), sodass der Hyperkaliämie und in der Folge eine Depolarisation von Zell-
Gesamtbestand an extrazellulärem Kalium nur 60–80 mmol be- membranen vermieden.
trägt (. Tab. 65.5). Wenn die Insulinwirkung abklingt, verlässt das Kalium lang-
sam die Zellen und wird über die Nieren ausgeschieden. Ange-
Enterale Kaliumaufnahme, Verschiebungen von sichts dieser Wirkung von Insulin wird die Hyperkaliämie bei
Kalium zwischen dem Intra- und Extrazellulärraum entgleistem Diabetes-Typ-1 verständlich (7 Kap. 36.7.1).
und die renale Kaliumausscheidung sind
die wesentlichen Determinanten der Plasma- Renale Kaliumausscheidung Die renale Kaliumausscheidung
kaliumkonzentration wird durch folgende Faktoren reguliert:
Kaliumaufnahme Das Membranpotential der meisten Körper- 4 Aldosteron reguliert die renale Kaliumausscheidung indi-
zellen hängt wesentlich vom elektrochemischen Gleichge- rekt, da es über die Steigerung der Natriumreabsorption die
65.7 · Renale Reabsorption von Monosacchariden, Peptiden und Aminosäuren
835 65
Kaliumausscheidung erhöht. Erhöhte Plasmakonzentratio-
nen von Kalium stimulieren dabei die Sekretion von Aldos-
teron aus der Nebennierenrinde (. Abb. 65.21). Die aldos-
terongesteuerte Kaliumausscheidung in den Verbindungs-
tubuli und Sammelrohren der Niere kann in einem weiten
Bereich unterschiedlichen enteralen Kaliumaufnahmen an-
gepasst werden, ohne dass es zu pathologischen Änderun-
gen der Plasmakaliumkonzentration kommt, weil sich die
renale Kaliumausscheidung bis auf 500 mmol/Tag steigern
lässt (vgl. eine mittlere tägliche Aufnahme von 65 mmol).
Bei erhöhter Kaliumzufuhr steigt unter der Wirkung von
Aldosteron die Na+/K+-ATPase-Aktivität und die Kalium-
sekretionsrate in den Sammelrohren.
4 Da die Aktivität der Kaliumkanäle im Sammelrohr auch
durch die Protonenkonzentration reguliert wird, führt eine
Alkalose zu verstärkten Kaliumverlusten und eine Acidose
zu einer Verminderung der Kaliumsekretion und damit zur
. Abb. 65.21 Abhängigkeit der Aldosteronkonzentration im Plasma von
Kaliumretention. der Plasma-Kaliumkonzentration. (Adaptiert nach Guyton 1986)
4 Der Harnfluss im Sammelrohr beeinflusst ebenfalls die Ka-
liumausscheidung. Je höher der Harnfluss, umso mehr Kali-
um kann ausgeschieden werden. Bei niedrigen Harnflussra- lich ihrer Lokalisation, ihrer Transportaffinität und Transportka-
ten akkumuliert Kalium in der Tubulusflüssigkeit, wodurch pazität. Im Anfangsbereich des proximalen Tubulus dominiert
der Ausstrom aus den Sammelrohrzellen gebremst wird. dabei der SGLT2, der ein Glucosemolekül zusammen mit einem
Na+-Ion transportiert. Mit diesem Transportsystem, welches
eine hohe Kapazität aufweist, kann mit vergleichsweise niedri-
Zusammenfassung gem Energieaufwand (1 Na+) bereits der Großteil der Glucose
Kalium ist mengenmäßig das Haupt-Ion des Intrazellulär- resorbiert werden. Da die Glucosekonzentration in der Tubulus-
raums. flüssigkeit durch die Resorption immer weiter absinkt, müssen
Da das Membranpotential der meisten Körperzellen vom die Cotransporttriebkräfte stärker werden, um Glucose weiter zu
Verhältnis der intra- und extrazellulären Kaliumkonzentra- resorbieren. Dies wird durch den SGLT1 bewerkstelligt, der ein
tion abhängt, ist es lebenswichtig, dass die relativ niedrige Glucosemolekül zusammen mit zwei Na+-Ionen transportiert.
extrazelluläre Konzentration von Kalium in engen Grenzen Dieses Monosaccharidtransportsystem hat zwar eine hohe Affi-
gehalten wird. nität für Glucose, allerdings ist wegen seiner geringeren Menge
Insulin stimuliert die Aufnahme von Kalium in die Zellen und seine Transportkapazität niedriger. SGLT1, der auch die Gluco-
senkt dadurch akut die Kaliumkonzentration im Extrazellu- seresorption im Darm vermittelt, wird v. a. im Endabschnitt des
lärraum. proximalen Tubulus exprimiert und sorgt dafür, dass im Normal-
Der Mensch nimmt mit der Nahrung mehr Kalium auf als er fall die gesamte filtrierte Glucose aus dem Primärharn rückresor-
obligat abgibt. Entsprechend wird Kalium über die Nieren biert wird. Die luminal aufgenommene Glucose verlässt die pro-
reguliert ausgeschieden. Ein wichtiger Regulator dabei ist ximale Tubuluszelle basolateral wieder mittels des spezifischen
das Nebennierenrindenhormon Aldosteron, dessen Produk- (natriumunabhängigen) Uniporters GLUT2 (7 Kap. 15.1.1).
tion mit zunehmender Plasma-Kaliumkonzentration ansteigt Die tubuläre Resorption von Galactose erfolgt ebenfalls über
und das die Kaliumausscheidung in der Niere stimuliert. den SGLT1. Fructose hingegen wird luminal über einen Na+-
unabhängigen Uniporter (GLUT5) in die proximale Tubuluszel-
le transportiert.

65.7 Renale Reabsorption von Mono- Filtrierte Proteine, Peptide und Aminosäuren
sacchariden, Peptiden und Aminosäuren werden fast vollständig resorbiert
Trotz der weitgehenden Impermeabilität des glomerulären Fil-
Filtrierte Monosaccharide werden in der Regel im ters gelangen täglich einige Gramm Albumin und eine Reihe
proximalen Tubulus vollständig reabsorbiert anderer Proteine in das Primärfiltrat. Albumin wird, wie auch
Die für die Reabsorption von Monosacchariden benötigten rena- andere Proteine, mittels des Megalinrezeptors (7 Kap. 58.3.3)
len Transportsysteme sind in der luminalen und basolateralen über clathrinabhängige Endocytose in die proximale Tubuluszel-
Membran lokalisiert. Glucose wird aus dem Primärharn über le aufgenommen und darin lysosomal abgebaut.
luminale Na+-gekoppelte Cotransporter SGLT1 und SGLT2 (so- Größere Peptide werden über Endocytose (Pinocytose) in
dium dependent glucose transporter) in die proximale Tubulus- die proximale Tubuluszelle aufgenommen und lysosomal abge-
zelle transportiert (s. 7 Abb. 11.5). SGLT1 und SGLT2 unter- baut. Oligo- und Polypeptide werden durch Peptidasen des
scheiden sich nicht nur in ihrer Struktur, sondern auch hinsicht- Bürstensaums in Bruchstücke zerlegt und dabei entstehende
836 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

65.9 Pathobiochemie des Wasser-


. Tab. 65.6 Die Mechanismen der Eliminierung der im Stoffwech- und Elektrolythaushalts
sel entstehenden toxischen Substanzen

Verbindung Entstehung Mechanismus der Ausschei-


65.9.1 Wasserhaushalt
Ausscheidung dung/24 h
(mmol) Abweichungen des Wassergehalts vom Normalwert bezeichnet
man als Dehydratation bzw. Hyperhydratation. Dabei ist zu un-
Ammoniak Aminosäure- Tubuläre Desaminie- 20–50
terscheiden, ob es sich um isotone Veränderungen (Osmolarität
stoffwechsel rung von Glutamin,
Ausscheidung als
bleibt normal) oder um hypo- bzw. hypertone Abweichungen
Ammoniumionen handelt. Da hauptsächlich die Natriumkonzentration die Osmo-
larität des Extrazellulärraums bestimmt, definiert sie auch die
Harnstoff Harnstoff- Glomeruläre Filtration, 300–600
zyklus tubuläre Reabsorption Zuordnung der De- bzw. Hyperhydratation. Isotone Verände-
rungen des Wassergehalts treten in der Regel sekundär zur Ver-
Harnsäure Purinabbau Glomeruläre Filtration, 2–12
änderung des Natriumhaushalts auf. Nicht-isotone Veränderun-
tubuläre Sekretion und
Reabsorption gen gehen bei Wasserverlust (ohne Natriumverlust) in der Regel
mit einer Hypertonizität (Hypernatriämie, Na+>150 mmol/l),
Oxalat Abbau von Glomeruläre Filtration, 0,11–0,61
Glycin tubuläre Sekretion und
bei Überwässerung (ohne zusätzliche Natriumzufuhr) mit einer
Reabsorption Hypotonizität (Hyponatriämie, Na+<135 mmol/l) einher.
Kreatinin aus Kreatin Glomeruläre Filtration 8–17
Dehydration bei Hypernatriämie Sie entsteht durch den Verlust
hypotoner Körperflüssigkeiten bei gleichzeitig unzureichender
Wasserzufuhr.
Di- und Tri-Peptide über einen protonengekoppelten Trans- Beispiele hierfür sind:
port direkt in die proximale Tubuluszelle aufgenommen. 4 starkes Schwitzen (Schweiß ist hypoton!),
Freie Aminosäuren, welche entweder durch glomeruläre Fil- 4 Wasserverlust über die Atemwege bei anhaltender
tration oder durch luminalen Proteinabbau in den proximalen Hyperventilation (z. B. bei Höhenaufenthalt),
Tubulus gelangen, werden dort vollständig reabsorbiert. Anioni- 4 anhaltender Durchfall bzw. Erbrechen,
sche (Glutamat, Aspartat) und neutrale Aminosäuren (Alanin, 4 anhaltende Produktion eines hypotonen Harns (z. B. bei
Glycin etc.) werden durch verschiedene luminale natriumge- Diabetes insipidus, Verabreichung von Diuretika etc.).
koppelte Cotransportsysteme aufgenommen, kationische (Ar-
ginin, Glutamin, Lysin, Ornithin) Aminosäuren und Cystin wer- Wegen der hohen Membranpermeabilität für Wasser vermindert
den über natriumunabhängige Transportsysteme resorbiert. sich bei einer solchen hypertonen Dehydratation nicht nur der
Durch diese sehr effektiven Rückresorptionsmechanismen Extrazellulärraum, sondern auch entsprechend der Intrazellulär-
wird die Proteinurie im Endurin unter 30 mg pro Tag gehalten. raum, d. h. die Körperzellen schrumpfen. Besonders empfindlich
auf Volumenänderungen reagieren dabei Neurone, weshalb im
klinischen Beschwerdebild Störungen des Zentralnervensystems
Zusammenfassung im Vordergrund stehen. Rasche Dehydratation kann so zu Be-
Im Primärharn enthaltene Monosaccharide werden im proxi- wusstseinstrübung bis hin zu Koma und Tod führen.
malen Tubulus über spezifische Transportsysteme vollstän- Wenn sich die hypertone Dehydratation langsam entwickelt,
65 dig reabsorbiert. Ebenso werden Aminosäuren, Peptide und können Hirnzellen durch zusätzliche Bildung von Osmolyten
Proteine abhängig von ihrer Größe entweder über spezifi- (z. B. Inositol) ihre intrazelluläre Osmolarität erhöhen und so ihr
sche Transportsysteme oder über rezeptorvermittelte Endo- Volumen weitgehend konstant halten.
cytose im proximalen Tubulus fast vollständig resorbiert. Wassermangel und der damit assoziierte Anstieg der Plas-
maosmolarität führen normalerweise zu einer maximalen
ADH-Freisetzung und in Folge zur maximalen Antidiurese
sowie parallel dazu zu einer Aktivierung des Durstgefühls.
65.8 Harnpflichtige Substanzen Durch die Kombination renaler Wasserretention und oraler
Wasseraufnahme können Flüssigkeitsdefizite und die damit ver-
Die Eliminierung der im Stoffwechsel entstehenden (toxischen) bundene Erhöhung der Osmolarität in kurzer Zeit ausgeglichen
Endprodukte ist eine wichtige Funktion der Niere. Die dabei be- werden.
teiligten Mechanismen sind in . Tab. 65.6 zusammengestellt. Beim Diabetes insipidus centralis kann die Neurohypophy-
se kein ADH mehr sezernieren (z. B. Tumoren oder idiopa-
thisch). Als Folge des fehlenden ADH-Effekts auf die Wasserre-
absorption in der Niere werden große Volumina hypotonen
Harns ausgeschieden, wobei im Extremfall Werte bis zu 40 l/Tag
beobachtet wurden. Die Behandlung der Erkrankung erfolgt
durch Vasopressinsubstitution.
65.9 · Pathobiochemie des Wasser- und Elektrolythaushalts
837 65
Der ADH-resistente Diabetes insipidus renalis ist eine 4 eine Erhöhung des kapillären hydrostatischen Drucks
seltene, meist X-chromosomal vererbte Krankheit. Bei ihr liegt wie z. B. bei Herzinsuffizienz, Flüssigkeitsübertritt ins
der Defekt in den Tubulusepithelien, die entweder keinen in- Interstitium und damit einer Reduktion des Plasma-
takten Vasopressinrezeptor besitzen oder Mutationen in den volumens,
Aquaporinen tragen, wodurch die Sammelrohre selbst bei sehr 4 eine Abnahme des kapillären kolloidosmotischen Drucks
hohen ADH-Konzentrationen die Wasserresorption nicht stei- durch Proteinverlust (nephrotisches Syndrom) oder ein-
gern können. geschränkte Neubildung von Albumin (Hungerzustände,
Leberzirrhose). Bei der Leberzirrhose löst die Erhöhung des
Hyperhydratation bei Hyponatriämie Sie entwickelt sich bei Portalvenendrucks zusätzlich die Bildung von lokalen
übermäßiger Zufuhr von hypotonen Flüssigkeiten (z. B. Wasser, Ödemen im Bauchraum (Aszites) aus.
Infusionen), wenn gleichzeitig die renale Wasserausscheidung
vermindert ist. Durch den Abfall des osmotischen Drucks im Die mit den generalisierten Ödemen einhergehende Hypovolä-
Extrazellulärraum schwellen die Zellen an, was bei raschen Än- mie löst entsprechende gegenregulatorische Maßnahmen zur
derungen ein lebensgefährliches Hirnödem hervorrufen kann. Wiederherstellung des Volumens aus und führt zur Aktivierung
Eine gravierende Einschränkung der renalen Wasseraus- des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Durch die ver-
scheidung beobachtet man bei einer allgemeinen Einschränkung stärkte Bildung von Angiotensin-II und nachfolgend stimulierte
der exkretorischen Nierenfunktion (Niereninsuffizienz) oder bei Aldosteronbildung entwickelt sich daraus ein sekundärer
pathologisch gesteigerter ADH-Sekretion. Hyperaldosteronimus.
Ein mit gesteigerter ADH-Sekretion einhergehendes
Krankheitsbild (SIADH: syndrome of inappropriate antidiuretic Reninhypersekretion Eine unregulierte Mehrsekretion von Re-
hormone secretion) findet sich relativ häufig. Es kommt beson- nin und damit einhergehende Aktivierung des Renin-Angioten-
ders bei kleinzelligen Bronchialkarzinomen, aber auch bei ande- sin-Systems kann ebenfalls zu einer Erhöhung des Natrium-
ren Karzinomen vor (Pankreas-, Duodenal-, Blasenkarzinom, bestands führen. Eine klassische Situation hierfür stellt die ein-
Lymphosarkom, Morbus Hodgkin) und wird durch eine ektopi- seitige Nierenarterienstenose dar. Die dabei herabgesetzte rena-
sche Vasopressinsekretion der genannten Tumoren verursacht. le Durchblutung löst in der befallenen Niere eine massiv
Darüber hinaus kann das Krankheitsbild auch als Folge einer gesteigerte Reninproduktion und -freisetzung aus, die zu einer
Reihe zentral nervöser Erkrankungen auftreten. Bei den Patien- Steigerung der Angiotensin-II-Konzentration im Blut und auf-
ten findet sich eine Unfähigkeit, einen hypotonen Urin auszu- grund der vasopressorischen Wirkung dieses Hormons zur
scheiden. Dies führt zur Flüssigkeitsretention und infolge der massiven Hypertonie führt. Ein v. a. nächtlich auftretender Ab-
dadurch ausgelösten Verdünnung zur Hyponatriämie. Betroffe- fall der Nierenperfusion bei Herzinsuffizienz löst ebenfalls eine
ne weisen eine ausgeprägte Natriurese auf, die nicht durch Na- Steigerung der Reninfreisetzung und Aktivierung des Renin-
triuminfusionen, sondern nur durch Verringerung der Flüssig- Angiotensin-Systems aus. Dies führt bei den Patienten in der
keitszufuhr reduziert werden kann. Folge zu einer Salz- und Wasserretention, welche die einge-
schränkte Pumpfunktion des Herzens noch weiter verschlech-
tert. Bei Patienten mit essentieller Hypertonie (ca. 95 % aller
65.9.2 Natriumhaushalt Hypertonieformen!) sind zwar erhöhte Reninkonzentrationen
im Plasma eher selten, trotzdem führt eine Behandlung mit
Ein Natriumüberschuss entsteht durch eine ACE-Hemmstoffen meist zu einer sehr deutlichen Absenkung
autonome Sekretion von Aldosteron des Blutdrucks, woraus man auf die Existenz lokaler Renin-
oder als Folge von Ödemen Angiotensin-Systeme (z. B. in der Gefäßwand, Herzmuskel etc.)
Primärer Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom) Er wird durch schließt.
Adenome oder Karzinome der die Mineralocorticoide produ-
zierenden Zellen der Nebennierenrinde verursacht. Das Krank- Natriumüberschuss und Ödeme können
heitsbild ist durch die Wirkung pathologisch erhöhter, autonom mit Hemmstoffen des Renin-Angiotensin-
sezernierter Mineralocorticoide, meist Aldosteron, geprägt. Ty- Aldosteron-Systems beseitigt werden
pischerweise findet sich bei den betroffenen Patienten eine er- Klinisch machen sich Ödeme bemerkbar, wenn ca. 3–4 l Flüssig-
höhte Natriumretention bei gesteigerter Kaliumausscheidung. keit in das Interstitium eingelagert wurden. Das erfordert eine
Der letztere Effekt des Aldosterons bewirkt eine Hypokaliämie zusätzliche Retention von 0,5 mol NaCl (ca. 30 g) oder mehr, was
mit Folgeerscheinungen wie Müdigkeit, Muskelschwäche u. a. ein Anzeichen für eine unangemessen hohe Aktivierung des
Die gesteigerte Natriumretention führt zu einer gleichzeitigen Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems ist. Deshalb werden bei
Wasserretention und damit zur Ausbildung von Ödemen, erhaltener Nierenfunktion Ödeme häufig mit Diuretika oder An-
häufig mit Hypertonie. tagonisten des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems behan-
delt. Seine Hemmung gelingt mittlerweile therapeutisch sehr gut
Sekundärer Hyperaldosteronimus Dieser tritt oft bei generalisier- mit spezifischen Blockern der AngII-AT1-Rezeptoren oder
ten Ödemen auf. Grundlagen für deren Entstehung können sein: durch Hemmer des angiotensin-I-converting-enzyme, welche die
4 eine eingeschränkte renale Ausscheidung von Natrium wie Bildung des biologisch aktiven AngII verhindern.
z. B. bei terminalem Nierenversagen,
838 Kapitel 65 · Niere – Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten

Durch Salzverlust kann rasch ein


Natriumdefizit entstehen
Natriummangelzustände führen aus osmotischen Gründen zu
einer Verringerung des Extrazellulärraums und damit auch des
Plasmavolumens. Entsprechend ist die Füllung des Kreislauf-
systems vermindert und es kann sich ein hypovolämischer
Kreislaufschock entwickeln.
Ursachen dafür können sein:
4 Verluste aus dem Magen-Darm-Trakt durch Erbrechen
oder Durchfall (Darminfektionen wie z. B. Cholera).
4 Starke Schweißproduktion: Bei einer Schweißproduktion
von >3 l/Tag muss zusätzlich Natrium angeboten werden,
da die in der Nahrung enthaltene Menge an Kochsalz (ca. . Abb. 65.22 Verschiebung von Kaliumionen zwischen Intra- und
10 g/Tag) den Verlust nicht mehr kompensiert. Extrazellulärraum bei Änderungen der Protonenkonzentration des Extra-
4 Hypoaldosteronismus: Eine verminderte Bildung und Frei- zellulärraums
setzung von Mineralocorticoiden, speziell von Aldosteron,
ist ein relativ seltenes Krankheitsbild. Es entwickelt sich im
Verlauf einer allgemeinen Nebenniereninsuffizienz (Mor- Hypokaliämie bei einem Kaliumwert <3,5 mmol/l vor. Massive
bus Addison) und gelegentlich beim adrenogenitalen Syn- Essstörungen, z. B. bei Anorexia nervosa, aber auch Fehlernäh-
drom (7 Kap. 40.2.6). Als Folge derartiger Krankheitsbilder rung bei Alkoholismus, können die Kaliumzufuhr wesentlich
bildet sich ein Salzverlustsyndrom mit Hyponatriämie und vermindern. Ursachen für eine verstärkte renale Ausscheidung
Hyperkaliämie. sind Hyperaldosteronismus oder massive Salzverluste durch
4 Unkontrollierter Einsatz von harnfördernden Mitteln. Diuretika bzw. durch kongenitale genetische Kaliumverlustsyn-
drome, wie das Bartter-Syndrom oder das Liddle-Syndrom.
Chronischer Kaliummangel führt zu degenerativen Veränderun-
65.9.3 Kaliumhaushalt gen im Myokard und am Skelettmuskel, die funktionelle Störun-
gen wie Muskelschwäche und Paralyse zur Folge haben. Bei Hy-
Da Kalium ganz vorwiegend intrazellulär lokalisiert ist, lassen pokaliämie zeigen sich im EKG charakteristische Veränderun-
Bestimmungen der Plasmakaliumkonzentration keine verlässli- gen, so z. B. ein Abflachen der T-Welle und Auftauchen der sog.
chen Abschätzungen des Gesamtkörperkaliums zu. Indirekten U-Welle.
Aufschluss hierüber gibt die Messung von Kalium im Erythrocy-
ten. Störungen des Kaliumhaushalts beruhen meist auf Störun-
gen der renalen Kaliumausscheidung. 65.9.4 Niereninsuffizienz

Hyperkaliämie Hyperkaliämien, die durch einen Anstieg der Bei Niereninsuffizienz steht eine verminderte
Plasmakaliumkonzentration über 5,5 mmol/l gekennzeichnet Ausscheidungsfunktion im Vordergrund
sind, sind meist ein Zeichen einer unzureichenden Nierenfunk- Bei einer akuten oder chronischen Einschränkung der renalen
tion (Niereninsuffizienz). Weiterhin kann auch eine ungenügende Ausscheidungsfunktion kommt es zunächst zu einem Anstieg
Produktion von Aldosteron (Hypoaldosteronismus) eine ver- der harnpflichtigen Stoffe ohne generelle Vergiftungserschei-
65 mehrte Freisetzung aus dem Gewebe bei Verletzungen oder nungen und nachfolgend zur vollen Ausbildung des klinischen
Hämolyse zu einer Hyperkaliämie führen. Auch ausgeprägte Bildes, zur Urämie.
Acidosen gehen mit einer Hyperkaliämie einher (. Abb. 65.22). Neben der Erhöhung der harnpflichtigen Substanzen sind in
Eine Hyperkaliämie macht sich zuerst im EKG durch eine der Regel gestörte Regulationen des Wasser- (Wasserretention,
Veränderung des Kammerkomplexes (»hohe T-Welle«) bemerk- Anstieg der Plasmaosmolarität durch Harnstoff), Elektrolyt-
bar; am Herzen treten Arrhythmien, bis hin zum Herzstillstand (ungenügende Kaliumausscheidung) und des Säure-Basen-
auf. Bei bedrohlicher Hyperkaliämie kann durch die gleichzeitige Haushalts (verminderte Protonenausscheidung) zu beobachten.
Verabreichung von Insulin und Glucose Kalium aus dem Extra- Diese Veränderungen und Urämietoxine wie Guanidine, Phe-
zellulärraum in den Intrazellulärraum verschoben werden. Mit nole und Amine induzieren massive Störungen des Zellmeta-
der oralen Gabe von Ionenaustauscherharzen kann die intestina- bolismus wie beispielsweise eine Blockade der oxidativen Phos-
le Resorption von Kalium gehemmt werden. phorylierung in den Mitochondrien.
Die Behandlung der chronischen Niereninsuffizienz besteht in
Kaliummangel und Hypokaliämie Bei kaliumarmer Ernährung der Entfernung der Urämietoxine und harnpflichtigen Stoffe sowie
kann die tägliche renale Kaliumausscheidung bis auf ca. der Korrektur der Elektrolytentgleisungen durch Dialyseverfahren
8–10 mmol/Tag herabgesetzt werden. Voraussetzungen für die wie Hämo- oder Peritonealdialyse. Durch die Entwicklung im-
Entwicklung eines Kaliummangels sind daher in der Regel neben mer spezifischerer und nebenwirkungsärmerer Immunsuppresiva
einer reduzierten Zufuhr auch starke Verluste über die Niere ist die Nierentransplantation zu der Therapieform der Nierenin-
oder den Magen-Darm-Trakt (Diarrhö). Im Plasma liegt eine suffizienz geworden, die am meisten Erfolg verspricht.

Acidose Alkalose
65.9 · Pathobiochemie des Wasser- und Elektrolythaushalts
839 65

Zusammenfassung
Übermäßige Wasserverluste bzw. Zufuhr hypotoner Flüssig-
keiten können zu Dehydratation bzw. Hyperhydratation
führen. Bei isotonen Veränderungen des Wasserbestands
verändert sich auch parallel der Natriumbestand des Kör-
pers. Entsprechend ist die Regulation des Wasserhaushalts
eng mit der Regulation des Natriumhaushalts verflochten.
Primär (Nebennierenrindenadenome) oder sekundär (über Re-
nin) induzierte Aldosteronhypersekretion führen zur Natrium-
retention und damit sekundär zu Ödemen und Bluthoch-
druck. Die gesteigerte Aldosteronwirkung bewirkt auch
Kaliumverluste (Hypokaliämie). Störungen des Kaliumhaus-
halts gehen häufig mit Beeinträchtigungen des Säure-Basen-
Haushalts einher, Hypokaliämie mit Alkalose und Hyper-
kaliämie mit Acidose.
Eine unzureichende Ausscheidungsfunktion der Niere
führt zur Akkumulation toxischer Stoffwechselendprodukte
im Körper. Bei anhaltender Funktionsstörung müssen diese
Toxine über eine »Nierenersatztherapie« (Dialyse) aus dem
Blut entfernt werden.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


66 Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt
Armin Kurtz

Einleitung

Als Stoffwechselendprodukte entstehen CO 2 sowie Schwefelsäure,


Phosphorsäure und organische Säuren mit ihren Säureprotonen. Da die
Konstanz der intra- bzw. extrazellulären Wasserstoffionenkonzentration
für die Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen aller Organe des Orga-
nismus von ausschlaggebender Bedeutung ist, muss diese durch Puffe-
rungssysteme und regulierte Ausscheidung von Protonen und Säuren
durch die Nieren gewährleistet werden. Für die Ausscheidung des im
Stoffwechsel anfallenden CO2 sind die Lungen verantwortlich, während
die Protonenausscheidung über die Nieren erfolgt.
Bei diesen Vorgängen spielen die verschiedenen intra- und extrazellulä-
ren Puffersysteme eine besondere Rolle. Im Intrazellulärraum sind dies
Proteinat- und Phosphatpuffer, im Extrazellulärraum v. a. das Kohlen-
dioxid-Hydrogencarbonat-Puffersystem. Für die Regulation der Proto-
nenkonzentration und des Säure-Basen-Haushalts sind hauptsächlich
die Lungen, die Nieren und die Leber verantwortlich.
Für den Mineralstoffwechsel spielen Calcium und Phosphat eine be-
sondere Rolle. Beide sind Bestandteile des Knochens und sind darüber
hinaus an einer Vielzahl zellulärer Prozesse beteiligt. Die Regulation
ihrer  intra- bzw. extrazellulären Konzentrationen sowie ihrer Aus-
. Abb. 66.1 Grundzüge des Säure-Basen-Haushalts. Im Säure-Basen-
scheidung durch die Nieren unterliegt einer komplexen hormonellen
Haushalt sind die Eliminationswege und Bilanzen für Kohlendioxid und die
Regulation. Protonen nicht-flüchtiger Säuren völlig voneinander getrennt. Die Verknüp-
fung beider Komponenten zum Säure-Basen-Gleichgewicht erfolgt durch
Schwerpunkte Puffersysteme

4 Produktion flüchtiger und nichtflüchtiger Säuren im


Stoffwechsel
enzymatischen Reaktionen und Reaktionsketten in der Zelle
4 Puffersysteme des Intra- bzw.- Extrazellulärraums
koordiniert funktionieren können, muss demzufolge die
4 Regulation der extrazellulären Protonenkonzentration
Protonenkonzentration intra- und extrazellulär durch Puffersys-
durch die Lungen
teme in engen Grenzen konstant gehalten werden.
4 Bedeutung von Nieren und Leber für den Säure-Basenhaus-

66 halt
4 Funktionen und Ausscheidung von Calcium und Phosphat
66.1.1 Produktion von Säuren
4 Regulation des Calcium- und Phosphatstoffwechsels durch
durch den Stoffwechsel
Parathormon, Thyreocalcitonin und 1,25-Dihydroxy-
cholecalciferol
Als Endprodukte des Stoffwechsels entstehen CO2 und je nach
4 Acidosen und Alkalosen
Nahrungszusammensetzung 50–100 mmol Säuren wie Schwefel-
4 Hypo- und Hypercalciämien
säure, Phosphorsäure und organische Säuren mit ihren Säure-
protonen. Während CO2 in der Lunge abgeatmet wird, müssen
Protonen über die Nieren ausgeschieden werden (. Abb. 66.1).

66.1 Der Säure-Basen-Haushalt Täglich werden bei körperlicher Tätigkeit


etwa 24 mol (1,1 kg) Kohlendioxid
Änderungen der Wasserstoffionenkonzentration beeinflussen über die Lungen abgeatmet
die katalytische Aktivität von Enzymen, die Funktion von Kohlendioxid wird bei vielen katabolen Reaktionen durch dehy-
Ionenkanälen oder die Bildung von Signalsubstanzen. Damit die drierende oder nicht-dehydrierende Decarboxylierung freige-
zahlreichen, zeitlich und räumlich nebeneinander ablaufenden setzt. Ein geringer Teil des freien Kohlendioxids kann in Car-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_66, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
66.1 · Der Säure-Basen-Haushalt
841 66
boxylierungsreaktionen wieder fixiert werden, der überwiegen-
de Teil – etwa 24.000 mmol pro Tag beim gesunden Erwachsenen
mit normaler körperlicher Aktivität – wird durch die Carboan-
hydrase in Hydrogencarbonat und Protonen umgewandelt:

CO2 + H2O HCO3‒ + H+

Hydrogencarbonat wird im Blutplasma zu den Lungen transpor-


tiert, die bei der Bildung von Hydrogencarbonationen entstehen-
den Protonen werden vorwiegend durch Hämoglobinmoleküle
abgepuffert. Im Bereich der Lungen werden die Protonen wieder
abgegeben und für die Carboanhydraserückreaktion verwendet.
Das dabei entstehende CO2 wird abgeatmet.
. Abb. 66.2 Hauptmechanismen der zellulären Protonen und Hydro-
Der Abbau von Aminosäuren liefert einen gencarbonatextrusion. Der Export von Protonen kann im Symport mit
Überschuss nichtflüchtiger Säuren Anionen (z. B. Lactat), durch elektroneutral arbeitende Antiporter (im
Der Aminosäureabbau trägt wesentlich zur Produktion nicht- Austausch mit K+ oder Na+) oder elektrogen durch eine zu den V-ATPasen
gehörende H+-ATPase erfolgen. In neutraler Form können Protonen als
flüchtiger Säuren bei: Kohlendioxid oder Ammoniak eliminiert werden. Die Hydrogencarbonat-
4 Beim Abbau der schwefelhaltigen Aminosäuren Cystein abgabe erfolgt hauptsächlich im Antiport mit Chlorid oder im Symport mit
und Methionin entsteht als Endprodukt Schwefelsäure. Natrium, in neutraler Form als Kohlendioxid
4 Der Abbau der basischen Aminosäuren Lysin, Arginin und
Histidin liefert neben neutralen Produkten ein Proton.
4 Beim Abbau von Glutamat und Aspartat werden Protonen Im Stoffwechsel anfallende Säuren/Basen können die Zell-
verbraucht, was einer Nettoproduktion von HCO3‒ ent- membran auf verschiedenen Wegen permeieren (. Abb. 66.2):
spricht. 4 durch nicht-ionische Diffusion der ungeladenen Form
schwacher Säuren und Basen wie z. B. NH3, CO2 oder
Insgesamt resultiert aus dem Proteinabbau ein Überschuss an Milchsäure,
nicht-flüchtigen Säuren, was auch als sog. Säureüberschuss der 4 über den Na+/H+-Antiport; hier wird der passive Na+-Ein-
Nahrungsproteine bezeichnet wird. Mit proteinreichen Nah- strom zum Export von H+ genutzt; es ist ein ubiquitäres
rungsmitteln (z. B. Fleisch, Eier oder Getreideprodukte) entsteht System, das in allen Zellen vorliegt und bei intrazellulärer
ein saurer Urin, mit Milch, Obst und Gemüse (lactovegetabile Acidose aktiviert wird,
Kost) ein alkalischer Harn. Die normale Mischkost aus säure- 4 über H+/(K+)-ATPasen,
und basenüberschüssigen Nahrungsstoffen liefert täglich etwa 4 über eine zu den V-ATPasen gehörende Protonen-
60 ± 20 mmol Protonen. ATPase,
4 über die in vielen Zellen vorkommenden Cl–/HCO3‒-Anti-
Das Phosphat der Nahrung ist ebenfalls porter bzw. Na+/HCO3–-Cotransportsysteme, die in Abhän-
eine Protonenquelle gigkeit von den aktuellen elektrochemischen Gradienten
Die übrigen mit der Nahrung zugeführten Protonen stammen im eine Nettoverschiebung von Base (HCO3–) zwischen Extra-
Wesentlichen aus dem Nahrungsphosphat; anorganisches Phos- und Intrazellulärraum erlauben.
phat, das z. B. in einem sauren Fruchtsaft überwiegend als Dihy-
drogenphosphat vorliegt, geht im alkalischen Milieu des Darmes
in Hydrogenphosphat unter Freisetzung von Protonen über. 66.1.3 Puffersysteme des Intra-
und Extrazellulärraums

66.1.2 Protonengleichgewicht zwischen Während für die Pufferung im Intrazellulärraum Phosphat- und
Intra- und Extrazellulärraum Proteinatpuffer (s. u.) entscheidend sind, wird der pH-Wert des
Extrazellulärraums durch verschiedene andere Puffersysteme
Die H+-Ionenkonzentration in Blut und extra- bzw. intrazellulä- eingestellt.
ren Flüssigkeiten wird wie üblich als pH-Wert angegeben:
4 Im Blut und damit auch im Extrazellulärraum liegt der pH Das Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-System und
im Mittel bei 7,4 (40 nmol H+/l) mit einem physiologischen Proteine sind die wichtigsten extrazellulären Puffer
Schwankungsbereich von pH 7,36–7,44. Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-Puffersystem Von den Puffern
4 Der intrazelluläre pH-Wert liegt mit pH 7,0–7,2 in der Re- des Extrazellulärraums – zusammenfassend als Pufferbasen be-
gel etwas unter dem extrazellulären. zeichnet – stellt das Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-System,
das vorwiegend im Blutplasma lokalisiert ist, etwa die Hälfte dar.
In allen Zellen existieren Transportmechanismen für den H+- Es ist als sog. offenes Puffersystem von ganz besonderer physio-
Export bzw. Basenimport. logischer Bedeutung.
842 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

H+ + HCO3‒ CO2 + H2O Die Konzentration von Kohlendioxid in den Körperflüssig-


keiten ist direkt vom Partialdruck des Kohlendioxids in den Lun-
Mit den im Plasma nachgewiesenen Konzentrationen ergibt sich genalveolen (40 mmHg) abhängig:
mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung (7 Kap. 1.5) bei ei-
nem pK von 6,1 CO2 = s . pCO2 (s = molarer Löslichkeitskoeffizient)

pH = 6,1 + log [HCO3‒]/[CO2] Der alveoläre pCO2 ist dem Verhältnis aus CO2-Produktion des
pH = 7,4 Körpers und alveolärer Ventilation proportional (s. Lehrbücher
der Physiologie).
Nicht-Hydrogencarbonatpuffer Hierunter fallen die Aminosäu- Entsprechend führt eine erhöhte Ventilation bei gleichblei-
reseitenketten der Proteine (Proteinatpuffer). Proteine sind bender CO2-Produktion (Hyperventilation) zu einer Abnahme
Ampholyte und können im physiologischen pH-Bereich Proto- des CO2-Partialdrucks in den Alveolen, einer Abnahme der
nen vor allem an die Imidazolgruppen des Histidins und die SH- CO2-Konzentration im Plasma, zur Nachbildung von CO2 nach
Gruppen des Cysteins assoziieren. Unter diesen Puffersystemen, dem Massenwirkungsgesetz und dadurch zur Abnahme der Pro-
deren Anteil an der Gesamtkonzentration 50 %, an der Gesamt- tonenkonzentration (Zunahme des pH-Wertes, Alkalose)
pufferkapazität (s. u.) jedoch nur 25 % beträgt, nimmt das Hämo- (. Abb. 66.3). Diese Reaktion kann eine schnelle Änderung der
globin aufgrund seiner hohen Konzentration (160 g/l Blut) und Protonenkonzentration hervorrufen, dient jedoch nicht als pri-
des hohen Gehalts an Imidazolgruppen (mehr als 50 mmol/l märer Mechanismus zur Ausscheidung von Protonen, da bei
Blut), die vorrangige Stellung ein. Da der pK-Wert des desoxyge- diesem Vorgang die gleiche Menge Hydrogencarbonat ver-
nierten Hämoglobins mit 8,25 höher als der des oxygenierten braucht wird. Ein Teil der Protonen wird von Nicht-Hydrogen-
Hämoglobins (6,95) liegt, ist Desoxyhämoglobin die schwächere carbonatpuffern (insbesondere dem Hämoglobin) nachgeliefert.
Säure und damit der bessere Puffer. Weil dadurch der Anteil des dissoziierten Hämoglobins (Hb–) als
Die isoelektrischen Punkte der Plasmaproteine liegen eben- Pufferbase zunimmt, ändert sich trotz des Abfalls der Hydrogen-
falls im sauren Bereich (4,9–6,4). Sie sind daher bei pH 7,4 An- carbonatkonzentration die Gesamtpufferanionenkonzentration
ionen, deren Pufferkapazität etwa 5 mmol/l/pH beträgt. nicht.
Ein weiterer relevanter Nicht-Hydrogencarbonatpuffer ist Auf der anderen Seite führt eine herabgesetzte Atmung
das Dihydrogen-Hydrogenphosphat-System (H2PO4– H+ + (Hypoventilation) zu einer Erhöhung des CO2-Partialdrucks in
HPO42–). Für seine Pufferkapazität wirkt sich besonders günstig den Alveolen, zu einer Zunahme der CO2-Konzentration im
aus, dass der pK-Wert (6,88) fast mit dem Zell-pH von ca. 7,0 Plasma, zu der Verlagerung der Reaktion auf die rechte Seite und
übereinstimmt. Wegen seiner geringen Plasmakonzentra- dadurch zur Zunahme der Protonenkonzentration (Abnahme
tion (1 mmol/l) ist es jedoch nur mit 1 % an der extrazellulären des pH-Wertes, Acidose) (. Abb. 66.3). Diese Reaktionen, durch
Gesamtpufferkapazität beteiligt. In der Zelle findet sich Phos- die der CO2-Partialdruck auf das 2- bis 3fache (von 40 auf 80–
phat in wechselnd hohen Konzentrationen (100–150 mmol/l), 120 mmHg) angehoben werden kann, führen zu einer Erhö-
wobei es allerdings überwiegend an Makromoleküle gebunden hung der Hydrogencarbonatkonzentration. Da ein Teil der ge-
ist. bildeten Protonen durch Nicht-Hydrogencarbonatpufferanio-
Dem Ammoniak-Ammonium-System kommt aufgrund sei- nen aufgenommen wird, ändert sich wegen des damit verbun-
ner sehr geringen Konzentration (40 mmol/l) und des ungünsti- denen Abfalls der Nicht-Hydrogencarbonatpufferanionen die
gen pK-Wertes (9,40) keine Bedeutung bei der Pufferung im Gesamtpufferbasenkonzentration trotz des Hydrogencarbonat-
Extrazellulärraum zu. anstiegs nicht.

66 66.1.4 Bedeutung der Lungen bei der Regulation 66.1.5 Bedeutung der Nieren und der Leber
der Protonenkonzentration für den Säure-Basen-Haushalt

Obwohl die Puffersysteme des Organismus die täglich gebildeten Organische Basen und Säuren können im proxima-
fixen Säuren leicht abpuffern können, wäre ein Überleben ohne len Tubulus resorbiert wie auch sezerniert werden
Ausscheidung der Protonen und damit Regeneration der Puffer Organische Kationen Für die Ausscheidung zahlreicher kationi-
nicht möglich. Die beiden wesentlichen Regulationsvorgänge scher Medikamente, die wegen ihres hydrophoben Charakters
werden durch die Lungen und die Nieren vermittelt (. Abb. häufig an Plasmaproteine gebunden sind und deshalb glomeru-
66.1). lär nicht filtriert werden können, stellt die tubuläre Sekretion den
Haupteliminationsmechanismus dar. Ebenso werden endogen
Die Lungen sind an der Regulation über gebildete Kationen, z. B. Cholin oder biogene Amine, im proxi-
das Hydrogencarbonatpuffersystem beteiligt malen Tubulus in der Regel sezerniert. Dazu werden die organi-
Durch die Atmung wird direkt nur das CO2/HCO3–-System be- schen Kationen mittels des polyspezifischen Uniporters OCT2
troffen. Da jedoch in einer Lösung mit mehreren Puffersystemen (organic cation transporter) basolateral in die Zelle aufgenom-
ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Puffern besteht, sind men und luminal über einen polyspezifischen Kationen/Proto-
indirekt auch die anderen Puffer betroffen. nenantiporter abgegeben.
66.1 · Der Säure-Basen-Haushalt
843 66

A tion von körpereigenen Abfallstoffen vermindert werden, was


zur Akkumulation dieser Stoffe im Körper führen und entspre-
chende Krankheitserscheinungen auslösen kann.
Eine besondere Rolle spielen diese Zusammenhänge bei der
Entstehung und der Therapie der Gicht (7 Kap. 31.2).

Protonensekretion und Hydrogencarbonat-


resorption sind miteinander gekoppelt und erfolgen
im proximalen Tubulus und im Sammelrohr
Im Stoffwechsel des Menschen entstehen täglich je nach Nah-
B rungszusammensetzung 50–100 mmol nicht-flüchtige Säuren,
deren Protonen über die Niere ausgeschieden werden müssen.
Dafür stehen drei Mechanismen zur Verfügung:
4 Na+/H+-Austausch im proximalen Tubulus. Bei der Sekre-
tion der Protonen in den Urin wird in der proximalen
Tubuluszelle CO2, das entweder aus dem Stoffwechsel der
Zelle selbst stammt bzw. aus der Tubulusflüssigkeit oder
dem Blut entnommen wird, unter Katalyse des Enzyms
Carboanhydrase II in Hydrogencarbonat und Protonen
. Abb. 66.3 Hyper- und Hypoventilation. A Die vermehrte Abatmung umgewandelt. Während Letztere im Austausch gegen
von CO2 bei Hyperventilation führt zur Abnahme des CO2-Partialdrucks, der Natrium in die Tubulusflüssigkeit diffundieren, tritt
Hydrogencarbonat- und der Protonenkonzentration. Durch die Nicht-
Hydrogencarbonat im Cotransport mit Natrium (Stöchio-
Hydrogencarbonatpuffer werden Protonen nachgeliefert und gleichzeitig
Nicht-Hydrogencarbonatpufferanionen gebildet, die den Verlust des metrie 3:1) in den Extrazellulärraum (7 Abb. 65.7). Die
Pufferanions Hydrogencarbonat ausgleichen. Die Gesamtkonzentration der intrazelluläre Kohlensäureproduktion ist dabei direkt
Pufferanionen bleibt deshalb unverändert. B Die verringerte Abatmung von abhängig vom pCO2. Je höher der pCO2 in der Zelle, umso
CO2 bei Hypoventilation führt zum Anstieg des CO2-Partialdrucks, der Pro- mehr Protonen werden sezerniert und Hydrogencarbona-
tonen- und Hydrogencarbonatkonzentration. Durch die Nicht-Hydrogen-
tionen reabsorbiert. Sinkt der pCO2, dann sinken ebenfalls
carbonatpuffer werden Protonen aufgenommen und gleichzeitig Nicht-
Hydrogencarbonatpufferanionen verbraucht, wodurch trotz der Erhöhung die Protonenausscheidung und die Hydrogencarbonat-
der Hydrogencarbonatkonzentration die Gesamtkonzentration der Puffer- resorption.
anionen konstant bleibt. Die Größen, deren Konzentration abfällt, sind mit 4 Protonen- und Hydrogencarbonatsekretion im Sammel-
einem grauen Raster, diejenigen, deren Konzentration ansteigt, mit einem rohr. In den Urin werden Protonen von Schaltzellen des
roten Raster hinterlegt
Typs A im Sammelrohr sezerniert (H+-ATPasen) und füh-
ren Hydrogencarbonat dem Extrazellulärraum zu (. Abb.
66.4A). Schaltzellen des Typs B sezernieren Hydrogencarbo-
Säureanionen Anorganische (z. B. Phosphat etc.) aber auch nat in den Urin und führen Protonen dem Extrazellulär-
kleine organische (z. B. Acetat etc.) Anionen werden normaler- raum zu (. Abb. 66.4B). Zugrunde liegt wiederum eine
weise mittels Na+-gekoppelten Cotransportsystemen (Na+- intrazelluläre Bildung von Hydrogencarbonat und Proto-
Mono(Di)carboxylatcotransporter, Na+-Phosphatcotransporter nen. Das Verhältnis von Typ-A- zu Typ-B-Schaltzellen ist
etc.) über die luminale Membran aufgenommen und in den Zel- dabei variabel, da sie ineinander übergehen können. Je hö-
len des proximalen Tubulus angereichert. Durch die basolaterale her längerfristig die Protonenkonzentration im Blut ist,
Membran werden diese Anionen mit Hilfe passiver Transport- umso höher ist die Zahl der protonensezernierenden Typ-
systeme wieder ausgeschleust. A-Zellen und umgekehrt.
Zahlreiche größere Anionen, oft auch bestimmte Medi- 4 Desaminierung von Glutamin im proximalen Tubulus.
kamente, werden über den proximalen Tubulus in den Harn Glutamin wird in den perivenösen Zellen der Leber unter
sezerniert. In diesem Fall werden die Anionen basolateral mit- Energieaufwand durch die Glutaminsynthetase aus Gluta-
tels des polyspezifischen Anionenaustauscher OAT1 (organic mat unter Verbrauch von NH3 und H+ synthetisiert
anion transporter) in den proximalen Tubulus hineintranspor- (7 Kap. 27.1.2). Glutamin wird von der Leber in die Zirkula-
tiert und luminal über einen anderen Anionentransporter aus- tion abgegeben, wo es mit 600–800 µmol/l die weitaus
geschleust. höchste Plasmakonzentration aller Aminosäuren erreicht.
Es wird glomerulär filtriert und im proximalen Tubulus mit
Spezifität der Transportsysteme Die Transportsysteme, über anderen Aminosäuren resorbiert. Zusammen mit der zu-
welche in den Nierentubuli organische Basen bzw. Säuren sezer- sätzlichen Resorption aus dem Kapillarblut steht dem proxi-
niert werden, sind polyspezifisch, d. h. sie akzeptieren Substan- malen Tubulus damit Glutamin in beträchtlichem Umfang
zen unterschiedlicher Struktur als Substrate und unterscheiden zur Desaminierung zu Glutamat zur Verfügung (. Abb.
nicht zwischen körpereigenen Substanzen oder Fremdstoffen. 66.5). Das entstehende NH4+ enthält damit ein Proton, wel-
Da alle Transportsysteme ein begrenztes Transportmaximum ches dem Leberstoffwechsel entnommen wurde. Durch eine
haben, kann durch Fremdstoffe wie z. B. Medikamente die Sekre- weitere Desaminierung von Glutamat zu α-Ketoglutarat
844 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

. Abb. 66.4 Schaltzellen Typ A und B. A Protonen-sezernierende/Hydrogencarbonat-reabsorbierende Schaltzelle Typ A. B Hydrogencarbonat-sezernie-


rende/Protonen-reabsorbierende Schaltzelle Typ B. Links: Funktionsschema. Rechts: Ultrastruktur. Die Mitochondrien befinden sich jeweils am Ort des
höchsten ATP-Verbrauchs durch die Protonenpumpe. CA: Carboanhydrase; BM: Basalmembran. (Adaptiert nach Kaissling und Kriz aus Seldin u. Giebisch
2000)

entsteht dann ein weiteres NH4+. Sein Proton entstammt schnittlich 60 mmol Protonen in der Tagesmenge von 1,5 l Urin
der Protonierung der -Aminogruppe des Glutamats und ausgeschieden werden (entsprechend 40 mmol/l Urin), dann
ist damit auch dem Stoffwechsel entzogen worden. Die Be- müsste ein Urin mit einem pH-Wert von 1,4 gebildet werden.
reitstellung von Glutamin seitens der Leber und die Des- Tatsächlich wird aber ein Urin-pH-Wert von 4,5 (Regelbereich
aminierung von Glutamin in der Niere sind pH-abhängig: 4,5–8,2) nicht unterschritten, weil die Protonenpumpen im Sam-
Beide Prozesse werden bei einem Anstieg der Protonenkon- melrohr nur maximal gegen eine H+-Konzentration von
zentration aktiviert und bei einem Abfall entsprechend blo- 30 mmol/l (pH 4.5) arbeiten können. Folglich können die anfal-
ckiert. Bei schwerer Acidose kann die Niere pro Tag 300– lenden Protonen nur zum geringen Teil in freier Form, sondern
400 mmol NH4+ produzieren; allerdings benötigt sie für die hauptsächlich nur in gebundener (gepufferter) Form im Endharn
erforderliche Anpassung mehrere Tage. NH4+-Ionen wer- ausgeschieden werden. Bei einem durchschnittlichen Urin-pH
66 den von der dicken aufsteigenden Henle-Schleife auch an- von 5,5 werden etwa nur 5 μmol H+ pro Tag in freier Form ausge-
stelle von K+ mit dem Na+/K+/2Cl–-Cotransporter resor- schieden. Dass die täglich produzierte Menge Protonen dennoch
biert und im Nierenmark akkumuliert, von wo sie direkt in ausgeschieden werden kann, ist auf die Anwesenheit von Puffern
das Sammelrohr diffundieren und so zum Teil zumindest im Urin zurückzuführen, die die sezernierten Protonen wegfan-
den Weg durch die Rinde abkürzen. gen und damit die weitere Protonensekretion in Gang halten.

Die Ausscheidung von Protonen über Dihydrogenphosphat-Hydrogenphosphat-System Dieses Puf-


den Urin erfordert effektive Puffer fersystem weist im Glomerulumfiltrat eine annähernd gleiche
Die Nieren des Menschen können täglich bis zu 1.000 mmol Konzentration wie im Plasma auf (1 mmol/l) und liegt beim pH-
(1 mol) Protonen ausscheiden bzw. 300–400 mmol einsparen. Wert des Glomerulumfiltrats (7,40) als Hydrogen- und als Dihy-
Die Nierentubuli sind imstande, die Wasserstoffionenkonzentra- drogenphosphat im Verhältnis 4:1 vor. Aufgrund der günstigen
tion im Urin bis auf das 1.000fache zu erhöhen, von 40 nmol/l Lage seines pKʹ-Wertes mit 6,8 (pH = pKʹ ± 1 bei nicht-flüchtigen
(der Konzentration im Blut und Glomerulumfiltrat) auf Puffersystemen!) eignet es sich vorzüglich zur Urinpufferung.
40 000 nmol/l (der Konzentration im Urin bei einem pH von Erst bei einem pH-Wert von 4,5 ist nahezu das gesamte
4,4). Diese 0,04 mmol/l sind jedoch nur ein sehr geringer Teil der Hydrogenphosphat durch Aufnahme von Protonen nach der
täglichen Produktion. Sollte die tägliche Bildung von durch- Gleichung
66.1 · Der Säure-Basen-Haushalt
845 66
eignet sich besonders als Puffer, da es als Endmetabolit beim
Abbau stickstoffhaltiger Verbindungen in nahezu unbegrenzter
Menge zur Verfügung steht. Es wird zwar in Aminierungsreak-
tionen (Glutamatdehydrogenase- und Glutaminsynthetasereak-
tion) teilweise wieder fixiert (wie Kohlendioxid in Carboxylie-
rungsreaktionen), in der tierischen Zelle gibt es jedoch keine
Nettofixierung dieser Endprodukte. Bei Säurebelastungen – z. B.
bei länger dauerndem Hunger, der mit einer Ketoacidose einher-
geht – wird deshalb mehr Stickstoff in Form von Ammoniak als
in Form von Harnstoff ausgeschieden.
Der pK-Wert des Ammonium-Ammoniak-Puffersystems
liegt mit 9,40 relativ ungünstig zum pH-Wert des Glomerulum-
. Abb. 66.5 Verknüpfung von Glutaminabbau und Protonenausschei- filtrats. Somit müsste dieser Puffer in einem geschlossenen Sys-
dung in der Niere. (Einzelheiten s. Text) tem schlecht wirken. Da jedoch durch die Tubuluszellen ständig
Ammoniak nachgeliefert wird, liegt der Puffer praktisch in ei-
nem offenen System vor. Dem Urin können hohe Säuremengen
zugeführt werden, ohne dass sich der pH-Wert wesentlich än-
HPO42‒ + H+ H2PO4‒ dert, weil in wässriger Lösung das Verhältnis von Ammonium-
ionen (NH4+) zu Ammoniakgas (NH3) sehr hoch ist (100:1 bei
in Dihydrogenphosphat umgewandelt. Auf diese Weise werden pH 7,40).
bis zu 50 % der Protonen im Urin von diesem Puffersystem auf-
genommen. Die Leber nimmt über die Harnstoffsynthese an der
Durch Titration des Urins mit Base (NaOH 0,1 mol/l) wird Regulation des Protonenhaushalts teil
diese Pufferung – in vitro – rückgängig gemacht und damit die Auch die Leber ist an der Regulation des Säure-Basen-Haushalts
abgepufferten Protonen quantitativ erfasst. Dieser als titrierbare beteiligt. Bei der Oxidation des Nahrungsproteins (etwa 90 g/
Acidität des Urins bezeichnete Anteil beträgt beim Gesunden Tag) entstehen Hydrogencarbonationen (etwa 60 g bzw. 1 mol/
zwischen 10 und 40 mmol/24 h. Tag), die nicht mit dem Urin ausgeschieden werden können, son-
Die titrierbare Acidität des Urins steigt bei Säurebelastung dern stattdessen in die Harnstoffbiosynthese eingehen: Aus je-
spontan an. weils 2 mol HCO3– und NH4+ entsteht 1 mol Harnstoff, d. h. die
Elimination von Hydrogencarbonat- und Ammoniumion sind
Ammonium-Ammoniak-System Eine weitere Pufferungsmöglich- miteinander gekoppelt (7 Kap. 62.2.2). Muss Hydrogencarbonat
keit ist die Bildung von Ammoniak, die im Gegensatz zu der des eingespart werden, wird dadurch auch weniger Ammonium fi-
Phosphatpuffersystems in den Tubuluszellen erfolgt. Da die Kon- xiert, sodass die NH4+-Ausscheidung auf alternative Stoffwech-
zentration von Ammoniak im Extrazellulärraum und damit auch selwege verlagert werden muss.
im Glomerulumfiltrat aufgrund der entgiftenden Aktivität der Bei einem Anstieg der Protonenkonzentration wird die
Hepatocyten sehr niedrig ist, muss das von den Tubuluszellen in Harnstoffbiosynthese zur Einsparung von Hydrogencarbonat
den Urin freigesetztes Ammoniak aus anderen Quellen stammen. gedrosselt, das überschüssige Ammonium wird vermehrt durch
Wesentlicher Ammoniakdonator ist die Aminosäure Glutamin, Bildung von Glutamin fixiert, welches von der Leber abgegeben
die in verschiedenen Geweben (Muskulatur, Gehirn, Leber) aus wird. Die Ammoniumionen werden dann in den Urin durch re-
Glutamat und freiem Ammoniak gebildet wird, in den Extrazellu- nale Freisetzung aus Glutamin ausgeschieden. Umgekehrt fließt
lärraum übertritt und von den Tubuluszellen aus dem arteriellen bei einem Abfall der Protonenkonzentration vermehrt Hydro-
Blut entnommen wird. Das in den Zellen des distalen und proxi- gencarbonat in den Harnstoffzyklus; das in äquimolaren Mengen
malen Tubulus und der Sammelrohre durch enzymatische Hydro- erforderliche NH4+ wird durch die vermehrte intrahepatische
lyse aus Glutamin freigesetzte Ammoniak diffundiert in das Lu- Hydrolyse (periportale Zellen) von Glutamin (Glutaminasereak-
men und wirkt dort als Protonenakzeptor nach der Gleichung. tion) bereitgestellt, das in diesem Fall von der Leber aufgenom-
men wird (. Abb. 66.6).
NH3 + H+ NH4+

Das entstandene Ammoniumion kann aufgrund seiner Ladung Zusammenfassung


die Tubulusmembran nicht permeieren und verbleibt daher im Der proximale Tubulus hat die Fähigkeit zur Resorption oder
Urin. Sekretion anorganischer oder organischer Säuren oder
Die NH4+-Ausscheidung beträgt beim Gesunden etwa 30– Basen. Im Stoffwechsel entstehen Kohlendioxid (Kohlen-
50 mmol/24 h. Während das Phosphatpuffersystem auf eine säure) und andere nichtflüchtige Säuren als Endprodukte.
Säurebelastung sofort anspricht, steigt die Ammoniumausschei- Da Änderungen der Protonenkonzentration eine Vielzahl
dung erst innerhalb mehrerer Tage allmählich an. Sie kann dafür von zellulären Reaktionen beeinträchtigen, müssen die an-
jedoch erheblich stärker gesteigert werden als die titrierbare Aci- 6
dität und Werte bis zu 500 mmol/24 h erreichen. Ammoniak
846 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

. Abb. 66.6 Wechselwirkung zwischen Leber und Niere bei der Säure-Basen-Ausscheidung. Die Leber fixiert Protonen und Ammoniak direkt bei der
Harnstoffsynthese aber auch bei der Bildung von Glutamin aus Glutamat. Glutamin wird sowohl in der Leber als auch der Niere durch Glutaminasen wieder
desaminiert. In der Niere werden die Ammoniumionen mit dem Urin ausgeschieden, in der Leber werden sie wiederum zur Harnstoffsynthese verwendet.
Da die Harnstoffsynthese Hydrogencarbonat benötigt, werden mit der Protonenausscheidung in Form von Harnstoff auch Pufferbasen verbraucht. Bei ei-
ner Säurebelastung des Körpers (Acidose) wird die Glutaminase in der Leber gehemmt und in der Niere stimuliert. Somit werden Protonen und Ammoniak
direkt in der Niere ausgeschieden, es wird weniger Harnstoff gebildet, wodurch Pufferbasen gespart werden. Bei einem Basenüberschuss (Alkalose) wird
hingegen die Leberglutaminase stimuliert und diejenige der Nieren gehemmt. Dadurch werden Protonen und Ammoniak in der Niere vermindert ausge-
schieden. Entsprechend wird mehr Harnstoff gebildet, was mit einem vermehrten Verbrauch und gesteigerter Ausscheidung von Pufferbasen einhergeht

Zähne (7 Kap. 72.7). Neben der mechanischen Funktion, die der


fallenden Protonen zunächst gepuffert und anschließend Knochen als Stützgewebe erfüllt, dient das Knochengewebe auch
ausgeschieden werden. als Speicherorgan für Calciumionen, aus dem es bei Calcium-
Proteine und Phosphat sind die wichtigsten intrazellulären mangel mobilisiert werden kann. Etwa 1 % des Calciumpools der
Puffer, das Kohlendioxid-Hydrogencarbonat-System und Knochen ist zu diesem Zweck verfügbar.
Proteine (Hämoglobin) die wichtigsten extrazellulären
Puffer. Blutgerinnung Als freies Ion ist Calcium durch Bildung von
Alle Puffersysteme stehen dabei miteinander im Gleichge- Komplexen mit Phospholipiden und Gerinnungsfaktoren (Bin-
wicht. Die Pufferfähigkeit des Körpers wird durch die Puffer- dung an γ-Carboxyglutamylgruppen, (7 Kap. 58.5) an der Akti-
kapazität und den Basenüberschuss des Bluts reflektiert. vierung des intrinsischen und extrinsischen Systems der Blutge-
An der Ausscheidung von Protonen und Pufferbasen bzw. rinnung beteiligt (7 Kap. 69.1.3).
deren Rückgewinnung sind die Lunge, Nieren und Leber
66 zentral beteiligt. Da die Ausscheidung von Protonen in den Stabilisierung des Membranpotentials Die extrazelluläre Cal-
Nieren – im Gegensatz zu Lunge und Leber – nicht in che- ciumkonzentration beeinflusst die neuromuskuläre Erregbarkeit
misch gebundener Form erfolgt, sind im Urin effektive Puf- dahingehend, dass kleinere Membranpotentialsänderungen
fersysteme wie Phosphat und Ammoniak erforderlich. nicht zur Auslösung eines Aktionspotentials führen. Sinkt die
Calciumkonzentration nur wenig unter den Normwert, stellt sich
eine neuromuskuläre Übererregbarkeit bis zu tetanischen
Krämpfen ein.
66.2 Calcium- und Phosphathaushalt
Zellaktivierung Die Calciumkonzentration im Cytosol der meis-
66.2.1 Stoffwechsel des Calciums ten Säugetierzellen beträgt im Ruhezustand weniger als
10–7 mol/l. Da die extrazelluläre Konzentration an freien
Calcium ist an vielen zellulären Vorgängen beteiligt Calciumionen bei etwa 1,7 ∙ 10–3 mol/l liegt, besteht damit an der
Knochenmineralisierung Gemeinsam mit anorganischem Phos- Plasmamembran ein etwa 10.000facher zelleinwärts gerichteter
phat (s. u.) bildet Calcium in Form einer dem Hydroxylapatit Calciumgradient. Der gesamte Calciumgehalt der Zelle und der
ähnlichen Struktur den anorganischen Anteil des Knochens und Pool des austauschbaren Calciums sind hingegen viel höher als
des prinzipiell gleich aufgebauten Dentins und Schmelzes der es die cytosolische Calciumkonzentration vermuten lässt. Wäre
66.2 · Calcium- und Phosphathaushalt
847 66
z. B. das gesamte zelluläre Calcium ionisiert und gleichmäßig in
der Zelle verteilt, würde die intrazelluläre Calciumkonzentration
etwa 2–10 mmol/l betragen und damit sogar über der Konzen-
tration im Extrazellularraum liegen. Da durch die zahlreichen
phosphatübertragenden Prozesse ständig freies anorganisches
Phosphat im Cytosol der Zelle entsteht, würde sich das freie Cal-
cium – wenn es in so hohen Konzentrationen vorläge – mit dem
Phosphat zu einem unlöslichen Komplex verbinden, wie es im
Knochen zu beobachten ist. Daher sind über 90 % des Zellcal-
ciums nicht ionisiert, sondern befinden sich als Calciumphos-
phatkomplex in den Mitochondrien oder an Proteine gebunden
im endoplasmatischen Retikulum.
Als Zellaktivierung bezeichnet man die Anregung einer Zel-
le zur Ausübung ihrer spezifischen Funktionen, z. B. Muskelkon-
traktion, Nervenleitung, Sekretion, Ionentransport, Stoffwech-
selfunktionen etc. Bei vielen dieser Prozesse besitzt Calcium eine
Signalfunktion, da es als second messenger bei der Signaltrans-
duktion durch extrazelluläre Signalmoleküle wirkt (7 Kap.
35.3.3). Dabei steigt die cytosolische Calciumkonzentration um . Abb. 66.7 Die einzelnen Fraktionen des Blutplasma-Calciums.
Dargestellt sind die Mittelwerte von 29 Normalpersonen. (Adaptiert nach
den Faktor 10–100 an. Hierfür stehen prinzipiell zwei Möglich-
Moore EW 1970)
keiten zur Verfügung:
4 Einstrom von Calcium aus dem Extrazellulärraum oder min spielt auch Fetuin, ein spezielles, Calcium-bindendes
4 Mobilisierung intrazellulärer Calciumspeicher Protein, eine große Rolle.
4 Komplexiertes Calcium. Es macht nur eine kleine Menge
99 % des Körpercalciums befinden sich im Knochen aus, die wahrscheinlich als Citrat- und Phosphatkomplex
Calciumbedarf Der tägliche Bedarf an Calcium liegt bei 20 mmol vorliegt, und die in dieser Form in den interstitiellen Raum
(0,8 g) beim Erwachsenen, bei 37,5 mmol (1,5 g) in der Schwan- übertreten kann.
gerschaft und Lactation, bei 25 mmol (1,0 g) für Kinder und bei
30 mmol (1,2 g) in der Adoleszenz. . Abb. 66.7 zeigt das Verhältnis der einzelnen Fraktionen, die
miteinander im Gleichgewicht stehen. Die Calciumkonzentra-
Intestinale Resorption Duodenum und Ileum sind quantitativ tion liegt normalerweise zwischen 2,2 und 2,6 mmol/l (8,8–
die wesentlichen Resorptionsorte für Calcium, wobei Vitamin D 10,4 mg/100 ml). Obwohl sich mit weniger als 1 % des Gesamt-
ein entscheidender Regulator ist (7 Kap. 58.3.4). bestands nur ein sehr geringer Teil des Körpercalciums im Blut-
Von der täglich zugeführten Menge werden 25–40 % resor- plasma befindet, und obwohl die tägliche Aufnahme und Aus-
biert. Je niedriger die Calciumzufuhr ist, desto höher ist die pro- scheidung in Stuhl und Urin wie auch die Ablagerungen im
zentuale Resorption und umgekehrt. Das Ausmaß der Calciumre- Knochen großen Schwankungen unterliegen, wird die Plasma-
sorption fällt mit zunehmendem Alter ab. Die intestinale Calcium- konzentration von Calcium bemerkenswert konstant gehalten.
resorption kann durch in der Nahrung enthaltene Verbindungen, Der freie (ionisierte) Anteil des Plasmacalciums ist der bio-
wie Phytinsäure (z. B. im Hafer) und Oxalsäure (z. B. im Spinat), chemisch entscheidende. Die Nebenschilddrüsen reagieren
die schwer lösliche Calciumkomplexe bilden, beeinflusst werden. durch Sekretion von Parathormon auf Änderungen des ionisier-
ten Calciums (Regulation der extrazellulären Calciumkonzent-
Verteilung des Calciums im Organismus Der menschliche Orga- ration, 7 Kap. 66.2.3).
nismus enthält 400 mmol Calcium/kg Körpergewicht (ca. Die Bindung des Calciumions an die Carboxylat- und Phos-
28.000 mmol beim Erwachsenen mit 70 kg). Im Knochen, der phatgruppen der Plasmaproteine ist pH-abhängig (Dissoziation
einem ständigen Auf- und Abbau unterliegt, befinden sich 99 % dieser Gruppen):
des Körpercalciums. Der Rest des Körpercalciums ist auf den 4 Eine Erhöhung der Protonenkonzentration des Bluts (Acido-
Extra- und Intrazellulärraum verteilt. se) führt zu geringerer Dissoziation dieser schwach sauren
Gruppen, sodass weniger Calcium gebunden werden kann.
Calcium im Blut Wegen einer sehr aktiven Ca-ATPase in ihrer 4 Eine Verringerung der Protonenkonzentration (Alkalose)
Zellmembran enthalten Erythrocyten sehr wenig Calcium. Der bedingt eine vermehrte Bindung von Calcium an Plasma-
überwiegende Teil des Blutcalciums befindet sich in drei Fraktio- proteine.
nen des Plasmas:
4 Ionisiertes Calcium. Da es durch die Kapillarmembran in Auch Änderungen der Proteinkonzentration des Bluts gehen mit
den interstitiellen Raum übertreten kann, wird es auch als einer entsprechenden Änderung der Konzentration an freien
diffusibles Calcium bezeichnet. Calciumionen einher. Die Calciumkonzentration in der intersti-
4 Proteingebundes Calcium. Es kann die Kapillarmembran tiellen Flüssigkeit beträgt etwa 1,75 mmol/l (7 mg/100 ml), im
nicht passieren (nicht-diffusibles Calcium). Neben Albu- Liquor cerebrospinalis zwischen 1,12 und 1,24 mmol/l (4,5–
848 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

6 mg/100 ml). Diese Werte entsprechen ungefähr der Konzen- durch 1,25-(OH)2-Cholecalciferol stimuliert. Durchschnittlich
tration des ionisierten Calciums, da das an Plasmaproteine ge- werden 70 % der zugeführten Menge resorbiert; der Prozentsatz
bundene Calcium nicht frei diffusibel ist. steigt mit abnehmendem Phosphatangebot an. Da Phosphat mit
Aluminium eine unlösliche – nicht- resorbierbare – Verbindung
Ausscheidung Calcium wird im Wesentlichen über die Nieren eingeht, kann die Phosphatresorption therapeutisch durch Alu-
ausgeschieden. Das nicht-proteingebundene Calcium (60 %) miniumhydroxidgel gehemmt werden.
wird glomerulär filtriert. Etwa 90 % der glomerulär filtrierten Organische Phosphatverbindungen werden durch Phos-
Ca2+-Menge wird im proximalen Tubulus und der dicken aufstei- phatasen im Darm hydrolysiert. Die Resorption erfolgt aus-
genden Henle-Schleife vorwiegend parazellulär und ohne Regu- schließlich als anorganisches Phosphat. Phytinsäure (der Hexa-
lation resorbiert. Die Regulation der Calciumausscheidung er- phosphatester des Inositols), die reichlich in Getreidekörnern
folgt im distalen Tubulus (Pars convoluta) durch Parathormon vorkommt, ist eine schlechte Phosphatquelle, da im menschli-
(7 Kap. 66.2.3) und 1,25-(OH)2-Cholecalciferol (7 Kap. 58.3.4), chen Verdauungstrakt keine Phytathydrolase nachgewiesen
welche dort die Calciumreabsorption stimulieren und so die re- werden kann.
nale Calciumausscheidung vermindern. Im Normalfall werden
nur etwa 1 % der filtrierten Ca2+-Menge ausgeschieden, was bei Verteilung im Organismus Etwa 85 % des Phosphatbestands des
normaler Ernährung einer täglichen renalen Ausscheidung von Organismus befinden sich in Knochen und in den Zähnen. Die
3,75–11,25 mmol (150–450 mg) entspricht. Die maximale Aus- übrigen 15 % verteilen sich auf die Muskelzellen (6 %) und die
scheidung liegt bei nur 25 mmol (1 g) pro 24 h. Bei höheren übrigen Zellen (9 %).
Urinkonzentrationen fällt Calcium zusammen mit anderen Stof-
fen in Form von Nierensteinen aus, da Calcium und Phosphat Phosphat im Blut Im Gegensatz zur Calciumkonzentration
sich im Urin in einer übersättigten Lösung befinden. Über den im Plasma, die in engen und während des gesamten Lebens
Darm werden etwa 3,75–11,25 mmol (150–450 mg) ausgeschie- gleichen Grenzen gehalten wird, fällt die Phosphatkonzentra-
den. Außerdem verliert der Organismus Calcium mit dem tion im Plasma mit dem Alter ab und liegt beim Erwachsenen
Schweiß (Konzentration 0,3–15 mmol/l), mit dem plazentaren zwischen 1 und 2 mmol/l. Davon sind etwa 10 % nicht-covalent
Kreislauf und der Milch (Lactation). an Proteine gebunden. Zusätzlich zum anorganischen Phosphat
finden sich im Plasma noch organische Phosphatverbindungen
(Phosphatester und lipidgebundenes Phosphat). Phosphat wirkt
66.2.2 Stoffwechsel des Phosphats im Blutplasma (und Urin) als Puffer, wobei seine Pufferkapa-
zität allerdings nur 1 % der Gesamtpufferkapazität des Bluts
Phosphor ist im Organismus als anorganisches beträgt. Bei einem pH-Wert des Blutplasmas von 7,4 liegen
oder organisches Phosphat vorhanden 80 % des anorganischen Phosphats als HPO42– und 20 % als
Zusammen mit Calcium ist Phosphat der Hauptbestandteil des H2PO4– vor.
anorganischen Anteils des Knochengewebes (Knochenmineral). Die Plasmaphosphatkonzentration ist die Resultante aus der
Zusätzlich ist es in Form organischer Phosphatverbindungen Resorption im Darm, dem Einbau und der Freisetzung von
(Nucleinsäuren, Phosphoproteine – Phosphorylierung und De- Phosphat aus dem anorganischen Anteil des Knochengewebes,
phosphorylierung von Proteinen –, Phospholipide, Zwischen- Verschiebung zwischen Extra- und Intrazellulärraum sowie der
produkte des Kohlenhydratstoffwechsels – Hexose- und Triose- Ausscheidung durch die Nieren. Die Konzentration von anorga-
phosphate, 2,3-Bisphosphoglycerat – sowie Adenosintriphos- nischem Phosphat im Plasma unterliegt einem ausgeprägten –
phat und Kreatinphosphat) praktisch in jeder Zelle des Organis- durch Parathormon nicht beeinflussbaren – Tag-Nacht-Rhyth-
mus zu finden. In der Zelle entsteht bei Reaktionen mit mus und hängt außerdem von der mit der Nahrung zugeführten
Adenylattransfer (z. B. Aktivierung von Fett- und Aminosäuren Menge ab. Mit diesem Rhythmus gehen Schwankungen der
66 und Biosynthese von Carbamylphosphat) und bei der Bildung Phosphatkonzentration im Urin parallel. Die Konzentration des
von cAMP Pyrophosphat, das durch Pyrophosphatasen zu Plasma- und Urinphosphats ist am Vormittag am niedrigsten
Orthophosphat hydrolysiert wird. und am Abend am höchsten.
Als Dihydrogenphosphat-Hydrogenphosphat-System wirkt
Phosphat als Puffer im Intrazellulärraum (pK = 6,8!), Blutplasma Ausscheidung Die Ausscheidung von Phosphat erfolgt haupt-
und Urin (titrierbare Säure). sächlich über die Nieren, daneben auch über Schweiß und Stuhl.
Da die Phosphatausscheidung in den Urin ebenso wie die Plas-
Phosphat- und Calciumstoffwechsel makonzentration einem ausgeprägten Tag-Nacht-Rhythmus un-
sind eng verbunden terliegt, muss ihre quantitative Erfassung über den 24-h-Urin
Phosphatbedarf Der tägliche Phosphatbedarf beträgt 10– erfolgen.
15 mmol (0,9–1,5 g). Milchprodukte, Getreide und Fleisch sind Anorganisches Phosphat wird glomerulär filtriert und aus-
die besten Quellen. schließlich im proximalen Tubulus zu 85–90 % wieder reabsor-
biert. Von den miteinander im chemischen Gleichgewicht ste-
Intestinale Resorption Phosphat wird im Jejunum wie im proxi- henden Phosphaten der Tubulusflüssigkeit
malen Tubulus der Niere im Cotransport mit 2 Na+ durch die
luminale Membran resorbiert. Das Cotransportsystem wird H2PO4‒ HPO42‒ PO43‒
66.2 · Calcium- und Phosphathaushalt
849 66

. Abb. 66.8 Regulation der extrazellulären Calciumkonzentration durch PTH und 1,25-(OH)2-D3. Ein Abfall des Plasmacalciums stimuliert die Freiset-
zung von Parathormon aus den Nebenschilddrüsen, das die Biosynthese von 1,25-(OH)2-D3 in den Nieren beschleunigt. Parathormon und 1,25-(OH)2-D3
fördern gemeinsam die Freisetzung von Calcium aus dem Skelettsystem. Außerdem fördert 1,25-(OH)2-D3 die intestinale Calciumresorption. Diese beiden
Wirkungen führen dazu, dass der Plasmacalciumspiegel wieder den Normalwert erreicht. Das bei der Calciummobilisierung gleichzeitig aus dem Knochen
freigesetzte oder im Darm resorbierte Phosphat hemmt direkt die Biosynthese von 1,25-(OH)2-D3 nach Art eines negativen Rückkoppelungsprozesses

wird HPO42– im Cotransport mit Na+ über spezifische Trans- wichtigste Faktor für die enterale Calciumresorption ist das
porter (NaPi) in der luminalen Membran in die Zelle geleitet. 1,25-Dihydroxycholecalciferol (1,25-(OH)2-D3).
Basolateral wird Phosphat über einen Uniporter wieder ausge-
schleust. Parathormon entsteht durch limitierte Proteolyse
Die renale Phosphatausscheidung wird durch Parathormon, eines Präkursors in den Nebenschilddrüsen
Calcitonin, Calciumzufuhr, Östrogene, Thyroxin und eine Aci- Struktur des Parathormons Parathormon (PTH) wird von den
dose erhöht, durch Wachstumshormon, Insulin und Cortisol Nebenschilddrüsen sezerniert. Es sind meist vier etwa linsen-
erniedrigt (s. u.). große abgegrenzte Organe, die hinter den 4 Polen der Schild-
Die Regulation der renalen Phosphatausscheidung ist nicht drüse liegen. PTH ist ein Polypeptid aus 84 Aminosäuren. Die
nur für den Phosphatbestand des Körpers von Bedeutung, son- PTH verschiedener Spezies unterscheiden sich nur geringfügig.
dern hat auch direkte Auswirkung auf die Protonenausscheidung Untersuchungen mit synthetischen Teilsequenzen zeigten, dass
im Urin. Da HPO42– ein sehr effektiver Protonenpuffer im phy- für die biologischen Effekte des Hormons nur die ersten 27 N-
siologischen pH-Bereich des Harns ist (s. o.), werden bei vermin- terminalen Aminosäuren notwendig sind.
derter Phosphatresorption wesentlich mehr Protonen (bis zu
30 mmol pro Tag) ausgeschieden. Biosynthese und Sekretion des Parathormons
Wie bei vielen anderen Polypeptidhormonen erfolgt auch die
Biosynthese des PTH als größeres Vorläufermolekül. . Abb. 66.9
66.2.3 Hormonelle Regulation des Calcium- zeigt den Aufbau des auf dem kurzen Arm von Chromosom 11
und Phosphatstoffwechsels gelegenen Prä-Pro-PTH-Gens. Es codiert die aus 115 Aminosäu-
ren bestehende Sequenz des Prä-Pro-PTH. Cotranslational wird
Die Plasmacalciumkonzentration wird durch das im rauhen endoplasmatischen Retikulum die aminoterminale
Zusammenspiel von Parathormon, Thyreocalcitonin Signalsequenz abgespalten, welche aus 25 Aminosäuren besteht,
und 1,25-Dihydroxycholecalciferol in engen sodass als Zwischenprodukt das Pro-PTH entsteht (über die
Grenzen konstant gehalten Funktion der Signalsequenz 7 Kap. 49.2.1). Im Golgi-Komplex
Die Konzentration des freien (ionisierten) Calciums in der ex- erfolgt unter Bildung des reifen PTH die proteolytische Abspal-
trazellulären Flüssigkeit wird durch das Zusammenspiel von Pa- tung eines N-terminalen Hexapeptids aus meist basischen Ami-
rathormon (PTH), Thyreocalcitonin (CT) und 1,25-Dihydroxy- nosäuren.
cholecalciferol als biologisch aktive Form der D-Vitamine
(7 Kap. 58.3.3) erstaunlich konstant gehalten. Die PTH-Sekretion wird durch die extrazelluläre
. Abb. 66.8 gibt eine Zusammenfassung der Wechselbezie- Calciumkonzentration reguliert;
hungen der drei Hormone. Ein Absinken der Plasmacalcium- PTH wird proteolytisch abgebaut
konzentration führt zu einer Sekretion von PTH durch die Ne- Regulation der PTH-Sekretion Da die Zellen der Nebenschild-
benschilddrüsen. Dessen Effekt auf den Calciumstoffwechsel drüsen nur relativ wenig Sekretgranula enthalten, kann man an-
von Knochen und Nieren sowie die Biosynthese des D-Hormons nehmen, dass PTH entsprechend dem Bedarf synthetisiert und
bewirken eine rasche Normalisierung des Plasmacalciums. Steigt sezerniert wird. Die Sekretion von PTH unterliegt hauptsächlich
dieses über einen Sollwert an, kommt es durch eine gesteigerte einer Regulation durch die Plasmakonzentration an ionisiertem
Thyreocalcitoninfreisetzung zu einer Hemmung der Knochen- Calcium. Ein Abfall der Calciumkonzentration bewirkt eine ge-
resorption und damit zum Absinken des Plasmacalciums. Der steigerte PTH-Sekretion (. Abb. 66.10), während bei erhöhter
850 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

. Abb. 66.9 Das Prä-Pro-PTH-Gen und die Prozessierung seines Transkriptions- und Translationsproduktes. (Einzelheiten s. Text)

Plasmacalciumkonzentration die PTH-Sekretion zum Erliegen PTH erhöht die Plasmacalciumkonzentration durch
kommt. Calcium bindet an ein membranständiges »Calcium- seine Wirkung an Knochen, Nieren und Dünndarm
rezeptor«-Protein, welches zur Familie der G-Protein-gekoppel- Nach Zufuhr von PTH finden sich im Plasma ein Anstieg des
ten Rezeptoren mit 7 Transmembrandomänen zählt. Ein Anstieg Calciums und ein Abfall der Konzentration des anorganischen
der extrazellulären Calciumkonzentration im physiologischen Phosphats. Diese Effekte lassen sich auf die PTH-Wirkung an
Bereich führt zur Rezeptoraktivierung und damit zur intrazellu- den Knochen, den Nieren und der intestinalen Mukosa erklären:
lären Calciummobilisierung über den Inositolphosphatweg. Die 4 Am Knochen löst PTH durch die Aktivierung von
nachfolgenden Signalwege, die dann die PTH-Sekretion hem- Osteoklasten eine Freisetzung von Calcium aus. Auch die
men, sind noch nicht ausreichend geklärt. organische Knochenmatrix wird durch PTH beeinflusst, da
66 es unter seinem Einfluss zu einer Auflösung von Kollagen
Stoffwechsel des PTH Sowohl innerhalb der Epithelkörperchen und Knochengrundsubstanz kommt. Diese Wirkung beruht
selbst als auch in der Leber und möglicherweise in den Nieren auf der Aktivierung von Kollagenasen und von lysosomalen
erfolgt ein proteolytischer Abbau des PTH. Dabei kommt es zu- Hydrolasen in den Osteoklasten. Als Folge wird vermehrt
nächst zu einer Spaltung im ersten Drittel des PTH-Moleküls. Hydroxyprolin aus dem Knochen freigesetzt. Die erhöhte
Das dabei entstehende Bruchstück aus den Aminosäuren 1–33 Ausscheidung dieser Verbindung im Urin kann daher als
besitzt noch die volle biologische Aktivität, das Bruchstück 34– diagnostischer Parameter für eine erhöhte PTH-Aktivität
84 ist dagegen inaktiv. Das N-terminale Fragment 1–33 wird verwendet werden.
allerdings schneller weiter abgebaut als das C-terminale Frag- 4 Die Regulation der renalen Calciumausscheidung erfolgt im
ment. Jedenfalls geben Epithelkörperchen sehr viel größere Men- distalen Tubulus (Pars convoluta) durch PTH und
gen des C-terminalen Fragments an das Blut ab als intaktes PTH 1,25-(OH)2-Cholecalciferol, welche dort die Calcium-
und Fragment 1–33. Im Blut findet sich ein Gemisch aus voll- resorption stimulieren. Die Regulation der renalen Phos-
ständigem PTH und unterschiedlich biologisch aktiven Bruch- phatausscheidung erfolgt im proximalen Tubulus, wo Phos-
stücken. phat über einen Natriumcotransport (NaPi) resorbiert wird.
NaPi wird in seiner Aktivität und auch in der Zahl der
Transportmoleküle durch Parathormon und Calcitonin
66.2 · Calcium- und Phosphathaushalt
851 66
ben meist nicht annehmen kann, dass sie eine besondere Bedeu-
tung für die Regulation des Calcium- und Phosphatstoffwechsels
haben, muss man vermuten, dass PTH und/oder das PTHrP
(s. u.) noch unbekannte weitere Funktionen haben.

Parathormon-related-protein hat ähnliche


Wirkungen wie PTH
Es ist seit langem bekannt, dass bei verschiedenen malignen Tu-
morerkrankungen eine Hypercalciämie auftreten kann, welche
auf die Bildung eines PTH-related-proteins (PTHrP) zurückzu-
führen ist. PTHrP ist ein aus 139 Aminosäuren bestehendes Pro-
tein, das jedoch in Fragmente mit biologischer Aktivität gespal-
ten werden kann (PTHrP 1–36, 38–94 und 107–139). Die ersten
13 Aminosäuren sind identisch mit dem biologisch aktiven ami-
noterminalen Ende von PTH, was die dem PTH ähnliche biolo-
. Abb. 66.10 Calciumkonzentration und PTH-Freisetzung in Epithelkör- gische Wirkung erklärt. PTHrP wird auch in einer Reihe nicht
perchen. Isolierte Zellen aus Epithelkörperchen wurden mit Calcium in den maligne transformierter Gewebe des Menschen exprimiert, wie
jeweils angegebenen Konzentrationen inkubiert und danach die PTH-Ab- z. B. Epidermis, Placenta, laktierende Mamma, Nebenschild-
gabe in das Medium gemessen
drüsen, Hirn, Magen und Leber. PTHrP ist auch in der fetalen
Nebenschilddrüse nachweisbar. Offensichtlich ist es wichtig für
gehemmt. Entsprechend führen PTH und Calcitonin zu die Calciumhomöostase des Feten und für die Bereitstellung von
einer verstärkten Phosphatausscheidung im Urin (Phos- Calcium für das fetale Knochenwachstum. PTHrP steuert die
phaturie). Bis zu 20 % des filtrierten Phosphates können so fetale Knochenentwicklung. Es wirkt relaxierend auf die Uterus-
ausgeschieden werden, was zu einem Abfall der Phosphat- muskulatur, woraus geschlossen wurde, dass es für die Anpas-
konzentration im Plasma führt. Da die Konzentrationen sung des Uterus an das fetale Wachstum und die Ruhigstellung
von freiem Calcium und freiem Phosphat zusammen mit des Uterus während der Schwangerschaft wichtig ist. Besonders
ihrem Produkt Calciumphosphat im reversiblen chemi- auffallend ist, dass sehr hohe Konzentrationen von PTHrP in der
schen Gleichgewicht stehen, führt ein Abfall der Phosphat- Muttermilch nachweisbar sind. Geringere Mengen sind in der
konzentration gleichzeitig zu einem Anstieg der Calcium- der mütterlichen Zirkulation nachweisbar und möglicherweise
konzentration. die Ursache der Calciummobilisierung aus dem mütterlichen
4 Ein weiterer sehr wichtiger renaler Effekt des PTH besteht Skelett. Die Ausschaltung des PTHrP-Gens durch Knockout
darin, dass es die Hydroxylierung von in der Leber gebilde- (7 Kap. 55.2) ist letal.
tem 25-Hydroxycholecalciferol zum biologisch aktiven PTHrP wirkt über den PTH-Rezeptor. Allerdings konnte ge-
1,25-Dihydroxycholecalciferol stimuliert. Es führt zu einer zeigt werden, dass PTHrP nicht nur sezerniert wird, sondern
gesteigerten Expression der für die 1,25-(OH)2–Cholecalci- auch reversibel in den Zellkern transloziert werden kann. Seine
ferolbildung notwendigen 1α-Hydroxylase (7 Kap. 58.3.3). dortige Funktion ist unklar.
Damit schafft es die Voraussetzung zur Steigerung der in-
testinalen Calciumresorption bei erniedrigten Serumcal- Thyreocalcitonin wird in der Schilddrüse gebildet
ciumkonzentrationen. Das in den C-Zellen der Schilddrüse gebildete, calciumsenkende
4 An der Dünndarmmukosa stimuliert PTH die Resorption (Thyreo)calcitonin scheint als spezifischer Gegenspieler des
von Calcium und Magnesium. Dieser Effekt ist jedoch im PTH besonders für die Feinregulation des Calciumspiegels im
Vergleich zu den anderen Wirkungen des Hormons nur Blut verantwortlich zu sein.
von geringer Bedeutung. Interessanterweise lässt er sich Thyreocalcitonin ist ein Peptid aus 32 Aminosäuren, welches
auch nur dann demonstrieren, wenn die Kost relativ N-terminal eine Disulfidbrücke aufweist und dessen C-termina-
calciumarm ist. les Ende ein Glycinamid ist.

Der Parathormonrezeptor ist über G-Proteine Die Sekretion von Thyreocalcitonin


mit der Adenylatcyclase gekoppelt wird durch Calcium stimuliert
Parathormon wirkt auf seine Zielzellen über einen heptahelica- Thyreocalcitonin entsteht durch proteolytische Prozessierung
len Rezeptor, welcher an heterotrimere, große G-Proteine ge- eines aus 136 Aminosäureresten bestehenden Präkursors (. Abb.
koppelt ist und die Adenylatcyclase stimuliert. Der Effekt des 66.11). Die Thyreocalcitoninsequenz ist von basischen Amino-
PTH auf die Adenylatcyclase der Tubulusepithelien der Nieren säureresten flankiert, die die Signale für die proteolytische Ab-
führt zu einer deutlichen Ausscheidung von cAMP im Urin. Der trennung des Thyreocalcitonins und für die Amidierung des C-
PTH-Rezeptor reagiert auch mit dem PTH related protein terminalen Glycins liefern. Ein über große Bereiche homologes
(PTHrP) (s. u.). Peptid, das calcitonin gene related product (CGRP) entsteht durch
Rezeptoren für PTH bzw. PTHrP sind in einer Vielzahl wei- alternatives Spleißen desselben Gens, wird aber bevorzugt in
terer Gewebe nachgewiesen worden. Da man von diesen Gewe- Neuronen des zentralen und peripheren Nervensystems expri-
852 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

. Abb. 66.11 Aufbau des Thyreocalcitoninpräkursors der Ratte

miert. Es wirkt gefäßerweiternd und ist ein Chemokin für eosi-


nophile Granulocyten.
Jede Erhöhung des Spiegels an ionisiertem Calcium im Plas-
ma führt zu einer Thyreocalcitoninabgabe aus der Schilddrüse.
Ähnlich wirken die gastrointestinalen Hormone Gastrin oder
Pankreozymin. . Abb. 66.12 Signaltransduktion des Thyreocalcitonin an Osteoklasten.
Die beiden Rezeptorsubtypen sind über entsprechende G-Proteine an die
Adenylatcyclase bzw. die Phospholipase C gekoppelt. Man nimmt an, dass
Thyreocalcitonin senkt die Calciumkonzentration im die Erhöhung der cAMP-Konzentration und der zellulären Calciumkonzen-
Blut durch Wirkung auf Knochen, Darm und Niere tration zum Arrest von Osteoklasten in der G0-Phase des Zellzyklus und zu
Am Knochengewebe wirkt Thyreocalcitonin als direkter Antago- der für ihre Inaktivität typischen Formänderung führt. G: G-Protein;
nist des PTH, d. h. es hemmt die Calciumfreisetzung. Dabei CTR: Calcitoninrezeptor; Gs: Adenylatcyclase-stimulierendes G-Protein;
IP3: Inositoltrisphosphat; ER: endoplasmatisches Retikulum
wirkt sich der Hormoneffekt über eine Hemmung der Osteo-
klastentätigkeit und über die Stimulierung von Knochenanbau-
prozessen aus. Thyreocalcitonin senkt den Spiegel des ionisierten
Calciums im Plasma in weniger als 30 min, wirkt also rascher als 1,25-Dihydroxycholecalciferol reguliert
PTH (60 min). Allerdings ist sein Effekt von kurzer Dauer, was die intestinale Calciumresorption
auch aus den unterschiedlichen Halbwertszeiten für die beiden Eine Schlüsselstellung bei der intestinalen Calciumresorption
Hormone hervorgeht. Die Halbwertszeiten des Thyreocalcito- nimmt das hierfür unerlässliche 1,25-Dihydroxycholecalciferol
nins sind mit 4–12 min etwa 2- bis 3-mal kürzer als die des PTH. ein. Damit leisten die Nieren einen wichtigen Beitrag bei der
Neben der Hemmung der Osteolyse verringert Thyreocalcitonin Regulation der Calciumresorption und des Calciumbestands des
auch die Magensaft- und Pankreassekretion sowie die intestinale Organismus. Da die renale Biosyntheserate von 1,25-Dihydroxy-
Motilität. Das bewirkt eine Verlangsamung der Verdauungsvor- cholecalciferol durch den Calciumspiegel reguliert wird, erhalten
gänge und damit der Calciumresorption, wodurch einer vorü- die Mukosazellen über diesen Metaboliten die Information über
bergehenden Hypercalciämie entgegengewirkt wird. In den Nie- die Höhe des Plasmacalciumspiegels, die die Grundlage zur För-
ren fördert es die Calciumausscheidung. derung oder Hemmung der intestinalen Resorption bildet.

Thyreocalcitoninrezeptoren sind über G-Proteine Die Phosphatkonzentration im Plasma wird


66 mit der Adenylatcyclase oder der Phospholipase C über verschiedene Hormonsysteme reguliert
verbunden Eine Erhöhung der Plasmaphosphatkonzentration kommt
Thyreocalcitoninrezeptoren kommen in 2 Subtypen vor und durch folgende Mechanismen zustande:
sind Mitglieder der Familie von G-Protein-gekoppelten Rezep- 4 Wachstumshormon fördert die Phosphatreabsorption
toren, zu denen auch die Rezeptoren für PTH, Sekretin, vasoak- durch die Nieren und führt so zu einer höheren
tives intestinales Peptid (VIP), glucagon-like peptide 1 (GLP-1) Plasmaphosphatkonzentration v. a. in der Wachstumsphase.
und Glucagon gehören. Der Rezeptor ist je nach Subtyp über 4 Vitamin D, Parathormon, Thyroxin, aber auch eine Acidose
G-Proteine an das Adenylatcyclasesystem bzw. die Phospho- fördern den Knochenabbau und damit die Freisetzung von
lipase C gekoppelt. Dementsprechend führt die Behandlung Phosphat und Calcium in den Extrazellulärraum.
von Osteoklasten, aber auch anderer Zellen mit Thyreocalcitonin
zur Erhöhung der cAMP- und Calciumkonzentrationen. . Abb. Zu einer Erniedrigung der Plasmaphosphatkonzentration
66.12 zeigt eine schematische Übersicht der molekularen Wir- kommt es durch:
kung von Thyreocalcitonin an Osteoklasten. 4 Parathormon, das eine Hemmung der Phosphatreabsorp-
tion im proximalen Tubulus auslöst.
4 Thyreocalcitonin, das die Plasmaphosphatkonzentration
über eine Hemmung der Knochenresorption senkt.
66.3 · Pathobiochemie des Säure-Basen- und Mineralhaushalts
853 66
4 Insulin und Glucose, die zu einer vermehrten Aufnahme 66.3 Pathobiochemie des Säure-Basen-
von Phosphat in den Intrazellulärraum führen und so einen und Mineralhaushalts
Abfall der Plasmaphosphatkonzentration bewirken.
66.3.1 Säure-Basen-Haushalt
Übrigens Acidosen und Alkalosen sind die Normwertabwei-
Klotho chungen der Säure-Base-Balance
Die distalen (konvoluten) Tubuli der Niere exprimieren selek- Definitionen von Störungen Da die Kenntnisse über die Re-
tiv das Klotho-Gen, welches essentiell in den Calciumhaus- gulation des pH-Wertes im Intrazellulärraum noch nicht weit
halt des Körpers eingreift. Die der griechischen Mythologie fortgeschritten sind, muss man sich bei der Beurteilung des
entlehnte Namensgebung (die Zeustochter Klotho spinnt Säure-Basen-Haushalts immer noch auf den Extrazellulärraum
den Lebensfaden) für das Gen war die initiale Beobachtung, beschränken.
dass die Funktionalität des Gens auffällig mit Langlebigkeit Eine Abweichung des pH-Wertes des Extrazellulärraums in
assoziiert ist. Das Klotho-Gen kodiert für ein einspänniges den sauren Bereich (ab pH 7,37) wird als Acidose (Acidämie), in
Transmembranprotein, welches als Corezeptor für den Fibro- den alkalischen (ab pH 7,44) als Alkalose oder Alkaliämie be-
blastenwachstumsfaktor 23 (FGF23) fungiert. Da FGF23 die zeichnet. Mit dem Leben vereinbar sind unter schwersten Kom-
renale Phosphatresorption und renale Bildung von 1,25– plikationen Abweichungen des pH-Wertes bis zu pH 6,8 (H+-
(OH)2–D3 hemmt, trägt das Klotho-Genprodukt entschei- Konzentration 160 nmol/l) nach unten und pH 7,7 (H+-Konzen-
dend zur renalen Phosphatresorption bei. Auch beim Men- tration 20 nmol/l) nach oben. Dies bedeutet, dass der Mensch
schen sind mittlerweile Polymorphismen im Klotho-Gen be- eine 8fache Änderung der extrazellulären Wasserstoffionenkon-
kannt, die mit Osteoporose, Schlaganfall, Koronarkalzifizie- zentration ertragen kann (die noch tolerablen Natriumkonzen-
rungen und verminderter Lebenserwartung assoziiert sind. trationen liegen zwischen 100 und 200 mmol/l, die tolerablen
Kaliumkonzentrationen zwischen 1,5 und 12 mmol/l).
Wird eine Acidose bzw. Alkalose durch eine Störung des pul-
monalen Gasaustauschs verursacht, so handelt es sich um eine
Zusammenfassung respiratorische Acidose bzw. Alkalose. Wird sie durch Stoff-
Calcium- und Phosphatstoffwechsel sind nicht nur mit dem wechselprozesse hervorgerufen, handelt es sich dagegen um eine
Stoffwechsel des Skelettsystems eng verknüpft, sondern nicht-respiratorische oder besser metabolische Acidose bzw.
auch mit der Aufrechterhaltung nahezu aller zellulärer Funk- Alkalose. Zusätzlich gibt es auch gemischte Zustände, bei denen
tionen. gleichzeitig respiratorische und nicht-respiratorische Störungen
Die Regulation der extrazellulären Calciumkonzentration er- vorliegen.
folgt durch die Hormone Parathormon (PTH), 1,25-Dihydro-
xycholecalciferol und Thyreocalcitonin. Zielgewebe dieser Kompensation von Störungen Primär respiratorische Störungen
Hormone sind die Zellen der Darmmukosa, der Nierentubuli können durch nicht-respiratorische Vorgänge kompensiert wer-
und der Knochen. den, primär nicht-respiratorische Störungen durch respiratori-
Das in den Nebenschilddrüsen gebildete Parathormon ist sche Vorgänge. Inwieweit es dabei dem Organismus gelingt, eine
der wichtigste Regulator des Calciumspiegels im Extrazellu- Störung durch Pufferung und aktive Kompensation auszuglei-
lärraum. Jeder Abfall der Konzentration des ionisierten chen, kann am pH-Wert abgelesen werden.
Calciums führt über einen spezifischen Calciumrezeptor in
der Membran der Nebenschilddrüsenzellen zu einer erhöh- Respiratorische Störungen resultieren
ten PTH-Sekretion. PTH erhöht die intestinale und renale aus einer Veränderung der CO2-Abatmung
Resorption von Calcium und verringert die tubuläre Reab- Die respiratorische Acidose ist durch die ungenügende Ab-
sorption von Phosphat. atmung des im Zellstoffwechsel gebildeten Kohlendioxids und
1,25-Dihydroxycholecalciferol, die aktive Form des Vita- damit durch einen Anstieg des arteriellen Kohlendioxidpartial-
min D3, wird in Abhängigkeit von PTH in den Nieren aus druckes gekennzeichnet. Der Basenüberschuss ist unverändert
25-Hydroxycholecalciferol gebildet. Es fördert die Calcium- (s. o.). Hauptursachen dafür sind Störungen des zentralen Atem-
resorption im Intestinaltrakt und erleichtert die Wirkung von antriebs (z. B. Sedativa, Alkohol), Störungen der Atemmuskula-
Parathormon am Knochen. tur und besonders Lungenfunktionsstörungen wie Asthma,
Das in den parafolliculären Zellen der Schilddrüse produzier- chronische Bronchitis etc. Die Erhöhung des Kohlendioxidpar-
te Thyreocalcitonin senkt die extrazelluläre Konzentration an tialdrucks (Hyperkapnie) (pCO2>44 mmHg) bedeutet eine Ver-
freiem Calcium. größerung des Nenners der Henderson-Hasselbalch-Gleichung

pH = 6,1 + log[HCO3‒]/(s . pCO2]

(s = molarer Löslichkeitskoeffizient für CO2)


854 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

. Abb. 66.13 Respiratorische und nicht-respiratorische Störungen des Säure-Basen-Haushalts. (Einzelheiten s. Text)

Als Folge des erniedrigten Quotienten HCO3–/CO2 der Henderson-Hasselbalch-Gleichung und damit eine Zunah-
nimmt der pH-Wert ab me des pH-Wertes (. Abb. 66.13).
Nach ca. 24 h setzen dann renale Kompensationsmechanismen Die renale Kompensation erfolgt durch eine Reduktion der
ein. Im proximalen Tubulus wird die HCO3–-Resorption ver- Resorption von Hydrogencarbonat im proximalen Tubulus mit
stärkt, da eine intrazelluläre Acidose die luminale H+-Sekretion einer Einschränkung der luminalen H+-Sekretion aufgrund
66 steigert (s. o.). Gleichzeitig werden verstärkt Protonen im Sam- intrazellulärer Alkalose. Gleichzeitig werden vermehrt Typ-B-
melrohr sezerniert, was mit einer Abgabe von Hydrogencarbonat Schaltzellen im distalen Nephron gebildet, welche luminal
an den Extrazellulärraum verbunden ist. Somit kann die Hydro- Hydrogencarbonat sezernieren und an der basolateralen Seite
gencarbonatkonzentration im Plasma stark erhöht und dadurch Protonen in den Extrazellulärraum entlassen. So wird die Hy-
der HCO3–/CO2-Quotient dem Normalwert von 20:1 wieder drogencarbonatkonzentration gesenkt, um den HCO3–/CO2-
angenähert werden. Damit wird der pH-Abnahme entgegenge- Quotienten wieder dem Normalwert von 20:1 zu nähern und
wirkt (. Abb. 66.13). damit dem pH-Anstieg entgegenzuwirken (. Abb. 66.13).
Die respiratorische Alkalose ist durch die vermehrte Abat-
mung von Kohlendioxid (Hyperventilation) und damit einem Nicht-respiratorische Störungen entstehen meist
Abfall des arteriellen Kohlendioxidpartialdruckes gekennzeich- aus Überproduktion oder Verlust von Säuren
net. Der Basenüberschuss ist unverändert (s. o.). Die Hyperven- Metabolische Acidosen entstehen bei einer Erhöhung der endo-
tilation kann physiologische Gründe haben (Höhenaufenthalt), genen Säureproduktion (Lactatacidose im Schock, diabetische
sie kann aber auch auf andere Ursachen zurückzuführen sein Ketoacidose) oder bei gesteigerten Verlusten von Hydrogencar-
(häufig: Angst als Hyperventilationssyndrom, Schmerz). Die da- bonat (Diarrhoe). Entsprechend fällt der arterielle pH-Wert und
durch verursachte Verringerung des CO2-Partialdrucks (Hypo- der Basenüberschuss wird negativ. Nach der Henderson-Hassel-
kapnie) (<36 mmHg) bedeutet eine Verringerung des Nenners balch-Gleichung führt die Abnahme der Hydrogencarbonatkon-
66.3 · Pathobiochemie des Säure-Basen- und Mineralhaushalts
855 66
zentration zu einem Abfall des pH-Wertes des Extrazellulär-
raums (. Abb. 66.13). Durch Pufferung und kompensatorische . Tab. 66.1 Blutparameter bei Störungen des Säure-Basen-Haus-
Senkung des CO2-Partialdrucks (Hyperventilation, weil Acidose halts. BE: base excess
das Atemzentrum stimuliert) wird versucht, den normalen
Störung pH pCO2 BE
HCO3–/CO2-Quotienten von 20:1 wieder herzustellen und damit
(mmHg) (mmol/l)
dem pH-Abfall entgegenzuwirken (. Abb. 66.13).
Die metabolische Alkalose ist durch den Verlust von nicht- Normalwert 7,36–7,44 36–44 2
flüchtigen Säuren (z. B. Verlust von HCl durch Erbrechen von Respiratorische Acidose <<7,36 >44 2
Mageninhalt) oder durch einen Hydrogencarbonatüberschuss
Nach Kompensation 7,36 >44 >2
charakterisiert. Entsprechend steigt der arterielle pH-Wert und
der Basenüberschuss wird positiv. Die Hydrogencarbonatzunah- Respiratorische Alkalose >>7,44 <36 2
me bedeutet nach der Henderson-Hasselbalch-Gleichung eine Nach Kompensation 7,44 <36 <2
pH-Erhöhung (. Abb. 66.13). Durch Pufferung und kompensa-
Metabolische Acidose <<7,36 36–44 <2
torische Erhöhung des CO2-Partialdrucks (Hypoventilation, weil
Alkalose das Atemzentrum hemmt) wird der pH-Verschiebung Nach Kompensation 7,36 <36 <2
entgegengewirkt. Metabolische Alkalose >>7,44 36–44 >2

Nach Kompensation 7,44 >44 >2


Der Säure-Basen-Status kann durch Bestimmung
der arteriellen Werte für pH, pCO2
und den Basenüberschuss beurteilt werden
Die im klinischen Einsatz befindlichen Geräte zur Erfassung des 66.3.2 Phosphat- und Calciumhaushalt
Säure-Basen-Status messen bzw. berechnen alle relevanten Para-
meter: pH, pCO2 und pO2 werden direkt mit Elektroden im Eine Hypophosphatämie beeinträchtigt
arteriellen Blut gemessen. Ergänzend werden Messungen der den ATP-Haushalt
Hämoglobinkonzentration (wird benötigt für die Gesamtpuffer- Gründe für eine Hypophosphatämie sind:
basenkonzentration) und der arteriellen Sauerstoffsättigung 4 Phosphatverluste infolge Funktionsstörungen im Nierentu-
durchgeführt. Die abhängigen Parameter wie Gesamtpufferba- bulus, denen entweder ein genetischer Defekt oder eine er-
senkonzentration, Basenüberschuss und Standardhydrogencar- worbene Schädigung zugrunde liegt, oder
bonat (Hydrogencarbonatgehalt des Blutplasmas bei einem 4 eine Verteilungsstörung, wenn z. B. bei parenteraler Ernäh-
pCO2 von 40 mmHg) werden aus den Messdaten berechnet. rung eine gesteigerte Aufnahme von Phosphat in den Mus-
Der pH-Wert ist bei der Beurteilung Leitparameter, da er an- kel und ins Fettgewebe erfolgt.
gibt, ob überhaupt eine Acidose oder Alkalose vorliegt:
Geht eine Acidose mit einem erhöhten pCO2, bzw. eine Hypophosphatämien führen u. a. zum ATP- und 2,3-Bisphos-
Alkalose mit einem erniedrigten pCO2 einher, so ist von einer phoglyceratmangel. Ersterer löst u.a. eine allgemeine Muskel-
primär respiratorischen Störung auszugehen. Solange noch schwäche und Myokardinsuffizienz aus, Letzterer führt zu einer
keine metabolischen Kompensationen eingesetzt haben, bleibt Verschlechterung der Sauerstoffversorgung der peripheren Ge-
der Basenüberschuss normal. Erst bei metabolischen Kompen- webe (7 Kap. 68.2.3).
sationen primär respiratorischer Störungen ändert er sich mit
einem Anstieg bei einer Acidose bzw. einer Abnahme bei einer Eine Hypercalciämie ist meist osteolytisch
Alkalose. bedingt und beeinträchtigt die Funktion
Geht eine Acidose mit einem normalen oder gar erniedrigten zahlreicher Organsysteme
pCO2 bzw. eine Alkalose mit einem normalen oder gar erhöhten Ursachen der Hypercalciämie Verursacht werden Hypercalciä-
pCO2 einher, so ist von einer primär metabolischen Störung mien durch eine gesteigerte Freisetzung von Calcium aus den
auszugehen. Der Basenüberschuss ist bei einer Acidose ernied- Knochen oder eine vermehrte Resorption im Darm. Während
rigt und bei einer Alkalose erhöht. Auffällige Abweichungen des ein Mangel an Thyreocalcitonin beim Menschen noch nicht als
pCO2 vom Normalwert zeigen hier bereits respiratorische Kom- Ursache für eine Hypercalciämie nachgewiesen werden konnte,
pensationen an. können Erhöhungen der Plasmacalciumkonzentration durch
Typische Konstellationen von kennzeichnenden Blutpara- eine vermehrte Resorption bei der Überdosierung von Vitamin-
metern für die verschiedenen Störungen des Säure-Basen-Haus- D-Präparaten auftreten. Am wichtigsten sind jedoch die osteoly-
halts sind in . Tab. 66.1 dargestellt. tischen Syndrome, wobei man bedenken sollte, dass bei der Zer-
störung von 1 g Knochen etwa 2,5 mmol (100 mg) Calcium frei-
gesetzt werden.
Erhöhungen des Calciumspiegels im Blut über die obere
Normgrenze (etwa 2,6 mmol/l) führen zu Funktionsstörungen
verschiedener Organe. Hauptsächlich betroffen sind die Nieren
(Polyurie, Polydipsie, Hyposthenurie, Hypokaliämie), der Gas-
trointestinaltrakt und das Herz (EKG-Veränderungen).
856 Kapitel 66 · Der Säure-Basen- und Mineralhaushalt

Primärer und sekundärer Hyperparathyreoidismus Die klassi- Hydroxyprolin sind ebenfalls erniedrigt. Die PTH-Spiegel, die
sche Form für die osteolytischen Syndrome ist der primäre Hy- normalerweise schon sehr niedrig sind, sind weiter abgesenkt
perparathyreoidismus, bei dem durch Tumoren der Neben- und liegen unterhalb der Nachweisgrenze.
schilddrüsen oder auch durch eine ektopische Hormonproduk- Zur Behandlung des Hypoparathyreoidismus werden Cal-
tion anderer Tumoren unabhängig vom Bedarf Parathormon cium, PTH und besonders Vitamin D oder verwandte Verbin-
sezerniert wird, das dann eine gesteigerte Osteolyse in Gang dungen angewendet. Die Wirkung des Vitamin D beruht insbe-
setzt. Dies führt zu einer massiven Knochenentkalkung mit Kno- sondere auf einer Steigerung der Resorption von Calcium im
chenverbiegungen, cystischen Entkalkungsherden und schließ- Dünndarm und auf einer Stimulierung der Phosphatausschei-
lich Spontanfrakturen. Neben den erhöhten Calciumkonzentra- dung durch die Nieren, der Calciumspiegel im Blut wird deshalb
tionen sind erniedrigte Phosphatkonzentrationen im Serum ty- angehoben. Beim sog. Pseudohypoparathyreoidismus liegt
pisch für den primären Hyperparathyreoidismus. kein Hormonmangel vor, sondern die Nierentubuli sprechen we-
Vom primären ist der sekundäre Hyperparathyreoidismus gen Rezeptordefekten nicht adäquat auf PTH an, weshalb die
abzugrenzen, bei dem eine reaktive Überfunktion der Epithel- renale Ausscheidung von Calcium erhöht und von Phosphat ver-
körperchen vorliegt. Sie wird durch Hypocalciämien aufgrund mindert ist.
der verschiedensten Erkrankungen wie Störungen der intestina-
len Calciumresorption, Vitamin-D-Mangel, Nierenerkrankun- Überproduktion von Thyreocalcitonin Eine Überproduktion von
gen usw. ausgelöst. Typisch für dieses Krankheitsbild sind er- Thyreocalcitonin findet man bei Schilddrüsenkarzinomen, die
niedrigte bis normale Serumcalciumspiegel bei erhöhten PTH- von den C-Zellen der Schilddrüse ausgehen. Trotz der teilweise
Konzentrationen. erheblichen Thyreocalcitoninsekretion derartiger Tumoren
kommt es nur bei einer Minderzahl der betroffenen Patienten zu
Tumorhypercalciämie Auch Tumoren, bei denen Tochterge- einer Hypocalciämie. Der meist normale Calciumspiegel im Blut
schwülste im Skelettsystem auftreten (z. B. bei Mamma- und wird offensichtlich durch eine effektive Gegenregulation durch
Prostatakarzinom), können mit sog. malignen Hypercalciämien PTH aufrechterhalten. Auch bei kleinzelligen Bronchialkarzi-
einhergehen. An der Entstehung von Tumorhypercalciämien nomen und bei Pankreaskarzinomen kommt es häufig zu einer
sind von den Tumorzellen gebildete Hormone oder Cytokine ektopischen Thyreocalcitoninproduktion.
(wie TNF-α oder PTH-related-protein) beteiligt, welche die Os-
teoklasten stimulieren.
Zusammenfassung
Eine Hypocalciämie kann verschiedene Ursachen Störungen des Säure-Basen-Haushalts werden als Acido-
haben; sie erhöht akut die neuromuskuläre Erregbar- sen oder Alkalosen bezeichnet und können primär respirato-
keit und führt chronisch zu Entwicklungsstörungen risch oder metabolisch bedingt sein. Respiratorische Störun-
Ursachen der Hypocalciämie Erniedrigungen der Plasmacalci- gen resultieren aus einer Veränderung der CO2-Abatmung,
umkonzentration treten bei intestinalen Resorptionsstörungen, nicht-respiratorische (metabolische) Störungen meist aus
Unterfunktion der Nebenschilddrüsen (Hypoparathyreoidis- Säureüberproduktion oder -verlusten. Respiratorische und
mus, s. u.), gesteigertem Calciumbedarf in der Schwangerschaft metabolische Störungen des Blut-pH-Wertes können sich
und gelegentlich bei Thyreocalcitoninüberproduktion auf. Ein wechselseitig kompensieren. Der Säure-Basen-Status kann
akuter Abfall des ionisierten Calciums kann durch eine Hyper- durch Bestimmung der arteriellen Werte für pH, pCO2 und
ventilation bewirkt werden, da die dadurch verursachte Alkalose den Basenüberschuss beurteilt werden.
die Bindung von Calcium an die Plasmaproteine erhöht. Der Störungen des Calciumhaushaltes treten bei verstärktem
Abfall des ionisierten Calciums führt zu Muskelkrämpfen (Teta- Abbau von Knochenmasse, unzureichender intestinaler Re-
nie) (s. o.), die sich vor allem in der Perioralmuskulatur und der sorption und Veränderungen der Phosphatkonzentration im
66 Fingermuskulatur bemerkbar machen. Blut auf.

Hypoparathyreoidismus Die häufigste Ursache für eine Unter-


funktion der Nebenschilddrüsen, einen Hypoparathyreoidis- 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
mus, ist die unbeabsichtigte Entfernung der Nebenschilddrüsen
bei Operationen an der Schilddrüse. In seltenen Fällen kann auch
eine Autoimmunerkrankung zu einer Unterfunktion der Para-
thyreoidea führen.
Die Hauptsymptome sind Muskelschwäche, erhöhte mus-
kuläre Erregbarkeit und Tetanie. Hypoparathyreoidismus im
frühen Kindesalter führt zu einem Wachstumsstillstand, einer
defekten Zahnentwicklung und einer geistigen Retardierung.
Das Serumcalcium ist erniedrigt, der Serumphosphatspiegel
erhöht. Im Urin wird wenig bis kein Calcium ausgeschieden und
auch die Phosphatausscheidung ist niedrig, ohne dass eine Nie-
renerkrankung vorliegt. Die Serumspiegel an Magnesium und
857 67

67 Blut – Bestandteile und Blutplasma


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides

Einleitung Durch Komplexierung der Calciumionen lässt sich die Ge-


rinnung vermeiden, um beispielsweise Gerinnungsfaktoren oder
Als flüssiges und strömendes Organ übernimmt das Blut eine Vielzahl Zellzahlen bestimmen zu können. In der Praxis werden die Cal-
von Transportfunktionen innerhalb des Organismus. An erster Stelle ist ciumionen durch Zugabe von Natriumcitrat (Citratplasma) oder
der Gastransport zu nennen. Sauerstoff wird von der Lunge zu den ver- Ethylendiamintetraacetat (EDTA) komplexiert. In derart behan-
brauchenden Geweben, Kohlendioxid als Abfallprodukt des oxidativen deltem Vollblut sedimentieren die Blutzellen langsam aufgrund
Stoffwechsels in die entgegengesetzte Richtung transportiert. Über das der Schwerkraft. Die Geschwindigkeit dieses Vorgangs wird als
Blut gelangen Nährstoffe von Darm, Leber oder Fettgewebe zu den ver- Blutsenkung gemessen und ist vor allem bei Entzündungen,
brauchenden Organen wie Muskulatur und Nervensystem. Nicht weiter aber auch bei einigen Tumorerkrankungen erhöht.
verwertbare Metabolite werden zu Leber und Nieren befördert, um sie Als Hämatokrit wird der zelluläre Volumenanteil des Vollblu-
über die Galle oder den Harn auszuscheiden. Als Transportmedium für tes bezeichnet. Die roten Blutkörperchen (Erythrocyten) machen
zahlreiche Botenstoffe dient das Blut der Kommunikation zwischen den mit 99 % den weitaus größten Anteil des Hämatokrits aus. Der
verschiedenen Organsystemen. Insbesondere die Hormone, die von en- Hämatokritwert wird durch Zentrifugation einer Blutprobe ermit-
dokrinen Drüsen ausgeschüttet werden, erreichen ihre Zielorgane über telt oder aus dem Produkt der Erythrozytenzahl und dem mittle-
den Blutweg. Auch im Wärmehaushalt übernimmt das Blut eine wichtige ren Erythrozytenvolumen berechnet. Er liegt bei Männern zwi-
Funktion. Es kann überschüssige Wärme an die Körperoberfläche trans- schen 41 und 50 %, bei Frauen zwischen 37 und 46 %. Die Eryth-
portieren, wo sie an die Umgebung abgegeben wird. Gleichzeitig stellt rocyten enthalten große Mengen Hämoglobin und sorgen in ers-
das Blut in seiner Gesamtheit ein Reservoir an Flüssigkeit (Wasser) und ter Linie für den Sauerstofftransport. Die weiteren zellulären
der darin gelösten Stoffe dar. Bestandteile des Blutes sind die Blutplättchen (Thrombocyten)
mit ihrer wichtigen Funktion in der Blutstillung und die weißen
Schwerpunkte Blutzellen (Leukocyten), die für die Immunabwehr verantwort-
lich sind. Die Leukocyten lassen sich in unterschiedliche Popula-
4 Vollblut, Blutplasma und Serum
tionen einteilen, die als Granulocyten, Monocyten und Lympho-
4 Hämatokrit und zelluläre Bestandteile des Blutes
cyten bezeichnet werden.
4 Elektrolyte, Nährstoffe und Metabolite als niedermolekulare
Das Blutplasma ist eine proteinreiche Flüssigkeit, in der ne-
Bestandteile des Blutplasmas
ben den Plasmaproteinen eine Vielzahl weiterer Substanzen
4 Plasmaproteine und deren elektrophoretische Auftrennung
gelöst ist. Hierzu gehören Elektrolyte (Salze), Nährstoffe, Meta-
4 α1-Antitrypsinmangel
bolite und Botenstoffe. Aufgrund der gelösten Stoffe ist das
Blutplasma mit 1,03 kg/l etwas dichter als Wasser. Durch das
Wechselspiel verschiedener Organe wie Leber, Niere und Lunge
wird die Zusammensetzung des Plasmas in definierten Grenzen
67.1 Bestandteile des Blutes konstant gehalten (Homöostase). Umgekehrt führen Organer-
krankungen zu charakteristischen Veränderungen der Konzen-
Das Blutvolumen eines Erwachsenen beträgt 5–6 l, das entspricht trationen von Plasmabestandteilen. Die Bestimmung einzelner
7–8 % des Körpergewichtes. Blut mit all seinen Bestandteilen ist Komponenten des Serums durch den Laboratoriumsmediziner
eine rote, trübe Flüssigkeit und wird Vollblut genannt. Durch gehört daher zur diagnostischen Routine.
Zentrifugation lassen sich die Blutzellen abtrennen und man
gewinnt das Blutplasma als gelblich-klaren Überstand. Nach
Kontakt mit negativ geladenen Oberflächen, z. B. Glas oder in 67.2 Elektrolyte und niedermolekulare
einem Blutabnahmeröhrchen, nimmt das Plasma eine gelartige Bestandteile des Blutplasmas
Konsistenz an, es gerinnt. Ursache hierfür ist die Aktivierung von
Gerinnungsfaktoren, die normalerweise der Blutstillung dienen Die im Blut gelösten Salze werden
(7 Kap. 69.1.3). Sie bewirken die Umwandlung von Fibrinogen als Elektrolyte bezeichnet
zu einem Fibrinnetzwerk. Dieses Fibrinnetzwerk lässt sich eben- Die Bezeichnung Elektrolyte rührt daher, dass in Wasser gelöste
falls abzentrifugieren. Der Überstand kann nicht mehr gerinnen Salze in Form geladener Teilchen (Ionen) vorliegen und damit
und wird als Serum bezeichnet. Außer Fibrinogen und einigen der Lösung eine elektrische Leitfähigkeit verleihen. Natrium-
anderen Faktoren, die bei der Gerinnung verbraucht werden, kationen (135–145 mmol/l) und Chloridanionen (100–
enthält das Serum noch alle Plasmabestandteile. 110 mmol/l) sind die Hauptbestandteile der Elektrolyte des Blut-

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_67, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
858 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma

plasmas. Die übrigen Ionen folgen mit deutlich niedrigeren Kon- um ein Mehrfaches ansteigen (bis 5 mmol/l). Der Anstieg der
zentrationen. Als Kationen sind Kalium, Calcium und Magne- Milchsäurekonzentration im Blut führt zu einem Abfall des pH-
sium zu nennen, als Anionen Hydrogencarbonat, Phosphat und Werts (Lact(at)acidose).
Sulfat. Gemeinsam mit physikalisch gelöstem Kohlendioxid und Die Bestimmung der Lactatkonzentration im Vollblut oder
der Kohlensäure (H2CO3) trägt das Hydrogencarbonatanion Plasma ist für die Leistungssportdiagnostik von einiger Bedeu-
(HCO3 –, häufig auch als Bicarbonat bezeichnet) maßgeblich zur tung. Dabei wird eine kleine Blutprobe während des Trainings
Pufferung der H+-Ionen bei. Durch dieses offene Puffersystem aus dem Ohrläppchen entnommen. Ein plötzlicher Anstieg der
wird der pH-Wert des Blutes bei 7,4 konstant gehalten, entspre- Lactatkonzentration bei körperlicher Anstrengung zeigt an,
chend einer H+-Ionenkonzentration von 40 nmol/l. Die Konzen- dass von aeroben auf anaeroben Stoffwechsel umgeschaltet
trationen der bisher genannten Anionen reichen allerdings nicht wird. Unter anaeroben Stoffwechselbedingungen kann die Leis-
aus, um die positive Ladung der Kationen auszugleichen. Weite- tung aber nur für kurze Zeit erbracht werden. Trainingsziel im
re negative Ladungsäquivalente werden von den organischen Ausdauersport ist daher, diese »anaerobe Schwelle« zu höherer
Säuren des Blutes (z. B. Lactat, das Anion der Milchsäure) und Leistung zu verschieben. In der Erholungsphase kann die Leber
von der negativen Nettoladung der Plasmaproteine bereitgestellt. Lactat zur Gluconeogenese heranziehen (Cori-Zyklus, 7 Kap.
In ihrer Gesamtheit bestimmen Elektrolyte und niedermoleku- 63.3.1). Weitere Metabolite mit diagnostischer Bedeutung sind
lare Substanzen den osmotischen Druck (7 Kap. 1.2) des Blutes. Harnstoff (Aminosäureabbau, 7 Kap. 27.1.2), Harnsäure (Ab-
Lösungen, die denselben osmotischen Druck wie Blut aufweisen, bau der Purinbasen, 7 Kap. 29.4) und Bilirubin (Hämabbau,
werden als isoton bezeichnet. 7 Kap. 32.2).

Das Blutplasma versorgt die Gewebe


mit Nährstoffen und entsorgt Metabolite 67.3 Plasmaproteine
Im Plasma ist eine Reihe von Nährstoffen gelöst, die den energie-
verbrauchenden Geweben und Organen zur Verfügung stehen. Mit einer Konzentration von 70 g Plasmaprotein/l stellt das Blut-
Von besonderer Bedeutung ist die im Blut gelöste Glucose (Blut- plasma eine hochkonzentrierte Proteinlösung dar. Bei einem
zucker). Die Glucosekonzentration des Blutes wird durch das Plasmavolumen von 3 l (Blutvolumen abzüglich Hämatokrit)
Wechselspiel der Hormone Insulin und Glucagon auf ca. ergibt dies bei einem Erwachsenen eine Gesamtmenge von über
5 mmol/l eingestellt (0,9 g/l). Größere Abweichungen von die- 200 g Plasmaprotein. Die Anzahl der funktionell gut charakteri-
sem Wert nach unten oder nach oben werden als Hypoglykämie sierten Komponenten beträgt etwa einhundert Proteine (. Tab.
bzw. Hyperglykämie bezeichnet. Letzteres ist der diagnostische 67.1 zeigt eine Auswahl). Berücksichtigt man auch Proteine, die
Parameter, der den Diabetes mellitus (7 Kap. 36.7) kennzeich- nur in äußerst geringen Konzentrationen nachweisbar sind, so ist
net. Häufig wird der Blutzucker aus Vollblut bestimmt. Erfolgt die Zahl um mindestens das Dreifache höher.
die Blutzuckerbestimmung nicht sofort nach der Blutentnahme, Mit der Serumelektrophorese steht ein einfaches Trennver-
wird Glucose zum Teil von den Erythrocyten verbraucht. Da- fahren zur Verfügung, welches die Serumproteine (entsprechen
durch wird der Wert verfälscht. Um dies zu verhindern, wird den Plasmaproteinen ohne Fibrinogen) in eine überschaubare
dem Blut Natriumfluorid als Glycolysehemmstoff zugesetzt. Flu- Zahl von Fraktionen auftrennt. Dazu wird eine Serumprobe auf
oridionen hemmen das Enzym Enolase (7 Kap. 14.1.1). eine Celluloseacetatmembran oder ein Agarosegel aufgetragen
Neben Glucose werden im Blutplasma nichtveresterte Fett- und Gleichspannung angelegt. Die Proteine wandern nun gemäß
säuren, die auch als freie Fettsäuren bezeichnet werden, als ihrer Ladung und Größe. Da die Elektrophorese bei einem leicht
Energieträger transportiert. Die Fettsäuren werden durch Lipo- basischen pH-Wert durchgeführt wird, sind die meisten Proteine
lyse aus dem Fettgewebe freigesetzt. Da langkettige Fettsäuren negativ geladen und bewegen sich Richtung Anode. Nach Ab-
schlecht wasserlöslich sind, bedarf es eines Lösungsvermittlers. schluss der Elektrophorese werden die Proteine angefärbt (. Abb.
Diese Aufgabe wird von dem Plasmaprotein Albumin übernom- 67.1A).
men. Triacylglycerine sind deutlich hydrophober als freie Fett- Das Elektropherogramm zeigt ein charakteristisches Mus-
67 säuren. Daher gestaltet sich der Transport aufwändiger und fin-
det in Form der Lipoproteine statt, die in 7 Kap. 24 ausführlich
ter, welches durch fünf Banden geprägt ist (. Abb. 67.1B). Die
Bande, die am weitesten vom Startpunkt (Kathode) entfernt liegt,
besprochen werden. Cholesterin wird ebenfalls mit Hilfe der ist zugleich die intensivste. Sie besteht hauptsächlich aus einem
Lipoproteine transportiert. Der größte Anteil des Cholesterins Protein, dem Albumin. In der Tat ist Albumin mit einer Konzen-
in den Lipoproteinen ist mit einer Fettsäure verestert, liegt also tration von über 45 g/l die Hauptkomponente der Plasmaprote-
als Cholesterinester vor. ine. Albumin findet man nicht nur im Blutplasma, sondern in
Man kann alle proteinogenen Aminosäuren im Blut nach- geringer Konzentration auch in der extravasalen Flüssigkeit.
weisen. Besonders hoch sind die Konzentrationen an Alanin und Die vier übrigen Banden stellen komplexe Mischungen der
Glutamin. übrigen Plasmaproteine dar. Sie werden als α1-, α2-, β- und
Metabolite sind Zwischen- oder Endprodukte, die bei Stoff- γ-Globuline bezeichnet. In der Fraktion der γ-Globuline befin-
wechselvorgängen anfallen. Bei der anaeroben Glycolyse entsteht den sich hauptsächlich Immunglobuline (Antikörper), die übri-
Lactat (Milchsäure). Seine Konzentration im Blutplasma beträgt gen Fraktionen sind heterogen zusammengesetzt. Durch Mes-
normalerweise 1 mmol/l (9 mg/dl). Bei starker muskulärer Be- sung der Intensität der Banden (Densitometrie) lässt sich eine
anspruchung und begrenztem Sauerstoffangebot kann der Wert Serumelektrophorese quantitativ auswerten. Bei einem gesun-
67.3 · Plasmaproteine
859 67

. Tab. 67.1 Plasmaproteine (Auswahl)

Name Molmasse Mittlere Konzen- Funktion


(kDa) tration (g/l)

Transthyretin (= Präalbumin) 55 0,3 Bindet Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3)

Albumin 65 45 Bindet hydrophobe Substanzen und 2-wertige Ionen; kolloidosmotischer


Druck

α1-Globuline 1,4-3,5

α1-Antichymotrypsin 55–66 0,4 Inhibiert chymotrypsinähnliche Proteasen

α1-Antitrypsin 52 3,0 Inhibiert trypsinähnliche Proteasen

Thyroxin-bindendes Globulin 54 0,02 Bindet Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3)

Transcortin 52 0,04 Bindet Cortisol, Corticosteron und Progesteron

α2-Globuline 3,5–7,0

Haptoglobin 100 1,0 Bindet freigesetztes Hämoglobin

α2-Makroglobulin 720 2,5 Bindet Proteasen und Zinkionen

β-Globuline (β1 und β2) 7,0–1,1

C-reaktives Protein (β2) 125 <0,01 Fördert Phagocytose und Komplementaktivierung

Fibrinogen (β2) 340 3,0 Blutgerinnung

Transferrin (β1) 80 3,0 Transportiert Eisenionen

γ-Globuline 8,4–14

IgA 160 2,4 Antikörper gegen körperfremde Antigene (meist bakterielle oder virale
Proteine)
IgD 184 0,004

IgE 190 0,0003

IgG 160 12

IgM 900 1,2

den Menschen machen die α1-, α2-, β- und γ-Globuline 4, 8,12 Die überwiegende Zahl der Plasmaproteine einschließlich
bzw. 16% der Plasmaproteine aus (gerundete Werte). des Albumins stammt aus der Leber. Eine Ausnahme sind die
In der Laboratoriumsmedizin wird die klassische Serumelek- Immunglobuline, die als Proteine der humoralen Immunantwort
trophorese nach und nach durch die Kapillarzonenelektropho- von Plasmazellen, der letzten Differenzierungsstufe der B-Lym-
rese ersetzt. Bei dieser Methode werden die Proteine innerhalb phocyten, synthetisiert werden (7 Kap 70.8). Da die Plasmapro-
einer feinen Glaskapillare ebenfalls aufgrund unterschiedlicher teine über den sekretorischen Biosyntheseweg in das Plasma
Ladung und Größe aufgetrennt. Die Proteine werden über die geschleust werden, sind sie meist glycosyliert, stellen also Glyko-
Absorption von UV-Licht mit empfindlichen Detektoren nach- proteine dar. Auch hier gibt es eine wichtige Ausnahme: Albu-
gewiesen. Die Elektropherogramme sind denen der klassischen min ist nicht glycosyliert.
Serumelektrophorese sehr ähnlich. Allerdings führt die höhere Eine funktionelle Einteilung der Plasmaproteine spiegelt die
Trennschärfe der Kapillarzonenelektrophorese dazu, dass die eingangs erwähnten Funktionen des Blutes wider. So kann man
β-Globuline als zwei Peaks erscheinen, die als β1 und β2 bezeich- zwischen Transportproteinen, Proteinen der Immunabwehr und
net werden (. Abb. 67.1B). der Blutgerinnung bzw. Fibrinolyse unterscheiden. In ihrer Ge-
Die hier beschriebene Auftrennung der Serumproteine in samtheit tragen die Plasmaproteine über den kolloidosmoti-
wenige Proteinfraktionen ist für die meisten klinischen Frage- schen Druck zur Aufrechterhaltung eines konstanten Blutvolu-
stellungen ausreichend. Abweichungen von dem Standardmuster mens bei.
(Dysproteinämie) geben wertvolle diagnostische Hinweise. Als
Beispiel ist ein Elektropherogramm der Serumproteine bei Vor- Transportproteine vermitteln den Transport
liegen einer monoklonalen Gammopathie gezeigt (. Abb. hydrophober Verbindungen
67.1B). Der scharfe Peak in der γ-Globulinfraktion beruht auf Insbesondere schlecht wasserlösliche Blutbestandteile bedürfen
Überproduktion eines Antikörpers. Häufige Ursache ist die ma- der Lösungsvermittlung durch Proteine. Der Transport von Tria-
ligne Entartung eines antikörperproduzierenden Plasma-B-Zell- cylglycerinen und Cholesterin wird durch die komplex aufgebau-
klons (z. B. Multiples Myelom). ten Lipoproteine gewährleistet (7 Kap 24). Die cholesterinreichen
860 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma

. Abb. 67.1 Analyse von Serumproteinen mittels Elektrophorese. A Schematische Darstellung einer Serumelektrophorese auf einer Celluloseacetat-
membran. B Kapillarzonenelektrophorese: Elektropherogramm von normalem Serum (links). Elektropherogramm bei einer monoklonalen Gammopathie
(rechts). Die Gesamtkonzentration der Serumproteine und der Anteil der γ-Globulinfraktion sind stark erhöht. Charakteristisch ist der schmalbasige, hoch-

67 aufstrebende Peak, der auf den monoklonalen Ursprung des überproduzierten Antikörpers hindeutet. Der typische Verlauf wird auch als M-Gradient
bezeichnet (M: Myelom). (Die Elektropherogramme wurden von Dr. Olav Gressner, RWTH Aachen, zur Verfügung gestellt)

Lipoproteine LDL und HDL findet man bei der Serumelektrophorese Albumin ist jedoch noch in einem anderen Zusammenhang
in der β- bzw. α1-Fraktion. Daher rühren die veralteten Bezeich- von Bedeutung. Die Plasmaproteine des Blutes erzeugen den kol-
nungen β-Lipoprotein und α1-Lipoprotein. Das triacylglycerinrei- loidosmotischen Druck (KOD, onkotischer Druck), der neben
che VLDL wird auch als Prä-β-Lipoprotein bezeichnet. dem hydrostatischen Druck den Wasseraustausch zwischen Blut-
Fettsäuren werden nach Bindung an Albumin transportiert. plasma und Interstitium bestimmt (s. Lehrbücher der Physiolo-
Die Struktur von Albumin mit gebundenen Fettsäuren wurde gie). Ist die Albuminsynthese z. B. durch Schädigung der Leber
durch Röntgenstrukturanalyse aufgeklärt (. Abb. 67.2). Albumin vermindert, so führt dies zu Wassereinlagerung in den Geweben
bindet auch andere z. T. hydrophobe Substanzen wie Bilirubin, (interstitielles Ödem). Neben Lebererkrankungen können auch
Gallensäuren, Vitamine, bestimmte Pharmaka sowie Magne- Nierenschäden und entzündliche Erkrankungen zur Verringe-
sium- und Calciumionen. rung der Albuminkonzentration führen.
67.3 · Plasmaproteine
861 67

. Abb. 67.3 Typischer postoperativer Verlauf der Serumkonzentratio-


nen von Interleukin-6 und C-reaktivem Protein. Blutproben wurden vor
Beginn der Operation (Entfernung der Gallenblase) und zu verschiedenen
Zeitpunkten nach Beginn der Operation entnommen. Die Interleukin-6-
Konzentration steigt schon während der Operation an und erreicht ihr Ma-
ximum nach 24 h. C-reaktives Protein wird durch Interleukin-6 induziert,
daher folgt der Konzentrationsanstieg verzögert. Hier ist das Maximum
nach 48 h erreicht. (Adaptiert nach Nishimoto et al. 1989, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)

. Abb. 67.2 Mit Fettsäuren beladenes Albumin. Das Albumin des Men-
schen besteht aus 585 Aminosäuren, die drei α-helicale Domänen mit ähn- tiviert. Die aktivierten Komplementproteine tragen neben den
licher Struktur ausbilden (dargestellt in braun, blau und magenta). Die Immunglobulinen zur Kenntlichmachung von Keimen und
Struktur ist durch 17 Disulfidbrücken stabilisiert (gelb). Die fünf Bindestellen Fremdkörpern (Opsonisierung) bei. Zudem wirken sie cyto-
für Fettsäuren (grau: Kohlenstoffatome, rot: Sauerstoffatome) sind in der
toxisch und proinflammatorisch.
Abbildung mit Myristinsäure (C14) belegt. (PDB: 1BJ5)
Ebenso wie die Bestandteile des Komplementsystems zirku-
lieren die Gerinnungsfaktoren (7 Kap. 69.1.3) im Plasma. Fibri-
Eine Reihe weiterer Plasmaproteine ist auf den Transport be- nogen weist mit 3 g/l die höchste Konzentration auf. Zur Unter-
stimmter Moleküle oder Ionen spezialisiert (. Tab. 67.1). Schild- suchung von Gerinnungsstörungen werden die Gerinnungsfak-
drüsenhormone werden durch zwei Proteine transportiert, das toren im Plasma bestimmt.
thyroxinbindende Globulin und Transthyretin. Letzteres ist
auch als Präalbumin bekannt, da es in der Serumelektrophorese Akutphase-Proteine werden bei Entzündungen
noch vor der Albuminfraktion erscheint. Ein weiteres hormon- verstärkt exprimiert
bindendes Plasmaprotein ist das Transcortin zum Transport von Die Leber sorgt für weitgehend konstante Konzentrationen an
Glucocorticoiden und Progesteron. Transcobalamin ist auf den Plasmaproteinen. Unter besonderen Umständen wird die
Transport von Vitamin B12 (Cobalamin) spezialisiert. Eisen wird Produktion jedoch an die Bedürfnisse des Organismus ange-
als Fe3+ im Komplex mit Transferrin transportiert. Das so gebun- passt. Gut untersucht ist die Akutphase-Reaktion als systemi-
dene Eisen wird je nach Bedarf von den Zellen über den Trans- sche Antwort des Organismus auf eine Entzündung infolge von
ferrinrezeptor aufgenommen. Haptoglobin bindet das beim Gewebeschädigungen oder Infektionen. Während dieses Vor-
Zerfall von Erythrocyten (Hämolyse) freiwerdende Hämoglo- gangs werden von Makrophagen und anderen Entzündungszel-
bin, um es dem Abbau durch das reticuloendotheliale System len Cytokine freigesetzt (7 Kap. 34.2). Insbesondere Interleu-
zuzuführen. Hämolysen führen daher zur vorübergehenden kin-6 (IL-6) und Interleukin-1 (IL-1) bewirken in den Hepato-
Senkung des Haptoglobinspiegels. cyten die vermehrte Produktion und Sekretion der Akutphase-
Proteine. Hierzu gehören unter anderem C-reaktives Protein,
Proteine der Immunabwehr α1-Antitrypsin, Fibrinogen, Haptoglobin und das Komplement-
und Gerinnungsfaktoren protein C3.
Die prominentesten Vertreter der immunologisch wirksamen Klinisch bedeutsam ist der rasante Anstieg der Konzentra-
Plasmaproteine sind die Immunglobuline (Syn. Antikörper, tion des C-reaktiven Proteins (CRP) während der Akutphase-
γ-Globuline), die den humoralen Zweig der adaptiven Immun- Reaktion (. Abb. 67.3). Die CRP-Konzentration beim Gesunden
antwort bilden (7 Kap. 70.9). Von den fünf Immunglobulinklassen liegt zwischen 0 und 0,5 mg/dl. Bei Infektionen oder Entzündun-
sind IgG, IgA und IgM in größeren Mengen im Plasma vertreten. gen steigt sie auf 10 bis 20 mg/dl an, höhere Konzentrationen
Die Konzentration von IgE ist deutlich niedriger. Allerdings wei- werden als drohende Sepsis interpretiert. Die Bestimmung der
sen Allergiker häufig erhöhte IgE-Spiegel auf (. Tab. 67.1). CRP-Konzentration gehört zu den Routineuntersuchungen der
Das Komplementsystem (7 Kap. 70.2.3) besteht aus über 20 Labormedizin, um eine Entzündung zu diagnostizieren. C-reak-
verschiedenen Proteinen. Die Komplementproteine werden ähn- tives Protein erhielt seinen Namen aufgrund der Bindung an das
lich wie die Gerinnungsfaktoren durch limitierte Proteolyse ak- C-Polysaccharid der Zellwand von Streptococcus pneumoniae.
862 Kapitel 67 · Blut – Bestandteile und Blutplasma

Die Akutphase-Proteine unterstützen den Organismus bei der


Bekämpfung von Infektionen und der Begrenzung der Entzün- Zusammenfassung
dungsreaktion. Blut besteht aus Blutzellen und Blutplasma. Die Blutzellen
lassen sich in Erythrocyten, Thrombocyten und Leukocyten
einteilen. Die Erythrocyten stellen mit 99 % den weitaus
67.4 Pathobiochemie größten Anteil der Blutzellen.
Im Blutplasma sind Elektrolyte, Metabolite, Nährstoffe, Bo-
α1-Antitrypsinmangel kann zu einem tenstoffe und Plasmaproteine gelöst.
Lungenemphysem führen Natrium- und Chloridionen stellen den Hauptanteil der Elek-
Proteaseinhibitoren begrenzen die Aktivitäten von Proteasen, trolyte. Der Kohlensäure/Hydrogencarbonat-Puffer ist das
die bei Gewebeumbau oder bei entzündlichen Prozessen gebildet wichtigste Puffersystem des Blutes und sorgt für einen weit-
werden. α1-Antitrypsin ist ein Glykoprotein aus 394 Amino- gehend konstanten pH-Wert von 7,4.
säuren, das aufgrund von Sequenz- und Strukturhomologien zur Die Konzentration der Plasmaproteine beträgt 70 g/l. Die
SERPIN-Familie gehört (SERPIN = Serinproteaseinhibitor). Als meisten Plasmaproteine stammen aus der Leber. Albumin
Akutphase-Protein wird α1-Antitrypsin während einer Entzün- stellt mit 60 % den Großteil der Plasmaproteine, gefolgt von
dung von der Leber vermehrt synthetisiert und in das Blut sezer- der Fraktion der γ-Globuline (Antikörper). Antikörper wer-
niert. Im Gewebe übernimmt α1-Antitrypsin eine wichtige den von Plasma-B-Zellen sezerniert. Weitere wichtige Grup-
Schutzfunktion, da es die von neutrophilen Granulocyten ausge- pen von Plasmaproteinen sind die Komplementfaktoren, die
schüttete Elastase hemmt. Daneben ist α1-Antitrypsin auch Gerinnungsfaktoren und die Vielzahl verschiedener Trans-
wirksam gegenüber anderen Proteasen der neutrophilen Granu- portproteine sowie die Akutphase-Proteine, die während ei-
locyten wie Cathepsin G und Proteinase 3. Diese Proteasen sind ner Entzündung vermehrt produziert werden.
für die Immunabwehr gegen eingedrungene Krankheitserreger
von Bedeutung, greifen aber auch die extrazelluläre Matrix an.
Mit einer Prävalenz von 1:2.000 ist der α1-Antitrypsinmangel 7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com
eine der häufigsten Erbkrankheiten bei Menschen europäischer
Abstammung. Als Folge der erniedrigten oder gänzlich fehlen-
den α1-Antitrypsinaktivität wird die Neutrophilen-Elastase
nicht ausreichend gehemmt. Dies führt zu einer Gewebeschädi-
gung, die sich in der Lunge als Emphysem oder COPD (chronic
obstructive pulmonary disease) manifestiert. Das Fortschreiten
dieser Lungenerkrankung lässt sich durch Gabe von gentech-
nisch hergestelltem oder aus Spenderplasma gewonnenem
α1-Antitrypsin verzögern.
Herkömmlicherweise werden die häufigsten α1-Anti-
trypsinformen aufgrund ihrer elektrophoretischen Mobilität un-
terschieden (F: fast, M: medium, S: slow, Z: very slow). Das M-
Allel entspricht dem normalen Protein. Bei dem Z-Allel handelt
es sich um die häufigste Mutation bei Nordeuropäern. Hier führt
ein Aminosäureaustausch (Glu342Lys) zu einer Konformations-
änderung, die eine Aggregation des Proteins in den Hepatocyten
bewirkt. Die Aggregate häufen sich in Granula an und schädigen
den Hepatocyten. Bei dieser und anderen Mutationen, die die
Proteinstabilität beeinflussen, bildet sich neben der Lungener-
67 krankung eine Leberzirrhose oder als deren Folge ein Leberzell-
karzinom aus. Bei gleichem Genotyp kann die klinische Manifes-
tation der Erkrankung sehr stark variieren. Dies kann auf äußere
Einflüsse (z. B. Rauchen), aber auch auf andere genetische Fak-
toren zurückzuführen sein. Daher handelt es sich beim α1-
Antitrypsinmangel um eine komplexe genetische Erkrankung.
863 68

68 Blut – Hämatopoese und Erythrocyten


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides

Einleitung Die Lebensspanne von Blutzellen reicht von wenigen Tagen


(neutrophile Granulocyten), über mehrere Monate (Erythrocy-
Im vorangegangenen Kapitel wurde die Zusammensetzung des Blut- ten) bis hin zu Jahren (immunologische Gedächtniszellen). Um
plasmas erläutert. Hier geht es nun um die zellulären Elemente des die Anzahl der Blutzellen konstant zu halten, müssen daher stän-
Blutes. Erythrocyten, Thrombocyten und Leukocyten ist gemeinsam, dig neue Zellen gebildet werden. Dieser Vorgang wird als Häma-
dass sie durch den Vorgang der Hämatopoese aus pluripotenten topoese (Blutbildung) bezeichnet. Zwischen der 6. und
hämatopoetischen Stammzellen entstehen. 22. Schwangerschaftswoche findet die Hämatopoese hauptsäch-
Erythrocyten bilden den größten Teil der Blutzellen. Sie besitzen große lich in der Leber statt, später auch in der Milz. Schon vor der
Mengen an Hämoglobin, das für den Transport von Sauerstoff und Koh- Geburt ist das Knochenmark das wichtigste blutbildende Organ.
lendioxid verantwortlich ist. Außerdem sind Erythrocyten die Träger der Bei Kindern und Erwachsenen ist das Knochenmark der allei-
Blutgruppenantigene. nige Ort der Hämatopoese.
Alle Blutzellen stammen von pluripotenten hämatopoeti-
Schwerpunkte schen Stammzellen des Knochenmarks ab. Nur wenige dieser
Zellen sind im peripheren Blut zu finden. Pluripotent bedeutet,
4 Hämatopoetische Stammzellen und die Regulation der
dass aus einer Stammzelle verschiedene Zelltypen hervorgehen
Hämatopoese durch koloniestimulierende Faktoren (CSF)
können. Stammzellen sind teilungsfähig und können sich dabei
4 Verwendung von G-CSF bei der Stammzelltransplantation
selbst erneuern oder weiter differenzierte Nachkommen hervor-
und der Therapie von Neutropenien
bringen. Ein Merkmal der hämatopoetischen Stammzelle ist die
4 Eigenschaften, Funktionen, Stoffwechsel und Differenzie-
Expression des Proteins CD34 auf der Zelloberfläche. Sie werden
rung von Erythrocyten
daher auch als CD34-positive Stammzellen bezeichnet. CD34 ist
4 Hämoglobin und seine Funktion beim Transport von Sauer-
ein Typ-I-Transmembranglykoprotein, welches an das Zelladhä-
stoff und Kohlendioxid
sionsmolekül P-Selectin binden kann.
4 Erythrocytenantigene und Blutgruppen
4 Hämoglobinopathien
Cytokine steuern die Hämatopoese
Die Entwicklung der reifen Blutzelle aus der hämatopoetischen
Stammzelle erfolgt über mehrere Differenzierungs- und Prolife-
rationsschritte, die durch Cytokine reguliert werden. Dabei ent-
68.1 Hämatopoese stehen determinierte Vorläuferzellen, die hinsichtlich ihrer wei-
teren Differenzierung festgelegt sind (committed). Viele der Dif-
68.1.1 Differenzierung hämatopoetischer ferenzierungsfaktoren wurden in vitro in sog. Weich-Agar-Kul-
Stammzellen turen identifiziert. Proliferierende Zellpopulationen werden dort
koloniebildende Einheiten (colony-forming units, CFU) genannt.
Die Neubildung der Blutzellen geht von Cytokine, die die Ausbildung bestimmter CFU stimulieren, be-
hämatopoetischen Stammzellen aus zeichnet man demnach als koloniestimulierende Faktoren (colo-
Die Blutzellen machen beinahe die Hälfte des Blutvolumens aus ny-stimulating factors, CSF).
und müssen ständig erneuert werden. Sie werden in Erythrocy- Viele hämatopoetische Cytokine werden im Knochenmark
ten, Thrombocyten und Leukocyten eingeteilt. Erythrocyten gebildet und wirken somit parakrin. Weitere Bildungsorte sind
und Thrombocyten besitzen keinen Zellkern, sind daher nicht die Niere (Erythropoetin), die Leber (Thrombopoetin) oder Im-
teilungsfähig und nur begrenzt stoffwechselaktiv. Aus diesem munzellen (G-CSF). Neben den hämatopoetischen Cytokinen ist
Grund sind sie im strengen Sinne keine vollwertigen Zellen und auch die Umgebung im Knochenmark (Knochenmarksstroma)
werden daher auch als korpuskuläre Bestandteile des Blutes be- für die Differenzierung der Blutzellen von Bedeutung. So können
zeichnet. In diesem Kapitel wird der Einfachheit halber der Be- die Zellen über Integrinrezeptoren mit der extrazellulären Mat-
griff Zellen auch für die korpuskulären Bestandteile verwendet. rix oder anderen Zellen in Kontakt treten und auch auf diese
Hinter dem Sammelbegriff Leukocyten verbirgt sich eine Weise Differenzierungssignale empfangen (Stammzellnische).
Reihe verschiedener Zelltypen, die unterschiedliche Aufgaben Eine frühe Entscheidung ist die Differenzierung zur lympha-
im Immunsystem übernehmen. Man unterscheidet Monocyten, tischen oder zur myeloischen Stammzelle. Aus Ersterer entste-
basophile, eosinophile und neutrophile Granulocyten sowie die hen die B- und T-Lymphocyten, aus Letzterer die übrigen Blutzel-
B- und T-Lymphocyten. len (. Abb. 68.1). Die myeloischen Stammzellen werden auch als

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_68, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
864 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

. Abb. 68.1 Differenzierung der Blutzellen unter dem Einfluss hämatopoetischer Cytokine. EPO: Erythropoetin; IL: Interleukin; G-CSF: granulocyte
colony-stimulating factor; GM-CSF: granulocyte macrophage colony-stimulating factor; M-CSF: macrophage colony-stimulating factor; SCF: stem cell factor;
TPO: Thrombopoetin

CFU-GEMM (CFU-granulocyte, erythrocyte, monocyte, megakary- topoetische Stammzellen (HSZ) von einem Spender auf einen
ocyte) bezeichnet. Unter dem Regiment der hämatopoetischen Empfänger übertragen. Spender und Empfänger können identi-
Cytokine erfolgt hieraus die Differenzierung zu Vorläufern der sche (autologe Transplantation) oder verschiedene Personen
Erythrocyten (BFU-E: burst-forming unit erythrocyte) und Throm- (allogene Transplantation) sein. Im Fall einer allogenen Trans-
bocyten (BFU-MK, MK: megakaryocyte). Wichtige Differen- plantation muss sichergestellt sein, dass Spender und Empfänger
zierungsfaktoren sind hier Erythropoetin (EPO) bzw. Thrombo- hinsichtlich ihrer MHC-Oberflächenantigene (7 Kap. 70.4.2)
poetin (TPO). kompatibel sind. Ist dies nicht der Fall, so richtet sich das aus den
Die Reifung der Granulocyten und Monocyten erfolgt über Spenderzellen rekonstituierte Immunsystem gegen den Empfän-
die Zwischenstufe der CFU-GM (CFU-granulocyte, monocyte). gerorganismus (graft versus host disease). Vor der Transplantati-
Das Cytokin granulocyte colony-stimulating factor (G-CSF) ist on wird das Knochenmark des Empfängers durch Bestrahlung
entscheidend für die Differenzierung zu neutrophilen Granulo- oder Chemotherapie zerstört (myeloablative Therapie). Das
cyten, welche die überwiegende Mehrzahl der Granulocyten stel- Knochenmark wird nach intravenöser Gabe der HSZ des Spen-
len. Die hämatopoetischen Cytokine sind Glykoproteine. Zur ders wiederhergestellt.
therapeutischen Nutzung werden sie in recht aufwändigen Ver- Die ursprüngliche Indikation zum Einsatz von gentechnisch
fahren gentechnisch hergestellt. Die rekombinanten Cytokine hergestelltem G-CSF ist eine Neutropenie (Verminderung der
Erythropoietin und G-CSF werden häufig in der Tumortherapie Zahl der neutrophilen Granulocyten), wie sie insbesondere nach
zur Behandlung von Anämie bzw. Neutropenie eingesetzt (aller- Chemotherapie auftritt. G-CSF stimuliert die Granulopoese,
dings: Zweidrittel des EPO-Umsatzes werden mit dem Einsatz d. h. die Neubildung von Granulocyten. Dabei wurde festgestellt,
68 beim Doping erzielt). dass G-CSF als »Nebenwirkung« die CD34-positiven HSZ des
Knochenmarks dazu anregt, in das Blut überzutreten. Dieser Ef-
fekt wird heute genutzt, um HSZ für die Stammzelltransplanta-
68.1.2 Pathobiochemie tion zu gewinnen. Der Spender wird eine Woche mit G-CSF be-
handelt. Anschließend werden die HSZ aus dem Blut mit Hilfe
G-CSF wird bei der Stammzelltransplantation der Apherese (Zellseparation) gewonnen. Mit Hilfe eines Anti-
zur Mobilisierung hämatopoetischer Stammzellen körpers, der gegen CD34 gerichtet ist, können die HSZ angerei-
eingesetzt chert werden. Diese Vorgehensweise ist für den Spender wenig
Bei bestimmten Krebserkrankungen, insbesondere bei Leukä- belastend und auch für den Empfänger von Vorteil, da wegen des
mien, kann eine hämatopoetische Stammzelltransplantation hohen Anteils an HSZ in der Zellpräparation das Knochenmark
die Heilungschancen erheblich verbessern. Dabei werden häma- schneller regeneriert.
68.2 · Erythrocyten
865 68

. Abb. 68.2 Verankerung des membrannahen Cytoskeletts der Erythrocyten mit der Plasmamembran. Die integralen Membranproteine
Bande-3-Protein und Glycophorin sind über Adapterproteine (Ankyrin, Bande-4.1-Protein, p55 und Actin) mit den Spectrinfilamenten verbunden

Die Erythrocytenmembran
Zusammenfassung ist eng mit dem Cytoskelett verbunden
Alle Blutzellen werden ausgehend von CD34-positiven hä- Da Erythrocyten leicht zu gewinnen sind und die Plasmamem-
matopoetischen Stammzellen im Knochenmark gebildet. bran das einzige Membrankompartiment des Erythrocyten dar-
Die Proliferations- und Differenzierungsvorgänge werden stellt, ist die Erythrocytenmembran die am besten untersuchte
maßgeblich von hämatopoetischen Cytokinen gesteuert, Plasmamembran. Für die Verbindung zwischen Erythrocyten-
aber auch das Knochenmarksstroma sendet Differenzie- membran und dem membrannahen Cytoskelett sind zwei integ-
rungssignale. rale Membranproteine von Bedeutung. Das Membranprotein
Die Cytokine EPO und G-CSF werden gentechnisch herge- Bande-3-Protein ist ein wichtiger Verknüpfungspunkt zwischen
stellt und dienen der Behandlung von Anämien bzw. Neu- Cytoskelett und Membran. Der Name ist auf die Identifizierung
tropenien. Die Eigenschaft von G-CSF, CD34-positive des Proteins als kräftige Bande bei der SDS-Polyacrylamidgel-
Stammzellen zu mobilisieren, wird für die hämatopoetische elektrophorese zurückzuführen (7 Kap. 6.1.2). Das Bande-3-Pro-
Stammzelltransplantation genutzt. tein ist zugleich ein Anionenantiporter, der Hydrogencarbonat-
gegen Chloridionen austauscht (Hamburger-Shift, s. Lehrbücher
der Physiologie).
Glycophorin, das häufigste Transmembranprotein des Ery-
68.2 Erythrocyten throcyten, ist ein Knotenpunkt für die Verbindung zwischen
Erythrocytenmembran und Cytoskelett. Der Name des Proteins
68.2.1 Eigenschaften und Funktion weist auf die starke Glycosylierung der extrazellulären Domäne
hin. Die negativ geladenen Sialinsäuren an den Enden der Zu-
Die Erythrocyten stellen den weitaus größten Anteil der Blutzel- ckerketten des Glycophorins tragen neben anderen Glykopro-
len. In einem Mikroliter Blut befinden sich ca. 5 Millionen Ery- teinen und den Glykolipiden zur negativen Ladung der Erythro-
throcyten. Bei 5 l Blutvolumen ergibt dies eine Gesamtzahl von cytenoberfläche bei, die unspezifische Wechselwirkungen mit
25∙1012 (25 Billionen) Erythrocyten. Ihre Hauptaufgabe ist der Endothelzellen und anderen Blutzellen verhindert. Glycophorin
Sauerstofftransport von der Lunge zu den verschiedenen Gewe- besitzt eine Transmembrandomäne und einen cytoplasmati-
ben. Um diese Aufgabe zu erfüllen, enthalten Erythrocyten große schen Teil, der reich an den sauren Aminosäuren Aspartat und
Mengen an Hämoglobin, welches Sauerstoff reversibel bindet, Glutamat ist. Glycophorin ist auch die Eintrittspforte für den
aber auch am Kohlendioxidtransport beteiligt ist. Malariaerreger Plasmodium falciparum.
Ein Erythrocyt hat die Form einer bikonkaven Scheibe mit Das membrannahe Cytoskelett des Erythrocyten ist ein fila-
einem Durchmesser von 7,5 μm. Im Vergleich zur Kugelform ist mentöses Netzwerk, dessen Fäden aus Multimeren des Struktur-
hier das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen deutlich größer, proteins Spectrin bestehen (. Abb. 68.2). Spectrin ist ein Hete-
wodurch der Gasaustausch erleichtert und eine erhöhte Ver- rodimer aus langgestreckten α- und β-Untereinheiten, die einan-
formbarkeit gegeben ist. Zudem ist die Erythrocytenmembran der lose umwinden. Je zwei Heterodimere assoziieren über ihre
äußerst flexibel, sodass auch Kapillaren passiert werden können, Kopfenden und bilden ein tetrameres Filament, das etwa 200 nm
deren Durchmesser geringer ist als der Durchmesser der Eryth- überbrückt. Diese Interaktion ist von vergleichsweise geringer
rocyten. Diese besonderen Eigenschaften des Erythrocyten sind Affinität, wodurch eine Umstrukturierung des Netzwerks bei
auf die strukturellen Eigenarten von Cytoskelett und Plasma- mechanischer Beanspruchung möglich ist (Verformbarkeit).
membran zurückzuführen. Nun fehlen noch die Adapterproteine, welche das Spectrinnetz-
werk mit den oben genannten Membranproteinen verknüpfen:

α-Spectrin β-Spectrin
866 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

Ankyrin verbindet das Spectrinnetzwerk mit dem Bande-3-Pro- über den Jak/STAT-Signalweg (7 Kap. 35.5.1), der in der gesam-
tein. Das Bande-4.1-Protein stellt gemeinsam mit Actin die Ver- ten Hämatopoese eine zentrale Stellung einnimmt. Erythropo-
knüpfung mit Glycophorin her. Da die Glycophorin-Veranke- etin stammt hauptsächlich aus peritubulären Fibroblasten der
rungspunkte mit mehreren Spectrinfilamenten interagieren Niere. Wie die Synthese des Erythropoetins in Abhängigkeit
können, ist die Ausbildung eines ausgedehnten Spectrinnetzwer- vom Sauerstoffpartialdruck reguliert wird, ist an anderer Stelle
kes möglich (. Abb. 68.2). ausführlich beschrieben (7 Kap. 65.3). Dabei spielt der Trans-
kriptionsfaktor HIF (hypoxia-inducible factor) eine wichtige
Pathobiochemie Mutationen in den Genen für Spectrin, Anky- Rolle. HIF wird bei abnehmender Sauerstoffkonzentration
rin oder Bande-3-Protein können zur hereditären Sphärocytose stabilisiert, sodass er die Expression des Erythropoetin-Gens
führen, der häufigsten erblichen hämolytischen Anämie in induzieren kann.
Europa. Die Erythrocyten verlieren ihre typische Gestalt und
nehmen unter normoxischen Bedingungen Kugelform an
(Sphärocyten). Die so veränderten Erythrocyten sind wenig Übrigens
verformbar und werden in der Milz rasch abgebaut. EPO-Doping und Nachweis
Erythropoetin (EPO) ist ein Glykoprotein aus 165 Amino-
säuren. Der Kohlenhydratanteil beträgt 40 %. 1987 wurde
68.2.2 Erythropoese das erste rekombinante humane EPO (rhuEPO, rekombinan-
tes humanes Erythropoetin) auf dem europäischen Markt
Erythropoetin ist der zentrale Mediator eingeführt. Es wird vorwiegend zur Behandlung einer
der Erythropoese Anämie infolge einer Niereninsuffizienz eingesetzt (renale
Als Vermittler des Sauerstofftransports sind die Erythrocyten Anämie). Da EPO die Bildung von Erythrocyten stimuliert
ständig dem reaktiven Sauerstoff und aggressiven Sauerstoffra- und somit die Sauerstoffkapazität des Blutes erhöht, ist
dikalen ausgesetzt. Auch wenn die Erythrocyten mit Hilfe des rhuEPO ein attraktives Doping-Mittel zur Steigerung der
Erhaltungsstoffwechsels Schäden reparieren können (7 Kap. aeroben Leistungsfähigkeit bei Ausdauersportlern.
20.2), durchleben sie einen Alterungsprozess, der sich u. a. in Bereits 1990 wurde rhuEPO vom Internationalen Olym-
einer Verringerung der Flexibilität der Membran äußert. Geal- pischen Komitee (IOC) auf die »Liste der verbotenen
terte Erythrocyten werden nach einer mittleren Lebensdauer von Substanzen« gesetzt. Bis zur Entwicklung einer Methode
120 Tagen von phagocytierenden Zellen in Milz, Leber und Kno- zum eindeutigen Nachweis von rhuEPO vergingen
chenmark abgebaut. allerdings 10 Jahre.
Aus der mittleren Lebenszeit des Erythrocyten und der Ge- Gentechnisch hergestelltes rhuEPO hat dieselbe Primär-
samtzahl an Erythrocyten lässt sich leicht errechnen, dass pro struktur wie körpereigenes EPO. Es wird in sog. CHO-Zellen
Tag (24 h) 2,1∙1011 Erythrocyten neu gebildet werden müssen. produziert, einer Zelllinie, die sich von den Ovarien einer
Dies entspricht 2,4 Millionen Erythrocyten pro Sekunde. Diese Hamsterart ableitet (Chinese Hamster Ovary). CHO-Zellen und
erstaunliche Leistung erbringt das blutbildende System in einem humane Zellen unterscheiden sich in der Ausstattung mit
Prozess, der als Erythropoese bezeichnet wird. Zwischen der Glycosyltransferasen, die die Kohlenhydratseitenketten von
myeloischen Stammzelle und dem kernlosen Reticulocyten, der Glykoproteinen aufbauen. Daher haben in CHO-Zellen pro-
als letzte Vorstufe des Erythrocyten das Knochenmark verlässt, duzierte Glykoproteine einen geringeren Anteil an Sialin-
können mehrere Differenzierungsstadien unterschieden werden, säure (syn. N-Acetylneuraminsäure, NANA). Da Sialinsäure
z. B. Proerythroblasten, Erythroblasten und Normoblasten. bei physiologischem pH-Wert negativ geladen ist, unter-
Während des Übergangs vom Normoblasten zum Reticulocyten scheiden sich rhuEPO und körpereigenes EPO in ihren iso-
wird der Zellkern ausgestoßen. elektrischen Punkten. Dies macht man sich beim Nachweis
Dieser kontinuierlich ablaufende Proliferations- und Diffe- des EPO-Dopings zunutze. Hierzu wird eine Urinprobe zu-
renzierungsprozess benötigt nur wenige Tage und geht mit der nächst durch Ultrafiltration (Filtration durch kleinste Poren,
Biosynthese des Hämoglobins einher. Reticulocyten besitzen Proteine werden zurückgehalten) konzentriert. Es folgt die
zwar keinen Zellkern mehr, haben aber neben anderen Organel- Auftrennung der Proteine nach ihrem isoelektrischen Punkt
len noch Ribosomen und betreiben Proteinbiosynthese. Diese durch isoelektrische Fokussierung (IEF) (7 Kap. 6.1.2). Zu-
68 Strukturen sind anfärbbar und erscheinen netzartig (lat. reticu- letzt werden die EPO-Proteine mit Hilfe von spezifischen
lum: Netz). Lysate von Reticulocyten werden von Molekularbio- Antikörpern im Western-Blot detektiert (7 Kap. 6.3). Die
logen zur in vitro-Synthese von Proteinen verwendet. Die Reti- Bandenmuster von rhuEPO und körpereigenem EPO unter-
culocyten, die etwa 1 % der Erythrocytenpopulation des Blutes scheiden sich eindeutig.
ausmachen, verlieren innerhalb von zwei Tagen ihre restlichen
Organellen und werden zu reifen Erythrocyten. Bei einer gestei-
gerten Erythropoese, z. B. nach Blutverlusten oder Gabe von
Erythropoetin, steigt die Zahl der Reticulocyten im Blut deut- 68.2.3 Hämoglobin
lich an.
Die Erythropoese wird hauptsächlich durch das Cytokin Hämoglobin, ein tetrameres Protein mit einer Molmasse von
Erythropoetin (EPO) stimuliert. Erythropoetin signalisiert 64 kDa, ist das Hauptprotein der Erythrocyten.
68.2 · Erythrocyten
867 68

. Abb. 68.3 Quartärstruktur des Hämoglobins. Dargestellt sind die


α- und β-Globinketten sowie die Häm-Gruppen als rote Scheiben

Hämoglobin
4 transportiert Sauerstoff,
4 trägt zum Transport von Kohlendioxid bei und
4 leistet einen Beitrag zur Pufferung des Blutes. . Abb. 68.4 Häm im oxygenierten Hämoglobin. Die Globinkette ist als
hellbraunes Band angedeutet. (Einzelheiten s. Text)

Die Sauerstoffkapazität des Blutes hängt


von der Hämoglobinkonzentration ab tischer Gruppe. Häm wiederum ist aus einem planaren Porphy-
Die physikalisch gelöste Menge an Sauerstoff im Blutplasma rinringsystem (Protoporphyrin IX, 7 Kap. 32.1) und einem zent-
(3 ml O2/l) reicht bei weitem nicht aus, um den Sauerstoffbedarf ralen, zweifach positiv geladenen Eisenion (Fe2+) zusammenge-
der Gewebe zu decken. Die lebenswichtige Funktion des Hämo- setzt. Fe2+ besitzt sechs Valenzen, die koordinative Bindungen
globins besteht darin, die Sauerstoffkapazität des Blutes zu stei- eingehen können. Vier Valenzen sind durch die Stickstoffatome
gern. Aufgrund der hohen Hämoglobinkonzentration innerhalb des Protoporphyrin IX abgedeckt, eine weitere Valenz bindet das
der Erythrocyten (über 300 g/l!) ist die Sauerstoffkapazität des sogenannte proximale Histidin der Globinkette. Die verbliebene
Vollblutes mit etwa 200 ml O2/l um das 70fache gegenüber dem Valenz steht für die reversible Bindung von Sauerstoff (O2) zur
Plasma erhöht. Dabei wird die Affinität des Hämoglobins zu Sau- Verfügung (. Abb. 68.4). Die Sauerstoffanlagerung wird als Oxy-
erstoff den Bedürfnissen der umgebenden Gewebe angepasst. genierung bezeichnet. Der umgekehrte Vorgang, die Sauerstoff-
Im Plasma ist Hämoglobin nur nach Zerfall von Erythrocy- abgabe von oxygeniertem Hämoglobin (Desoxygenierung) ist
ten (Hämolyse) in nennenswerten Mengen anzutreffen. Mit dem von gleichrangiger Bedeutung, da der an Hämoglobin gebunde-
Hb-Wert wird die Hämoglobinmenge als Konzentration im Voll- ne Sauerstoff den stoffwechselaktiven Geweben zur Verfügung
blut angegeben. Sie ist mit einem mittleren Wert von 155 g/l beim stehen soll.
Mann höher als bei der Frau (140 g/l). Bei einem Blutvolumen Um einen effektiven Sauerstofftransport von der Lunge zu
von 5 l und einem Hb-Wert von 150 g/l beträgt die Gesamtmen- den sauerstoffverbrauchenden Geweben zu gewährleisten, ist die
ge an Hämoglobin 750 g! Pathologische Zustände, bei denen die Kooperativität der Sauerstoffbindung an die vier Globinunter-
Zahl der Erythrocyten und/oder der Hb-Wert absinken, werden einheiten von zentraler Bedeutung. Diese Kooperativität äußert
als Anämien bezeichnet. sich in dem sigmoidalen (S-förmigen) Verlauf der Sauerstoffsät-
tigungskurve des Hämoglobins (. Abb. 68.5). Auf molekularer
Die Kooperativität der Sauerstoffbindung ist Voraus- Ebene bedeutet dies, dass die Bindung von Sauerstoff an eine der
setzung für den effektiven Sauerstofftransport Untereinheiten die Sauerstoffaffinität der übrigen Untereinhei-
Hämoglobin gehört nicht zuletzt aufgrund seiner Verfügbarkeit ten erhöht. Umgekehrt gibt ein partiell desoxygeniertes Hämo-
zu den am besten untersuchten Proteinen. Der Zusammenhang globin den Sauerstoff leichter ab, als ein vollständig oxygeniertes
zwischen der Struktur des Proteins und seiner Fähigkeit, Sauer- Hämoglobin. Dieses zunächst paradox erscheinende Bindungs-
stoff reversibel zu binden, wurde bereits im Kapitel »Proteine« verhalten führt bei einem arteriellen Sauerstoffpartialdruck von
(7 Kap. 5.3) ausführlich diskutiert. Das Hämoglobin des Erwach- 130 mbar (97,7 mmHg, 13 kPa) zu einer nahezu vollständigen
senen ist überwiegend ein Tetramer (64 kDa) aus zwei α- und Beladung des Hämoglobins. Je nach Sauerstoffpartialdruck in
zwei β-Untereinheiten (je 16 kDa), was durch die einfache For- den Kapillaren gibt das Hämoglobin 25 bis 50 % seiner Sauer-
mel α2β2 ausgedrückt wird (. Abb. 68.3). stofffracht an die verbrauchenden Gewebe ab.
Jede Untereinheit besteht aus einem Proteinanteil, der als Die molekularen Mechanismen der kooperativen Sauerstoff-
α-Globin bzw. β-Globin bezeichnet wird, und Häm als prosthe- bindung des Hämoglobins sind gut verstanden. Voraussetzung
868 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

gefüllten Kanal (7 Kap. 5.3) des Hämoglobintetramers ein. Diese


Bindungsstelle ist allerdings nur im T-Zustand des desoxygenier-
ten Hämoglobins zugänglich. Durch die Bindung von 2,3-Bis-
phosphoglycerat an desoxygeniertes Hämoglobin wird der T-
Zustand stabilisiert und der Übergang in den R-Zustand er-
schwert. Da der T-Zustand eine niedrigere Sauerstoffaffinität
aufweist als der R-Zustand, ist nun die Sauerstoffabgabe bei nied-
rigen Sauerstoffpartialdrucken im Gewebe erleichtert. Aufgrund
des flachen Verlaufs der Sauerstoffbindungskurve bei hohen Par-
tialdrucken ist die Sauerstoffbeladung des Hämoglobins in der
Lunge durch die Bindung von 2,3-Bisphosphoglycerat kaum be-
einträchtigt. Über die Konzentration des 2,3-Bisphosphoglyce-
rats im Erythrocyten kann die Sauerstoffaffinität den Erforder-
nissen angepasst werden. So erhöht sich die 2,3-Bisphosphogly-
ceratkonzentration bei Aufenthalt im Hochgebirge (Höhenan-
passung), Anämien oder anderen hypoxischen Zuständen,
sodass an Hämoglobin gebundener Sauerstoff bereitwilliger an
das Gewebe abgegeben wird.
Nicht nur durch die Bindung von 2,3-Bisphosphoglycerat,
sondern auch durch die H+-Ionenkonzentration wird die Sauer-
stoffaffinität des Hämoglobins in physiologisch sinnvoller Weise
moduliert. In Geweben, die oxidativen Stoffwechsel betreiben,
. Abb. 68.5 O2-Bindungskurven. Gezeigt ist die prozentuale Sauerstoff- fällt Kohlendioxid an. Da im Blut gelöstes Kohlendioxid durch
sättigung von Hämoglobin (Hb), Hb in Gegenwart von 40 mmHg CO2 die Wirkung der Carboanhydrase in den Erythrocyten sofort in
(Hb+CO2), Hb in Gegenwart von 2,3-Bisphosphoglycerat (Hb+BPG), Hb in Hydrogencarbonat und H+-Ionen überführt wird, sinkt der pH-
Gegenwart von BPG und CO2 (Hb+BPG+CO2) sowie von Vollblut bei 40 mm Wert. Auch die bei anaerober Glycolyse anfallende Milchsäure
Hg CO2 (Blut) in Abhängigkeit vom Sauerstoffpartialdruck (1 mmHg =
(Lactat) führt zu einem Abfall des pH-Werts. Somit ist der lokale
133,3 Pa)
pH-Wert des Blutes ein Indikator für den Sauerstoffbedarf im
Gewebe.
für Kooperativität ist, dass die Sauerstoffbindung an eine Unter- In der Tat »spürt« das Hämoglobintetramer die umgebende
einheit den übrigen Untereinheiten »mitgeteilt« wird. Bei der H+-Ionenkonzentration und kann bei niedrigem pH-Wert den
modellhaften Beschreibung der kooperativen Sauerstoffbindung Sauerstoff leichter abgeben. Die Rechtsverschiebung der Sauer-
sind zwei unterscheidbare Konformationen des Hämoglobin- stoffbindungskurve des Hämoglobins bei erniedrigtem pH-Wert
tetramers von Bedeutung: der T-Zustand (T = tense, gespannt) wird als Bohr-Effekt bezeichnet. Der dem Bohr-Effekt zugrunde
des desoxygenierten und der R-Zustand (R = relaxed, entspannt) liegende molekulare Mechanismus ähnelt in gewisser Weise der
des oxygenierten Hämoglobintetramers (7 Kap. 5.3). Der T-Zu- Wirkung von 2,3-Bisphosphoglycerat: entscheidend ist die Stabi-
stand wird durch eine Reihe von Salzbrücken stabilisiert und lisierung des T-Zustands von desoxygeniertem Hämoglobin. Bei
weist eine geringere Sauerstoffaffinität (= erleichterte Sauerstoff- erhöhter H+-Ionenkonzentration werden Histidinseitenketten
abgabe) als der R-Zustand auf. der β-Untereinheiten des Hämoglobintetramers protoniert. Die
nun geladenen Imidazolringe der Histidinseitenketten tragen zu
Allosterische Effektoren erleichtern den Salzbrücken bei, die den T-Zustand des desoxygenierten Hä-
die Sauerstoffabgabe moglobins festigen. Da sich die molekularen Angriffspunkte von
Die Sauerstoffaffinität von reinem Hämoglobin in wässriger Lö- 2,3-Bisphosphoglycerat und H+-Ionen unterscheiden, ist die
sung ist zu hoch, um eine ausreichende Abgabe von Sauerstoff in Wirkung dieser allosterischen Effektoren additiv (. Abb. 68.5).
den Kapillaren zu gewährleisten. Die Sauerstoffaffinität des Blu- Neben Sauerstoff können weitere Gase an das Fe2+ des Häms
tes ist jedoch deutlich geringer als die von reinem Hämoglobin binden. Kohlenmonoxid (CO) entsteht bei unvollständiger Ver-
68 und damit den Erfordernissen angepasst. Der Grund hierfür ist brennung organischer Verbindungen (z. B. in Autoabgasen oder
die hohe 2,3-Bisphosphoglyceratkonzentration (4–5 mmol/l) Zigarettenrauch), aber auch bei einer enzymatischen Reaktion,
in den Erythrocyten. 2,3-Bisphosphoglycerat wirkt als allosteri- dem Abbau des Häms durch die Hämoxygenase (7 Kap. 32.2.1).
scher Effektor und bewirkt eine Rechtsverschiebung der Sauer- Obwohl der Globinanteil des Hämoglobins die Bindung von
stoffbindungskurve des Hämoglobins (. Abb. 68.5). Kohlenmonoxid an Häm sterisch hindert, ist die Affinität von
Auch hier ist der molekulare Wirkmechanismus gut verstan- CO zu Hämoglobin etwa 300fach größer als die von Sauerstoff
den. 2,3-Bisphosphoglycerat besitzt zwei Phosphatgruppen und (. Abb. 68.6). Kohlenmonoxid blockiert daher bereits in niedri-
eine Carboxylatgruppe und weist somit maximal fünf negative gen Konzentrationen die Sauerstoffbindestellen des Hämoglo-
Ladungen auf (. Abb. 68.8). Mit diesen negativen Ladungen fügt bins. Zudem führt die CO-Bindung an eine oder mehrere der
sich 2,3-Bisphosphoglycerat in eine Umgebung von positiv gela- Untereinheiten des Hämoglobins zu einer erschwerten Sauer-
denen Aminosäuren der β-Untereinheiten im zentralen wasser- stoffabgabe der übrigen Untereinheiten (Linksverschiebung der
68.2 · Erythrocyten
869 68
Durch seine Pufferfunktion unterstützt Hämoglobin
den Kohlendioxidtransport
Das Kohlendioxid/Hydrogencarbonat-Puffersystem macht den
Großteil der Pufferkapazität des Blutes aus (7 Kap. 66.1.3). Ihm
liegen folgende Gleichgewichte zugrunde:

(1) CO2 + H2O H2CO3


(2) H2CO3 H+ + HCO3–

Die Lage des Gleichgewichts ist pH-abhängig, die Einstellung des


Gleichgewichts wird durch die Carboanhydrase der Erythro-
cyten beschleunigt. Dieses Enzym katalysiert folgende Reaktion:

. Abb. 68.6 Vergleich der Bindung von Kohlenmonoxid und Sauerstoff (3) CO2 + H2O H+ + HCO3–
an Hämoglobin. Gezeigt ist die prozentuale Sättigung von Hämoglobin mit
Kohlenmonoxid (CO-Kurve) oder Sauerstoff (O2-Kurve) in Abhängigkeit
vom Kohlenmonoxid- bzw. Sauerstoffpartialdruck (1 mmHg = 133,3 Pa) Hämoglobin ist ein histidinreiches Protein. α-Globin und
β-Globin enthalten 10 bzw. 9 Histidine. Somit besitzt ein Hämo-
globintetramer 38 Histidinreste. Die Imidazolseitenkette des
O2-Bindungskurve). Eine akute Kohlenmonoxidvergiftung wird Histidins hat einen pKs-Wert von 6 und trägt daher bei physio-
durch Beatmung mit reinem Sauerstoff behandelt. Dies führt zu logischen pH-Werten zur Pufferung bei. Aufgrund der großen
einer Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks und damit zur be- Hämoglobinmenge im Blut ist der Beitrag zur Pufferung be-
schleunigten Umwandlung von kohlenmonoxidbeladenem Hä- trächtlich: Etwa ein Viertel der Pufferkapazität des Blutes lässt
moglobin (HbCO) zu sauerstoffbeladenem Hämoglobin (HbO2). sich auf Hämoglobin zurückführen. Durch das Abfangen der
Protonen werden die Gleichgewichte (1) bis (3) nach rechts ver-
schoben. Damit erhöht Hämoglobin indirekt die Löslichkeit von
Übrigens Kohlendioxid im Blut.
Die Farben des Blutes Hämoglobin trägt aber auch in direkter Weise zum Kohlen-
Die rote Farbe des Blutes wird durch die Lichtabsorption des dioxidtransport bei. Kohlendioxid bindet reversibel an die freien
Häms im Hämoglobin hervorgerufen. Der Porphyrinring Aminogruppen der Globinketten unter Ausbildung eines Car-
(griech. porphyra: Purpur) des Häms weist ein ausgedehntes bamats:
System konjugierter Doppelbindungen auf. Solche delokali-
sierten π-Elektronensysteme (π = pi (griech.)) absorbieren (4) R-NH2 + CO2 R-NHCOO– + H+
Licht im sichtbaren Wellenlängenbereich und sprechen emp-
findlich auf die Änderung der chemischen Umgebung an. Der Auf diese Weise werden ca. 5 % des Kohlendioxids im Blut trans-
Oxygenierungsgrad des Hämoglobins beeinflusst daher den portiert. Die bei der Carbamatbildung freiwerdenden Protonen
Farbton des Blutes. Oxygeniertes, arterielles Blut zeigt eine tragen wiederum zum Bohr-Effekt bei. Außerdem stabilisieren
hellrote Färbung, desoxygeniertes, venöses Blut erscheint die zusätzlichen Ladungen die T-Form des Hämoglobins. Somit
dunkelrot gefärbt. Die bläuliche Verfärbung von Haut und ist die Sauerstoffabgabe dort erleichtert, wo viel Kohlendioxid
Schleimhäuten, die mit der Abnahme der Sauerstoffsättigung anfällt. In der Lunge kehren sich die Prozesse um. Abgabe von
des Blutes einhergeht, wird als Zyanose bezeichnet. Sie wird Kohlendioxid führt über die Gleichgewichte (1) bis (3) zur Erhö-
sichtbar, wenn die Konzentration an desoxygeniertem Hämo- hung des pH-Werts und über Gleichgewicht (4) zur Verringe-
globin in den Gefäßen nahe der Hautoberfläche 50 g/l über- rung des Anteils an Carbaminohämoglobin. Beide Effekte sum-
steigt. Dass rotes Blut blau erscheint, ist auf die optischen mieren sich und führen zu einer erhöhten Sauerstoffaffinität des
Eigenschaften von Haut und Gewebe zurückzuführen. Hämoglobins (Haldane-Effekt, s. Lehrbücher der Physiologie).
Verschiedene Zustände des Hämoglobins können anhand
von Absorptionsspektren eindeutig unterschieden werden. Verschiedene Hämoglobinisoformen unterscheiden
Alle Hämoglobinspektren werden von einer starken Lichtab- sich durch ihre Globinketten
sorption im Bereich von 400–430 nm dominiert (Soret-Ban- Durch Genduplikationen sind verschiedene Globin-Gene ent-
de). Daneben zeigt oxygeniertes Hämoglobin zwei Absorpti- standen, die im Verlauf der Ontogenese differenziell exprimiert
onsbanden bei 576 und 540 nm. Desoxygeniertes Hämoglo- werden. Die Genprodukte werden mit griechischen Buchstaben
bin weist in diesem Bereich nur eine Absorptionsbande bei als α-, β-, γ-, δ-, ε- und ζ (= zeta)-Globin bezeichnet. Die α- und
555 nm auf. Das Absorptionsspektrum ähnelt dem des koh- ζ-Globin-Gene bilden einen Gen-Cluster (α-Cluster) am Ende
lenmonoxidbeladenen Hämoglobins (HbCO). Methämoglo- des kurzen Arms von Chromosom 16 (16p 13.3), die übrigen
bin absorbiert Licht bei 500 und 626 nm und besitzt eine Globin-Gene bilden den β-cluster auf dem kurzen Arm von
rötlich-braune Farbe. Patienten mit einer Methämoglobinä- Chromosom 11 (11p 15.5). Das Hämoglobin des erwachsenen
mie erscheinen zyanotisch. Menschen (HbA, A = adult, erwachsen) besteht zu 96 % aus
HbA0, einem Tetramer aus zwei α- und zwei β-Globinketten
870 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

(α2β2). α-Globin besteht aus 141 Aminosäuren, β-Globin aus


146 Aminosäuren. Die zweite Isoform des Hämoglobins des
Erwachsenen wird als HbA2 bezeichnet. Dort sind beide
β-Globinketten durch δ-Globin ersetzt. β- und δ-Globin sind
sich ähnlicher als die übrigen Globine. Sie haben die gleiche An-
zahl an Aminosäuren und die Aminosäuresequenzen unter-
scheiden sich nur an 10 Positionen.
Die β-Kette des HbA0 kann sich in einer nicht-enzymati-
schen Reaktion covalent mit Hexosen verbinden. Im Unter-
schied zur enzymatischen Glycosylierung wird dieser Vorgang
Glykierung genannt. Glykiertes Hämoglobin, bezeichnet als
HbA1, macht normalerweise weniger als 6 % des Hämoglobins
aus. Je nach Art der Glykierung werden Unterfraktionen von
HbA1 unterschieden. Die größte Fraktion stellt das HbA1c dar.
Hier erfolgte die Glykierung mit Glucose am N-terminalen Va-
linrest des β-Globins unter Ausbildung einer Schiff-Base und . Abb. 68.7 Prä- und postnatale Hämoglobinbiosynthese. In der frühen
Embryonalentwicklung wird α-Globin gemeinsam mit ε- und ζ-Globinen
nachfolgender Amadori-Umlagerung (7 Abb. 17.1, 71.5). Der
exprimiert, sodass sich die embryonalen Hämoglobine bilden. Es folgt
Grad der Glykierung ist u. a. von der Blutzuckerkonzentration die Bildung von fetalem Hämoglobin durch vermehrte Expression von
abhängig und gibt retrospektiv Auskunft über Ausmaß und γ-Globin (HbF=α2γ2). Zu diesem Zeitpunkt werden auch schon geringe
Dauer der Hyperglykämie bei Diabetes mellitus. Daher ist die Mengen der β-Kette exprimiert, sodass sich das Hämoglobin des Erwachse-
Bestimmung von glykiertem Hämoglobin eine wichtige Hilfe bei nen (HbA=α2β2) nachweisen lässt. Nach der Geburt wird HbF nahezu voll-
ständig durch die HbA-Formen ersetzt
der Einstellung des Blutzuckerspiegels von Diabetikern.
Während der Embryonalentwicklung werden andere Hämo-
globin-Isoformen gebildet. In der Embryonalzeit werden v. a. (. Abb. 68.8). Das Enzym 2,3-Bisphosphoglyceratmutase
die α-, ε- und ζ-Globine exprimiert (. Abb. 68.7). Daraus for- transferiert die Phosphatgruppe aus der energiereichen Säurean-
men  sich die embryonalen Hämoglobine Gower 1 (ζ2ε2), Go- hydridbindung am C-Atom 1 des 1,3-Bisphosphoglycerats auf
wer 2 (α2ε2) und Portland (ζ2γ2). Die ε- und ζ-Globine werden die Hydroxylgruppe am C-Atom 2 unter Ausbildung einer ener-
nach und nach durch γ-Globin ersetzt, sodass ab dem 3. Schwan- giearmen Phosphorsäureesterbindung. Daher liegt das Gleichge-
gerschaftsmonat v. a. das α2γ2-Tetramer vorliegt, welches auch wicht der Reaktion deutlich auf der Seite des 2,3-Bisphosphogly-
als fetales Hämoglobin bezeichnet wird (HbF). HbF weist im cerats. Das Reaktionsprodukt kann wieder in die Glycolyse ein-
Vergleich zu HbA eine erhöhte Sauerstoffaffinität auf, da es geschleust werden. Hierzu spaltet das Enzym Bisphosphogly-
2,3-Bisphosphoglycerat schlechter bindet. So wird der Transfer ceratphosphatase den Phosphatrest am C-Atom 2 hydrolytisch
des Sauerstoffs vom mütterlichen Hämoglobin auf das fetale Hä- ab. Es entsteht das Glycolyse-Intermediat 3-Phosphoglycerat.
moglobin erleichtert. Das Neugeborene besitzt neben HbF be- Verläuft die Glycolyse über den »Umweg« der Generierung von
reits über 20 % HbA. Im 2. Lebensjahr wird der Hämoglobinsta- 2,3-Bisphosphoglycerat, so wird kein ATP gewonnen, da die
tus des Erwachsenen erreicht. energiereiche Säureanhydridbindung des 1,3-Bisphosphoglyce-
rats nicht zum Transfer von Phosphat auf ADP genutzt wird. Der
Großteil der Glucose wird im Erythrocyten allerdings über die
68.2.4 Stoffwechsel der Erythrocyten »klassische« anaerobe Glycolyse abgebaut unter Gewinnung von
2 ATP pro Glucosemolekül. Das ATP dient v. a. dem Transport
Erythrocyten gewinnen ATP ausschließlich von Ionen über die Erythrocytenmembran durch die Na+/K+-
über den Glucoseabbau ATPase und einer Calcium-ATPase. Dadurch werden niedrige
Erythrocyten besitzen keine Organellen oder intrazellulären Natrium- und Calciumkonzentrationen sowie eine hohe Kalium-
Membransysteme. Daher sind ihre Stoffwechselmöglichkeiten konzentration im Erythrocyten aufrechterhalten.
sehr eingeschränkt. Dennoch verfügen die Erythrocyten über
einen eigenen Stoffwechsel, der darauf ausgerichtet ist, die Funk- Erythrocyten enthalten Enzymsysteme
68 tionsfähigkeit des Hämoglobins und der zellulären Strukturen zur Reparatur oxidativer Schäden
aufrechtzuerhalten. Der Erythrocytenstoffwechsel wird daher Erythrocyten sind ständig dem reaktiven Sauerstoff und Sauer-
auch als Erhaltungsstoffwechsel bezeichnet. Als Energieliefe- stoffradikalen ausgesetzt. Daher dienen weitere wichtige energie-
rant wird ausschließlich Glucose verwendet, da der Abbau von verbrauchende Prozesse dem Schutz vor bzw. der Reparatur von
Fettsäuren und Acetyl-CoA an Mitochondrien gebunden ist. Zur oxidativen Schädigungen. Zu diesem Zweck muss der Erythrocyt
ATP-Gewinnung wird die Glucose mittels anaerober Glycolyse eine hohe Konzentration (2,5 mmol/l) an reduziertem Glutathion
zu Pyruvat oder Lactat abgebaut. aufrechterhalten. Glutathion ist ein Tripeptid aus den Aminosäu-
Eine Besonderheit des Erythrocytenstoffwechsels ist die Ge- ren Glutamat, Cystein und Glycin, dessen Biosynthese ATP ver-
nerierung von 2,3-Bisphosphoglycerat, einem wichtigen alloste- braucht. Die Amidbindung zwischen Glutamat und Cystein er-
rischen Effektor des Hämoglobins. Dieses wird aus 1,3-Bisphos- folgt über die γ-Carboxylgruppe des Glutamats (7 Kap. 27.2.4). In
phoglycerat, einem Intermediat der Glycolyse, synthetisiert reduzierter Form verfügt Glutathion über die Thiolgruppe (-SH)
68.2 · Erythrocyten
871 68

. Abb. 68.9 Funktion und Regenerierung von reduziertem Glutathion


(GSH). GSH reduziert spontan (nicht-enzymatisch) Disulfidbrücken in Pro-
teinen und wird dabei zu GSSG oxidiert. GSSG entsteht auch bei der Elimi-
nierung von H2O2 durch die Glutathionperoxidase. Die Glutathionreduktase
regeneriert GSH unter Verbrauch von NADPH/H+

des Globins ist, das Fe2+ des Häms vor Oxidation zu Fe3+ zu
. Abb. 68.8 Bildung und Abbau von 2,3-Bisphosphoglycerat im
schützen. Dies gelingt aber nur unvollständig, sodass ständig ein
Erythrocyten gewisser Anteil des Fe2+ zu Fe3+ oxidiert wird:

Hb(Fe2+) + O2 Hb(Fe3+) + O2–


des Cysteins und wird daher auch als GSH abgekürzt. GSH redu-
ziert z. B. Wasserstoffperoxid (H2O2) oder Disulfidbrücken in Neben Methämoglobin entsteht dabei das hochreaktive Super-
oxidierten Proteinen und wird dabei zu einem disulfidverbrück- oxidanion. Das Superoxidanion ist ein Radikal. Es wird durch
ten Glutathiondimer (GSSG) oxidiert (. Abb. 68.9). Mit Hilfe des eine Disproportionierung, die durch das Enzym Superoxiddis-
Enzyms Glutathionreduktase wird GSH aus GSSG regeneriert. mutase katalysiert wird, in Wasserstoffperoxid und Sauerstoff
Hierzu werden Reduktionsäquivalente in Form von NADPH be- umgewandelt:
nötigt. NADPH wird durch die Glucose-6-Phosphatdehydroge-
nase erzeugt, einem Enzym des Pentosephosphatwegs O2– + O2– + 2H+ H2O2 + O2
(7 Kap. 14.1.2). In der Tat werden in den Erythrocyten etwa 10 %
der Glucose über den Pentosephosphatweg abgebaut. Wasserstoffperoxid wird durch die Katalase zu Wasser und
GSH schützt vor Oxidation indem es nicht-enzymatisch mit Sauerstoff entgiftet.
Sauerstoffradikalen abreagiert. Eine ähnliche Funktion üben Durch die Umwandlung in Methämoglobin ist das Hämo-
weitere Antioxidantien wie Vitamin C (Ascorbinsäure) und Vi- globin aber nicht unwiederbringlich verloren, sondern wird
tamin E (Tocopherol) aus. Auch die Reduktion von Disulfid- durch das NADH-abhängige Enzym Methämoglobinreduktase
brücken in oxidierten Proteinen durch GSH erfolgt nicht-enzy- regeneriert:
matisch. Bei der enzymatischen Entgiftung von Peroxiden dient
Glutathion als Coenzym. Die Glutathionperoxidase reduziert 2Hb(Fe3+) + NADH 2Hb(Fe2+) + NAD+ + H+
Wasserstoffperoxid oder organische Peroxide zu Wasser bzw.
dem entsprechenden Alkohol (7 Abb. 20.3). Dabei wird GSH zu Das NADH für diese Reaktion stammt aus dem glycolytischen
GSSG oxidiert (7 Kap. 20.2). Abbau von Glucose zu Pyruvat. Wird das Pyruvat nicht zu Lactat
Hämoglobin kann nur Sauerstoff transportieren, solange die umgewandelt, liefert die Glycolyse eines Glucosemoleküls zwei
zentralen Eisenatome der Hämgruppen in der zweiwertigen Moleküle NADH.
Form (Fe2+) vorliegen. Fe2+-Ionen werden in wässriger Lösung Durch die spontane Oxidation von Hämoglobin zu Met-
durch Sauerstoff schnell zu Fe3+ oxidiert. Eine wichtige Funktion hämoglobin und die enzymatische Reduktion durch die Met-

Erythrocyten Glycolyse Glyerinaldehyd-3-Phosphat# 1,3-Bisphosphoglycerat# 2,3-Bisphosphoglyceratmutase 2,3-Bisphos-


phoglycerat# Bisphosphoglyceratphosphatase 3-Phosphoglycerat# Erythrocyten Glycolyse
872 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

. Abb. 68.10 Biosynthese von Antigen A und Antigen B ausgehend von Antigen H. Gal: D-Galactose; GlcNAc: N-Acetyl-D-Glucosamin; GalNAc: N-Acetyl-
D-Galactosamin; Fuc: L-Fucose; GP: Glykoprotein

hämoglobinreduktase entsteht ein Fließgleichgewicht, in dem Die Antigene des AB0-Systems sind Kohlenhydrat-
etwa 1 % des Hämoglobins des Erythrocyten als Methämoglobin strukturen
vorliegt. Ein Mangel an Methämoglobinreduktase ist die Ursache Das AB0-System ist nach den Antigenen A und B benannt. Da-
der familiären Methämoglobinämie. Aber auch Vergiftungen bei handelt es sich um Kohlenhydratstrukturen auf Glyco-
mit Oxidationsmitteln können zu einer vermehrten Bildung von sphingolipiden oder Glykoproteinen in der Erythrocytenmem-
Methämoglobin führen (toxische Methämoglobinämie). bran, die aber auch in den Membranen anderer Zellen vorkom-
men. Es werden die Blutgruppen A, B, AB und 0 (= »Null«; im
englischen Buchstabe »O«) unterschieden, je nachdem ob Anti-
68.2.5 Erythrocytenantigene und Blutgruppen gen A, Antigen B, beide Antigene oder keines der Antigene vor-
handen ist.
68 Die verschiedenen Blutgruppen werden über Antigene auf der Da es sich bei den AB0-Antigenen um Zuckerstrukturen
Oberfläche der Erythrocyten definiert. Auslöser der Komplika- handelt, sind sie nicht direkt genetisch codiert, wie dies bei Pro-
tionen bei Bluttransfusionen nicht kompatibler Blutgruppen teinantigenen der Fall ist, sondern indirekt über die Enzyme, die
sind allerdings Antikörper, die gegen diese Antigene gerichtet diese Strukturen ausbilden. Die Enzyme sind membranständige
sind. Sie können zur Verklumpung (Agglutination) oder Auflö- Glycosyltransferasen im Golgi-Apparat, die durch die Allele A,
sung (Hämolyse) von Erythrocyten führen. Abhängig vom An- B oder 0 determiniert sind. Das Allel A codiert für eine α-(1,3)-
tigen werden weit über 20 verschiedene Blutgruppensysteme N-Acetyl-Galactosaminyltransferase, die auch als Glycosyltrans-
unterschieden. Das AB0-System und das Rhesus-System sind ferase A (GTA) bezeichnet wird. Dieses Enzym überträgt N-
klinisch besonders relevant, da die entsprechenden Antigen- Acetylgalactosamin (GalNAc) auf eine Zuckerstruktur, die aus
Antikörper-Reaktionen bei Inkompatibilität sehr heftig ausfallen N-Acetylglucosamin (GlcNAc), Galactose und Fucose besteht
und lebensbedrohlich sein können. (. Abb. 68.10). Diese Struktur wird auch als Antigen H bezeich-

UDP-N-Acetylgalactosamin
68.2 · Erythrocyten
873 68

. Tab. 68.1 Das AB0-System

Blutgruppe Genotyp Antigene auf Antikörper im


Erythrocyten Serum

A (40 %) AA oder 0A A Anti-B

B (16 %) BB oder 0B B Anti-A

AB (4 %) AB A und B –

0 (40 %) 00 Ha Anti-A und Anti-B


a
Klinisch nicht relevant

keine Antikörper gegen körpereigene Antigene erzeugt. Daher


besitzen Träger der Blutgruppe AB weder Antikörper gegen An-
tigen A noch gegen Antigen B. Träger der Blutgruppe 0 besitzen
dagegen Antikörper gegen die in diesem Fall körperfremden An-
tigene A und B. Entsprechend weisen die Träger der Blutgrup-
pe A Antikörper gegen das Antigen B auf und umgekehrt Träger
. Abb. 68.11 Schematische Darstellung der membranverankerten Gly-
der Blutgruppe B Antikörper gegen das Antigen A (. Tab. 68.1).
cosyltransferasen A (GTA; rot) und B (GTB; blau). Die beiden Glycosyltrans- Die Antikörper werden ab dem 1. Lebensjahr gebildet, ohne
ferasen unterscheiden sich nur in vier Aminosäuren an den Positionen 176, dass ein Kontakt mit dem blutgruppenfremden Antigen erfor-
235, 266 und 268. Die Aminosäuren an den Positionen 266 und 268 deter- derlich ist. Doch wie erfolgte die »Immunisierung«, die zur Aus-
minieren die Substratspezifität. Das Allel 0 ist durch eine Deletion im Codon bildung der Antikörper gegen Antigen A bzw. Antigen B führt?
für die Aminosäure 87 gekennzeichnet, die zu einer Leserasterverschiebung
führt. Es entsteht ein verkürztes Protein ohne enzymatische Aktivität
Man nimmt an, dass entsprechende Zuckerstrukturen auf der
Oberfläche von Darmbakterien, die den A- und B-Antigenstruk-
turen gleichen, die entsprechende Immunantwort hervorrufen.
net, aus dem nach der genannten enzymatischen Reaktion das Bei Trägern der entsprechenden Blutgruppenantigene wird diese
Antigen A hervorgeht. Immunantwort unterdrückt, da sie sich in diesen Fällen auch
Das Allel B codiert für eine α-(1,3)-Galactosyltransferase gegen körpereigene Antigene richtet.
(Glycosyltransferase B, GTB), die Galactose anstelle von N- Die Antikörper gegen die AB0-Blutgruppen-Antigene sind
Acetylgalactosamin auf das Antigen H überträgt, wodurch das vom Isotyp IgM. IgM ist ein Pentamer, das zehn Antigenbin-
Antigen B entsteht. Interessanterweise unterscheiden sich die destellen aufweist (7 Kap. 70.9.1). Werden nicht-kompatible
beiden Glycosyltransferasen nur in 4 von 354 Aminosäuren. Das Blutgruppen während einer Bluttransfusion vermischt, so bin-
Allel 0 ist aus einer Mutation hervorgegangen, die zu einer Lese- den die polyvalenten IgM-Antikörper an die Blutgruppenantige-
rasterverschiebung führt. Dadurch fehlt dem Protein die enzy- ne der Erythrocyten, was zu deren Agglutination führt. Daher
matische Aktivität (. Abb. 68.11). Das Antigen H wird also nicht werden die IgM-Antikörper auch als Agglutinine bezeichnet. Da
weiter modifiziert und bleibt unverändert bestehen. Daher wird IgM-Antikörper auch das Komplementsystem aktivieren, folgt
das Allel 0 mitunter als Allel H bezeichnet. Da das Antigen H auf die Agglutination eine Hämolyse. IgM-Antikörper sind nicht
einen Bestandteil aller Strukturen des AB0-Systems darstellt, ist plazentagängig. Daher ist eine AB0-Blutgruppeninkompatibili-
es immunologisch nicht relevant. tät zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft
Aus der beschriebenen Entstehung der AB0-Antigene wird normalerweise unproblematisch.
sogleich das Vererbungsmuster ersichtlich. Weist der Genotyp die
Allelkombination 0/0 auf, fehlt die enzymatische Aktivität zur Der Rhesus-Faktor D ist das bedeutendste Antigen
Modifizierung des Antigens H, es wird also kein immunologisch des Rhesussystems
relevantes Antigen ausgebildet (Blutgruppe 0). Die Allelkombina- Die Antigene des Rhesus-Systems werden als Rhesus-Faktoren
tionen A/A und A/0 führen zur Expression der α-(1,3)-N-Acetyl- bezeichnet. Im Unterschied zu den Antigenen des AB0-Systems
Galactosaminyltransferase und damit zur Ausbildung des Anti- sind die Rhesus-Faktoren Proteine. Ein weiterer Unterschied
gens A (Blutgruppe A). Entsprechend führen die Allelkombinati- besteht darin, dass Antikörper erst nach Kontakt mit einem Rhe-
onen B/B und B/0 zur Blutgruppe B. Gegenüber dem Allel 0 sind sus-Antigen gebildet werden. Die wichtigsten Antigene des Rhe-
die Allele A und B dominant. Bei der Allelkombination A/B sus-Systems werden mit D, C, c, E und e bezeichnet, die nur
werden beide Enzyme exprimiert, sodass beide Zuckerstrukturen durch zwei Gene codiert werden: D und CcEe. Beide Gene liegen
auf der Oberfläche der Erythrocyten zu finden sind (Blutgrup- benachbart auf Chromosom 1 und sind aus einer Genduplika-
pe AB). Man spricht hier von codominanter Vererbung. tion hervorgegangen. Das D-Gen codiert für ein unglycosylier-
Aufgrund der Mechanismen, die der immunologischen To- tes, integrales Membranprotein des Erythrocyten, das aus
leranz zugrunde liegen (7 Kap. 70.3.3), werden normalerweise 417 Aminosäuren besteht und 12 Transmembrandomänen auf-
874 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

. Abb. 68.12 Die RhD- und RhCcEe-Proteine des Rhesus-Systems. Im RhD-Protein sind die Aminosäurepositionen hervorgehoben, die von der Sequenz
des homologen RhCcEe-Proteins abweichen. Im RhCcEe-Protein sind die Aminosäuresubstitutionen gezeigt, in denen sich C- von c- bzw. E- von e-Anti-
genen unterscheiden

weist. Das CcEe-Gen codiert für ein Protein, das in seiner Ami-
nosäuresequenz zu über 90 % mit dem RhD-Protein identisch Übrigens
und daher ähnlich aufgebaut ist. Der CcEe-Genlocus ist sehr Haben Rhesus-Faktoren eine physiologische Funktion?
polymorph, sodass in der Bevölkerung verschiedene Allele des Das AB0-Blutgruppensystem geht auf Karl Landsteiner
RhCcEe-Proteins exprimiert werden, die sich aber nur in weni- (1868–1943) zurück. Er wurde für diese Entdeckung 1930 mit
gen Aminosäuren unterscheiden. Daneben wurden verkürzte dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. 1940 beschrieb
Formen des RhCcEe-Proteins beschrieben, die auf alternatives Landsteiner gemeinsam mit Alexander S. Wiener, dass durch
Spleißen der mRNA zurückzuführen sind (. Abb. 68.12). die Immunisierung von Kaninchen mit dem Blut von Rhesus-
Wegen seiner hohen Antigenität ist das Rhesus-D-Antigen Affen sog. Agglutinine (Antikörper) erzeugt wurden, die mit
von besonderer klinischer Bedeutung. Blut, dessen Erythrocyten 85 % der untersuchten menschlichen Erythrocytenproben
das RhD-Protein auf der Oberfläche tragen, wird als Rhesus- reagierten. In Unkenntnis der molekularen Natur des Anti-
positiv bezeichnet. Fehlt das Antigen aufgrund der Deletion bei- gens wurde die auf den Erythrocyten erkannte Struktur als
der Allele des D-Gens, so ist das Blut Rhesus-negativ. Das Merk- Rhesus-Faktor bezeichnet. Die DNA-Sequenzen, die für Rhe-
mal wird dominant-rezessiv vererbt, d. h. ist ein D-Allel vorhan- sus-Faktoren codieren, wurden Anfang der 1990er Jahre auf-
den, so ist der Träger Rhesus-positiv. 85 % der Mitteleuropäer geklärt. Daraus konnten die Primärstrukturen der Rhesus-
sind Rhesus-positiv. Proteine abgeleitet und eine Sekundärstruktur, insbesonde-
Antikörper gegen das Rhesus-D-Antigen entstehen erst, re die Lage der Transmembranhelices, vorhergesagt werden
wenn ein Rhesus-negativer Träger mit Rhesus-positiven Eryth- (. Abb. 68.12). Heute weiß man, dass die RhD- und RhCcEe-
rocyten in Kontakt kommt (Sensibilisierung). Die Antikörper Proteine gemeinsam mit dem Rhesus-associated glycoprotein
sind vom IgG-Isotyp und somit plazentagängig. Dies hat Konse- (RhAG) ein oligomeres Protein in der Erythrocytenmembran
quenzen bei der Schwangerschaft einer Rhesus-negativen Mut- ausbilden. Fehlt das RhD-Protein, wird die Position von dem
ter mit einem Rhesus-positiven Kind. Während des Geburtsvor- homologen RhCcEe-Protein eingenommen. Daneben wur-
gangs können Rhesus-positive Erythrocyten des Kindes in den den mit RhBG und RhCG weitere homologe Proteine ent-
mütterlichen Kreislauf gelangen und dort die Antikörperpro- deckt, die auf nicht-erythroiden Zellen, insbesondere in der
68 duktion gegen das D-Antigen anregen. Die so sensibilisierte Niere, exprimiert werden. Trotz dieser Fortschritte blieb die
Mutter kann bei einer zweiten Schwangerschaft massiv D-Anti- physiologische Funktion dieser Proteine rätselhaft. 1997
körper produzieren, die in den Kreislauf des Feten gelangen und wurde erkannt, dass Rhesus-Proteine Homologien zu
dort zur Zerstörung der Erythrocyten führen. Dies kann zur Ammoniumionentransportern der Hefe aufweisen. Seitdem
Schädigung des Neugeborenen oder im Extremfall zum intra- konnten verschiedene Arbeitsgruppen nachweisen, dass
uterinen Tod führen (fetale Erythroblastose, Morbus haemoly- Rhesus-Proteine den Transport von Ammoniumionen (NH4+)
ticus neonatorum). über die Zellmembran ermöglichen. Diese Erkenntnis war
unerwartet, da man bis dahin davon ausgegangen war, dass
der Membrantransport von reduziertem Stickstoff in Form
des ungeladenen Ammoniaks (NH3) spontan erfolgt.
68.3 · Pathobiochemie
875 68
68.3 Pathobiochemie HbS verlieren die Erythrocyten ihre mechanische Flexibilität
und nehmen eine charakteristische sichelähnliche Form an (Si-
Mutationen in den Globin-Genen führen chelzellen). Die so veränderten Erythrocyten können den Ver-
zu Hämoglobinopathien schluss kleinster Gefäße verursachen. Dies führt zu einer Min-
Hämoglobinopathien Sie zählen zu den weltweit häufigsten Erb- derdurchblutung des Gewebes (Ischämie) gefolgt von einer Or-
krankheiten, verursacht durch Mutationen in den Globin-Ge- ganschädigung. Zudem werden die veränderten Erythrocyten
nen, von denen mittlerweile über 1.000 auf molekularer Ebene beschleunigt abgebaut mit der Folge einer chronischen hämoly-
charakterisiert sind. Man unterscheidet Mutationen, die zu einer tischen Anämie. Da nur desoxygeniertes HbS Fibrillen ausbildet,
verminderten Expression einer der Globinketten führen (Tha- treten hämolytische Krisen verstärkt bei Sauerstoffmangel z. B.
lassämien) von solchen, die einen Aminosäureaustausch in ei- während eines Höhenaufenthalts oder bei körperlicher Anstren-
nem der Globine zur Folge haben (anomale Hämoglobine). gung auf. Ähnlich wie bei den β-Thalassämien wird zur partiel-
Heterozygote Merkmalsträger sind oft beschwerdefrei oder zei- len Kompensation des anomalen Hämoglobins vermehrt HbF
gen vergleichsweise milde klinische Symptome. Die Schwere der gebildet. Heterozygote Träger sind weitgehend symptomfrei und
Erkrankung von Homozygoten hängt von der Natur der Muta- haben zudem eine erhöhte Überlebenschance nach einer Infek-
tion ab. Am bedeutsamsten hinsichtlich Häufigkeit und klini- tion mit dem Malaria-Erreger Plasmodium falciparum. Dies er-
scher Symptomatik sind die β-Thalassämien, bei denen die Ex- klärt die weite Verbreitung des mutierten Allels in den Regionen
pression des β-Globins gestört ist, sowie eine Punktmutation des Afrikas, in denen die Malaria endemisch auftritt. Dort können
β-Globin-Gens, die zur Sichelzellanämie führt. bis zu 40% der Bevölkerung Merkmalsträger sein.

Thalassämie Die Bezeichnung Thalassämie beruht auf dem ge- Enzymdefekte im Glucoseabbau schaden
häuften Auftreten der Erkrankung in den Mittelmeerländern den Erythrocyten
(griech. thalassa: Meer). Der Verlauf einer β-Thalassämie hängt Glucose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel Der Glucose-6-
von der Restexpression des β-Globins ab. Der vollständige Ver- Phosphatdehydrogenase-Mangel ist der am weitesten verbreite-
lust der Expression des β-Globins bei homozygoten Merkmals- te Enzymdefekt beim Menschen, schätzungsweise sind weltweit
trägern führt zur schwersten Form der Erkrankung, die als über 100 Mio. Menschen betroffen. Durch den Enzymmangel
β-Thalassaemia major bezeichnet wird. Aufgrund des Fehlens ist der Pentosephosphatweg beeinträchtigt. Besonders emp-
von β-Globin kann Hämoglobin A0 (α2β2), die Hauptkomponen- findlich reagieren Erythrocyten, da sie das im Pentosephosphat-
te des Hämoglobins des Erwachsenen, nicht mehr gebildet wer- weg gebildete NADPH zur Reparatur oxidativer Schäden benö-
den. Dies kann zu einem gewissen Grade durch die Expression tigen. Die häufigste klinische Manifestation ist die hämolyti-
von γ-Globin unter Ausbildung von fetalem Hämoglobin (HbF, sche Anämie, die aber in der Regel eines exogenen Auslösers
α2γ2) kompensiert werden. Auch HbA2 (α2δ2) ist kompensato- bedarf.
risch erhöht. Die Lebensdauer der Erythrocyten ist drastisch Das Gen der Glucose-6-Phosphatdehydrogenase ist auf dem
verkürzt und das Gesamthämoglobin stark erniedrigt, was sich X-Chromosom lokalisiert, sodass v. a. Männer von einem Mangel
in einer schweren, chronischen Anämie äußert. Unbehandelt betroffen sind. Heterozygoten Frauen bietet die Mutation, ähnlich
führt die Erkrankung im Kindesalter zum Tod. Die Patienten wie die Sichelzellmutation, einen relativen Schutz vor Malaria,
sind dauerhaft auf Bluttransfusionen angewiesen. Weniger häu- was die Verbreitung der Mutation in Afrika, Asien und einigen
fig sind α-Thalassämien, bei denen die Expression des α-Globins Mittelmeerländern erklärt. Die Ausprägung der hämolytischen
gestört ist. Das vollständige Fehlen des α-Globins kann nicht Krisen hängt von der Art der Mutation der Glucose-6-Phosphat-
kompensiert werden und führt zum Tod in utero. Bei verminder- dehydrogenase ab. Die Hämolyse kann durch Gabe von Medika-
ter Expression des α-Globins bilden die überschüssigen β-Ketten menten wie dem Malariamittel Primaquin oder bestimmten Sul-
ein homotetrameres Hämoglobin aus vier β-Globinuntereinheiten fonamidantibiotika ausgelöst werden, sodass es wichtig ist, dass
(HbH). HbH ist instabil und denaturiert in den Erythrocyten, die Träger der Mutation von diesen Risiken wissen. Auch die in
wodurch deren Lebensdauer verkürzt ist. der Ackerbohne (Fava-Bohne, Vicia faba) enthaltenen Glucoside
Vicin bzw. Convicin können eine Hämolyse auslösen. Daher wird
Sichelzellanämie Die Sichelzellanämie gehört zu den ersten die Erkrankung auch als Favismus bezeichnet.
Erkrankungen, deren Ursache auf molekularer Ebene aufge-
klärt  wurde. Ein einzelner Basenaustauch im β-Globin-Gen Pyruvatkinase-Defizienz Auf eine Beeinträchtigung der Glyco-
(GAG → GTG) führt zu einem Austausch der hydrophilen lyse reagiert der Erythrocyt besonders empfindlich. So führt eine
Aminosäure Glutamat an Position 6 des β-Globins zum hydro- Pyruvatkinase-Defizienz aufgrund gestörter ATP-Produktion
phoben Valin. Die Vererbung der Erkrankung erfolgt autosomal- ebenfalls zu hämolytischen Anämien. Die Erkrankung wird auto-
rezessiv. Bei homozygoten Merkmalsträgern wird anstelle des somal-rezessiv vererbt. In schweren Fällen sind Neugeborene
HbA0 (α2β2) eine Hämoglobinvariante mit der veränderten von lebensbedrohlichen hämolytischen Krisen betroffen, die
β-Kette (βS) gebildet, die als HbS (α2βS2) bezeichnet wird. Im des- eine sofortige Bluttransfusion erfordern.
oxygenierten Zustand ordnet sich HbS zu fibrillenartigen Poly-
meren an. Die Polymerisierung wird durch hydrophobe Wech-
selwirkungen über die apolare Seitenkette des Valins an Posi-
tion 6 des β-Globins ausgelöst. In Gegenwart des polymerisierten
876 Kapitel 68 · Blut – Hämatopoese und Erythrocyten

Zusammenfassung
Die zentrale Aufgabe der Erythrocyten ist der Sauerstoff-
transport. In den Erythrocyten liegt das sauerstoffbindende
Protein Hämoglobin in hoher Konzentration vor. Hämoglo-
bin leistet auch einen wesentlichen Beitrag zur Pufferung
des pH-Werts des Blutes.
Die Sauerstoffbindungskurve des Hämoglobins zeigt einen
sigmoiden Verlauf, der auf die Kooperativität der Sauerstoff-
bindung an die vier Untereinheiten des Hämoglobins zu-
rückzuführen ist.
Die Sauerstoffaffinität wird allosterisch durch 2,3-Bisphos-
phoglycerat, H+-Ionen und Kohlendioxid moduliert, sodass
die Sauerstoffaufnahme in der Lunge und die Sauerstoffab-
gabe in den Geweben erleichtert sind.
Die Erythrocyten gewinnen Energie alleine durch den glyco-
lytischen Abbau von Glucose. Reduktionsäquivalente in
Form von NADPH/H+ werden durch den Pentosephosphat-
weg bereitgestellt und für die Reparatur oxidativer Schäden
eingesetzt.
Für die Transfusionsmedizin sind die Blutgruppenantigene
auf der Oberfläche der Erythrocyten von zentraler Bedeu-
tung. Man unterscheidet das AB0-System, welches auf Koh-
lenhydratstrukturen beruht, vom Rhesus-System, welches
auf Membranproteinen basiert.
Hämoglobinopathien resultieren aus Mutationen in den
Globin-Genen, die häufig mit einer Anämie einhergehen.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

68
877 69

69 Blut – Thrombocyten und Leukocyten


Gerhard Müller-Newen, Petro E. Petrides

Einleitung Während der darauf folgenden Wundheilung wird der


Fibrinpfropf (Thrombus) durch die Protease Plasmin wieder ab-
Mit Hilfe des Gefäßsystems wird das Blut über den gesamten Organismus gebaut (Fibrinolyse). Diese Vorgänge müssen fein aufeinander
verteilt. Mechanismen zur Abdichtung von Blutgefäßen im Fall von abgestimmt sein. Eine überschießende Thrombenbildung
Verletzungen sind daher von großer Wichtigkeit. Sie beruhen auf der (Thrombophilie) kann zum Verschluss von Blutgefäßen führen
Fähigkeit zur reversiblen Bildung eines Fibrinpfropfes. Dieser wird durch (Thrombose oder Embolie), die eine der häufigsten Todesursa-
die Thrombocyten als zelluläre Bestandteile sowie die plasmatischen chen in Form von Herzinfarkt, Gehirninfarkt (Schlaganfall) oder
Komponenten des Blutgerinnungssystems gebildet. Lungenembolie darstellt. Umgekehrt führt eine beeinträchtigte
Leukozyten sind Blutzellen mit spezfischen Aufgaben in der Immun- Hämostase zu Blutungen (z. B. Bluterkrankheit, Hämophilie).
abwehr. Zu ihnen gehören die Lymphocyten, Granulocyten und
Monocyten/Makrophagen. Granulocyten und Makrophagen sind als
Bestandteile der angeborenen zellulären Infektabwehr zur Phagocytose 69.1.1 Differenzierung, Eigenschaften
fähig. Makrophagen sind zudem antigenpräsentierende Zellen. und Stoffwechsel der Thrombocyten
Schwerpunkte Thrombocyten sind hochspezialisierte Blutbestandteile, die die
Integrität der Blutgefäße überwachen, bei Schädigungen für eine
4 Zelluläre Hämostase mit Thrombocytenadhäsion und
erste Abdichtung des »Lecks« sorgen und die Reparatur einlei-
-aggregation
ten. Diese Vorgänge sind mit einer Aktivierung der Thrombocy-
4 Plasmatische Hämostase durch Aktivierung von
ten verbunden. Ähnlich den Erythrocyten werden Thrombocy-
Gerinnungsfaktoren
ten nicht als vollwertige Zellen angesehen, da sie keinen Zellkern
4 Lokalisierte und generalisierte Antikoagulation und Fibrinolyse
besitzen. Obwohl sie mit einem Durchmesser von 1–4 μm bei
4 Bedeutung von Granulocyten und Monocyten/Makro-
einer Dicke von 0,5–1 μm noch kleiner sind als Erythrocyten,
phagen bei der Infektabwehr
verfügen sie doch über Mitochondrien und Sekretgranula.

Thrombocyten entstehen durch Abschnürungen


aus Megakaryocyten
69.1 Thrombocyten – Blutgerinnung Der Normalbereich für die Thrombocytenzahl im Blut ist
und Fibrinolyse 150 000–350 000/μl. Bei einem Blutvolumen von 5 l ergibt dies
eine Gesamtzahl von 0,75–1,75 Billionen Thrombocyten. Damit
Das strömende Organ Blut benötigt ein intaktes Gefäßsystem. ist die Gesamtzahl der Thrombocyten um den Faktor 14–33 ge-
Die Blutgefäße können durch äußere Verletzungen Schaden neh- ringer als die Zahl der Erythrocyten. Da die Thrombocyten aber
men. Größere Blutverluste führen zu einem hämorrhagischen nur eine Lebensdauer von 5–11 Tagen besitzen, ist die erforderli-
Schock. Bei inneren Blutungen tritt Blut aus den Gefäßen in das che Neuproduktion mit etwa 1011 pro Tag in derselben Größen-
Gewebe über. Je nach Gewebe können auch kleinere Blutungen ordnung wie die der Erythrocyten. Diese an sich schon erstaunli-
lebensbedrohlich sein (z. B. Blutungen im Gehirn). Die kom- che Produktion kann bei Bedarf um das 20fache ansteigen.
plexen biochemischen und physiologischen Vorgänge, die zur Die Reifung der Thrombocyten wird als Thrombopoese
Stillung einer Blutung führen, werden als Hämostase bezeichnet. bezeichnet und erfolgt wie bei allen Blutzellen im Knochenmark.
Die meisten Bestandteile des Hämostasesystems sind im Blut Der wichtigste Mediator ist neben Interleukin-3 das Thrombo-
selbst vorhanden. Hierzu gehören als zelluläre Bestandteile die poetin, welches dem Erythropoetin strukturell sehr ähnlich ist.
Thrombocyten (Blutplättchen) sowie bestimmte Plasmaproteine, Thrombopoetin wird hauptsächlich in der Leber produziert. Der
die als Gerinnungsfaktoren bezeichnet werden. Die Hämostase Thrombopoetinrezeptor wird auch als c-mpl bezeichnet, da er
kann man unterteilen in den initialen Vorgang der primären das zelluläre Gegenstück eines Onkogens des MPL (murine
Hämostase, in dem die Thrombocyten den Schaden erkennen myeloproliferative leukemia)-Virus ist. Die Signaltransduktion
und »provisorisch« abdichten (zelluläre Blutstillung), und die erfolgt über den Jak/STAT-Weg (7 Kap. 35.5.1).
darauf folgende sekundäre Hämostase, bei der die Gerin- Während einer Entzündung induziert Interleukin-6 eine er-
nungsfaktoren durch die thrombinkatalysierte Umwandlung höhte Thrombopoetinproduktion mit nachfolgend erhöhter
von Fibrinogen zu Fibrin für einen stabilen Verschluss sorgen Thrombocytenzahl (Thrombocytose). Umgekehrt führt eine
(plasmatische Gerinnung). Synthesestörung der Leber (z. B. als Folge einer Zirrhose) zu

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_69, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
878 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

einer verringerten Produktion an Thrombopoetin und damit zu Margination). Ein intaktes Endothel schüttet Substanzen wie
einer verminderten Thrombocytenzahl (Thrombocytopenie). Prostacyclin (PGI2) und Stickstoffmonoxid (NO) aus, welche
Aufgrund der Ähnlichkeiten der Thrombopoese und Erythropo- Adhäsion und Aggregation von Thrombocyten unterdrücken.
ese (beide führen zu kernlosen Blutzellen) und der evolutionären Als Folge von Endothelschädigungen kommt es zur Exposition
Verwandtschaft der Hauptmediatoren ist es nicht verwunderlich, subendothelialer Strukturen. Hierzu gehören v. a. Proteine der
dass die Differenzierung von Thrombocyten und Erythrocyten, extrazellulären Matrix wie Kollagen, Fibronectin und Laminin
ausgehend von der multipotenten myeloischen Vorläuferzelle (7 Kap. 71.1). Thrombocyten erkennen Endothelschäden, indem
(CFU-GEMM), über einen gemeinsamen Vorläufer (MEP, mega- sie über Integrinrezeptoren an die freigelegten subendothelialen
karyocyte/erythroid progenitor) führt. Die Thrombopoese ver- Strukturen binden.
läuft ausgehend vom MEP über BFU-MK (burst-forming unit Um eine genügend feste Anbindung der Thrombocyten an
megakaryocyte), Megakaryoblasten und endet schließlich beim die subendotheliale Extrazellulärmatrix zu gewährleisten, die
Megakaryocyten (Knochenmarksriesenzelle) als letzter kern- auch unter den Strömungsbedingungen des Blutes Bestand hat,
haltiger Zelle. Die Differenzierung bis zum Megakaryocyten ist der von-Willebrand-Faktor (vWF) notwendig, der vor allem
wird als Megakaryopoese bezeichnet. in Regionen wichtig ist, in denen hohe Scherkräfte wirken. Der
Megakaryocyten sind polyploid und können die 8- bis 64-fa- vWF wird überwiegend von Endothelzellen gebildet und in das
che Menge an chromosomaler DNA enthalten. Die Polyploidie Subendothelium sezerniert. Er ist aber auch im Plasma nach-
ist Resultat aufeinander folgender Endomitosen, bei der das ge- weisbar und gehört somit zu den wenigen Plasmaproteinen, die
netische Material dupliziert wird, ohne dass sich Zellkern oder nicht von Hepatocyten gebildet werden. vWF ist mit dem
Zellen teilen. Die Bezeichnung Megakaryocyt ist morphologisch Gerinnungsfaktor VIII assoziiert.
begründet, da die Polyploidie zu einem deutlich vergrößerten, vWF ist ein großes multimeres Protein aus 50–100 identi-
unregelmäßig stukturierten Zellkern führt. Funktionell ermög- schen Untereinheiten. Jede Untereinheit besitzt neben den Bin-
licht die Polyploidie eine vermehrte Transkription von Genen, da dungsstellen zur extrazellulären Matrix auch eine Bindungsstelle
diese nun in vielfacher Kopie vorliegen, wodurch die Proteinpro- für das Glycoprotein (GP) GPIb/IX auf der Oberfläche von
duktion für die nachfolgende Generierung der Thrombocyten Thrombocyten, das auch als vWF-Rezeptor bezeichnet wird
erhöht werden kann. Die Megakaryocyten bilden schließlich (. Abb. 69.1). Diese Bindestelle wird aber erst nach Bindung des
Ausläufer, aus denen durch Abschnürungen die Thrombocyten vWF an die durch Gewebeverletzung freigelegte extrazelluläre
hervorgehen, die ins Blut übertreten. So entstehen aus einem Matrix, insbesondere Kollagen, zugänglich. Daneben wird durch
Megakaryocyt 1.000–3.000 Thrombocyten. das Integrin GPIa/IIa ein direkter Kontakt der Thrombocyten-
Ähnlich wie die Erythrocyten besitzen die Thrombocyten ein oberfläche mit dem freigelegten Kollagen hergestellt. Durch
membrannahes Cytoskelett, welches die Form der nicht-aktivierten diese und andere Interaktionen wird die beschädigte Stelle mit
Thrombocyten im Blutstrom aufrecht erhält. Es besteht aus Thrombocyten bedeckt (Thrombocytenadhäsion). Gleichzeitig
zirkulären Mikrotubuli und kurzen Actinfilamenten, die über erfolgt die Thrombocytenaktivierung.
actinbindende Proteine wie Filamin mit Membranrezeptoren aus Aktivierte Thrombocyten verformen sich, ändern die Lipid-
der Familie der Integrine verknüpft sind. Aktivierung der Integrine zusammensetzung ihrer Membran und schütten in den Granula
durch extrazelluläre Liganden während der Thrombocytenakti- gespeicherte Substanzen aus, die für alle nachfolgenden Prozesse
vierung führen zur Umorganisation des Cytoskeletts. wie Thrombocytenaggregation, Blutgerinnung und Wund-
Die Oberfläche des Thrombocyten wird durch das sog. offe- heilung von Bedeutung sind. Serotonin und das aus Arachidon-
ne kanalikuläre System (OCS, open canalicular system) vergrö- säure synthetisierte Prostaglandin Thromboxan A2 wirken auf
ßert, wodurch der Stoffaustausch über die Membran erleichtert die glatte Gefäßmuskulatur und führen zur Vasokonstriktion,
wird. Morphologisch auffallend sind die zahlreichen Granula, wodurch der Blutfluss vermindert und die nachfolgenden
die Mediatoren enthalten, die während der Thrombocytenak- Prozesse erleichtert werden. Diese Botenstoffe verstärken ge-
tivierung sezerniert werden. Thrombocyten verfügen über meinsam mit freigesetztem ADP und plättchenaktivierendem
Glycogenvorräte, die die Glycolyse speisen. Da die Thrombocyten Faktor (PAF) die Aktivierung weiterer Thrombocyten.
Mitochondrien besitzen, kann das dabei entstehende Pyruvat PAF ist ein Phosphoglycerid ähnlich dem Phosphatidyl-
nach Umwandlung zu Acetyl-CoA über den Citratzyklus voll- cholin. Allerdings ist die OH-Gruppe an C2 des Glycerins mit
ständig oxidiert und die Atmungskette zur Erzeugung von ATP einem Acetylrest anstatt einer Fettsäure verestert und die
genutzt werden. Ausgehend von stabilen RNA-Molekülen, die Alkylgruppe an C1 des Glycerins über eine Etherbindung ver-
den Thrombocyten bei ihrer Entstehung mitgegeben werden, knüpft (. Abb. 69.2, 7 Kap. 22.1.1). Anhand der Freisetzung von
69 können sie in geringem Umfang Proteinbiosynthese betreiben. Serotonin aus Thrombocyten wurde nachgewiesen, dass PAF
schon in äußerst geringer Konzentration (10–11 mol/l) wirksam
ist. Adhäsiv wirksame Proteine wie Fibronectin, vWF und
69.1.2 Thrombocytenadhäsion und -aggregation Fibrinogen, die ebenfalls von aktivierten Thrombocyten freige-
setzt werden, verstärken die Thrombocytenadhäsion und sind
In der primären (zellulären) Hämostase folgt auf die wichtige Faktoren für die nachfolgende Thrombocyten-
Adhäsion die Aggregation der Thrombocyten aggregation.
Als kleinste zelluläre Bestandteile bewegen sich Thrombocyten Nach der Adhäsion von Thrombocyten an die geschädigte
endothelnah am Außenrand des Blutstroms (hydrodynamische Stelle des Blutgefäßes erfolgt die Ausbildung eines Pfropfes
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
879 69

. Abb. 69.1 Das Zusammenspiel von vWF-Rezeptor und Fibrinogenrezeptor auf der Thrombocytenoberfläche bei Adhäsion und Aggregation der
Thrombocyten. Infolge eines Endothelschadens bindet vWF an die subendotheliale Extrazellulärmatrix (EZM). In der gebundenen Form wird vWF von dem
vWF-Rezeptor (auch bekannt als GPIb/IX/V) erkannt und die Thrombocyten adhärieren an die schadhafte Stelle. Über nur unvollständig verstandene Signalwege
(intrazellulärer Pfeil) führt die Bindung des vWF an den vWF-Rezeptor zu einer Konformationsänderung des Fibrinogenrezeptors (auch bekannt als GPIIb/IIIa),
der zur Familie der Integrine gehört (Integrin αIIbβ3). Wie alle Integrine ist der Fibrinogenrezeptor modular aus verschiedenen Domänen aufgebaut (Kreise und
Ovale). Der nun aufgeklappte Fibrinogenrezeptor bindet an multivalentes Fibrinogen und trägt somit zur Aggregation der Thrombocyten bei (siehe auch
. Abb. 69.3). Die Querstreifen in den Untereinheiten des vWF-Rezeptors kennzeichnen Leucin-reiche repeats, die Sechsecke stark glycosylierte Bereiche

. Abb. 69.2 Struktur des plättchenaktivierenden Faktors (PAF). Die


Länge der Alkylkette (grün hinterlegt) kann variieren. Hier ist 1-Octadecyl-
2-Acetylphosphatidylcholin dargestellt

(»Plättchenthrombus«). Hierzu müssen die Thrombocyten un-


tereinander in Wechselwirkung treten. Auch dabei spielen
Integrinrezeptoren auf der Thrombocytenoberfläche eine wich-
tige Rolle. Nach Aktivierung der Thrombocyten ist das Integrin
αIIbβ3 (auch als GPIIb/IIIa bezeichnet, . Abb. 69.1) infolge einer
Konformationsänderung in der Lage, sowohl Fibrinogen als . Abb. 69.3 Adhäsion, Aktivierung und Aggregation der Thrombocyten.
auch vWF zu binden. Da die genannten multimeren Proteine Die Adhäsion ruhender Thrombocyten wird durch die Bindung an den
mehrere Bindestellen für GPIIb/IIIa besitzen, führen diese vWF initiiert. Dies löst eine Konformationsänderung des Integrins GPIIIa/IIb
Wechselwirkungen zu einer Aggregation der Thrombocyten. aus wodurch dieses sowohl Fibrinogen als auch vWF binden kann. Gleich-
zeitig kommt es zur Aktivierung und Formänderung der Thrombocyten, die
Die hier dargestellten Vorgänge werden als primäre oder
Signalmoleküle wie ADP, Thromboxan A2 oder Thrombin ausschütten, die
zelluläre Hämostase bezeichnet und führen bei kleineren über heptahelikale Rezeptoren die Thrombocytenaktivierung verstärken
Verletzungen innerhalb von 1–3 min zur Stillung der Blutung und die Thrombocytenaggregation auslösen. Fg = Fibrinogen; TXA2 =
(. Abb. 69.3). Thromboxan A2; vWF = von Willebrand Faktor. Einzelheiten s. Text
880 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

69.1.3 Blutgerinnung Die Initiation der Blutgerinnung erfolgt


durch Bindung von Faktor VII an Thromboplastin
Die sekundäre (plasmatische) Hämostase Für den lokalisierten Start der Gerinnungskaskade sorgt der
beruht auf der kaskadenartigen Aktivierung Faktor III, der auch als Gewebefaktor (engl. tissue factor, TF)
von Gerinnungsfaktoren oder Thromboplastin bezeichnet wird. Er stellt in mehrfacher
Die Thrombocytenaggregation wird durch nicht-covalente Hinsicht eine Ausnahme unter den Gerinnungsfaktoren dar.
Wechselwirkungen aufrecht erhalten. Für einen dauerhaften Faktor III ist kein Plasmaprotein, sondern ein Membranprotein,
Wundverschluss mit nachfolgender Wundheilung sind stabilere welches auf der Oberfläche subendothelialer Zellen (u. a. glatte
Verbindungen notwendig. Dies wird durch den Vorgang der se- Muskelzellen und Fibroblasten) und auf aktivierten Thrombo-
kundären oder plasmatischen Hämostase, der eigentlichen cyten exprimiert wird. Auf Endothelzellen, die die intakten Gefäße
Blutgerinnung, erreicht, die zu einem stabilen Netzwerk aus co- auskleiden, findet man diesen Faktor nicht. Zudem benötigt
valent verknüpftem Fibrin führt. Von zentraler Bedeutung sind Faktor III keine proteolytische Aktivierung. Strukturell kann
die Gerinnungsfaktoren, die nach der Reihenfolge ihrer Ent- Faktor III den Cytokinrezeptoren zugeordnet werden, obwohl
deckung mit den römischen Ziffern I–XIII benannt sind. er  kein Cytokin bindet. Seine Aufgabe als Initiator der
Daneben gibt es aber auch alternative Bezeichnungen (. Tab. Blutgerinnungskaskade nimmt Faktor III erst wahr, wenn er mit
69.1). Wenn man davon absieht, dass die für die Gerinnung not- Blutplasma in Kontakt tritt, was aufgrund seines Expressionsmusters
wendigen Calciumionen (Ca2+) mitunter als Faktor IV bezeich- nur nach Gefäßverletzung möglich ist. Dann bindet der Rezeptor
net werden, sind alle Gerinnungsfaktoren Proteine. seinen Liganden, den plasmatischen Gerinnungsfaktor VII.
Die Gerinnungsfaktoren liegen zunächst in inaktiver Form Der an Thromboplastin gebundene Faktor VIIa ist der Aus-
vor und werden in einer Kaskade proteolytischer Reaktionen gangspunkt der Gerinnungskaskade am geschädigten Endothel
aktiviert (. Abb. 69.4). Dabei handelt es sich immer um eine (. Abb. 69.4). Der Mechanismus der initialen proteolytischen
limitierte Proteolyse, was bedeutet, dass eine oder wenige Aktivierung von Faktor VII zu Faktor VIIa ist noch nicht voll-
Peptidbindungen eines Gerinnungsfaktors in hochspezifischer ständig aufgeklärt. Der Komplex aus Faktor III und Faktor VIIa
Weise durch einen meist anderen aktivierten Gerinnungsfaktor aktiviert die Faktoren IX und X. Alle drei genannten Proteasen
gespalten werden. Aufgrund der proteolytischen Spaltung ist die können nun auch den bisher inaktiven Faktor VII aktivieren.
Aktivierung irreversibel. Die aktivierte Form eines Gerinnungs- Dieses positive feedback führt zu einer gewaltigen Verstärkung
faktors wird durch ein »a« gekennzeichnet. Da die Aktivierung der Initiation der Blutgerinnung. Wir treffen also bei der
von Gerinnungsfaktoren auf limitierter Proteolyse beruht, ver- Initiation der Gerinnungskaskade auf zwei typische Charak-
wundert es nicht, dass sechs der Gerinnungsfaktoren (II, VII, IX, teristika, die auch bei den nachfolgenden Reaktionen zu finden
X, XI, XII) Proteasen sind (. Tab. 69.1). Die inaktiven Vorstufen sind: Verstärkung durch positives feedback und Lokalisation der
werden wie bei den Verdauungsenzymen als Zymogene bezeich- Reaktion an Zelloberflächen, um ein Ausbreiten der Blutgerin-
net. Die Gerinnungsfaktoren werden in der Leber produziert. nung über die Läsion hinaus zu vermeiden. Gleichzeitig zielt
Bei den Proteasen der Blutgerinnung handelt es sich um Faktor Xa schon auf die Endstrecke der Kaskade, da diese
Serinproteasen (7 Kap. 7.5), die nach dem Serinrest als Teil der Protease Prothrombin (Faktor II) zu Thrombin umwandelt
katalytischen Triade aus Serin, Histidin und Aspartat im aktiven (Faktor IIa). Allerdings benötigt Faktor Xa hierzu den Hilfs-
Zentrum benannt sind. Drei weitere Gerinnungsfaktoren (Fak- faktor Va, den er aus Faktor V selbst generieren kann. Auch
tor III, V und VIII) kann man als Hilfsfaktoren bezeichnen, die die Thrombin spaltet Faktor V zu Faktor Va.
Gerinnungskaskade steuern und unterstützen. Die Kaskade endet
mit der Umwandlung von Prothrombin zu Thrombin. Thrombin, Calciumionen sind notwendig für
eine Protease, die dem Trypsin ähnlich ist, spaltet schließlich das die Interaktion von Gerinnungsfaktoren mit
Plasmaprotein Fibrinogen zu Fibrin, welches sich zu einem Netz- der Thrombocytenoberfläche
werk zusammenfügt. Thrombin nimmt aber noch weitere wichti- Der Start der Gerinnungskaskade ist durch das membranstän-
ge Funktionen wahr. Es sorgt durch die proteolytische Aktivierung dige Thromboplastin an die Oberfläche subendothelialer Zellen
übergeordneter Gerinnungsfaktoren für eine positive Verstärkung gebunden. Die nachfolgenden Reaktionen finden v. a. an den
der Kaskade und unterstützt die Aktivierung der Thrombocyten. Oberflächen der aktivierten Thrombocyten statt, die reich an
Ähnlich wie bei der Thrombocytenaggregation und -adhä- negativ geladenen Phospholipiden sind. Durch positiv geladene
sion ist es essenziell, dass die Blutgerinnung nur nach einer Calciumionen (Ca2+) wird eine Verbindung zwischen der Mem-
Gefäßverletzung erfolgt und auf den Ort der Läsion beschränkt branoberfläche und den Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X
69 ist. Hierzu tragen subendotheliale Zellen und die im hergestellt. Eine besondere posttranslationale Modifikation sorgt
Plättchenthrombus aktivierten Thrombocyten bei, aber auch das dafür, dass diese Gerinnungsfaktoren mit Calciumionen wechsel-
intakte Endothel, das die Läsion umgrenzt. Eine besondere wirken können. Zu diesem Zweck werden glutamatreiche
Bedeutung haben negativ geladene Membranlipide wie Phos- Sequenzen dieser Proteine in der Leber modifiziert. In einer
phatidylserin und Phosphatidylinositol, die bei der Aktivie- Vitamin-K-abhängigen Reaktion erfolgt die Carboxylierung der
rung der Thrombocyten vom inneren Blatt auf das äußere Blatt Glutamatseitenketten am γ-Kohlenstoffatom (C4) (7 Abb. 58.10).
der Membran wechseln. Diese negativ geladenen Lipide bilden Der so entstandene γ-Carboxyglutamatrest wird mit Gla abge-
eine Art zweidimensionale Plattform, von der die meisten kürzt, ein derart modifizierter Proteinbereich wird daher als
Gerinnungsprozesse ausgehen. Gla-Domäne bezeichnet.
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
881 69

. Abb. 69.4 Schematische Darstellung der Blutgerinnungskaskade. Grüne Pfeile kennzeichnen positive Rückkopplungsmechanismen. (Einzelheiten
s. Text)

. Tab. 69.1 Gerinnungsfaktoren

Faktor Bezeichnung Gla-Domäne Halbwertszeit im Blutplasma Funktion

I Fibrinogen – ca. 5 Tage Polymerisation

II Prothrombin + 2–3 Tage Protease

III Gewebefaktor (tissue factor, TF), Thromboplastin – Membranständiger Hilfsfaktor

IV Calciumionen (Ca2+)

V Proaccelerin – ca. 1 Tag Hilfsfaktor

VII Proconvertin + 5h Protease

VIII Antihämophiler Faktor A – 15 h Hilfsfaktor

IX Antihämophiler Faktor B, Christmas-Faktor + 20 h Protease

X Stuart-Prower-Faktor + 2 Tage Protease

XI Plasma Thromboplastin Antecedent (PTA) – 2 Tage Protease

XII Hageman-Faktor – 2 Tage Protease

XIII Fibrin-stabilisierender Faktor (FSF) – ca. 5 Tage Transglutaminase

Die Existenz eines »Faktor VI« konnte nicht bestätigt werden.

Blutgerinnung intrinsischer Weg Fibrinolyse extrinsischer Weg


882 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

. Abb. 69.5 Strukturen von Vitamin K, Cumarin und einem Cumarinderivat. Phenprocoumon wird unter dem Handelsnamen Marcumar als
Blutgerinnungshemmer eingesetzt

Ca2+ kann sechs koordinative Bindungen eingehen. Die bei-


den Carboxylgruppen eines Gla-Restes bedienen zwei Koordi-
nationsstellen. 10–12 Gla-Reste innerhalb einer Gla-Domäne
komplexieren so eine Reihe von Calciumionen. Dabei bleiben
Koordinationsstellen frei, die von den negativ geladenen
Phospholipiden der aktivierten Thrombocyten gebunden wer-
den. Auf diese Weise werden Gerinnungsfaktoren, die Gla-
Domänen enthalten, calciumabhängig an die Oberfläche akti-
vierter Thrombocyten rekrutiert. . Abb. 69.6 Faktor Xa spaltet Prothrombin zu Thrombin. Prothrombin
Derivate des Pflanzeninhaltsstoffs Cumarin wirken als Vita- (579 Aminosäuren) ist über seine Gla-Domäne und Calciumionen mit der
Membran aktivierter Thrombocyten assoziiert. Nach zweifacher Spaltung
min-K-Antagonisten (. Abb. 69.5). Sie inhibieren die beiden
durch den Faktor Xa wird aktives Thrombin freigesetzt. Es besteht aus einer
Enzyme Chinon- und Epoxid-Reduktase, die zur Reduktion von A-Kette (36 Aminosäuren) und einer B-Kette (259 Aminosäuren), die über
Vitamin K während der γ-Carboxylierung benötigt werden eine Disulfidbrücke miteinander verbunden sind
(7 Kap. 58.5.2). Dadurch kommt die posttranslationale γ-Car-
boxylierung der Gerinnungsfaktoren mit Gla-Domänen zum
Erliegen. Vitamin-K-Antagonisten auf Cumarinbasis können Die beiden Proteinfragmente, die nach proteolytischer Spal-
oral verabreicht werden und sind daher zur Dauertherapie in tung des Faktors X entstehen, werden durch eine Disulfidbrücke
der Thrombose- und Infarktprophylaxe gut geeignet. Allerdings zusammengehalten. Der Faktor Xa besteht also aus zwei Teilen.
tritt bei der Einleitung einer Cumarintherapie die Wirkung erst Ein Teil enthält die Gla-Domäne und sorgt so für die
nach 2–3 Tagen ein, da zunächst noch die intakten Ge- Membranbindung, der andere Teil besitzt die nun aktive kataly-
rinnungsfaktoren im Blut zirkulieren. Eine Überdosierung kann tische Proteasedomäne. In dieser Form ist Faktor Xa Teil des
zu einer erhöhten Blutungsneigung führen. In diesem Fall kann Prothrombinasekomplexes (. Abb. 69.4). Auch hier ist ein
durch eine hochdosierte Gabe von Vitamin K1 gegengesteuert Hilfsfaktor notwendig, der den Faktor Xa mit seinem Substrat,
werden. Vor einem operativen Eingriff sollten Vitamin-K- dem Prothrombin, zusammenbringt: Faktor V, der aber der
Antagonisten abgesetzt und vorübergehend durch Heparine vorherigen Aktivierung zu Faktor Va bedarf. Diese erfolgt so-
(7 Kap. 69.1.4) ersetzt werden. wohl durch den Faktor Xa selbst als auch durch das im Pro-
thrombinasekomplex erzeugte Thrombin.
Zwei Komplexe auf der Membran aktivierter Mit dem Prothrombinasekomplex aus Faktor Xa, Faktor Va
Thrombocyten sorgen für Verstärkung und dem Substrat Prothrombin ist nun das Ende der thrombo-
und lokalisierte Ausbreitung der Gerinnungskaskade plastininduzierten Gerinnungskaskade erreicht. Inaktives
Die in der thromboplastinabhängigen Initialreaktion lokal Prothrombin (Faktor II) wird durch proteolytische Spaltung
erzeugten Faktoren IXa und Xa verlassen zum Teil den Ort ihrer von zwei Peptidbindungen zu aktivem Thrombin (Faktor IIa)
Entstehung. Da beide Faktoren über Gla-Domänen verfügen, umgewandelt (. Abb. 69.6). Prothrombin ist über seine
können sie calciumabhängig Komplexe auf der Oberfläche Gla-Domäne und die Einbindung in den Tenasekomplex noch
der aktivierten Thrombocyten bilden. Faktor IXa ist Teil eines membrangebunden. Das Spaltprodukt Thrombin bindet nicht
Komplexes, der zusätzlich Faktor X aktiviert. Da dabei Faktor X mehr an die negativ geladenen Membranphospholipide der
(X = engl. ten) proteolytisch gespalten wird, bezeichnet man aktivierten Thrombocyten. Freigesetztes Thrombin beginnt nun
69 diesen Komplex auch als Tenase- oder Xase-Komplex. Für die mit der Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin, hat darüber
Entstehung dieses Komplexes ist der Faktor VIII von zentraler hinaus aber noch viele weitere Substrate. So trägt Thrombin, zum
Bedeutung. Als Hilfsfaktor sorgt er dafür, dass Faktor IXa Beispiel durch Spaltung von proteaseaktivierten Rezeptoren
und Faktor X zusammenfinden. Faktor VIIIa entsteht aus (PAR) (7 Kap. 33.3.3), zur weiteren Aktivierung der Thrombo-
Faktor VIII nach Spaltung durch bereits aktiviertes Thrombin. cyten bei.
Dabei wird Faktor VIIIa aus seiner Bindung mit vWF freige- Da die beschriebene Reaktionsfolge eines Gewebefaktors
setzt. Nach vollständiger Aktivierung durch Faktor VIIIa er- bedarf (membranständiges Thromboplastin), der in dieser Form
zeugt der Tenasekomplex sehr effizient größere Mengen des nicht im Blut vorkommt, wird sie auch als extrinsischer Weg
Faktors Xa. bezeichnet.
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
883 69
Als neue Wirkstoffe zur Behandlung thromboembolischer
Erkrankungen stehen die sog. Xabane zur Verfügung. Ihr Wir-
kungsmechanismus beruht auf einer direkten Hemmung des
Faktors Xa. Ihr Vorteil ist, dass ihre Anwendung einen wesentlich
geringeren Überwachungsaufwand im Vergleich zu den Cuma-
rinen erfordert.

Thrombin ist ein zentraler Verstärker


der Gerinnungskaskade
Es ist lange bekannt, dass zellfreies Blutplasma nach Kontakt mit
negativ geladenen Oberflächen wie Glas oder dem Tonmineral
Kaolin gerinnt. Da diese Gerinnung unabhängig von Zellen oder
Gewebe abläuft und allein von den Gerinnungsfaktoren des Blu-
tes abhängt, wird die dazugehörige Kaskade auch als intrinsi-
scher Weg bezeichnet.
Heute weiß man, dass Teile des intrinsischen Wegs eine wei-
tere wichtige positive Rückkopplungsachse darstellen, die durch
Thrombin aktiviert wird. Wie bereits beschrieben, verstärkt
Thrombin durch die Aktivierung der Hilfsfaktoren V und VIII
den extrinsischen Weg zur Bildung des Prothrombinasekomple-
xes. Durch die Spaltung des Faktors XI zu XIa sorgt Thrombin
zudem für eine wirksame Amplifikation über den intrinsischen
Weg (. Abb. 69.4). Durch Bindung von Substrat und Protease an . Abb. 69.7 Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin. (Einzelheiten s. Text)
GPIbα, welches schon als Bestandteil des vWF-Rezeptors auf
der  Thrombocytenoberfläche beschrieben wurde, läuft diese
Reaktion bevorzugt im Plättchenthrombus ab. Der so generierte jeweils eine α-, β- und γ-Untereinheit parallel angeordnet und
Faktor XIa spaltet Faktor IX zu IXa und befüttert somit den über Disulfidbrücken miteinander verknüpft. Zwei solcher
Tenasekomplex. αβγ-Trimere verbinden sich über ihre N-terminalen Regionen
Für die zellfreie Initiation des intrinsischen Wegs ist ein wei- »Kopf an Kopf«. Auch diese Verbindung wird durch Disulfid-
terer Faktor notwendig, der als Hageman-Faktor (Faktor XII) brücken stabilisiert. Das resultierende 340 kDa (αβγ)2-Hexamer
bezeichnet wird (. Abb. 69.4). Man nimmt an, dass Faktor XII ist ein langgestrecktes Protein (. Abb. 69.7). Die C-terminalen
durch Bindung an negativ geladene Oberflächen aktiviert wird Enden und die Kontaktstelle der beiden Trimere bilden globu-
und dann Faktor XI in XIa umwandelt. Hierbei unterstützt läre Domänen aus, die als D- bzw. E-Domänen bezeichnet
Faktor XII seine eigene Aktivierung, in dem er inaktives Pro- werden.
kallikrein in aktives Kallikrein umwandelt, welches Faktor XII Das durch die Blutgerinnungskaskade erzeugte proteolytisch
zu XIIa spaltet. Kallikrein ist bekannt als die Protease, die aus aktive Thrombin (Faktor IIa) spaltet von den N-Termini sowohl
H-Kininogen das Kinin Bradykinin erzeugt. Im Kontext der in- der α- als auch der β-Untereinheiten jeweils kurze Peptide ab, die
trinsischen Gerinnung scheint H-Kininogen als Hilfsfaktor zu als Fibrinopeptide A (16 Aminosäuren) bzw. B (14 Amino-
wirken, da es seinerseits an negativ geladene Oberflächen bindet. säuren) bezeichnet werden und wandelt dadurch Fibrinogen zu
Die physiologische Funktion des Zusammenspiels von Fak- Fibrin (Faktor Ia) um. Durch die Abspaltung der Fibrinopeptide
tor XII mit dem Kallikrein-Kinin-System bei der Blutgerinnung werden in der E-Domäne hydrophobe Bereiche freigelegt, die
ist nicht vollständig geklärt. Angeborene Defekte in den Genen mit den D-Domänen interagieren. Da die E-Domäne über vier
für Prokallikrein oder Faktor XII haben jedenfalls keine Blu- Bindestellen und die zwei D-Domänen über je zwei Bindestellen
tungsneigung zur Folge. Trotzdem ist der intrinsische Weg von verfügen, können sich ausgedehnte dreidimensionale Netzwerke
besonderer klinischer Bedeutung, da er die Blutgerinnung ohne ausbilden (. Abb. 69.7).
die Freilegung subendothelialer Strukturen ermöglicht. Auslöser Da zwischen den D- und E-Domänen nur nicht-covalente
kann eine unspezifische Thrombocytenaggregation bei verlang- Bindungen bestehen, ist das Fibringefüge noch relativ instabil.
samtem Blutfluss oder der Kontakt von Blut mit Implantaten Nun tritt der letzte Gerinnungsfaktor auf den Plan. Faktor XIII
(z. B. künstliche Herzklappen) oder Dialysemembranen sein. wird durch Thrombin in Faktor XIIIa überführt. Dabei agiert
polymerisiertes Fibrin als eine Art Cofaktor, der Protease und
Durch thrombinkatalysierte Abspaltung der Fibrino- Substrat zusammenbringt. Der auf diese Weise erzeugte
peptide wird Fibrinogen zu Fibrin umgewandelt Faktor XIIIa ist das einzige Enzym der Gerinnungskaskade, das
Die eigentliche Blutgerinnung oder Koagulation erfolgt durch keine Protease ist, sondern eine Transglutaminase (7 Kap. 49.3.2
die Umwandlung des löslichen Plasmaproteins Fibrinogen und 73.2). Faktor XIIIa knüpft in einer Transamidierungs-
(Faktor I) zu einem unlöslichen Fibrinnetzwerk. Fibrinogen reaktion unter Freisetzung von Ammoniak Isopeptidbindungen
ist ein langgestrecktes, hexameres Protein aus jeweils zwei α-, β- zwischen den Seitenketten von Lysin und Glutamin benach-
und γ-Untereinheiten. In der Quartärstruktur des Proteins sind barter Fibrinmoleküle (. Abb. 69.8).
884 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

. Abb. 69.8 Knüpfung einer kovalenten Bindung zwischen Lysyl- und Glutaminylresten verschiedener Fibrinmoleküle durch den als Trans-
glutaminase wirkenden Faktor XIIIa

Die Gerinnungskaskade endet also mit der Ausbildung eines Substratspezifität und verliert dadurch seine gerinnungsfördern-
stabilen Thrombus aus kovalent verknüpftem Fibrin und aggre- den Eigenschaften. Der Thrombin/Thrombomodulin-Komplex
gierten Thrombocyten, in den häufig auch Erythrocyten (roter ist nun in der Lage, das Plasmaprotein Protein C durch proteoly-
Thrombus) und Leukocyten eingeschlossen sind. Damit ist die tische Spaltung zu aktivieren. Aktiviertes Protein C (APC) ist
sekundäre Hämostase abgeschlossen und nachfolgende Wund- eine Protease, die durch die Bindung an Protein S, einem weite-
heilungsprozesse werden eingeleitet. ren Plasmaprotein, stark an Aktivität gewinnt. Der APC/Protein
S-Komplex spaltet die Hilfsfaktoren VIIIa und Va und inaktiviert
somit sowohl den Tenase- als auch den Prothrombinasekomplex.
69.1.4 Antikoagulation Sowohl APC als auch Protein S verfügen über eine Gla-Domäne,
sodass sie zur Ausübung ihrer Wirkung mit der Oberfläche akti-
Antikoagulantien verhindern eine unkontrollierte vierter Thrombocyten in Wechselwirkung treten können. Dieser
Ausbreitung der Gerinnung negative Rückkopplungsmechanismus wirkt damit auch am Ort
Zwei wichtige Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass die des Geschehens und markiert somit den Übergang von
Gerinnungskaskade am Ort der Gewebeverletzung lokalisiert ist: Blutgerinnung zu Fibrinolyse und Wundheilung.
4 Die Initiation der Gerinnungskaskade geht vom
Faktor VIIa/Thromboplastin-Komplex auf der Oberfläche Generalisierter Mechanismus Ein wichtiger generalisierter
subendothelialer Zellen aus, die nur nach Gefäßläsionen Mechanismus der Antikoagulation beruht auf dem Protease-
exponiert sind. inhibitor Antithrombin III (ATIII), ebenfalls ein Plasmaprotein.
4 Die kaskadeverstärkenden Tenase- und Prothrombinase- Nach Aktivierung durch die Cofaktoren Heparin oder
komplexe sind an die Oberfläche aktivierter Thrombo- Heparansulfatproteoglycan bindet und inhibiert ATIII mit gro-
cyten im Plättchenthrombus gebunden. ßer Effizienz Thrombin und die thrombingenerierende Protease
Faktor Xa, aber auch die Faktoren IXa, XIa und XIIa. Die
Andererseits ist das aktive Thrombin nicht mehr oberflächenge- Heparansulfatproteoglycane bilden eine heterogene Gruppe
bunden, sodass die Gefahr besteht, dass Thrombin seine Aktivität von komplex aufgebauten Proteoglycanen (7 Kap. 3.1.4; 16.2.2).
über den Ort der Endothelverletzung hinaus ausbreitet. Dabei Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die für Proteoglycane typi-
kann es: schen langkettigen Zuckerstrukturen aus repetitiven Einheiten
4 als Regulatorprotease über die beschriebenen positiven der Disaccharide D-Glucosamin/Glucuronsäure oder D-Glucos-
Rückkopplungsmechanismen Gerinnungskaskaden aus- amin/Iduronsäure bestehen, die zudem sulfatiert sind. Heparan-
lösen bzw. verstärken, sulfatproteoglycane werden auf der Oberfläche einer Vielzahl
4 als Effektorprotease durch die Spaltung von Fibrinogen zu von Zellen, darunter auch Endothelzellen, exprimiert und sind
Fibrin Blutgerinnsel erzeugen. Bestandteile der extrazellulären Matrix und von Basalmembranen.
Heparin ist ein sulfatiertes Glycosaminoglycan aus 15–100
Um eine unkontrollierte Ausbreitung der Gerinnungskaskade zu Monosaccharideinheiten, dessen Struktur dem Kohlenhydrat-
verhindern, greifen verschiedene Mechanismen ineinander anteil der Heparansulfatproteoglycane ähnelt. Heparin wird v. a.
(Antikoagulation). Dabei kann man zwischen lokalisierten und von Mastzellen gebildet, aber auch in der Leber. Für die ATIII-
generalisierten Mechanismen unterscheiden. Aktivierung durch Heparansulfatproteoglycane oder Heparin ist
69 eine Pentasaccharidsequenz (. Abb. 69.9A) von Bedeutung, die
Lokalisierter Mechanismus Bei einem wichtigen lokalisierten hoch affin an ATIII bindet.
Mechanismus ist wiederum die Protease Thrombin involviert, ATIII gehört zur Klasse der SERPINE (Serinproteaseinhibito-
die nun in einer Art negativer Rückkopplung der weiteren ren), einer großen Familie von Inhibitoren mit einer Molmasse
Umwandlung von Prothrombin zu Thrombin entgegenwirkt. von 40–60 kDa. SERPINE inhibieren Proteasen unter Ausbildung
Endothelzellen, die intaktes Endothel auskleiden und somit eine eines stabilen 1:1-Komplexes. Zunächst spaltet die zu inhi-
Begrenzung der Gefäßläsion markieren, exprimieren einen bierende Serinprotease eine Peptidbindung im reactive center
Thrombinrezeptor, der als Thrombomodulin bezeichnet wird. loop (RCL) des SERPINs. Dabei geht das Kohlenstoffatom der
Bindet Thrombin an Thrombomodulin, ändert es seine gespaltenen Peptidbindung eine covalente Bindung mit dem
69.1 · Thrombocyten – Blutgerinnung und Fibrinolyse
885 69
A Serinrest im aktiven Zentrum der Protease unter Ausbildung ei-
nes Acylesters ein. Gleichzeitig bewirkt die Spaltung des SERPINs
eine dramatische Konformationsänderung, die sich über das co-
valent verknüpfte Serin auf die Protease überträgt. Dadurch wird
das aktive Zentrum der Protease in der Weise verändert, dass das
Acylintermediat nicht mehr abreagieren kann. Das SERPIN
bleibt covalent mit der Protease verknüpft, die Protease ist
nun irreversibel inaktiviert (suicide-substrate Mechanismus)
(. Abb. 69.9B).
Die Bindung von ATIII an die Pentasaccharidsequenz führt
zu einer Konformationsänderung des ATIII, sodass der zuvor
B
verborgene reactive center loop (RCL) exponiert und für die zu
inhibierenden Proteasen Thrombin und Faktor Xa zugänglich
wird. Thrombin bindet mit niedriger Affinität ebenfalls an He-
paransulfatproteoglycane bzw. Heparin. Durch die gleichzeitige
Bindung an dieselbe Kohlenhydratkette gelangen Inhibitor und
Protease in räumliche Nähe. Thrombin findet nun seinen Inhi-
bitor ATIII durch eindimensionale Diffusion entlang der Zu-
ckerkette (. Abb. 69.9B). Beide Effekte zusammengenommen
führen dazu, dass Heparansulfatproteoglycane bzw. Heparin die
Komplexierung von Thrombin und ATIII um den Faktor 3.000
beschleunigen. Die Konformationsänderung nach covalenter
Bindung von Thrombin an ATIII führt dazu, dass der Thrombin/
ATIII-Komplex die Kohlenhydratstruktur verlässt.
Heparansulfatproteoglycane scheinen das physiologische
Gerüst für die Thrombin/ATIII-Interaktion zu sein. Klinisch
werden Heparinpräparate eingesetzt, um ATIII zu aktivieren
und somit eine Thrombenbildung zu unterdrücken. Die
Halbwertszeit des Heparins liegt im Bereich mehrerer Stunden
und hängt von Kettenlänge, Dosierung und der Applikation ab,
die immer parenteral erfolgt. Der Wirkmechanismus ist von der
Kettenlänge abhängig. Man unterscheidet niedermolekulare
Heparine (NMH, Kettenlänge 5–17), die v. a. Faktor Xa blockie-
ren, von unfraktionierten Heparinen (UFH, Kettenlänge>18),
die neben Faktor Xa auch Thrombin inhibieren. Diese natür-
lichen Heparine werden aus tierischem Gewebe (u. a.
Schweinedarmmukosa) gewonnen. Daneben stehen synthetisch
hergestellte Pentasaccharide zur Verfügung, die ebenfalls v. a.
gegen Faktor Xa gerichtet sind. Im Gegensatz zum verzögerten
Wirkungseintritt der Vitamin-K-Antagonisten tritt die gerin-
nungshemmende Wirkung von Heparinpräparaten sofort ein.

. Abb. 69.9 Aktivierung von ATIII durch Heparin und Heparansulfate. 69.1.5 Fibrinolyse
A Dargestellt ist eine Pentasaccharidsequenz, die isoliert oder als Bestandteil
von Heparin bzw. Heparansulfaten Antithrombin III (ATIII) aktiviert. Essenzielle Plasmin spaltet Fibrinnetzwerke
Sulfatierungsstellen sind rot hervorgehoben. ATIII, welches durch ein isolier- Ein Fibrinnetzwerk ist nicht auf Dauerhaftigkeit angelegt, son-
tes Pentasaccharid aktiviert ist, kann Factor Xa inhibieren, ist aber nur wenig
dern dient als Wundverschluss, der während der Wundheilungs-
aktiv gegenüber Thrombin. R: Acetyl oder SO3–; R’: H oder SO3– . (Adaptiert
nach Kuberan et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Macmillan prozesse abgebaut wird. Beim Abbau des Fibrins (Fibrinolyse)
Publishers Ltd). B Mechanismus der Inaktivierung von Thrombin durch ATIII. spielt die Serinprotease Plasmin eine ähnlich zentrale Rolle wie
ATIII bindet spezifisch an Heparansulfat bzw. Heparin, welches eine Penta- Thrombin bei dessen Generierung. Dabei ist die Plasminwir-
saccharidsequenz (rot umrandete Sechsecke) wie in A dargestellt enthält. Dies kung nicht alleine auf die Fibrinolyse beschränkt, sondern greift
führt zu Exposition des reactive center loops (RCL). Thrombin bindet ebenfalls
auch in Wundheilungsprozesse ein. Eine weitere Parallele zu
an die Zuckerkette, interagiert mit ATIII und spaltet eine Peptidbindung im
RCL unter Ausbildung eines Acylintermediats. Dies führt zur Konformations- Thrombin ist, dass auch Plasmin zunächst in einer inaktiven
änderung mit irreversibler Hemmung des Thrombins und Ablösung des ATIII/ Vorstufe, dem Plasmaprotein Plasminogen vorliegt, welches
Thrombin-Komplexes. Dieser Mechanismus der Thrombininaktivierung greift durch limitierte Proteolyse zu Plasmin umgewandelt wird.
nur, wenn die Heparansulfat- bzw. Heparinkette aus mindestens 18 Gliedern Proteasen, die Plasminogen zu Plasmin spalten, werden als
besteht
886 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

Plasminogenaktivatoren bezeichnet. Man unterscheidet zwei (Hämophilie B) hervorgerufen und auch als »Bluterkrankheit«
Plasminogenaktivatoren: bezeichnet. Beide Gene sind auf dem X-Chromosom lokalisiert,
4 Der Gewebeplasminogenaktivator (tPA = engl. tissue plas- sodass sich die Erkrankungen nur bei Männern klinisch mani-
minogen activator) wird von Endothelzellen sezerniert und festiert. Frauen können ein defektes Gen weitervererben, er-
ist v. a. für die intravasale Fibrinolyse zuständig. Da bereits kranken selber aber nur sehr selten, da auf dem zweiten X-Chro-
das Proenzym über eine geringe enzymatische Aktivität ver- mosom die intakte Kopie des Gens vorliegt. Heterozygote
fügt, kann es auf der Fibrinoberfläche Plasminogen in Plas- Frauen sind also asymptomatische Überträger der Erkrankung.
min umwandeln. Plasmin wiederum spaltet das Proenzym Beim männlichen Geschlecht beträgt die Häufigkeit der
in die katalytisch aktivere Form, sodass über diese positive Hämophilie A 1:10.000. Die Schwere des Krankheitsverlaufs
Rückkopplung der Vorgang der Fibrinolyse deutlich be- hängt von der Art der Mutation und damit von der Restaktivität
schleunigt wird. Eine delokalisierte Wirkung von tPA wird des Faktors VIII ab. Ist die Restaktivität kleiner als 1 % der
durch den tPA-Inhibitor Plasminogenaktivatorinhibitor 1 normalen Aktivität, so spricht man von schwerer Hämophilie.
(PAI-1) verhindert. tPA wird auch gentechnisch hergestellt Milde Formen (5–10 % Restaktivität) können oft unauffällig
und zur akuten Therapie von Gefäßverschlüssen eingesetzt. verlaufen, aber zu bedrohlichen Blutungen bei chirurgischen
4 Die Urokinase (uPA = engl. urokinase-type plasminogen Eingriffen führen. Besonders problematisch sind innere
activator) agiert v. a. im extravasalen Raum und ist für Blutungen, von denen häufig die großen Gelenke betroffen
Gewebeumbauprozesse von Bedeutung, die während der sind und deren Funktionsverlust nach sich ziehen können
Wundheilung, aber auch bei der Tumormetastasierung (Hämarthros). Entgegen landläufiger Meinung werden Blutun-
wichtig sind. Die Urokinase ist erst nach der Bindung an gen nach kleineren Verletzungen trotz Faktor-VIII-Defizienz
den uPA-Rezeptor, einem GPI-verankerten Membran- rasch gestillt, da die primäre Hämostase (Thrombocytenaggre-
protein, vollständig aktiv, sodass sich deren Wirkung loka- gation) nicht gestört ist. Die Hämophilie B zeigt eine ähnliche
lisiert entfaltet. Im Blut zirkuliert eine Pro-Urokinase, die Symptomatik wie die Hämophilie A, ist aber deutlich seltener
durch Faktor XIIa, Thrombin und Plasmin aktiviert werden (1:60.000).
kann. Auch Urokinase, die aus Urin gewonnen werden Hämophilie-A- und Hämophilie-B-Patienten können durch
kann, wird zur Thrombolysetherapie eingesetzt. Gabe von Faktor-VIII- bzw. Faktor-IX-Präparaten erfolgreich
behandelt werden. Die Gerinnungsfaktoren werden entweder als
Streptokinase, ein aus Streptokokken gewonnenes Protein, bin- Konzentrate aus dem Plasma gesunder Spender gewonnen oder
det Plasminogen. Der Komplex aus Streptokinase und Plasmino- gentechnisch hergestellt. Bei einem Teil der Patienten bilden sich
gen ist in der Lage, weiteres Plasminogen zu Plasmin zu spalten. mit der Zeit Antikörper gegen die verabreichten Gerinnungsfak-
Auf diese Weise wirkt Streptokinase indirekt als Plasminogenak- toren aus, wodurch diese unwirksam werden. Diese Komplikation
tivator. Beim therapeutischen Einsatz von Streptokinase muss wird als Hemmkörperhämophilie bezeichnet.
beachtet werden, dass es als körperfremdes Protein antigene Ei-
genschaften besitzt und die Bildung von Antikörpern hervorruft. Funktionsverlust des von-Willebrand-Faktors (vWF)
Auch eine überstandene Streptokokkeninfektion kann zur Bil- beeinträchtigt die zelluläre Hämostase
dung von Antikörpern gegen Streptokinase führen. Der vWF wurde bereits als wichtiges Protein für die Initiation der
Neben Fibrin hat Plasmin viele weitere Substrate. Durch primären Hämostase vorgestellt (7 Kap. 69.1.2). Darüber hinaus
Spaltung von Fibrinogen und aktivierten Gerinnungsfaktoren bindet vWF den Faktor VIII und verlängert dadurch dessen
wirkt Plasmin der Neubildung von Fibrin entgegen. Plasmin Plasmahalblebenszeit. Daher verwundert es nicht, dass bei
übernimmt wichtige Aufgaben in der Wundheilung, indem es Mutationen, die zu Veränderungen des vWF führen (Willebrand-
Proteasen aktiviert, die für den Umbau der extrazellulären Ma- Jürgens-Syndrom), sowohl die primäre als auch die sekundäre
trix zuständig sind. Auch die Plasminaktivität wird vielfältig re- Hämostase betroffen sein können. Das Willebrand-Jürgens-
guliert. Ein direkter Plasmininhibitor ist das zu den SERPINEN Syndrom ist mit einer Prävalenz von 1 % die häufigste erbliche
gehörige Plasmaprotein α2-Antiplasmin. Erkrankung mit erhöhter Blutungsneigung. Bei den milden
Formen ist die Aktivität des vWF nur wenig erniedrigt und die
klinischen Symptome sind vergleichsweise schwach ausgeprägt
69.1.6 Pathobiochemie (z.  B. stärkere Monatsblutung), sodass die Erkrankung häufig
unerkannt bleibt. Die seltenen schweren Formen mit vollständi-
Mutationen im Faktor-VIII-Gen verursachen gem Verlust des vWF führen zu einer verlängerten Blutungszeit
69 Hämophilie A aufgrund beeinträchtigter primärer Hämostase. Gleichzeitig
Beim gesunden Menschen befinden sich das Gerinnungssystem treten Symptome einer Hämophilie A auf, da der Faktor VIII
und das entgegengesetzt wirkende Fibrinolysesystem in einem deutlich erniedrigt ist.
Gleichgewicht, welches auf einem Netzwerk von aktivierenden
und inhibierenden Faktoren beruht. Eine Störungen dieser Eine Mutation im Gen des Gerinnungsfaktors V
Balance kann eine Blutungsneigung (Hämophilie) oder eine verursacht eine Thrombophilie
Thromboseneigung (Thrombophilie) zur Folge haben. Die häufigste erbliche Form einer Thrombophilie ist die APC-
Die bekanntesten hereditären Hämophilien werden durch Resistenz, die durch eine Faktor-V-Genmutation hervorgerufen
Mutationen im Faktor VIII (Hämophilie A) oder Faktor IX wird. Bei der als Faktor-V-Leiden bezeichneten Mutation (be-
69.2 · Leukocyten
887 69
nannt nach dem Ort der Entdeckung, der niederländischen Stadt 69.2 Leukocyten
Leiden) wird die Aminosäure Arginin an Position 506 des
Proteins gegen Glutamin ausgetauscht. Dies führt nun aber nicht 69.2.1 Eigenschaften der Leukocyten
zu einem Funktionsverlust wie bei den zuvor beschriebenen
Hämophilien, sondern zu einer Stabilisierung des aktivierten Leukocyten sind Zellen der Immunabwehr
Gerinnungsfaktors. Der aktivierte Faktor-Va-Leiden kann nicht Unter dem Begriff Leukocyten (weiße Blutzellen) werden Gra-
mehr durch die aktivierte Protease APC gespalten werden, da nulocyten, Monocyten und Lymphocyten zusammengefasst.
durch die Mutation die Spaltstelle verändert ist. Das Gleichgewicht Sie sind wichtige Effektorzellen des Immunsystems (7 Kap. 70).
zwischen Fibrinolyse und Gerinnung ist nun Richtung Gerinnung Genau genommen nutzen die Leukocyten das Blut nur als Trans-
verschoben, was sich in einer allgemeinen Thromboseneigung portmedium, ihre eigentlichen Funktionen üben sie im extrava-
äußert. Auch heterozygote Träger des mutierten Allels haben ein salen Raum aus. Dort agieren sie bei der Abwehr körperfremder
erhöhtes Thromboserisiko. Organismen und der Eliminierung von körperfremdem Material.
Gerinnungsstörungen müssen nicht immer erblich bedingt Aber auch körpereigene Produkte wie abgestorbene Zellen oder
sein. Die Verbrauchskoagulopathie (Synonym: disseminierte gealterte Biomoleküle werden von Leukocyten entsorgt.
intravasale Gerinnung, DIC) ist die Folge einer Grunderkrankung Das Blut eines gesunden Erwachsenen enthält 5.000–10.000
wie z. B. einer Sepsis. Sie ist zunächst durch eine vermehrte Leukocyten/µl. Hämatopoetische Cytokine stimulieren die Neu-
Bildung von Fibrinthromben mit anschließender reaktiver Fib- bildung von Leukocyten im Knochenmark (7 Kap. 68.1.1). Eine
rinolyse gekennzeichnet. Dadurch werden Gerinnungsfaktoren verminderte oder erhöhte Leukocytenzahl wird als Leukopenie
und Thrombocyten verbraucht, was zu einer erhöhten Blutungs- bzw. Leukocytose bezeichnet. Stark erniedrigte Leukocytenzah-
neigung führt. Die Verbrauchskoagulopathie kann zu einem len führen zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Die bei Entzün-
lebensbedrohlichen Organversagen durch Thrombosierung der dungsreaktionen verbrauchten Leukocyten werden durch eine
Mikrozirkulation und massiven Blutungen führen. erhöhte Produktion kompensiert. Daher sind Entzündungen
häufig von einer Leukocytose begleitet.

Zusammenfassung Granulocyten bilden die erste Linie der zellulären


Thrombocyten sorgen für die Instandhaltung der Blutge- Infektabwehr
fäße. Kleinere Verletzungen werden durch Adhäsion, Aktivie- Die Bezeichnung Granulocyten weist schon darauf hin, dass die-
rung und Aggregation der Thrombocyten abgedichtet. se Zellen reich an Granula sind. Aufgrund der unterschiedlichen
Bei der plasmatischen Gerinnung werden Gerinnungsfakto- Anfärbbarkeit der Granula mit verschiedenen organischen Farb-
ren in einer Kaskade proteolytischer Reaktionen am Ort der stoffen werden sie in neutrophile, eosinophile und basophile
Gefäßläsion aktiviert. Die Umwandlung von Fibrinogen zu Granulocyten unterteilt.
Fibrin durch die Protease Thrombin mit anschließender Die neutrophilen Granulocyten stellen mit 50–65 % den
kovalenter Stabilisierung des Fibrinnetzwerks durch eine Hauptanteil der Leukocyten des Blutes. Die Bildung der neutro-
Transglutaminase sorgt für einen stabilen Wundverschluss in philen Granulocyten im Knochenmark wird maßgeblich durch
Form eines Thrombus. G-CSF (granulocyte colony-stimulating factor) stimuliert. Neutro-
Die Verabreichung von Vitamin-K-Antagonisten oder Hepa- phile Granulocyten zirkulieren für 6–12 h im Blut und haben
rin kann der Gefahr der spontanen Thrombenbildung mit auch im Gewebe nur eine Lebensdauer von wenigen Tagen. Ihr
Gefäßverschluss entgegenwirken. Durchmesser beträgt 12–15 µm. Reife neutrophile Granulocyten
Die Protease Plasmin löst Fibringerinnsel durch proteolyti- fallen im histologischen Bild durch einen segmentierten Zellkern
sche Spaltung des Fibrins auf. Die Umwandlung von Plasmi- auf. Die Hauptaufgabe der neutrophilen Granulocyten besteht in
nogen zu Plasmin erfolgt durch Plasminogenaktivatoren, die der Aufnahme (Phagocytose) und dem Abtöten von bakteriel-
auch klinisch eingesetzt werden, um Fibringerinnsel, die ein len Krankheitserregern.
Blutgefäß verschließen, aufzulösen. Um eingedrungene Keime zu erkennen, exprimieren neutro-
Störungen in den Mechanismen der zellulären Hämostase, phile Granulocyten Toll-like-Rezeptoren (TLR 7 Kap. 35.2.1;
plasmatischen Gerinnung und Fibrinolyse können eine Blu- 35.5.4), die konservierte Strukturen von pathogenen Keimen
tungsneigung (Hämophilie) oder spontane Thrombenbil- spezifisch binden (pathogen-associated molecular patterns,
dung (Thrombophilie) nach sich ziehen. Hämophilie A und PAMPs). Durch Bindung von Antikörpern (IgG) oder Komple-
Hämophilie B werden durch Mutationen in den Genen für mentprotein C3b kenntlich gemachte Keime oder Partikel
die Gerinnungsfaktoren VIII bzw. IX ausgelöst. Mutationen (Opsonisierung) werden ebenfalls erkannt, da neutrophile
im von-Willebrand-Faktor beeinträchtigen die zelluläre Granulocyten Fcγ-Rezeptoren und Komplementrezeptoren
Hämostase. exprimieren.
Die Granula enthalten u. a.:
4 Proteasen (Cathepsin G, Elastase, Gelatinase)
4 andere hydrolytische Enzyme (Lysozym, saure Phospha-
tase, Sialidase, Heparanase)
4 Myeloperoxidase (s. u.) und
4 antimikrobielle Peptide (Defensine),
888 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

die bei der Bekämpfung von Krankheitserregern zum Einsatz cytose von Keimen nicht ab, sondern präsentieren prozessierte
kommen. Peptidfragmente über MHCII (major histocompatibility com-
plex II) den T-Lymphocyten. Auf diese Weise wird eine
Nach dem Abtöten phagocytierter Keime sterben auch die Verbindung zwischen dem angeborenen und dem adaptiven
Granulocyten. Eiter besteht zu einem Großteil aus abgestorbe- Immunsystem hergestellt (7 Kap. 70.4.2; 70.11). Zudem fördern
nen neutrophilen Granulocyten. Makrophagen über die Ausschüttung von proinflammatorischen
Die Bezeichnung eosinophiler Granulocyt rührt von der Cytokinen wie
Anfärbbarkeit der Granula mit dem Farbstoff Eosin her. Die 4 Tumornekrosefaktor (TNF)
Differenzierung der eosinophilen Granulocyten im Knochen- 4 Interleukin-1 (IL-1)
mark wird durch die Cytokine Interleukin-3 (IL-3) und Inter- 4 Interleukin-6 (IL-6)
leukin-5 (IL-5) stimuliert. Auch diese Zellen verlassen die Blut-
bahn nach einigen Stunden und werden zu gewebeständigen maßgeblich die lokalen und systemischen Entzündungs-
Zellen. Sie besiedeln v. a. die Haut und die Schleimhäute reaktionen.
der Atemwege und des Gastrointestinaltrakts. Ihre Aufgabe be-
steht in der Abwehr von Parasiten, die nicht phagocytierbar Die systemischen Folgen sind:
sind. Zu diesem Zweck exprimieren eosinophile Granulocyten 4 Auslösung von Fieber
Fcε-Rezeptoren, die Immunglobuline der Klasse E (IgE) binden. 4 Stimulation der Neubildung von Leukocyten im
Bindung von IgE führt zur Freisetzung der Inhaltsstoffe der Knochenmark
Granula, die der Bekämpfung der Parasiten dienen. Neben Pro- 4 Induktion von Akutphase-Proteinen in der Leber
teasen und Lipasen sind die basischen Proteine major basic
protein (MBP) und eosinophil cationic protein (ECP) zu nennen, Durch Expression antiinflammatorischer Cytokine wie
die beide cytotoxisch wirken. Bei allergischen Reaktionen führt 4 Interleukin-10 (IL-10)
die durch IgE ausgelöste Degranulation zur Gewebeschädigung. 4 transforming growth factor-β (TGF-β)
Auf diese Weise tragen die eosinophilen Granulocyten zur Lun-
genschädigung bei Asthma bronchiale bei. Die Bestimmung des tragen Makrophagen zur Eindämmung und zum Abklingen
ECP im Serum kann als Indikator für die Aktivität eosinophiler einer Entzündungsreaktion bei.
Granulocyten bei allergischen und entzündlichen Erkrankungen
dienen. Kommt es bei einer Infektion zum Übertritt der Erreger in die
Die basophilen Granulocyten bilden mit weniger als 1 % Blutbahn (Sepsis), können die systemischen Entzündungsreak-
den kleinsten Anteil der Leukocyten (ca. 100 Zellen/µl). Ihre tionen in einen lebensbedrohlichen septischen Schock münden,
Aufgaben in der Immunabwehr sind nicht genau bekannt. Auch der von starkem Blutdruckabfall und multiplem Organversagen
basophile Granulocyten exprimieren Fcε-Rezeptoren. Dies begleitet ist (systemic inflammatory response syndrome, SIRS)
spricht für eine Funktion dieser Zellen in der Abwehr von Para- (7 Kap. 35.5.4).
siten. Nach Aktivierung der Fcε-Rezeptoren durch polyvalentes Zur Erkennung von Keimen, abgestorbenen Zellen oder Par-
IgE wird aus den Granula v. a. Histamin und Heparin freigesetzt. tikeln, die phagocytiert werden sollen, exprimieren Makrophagen
In dieser Hinsicht ähneln die basophilen Granulocyten den neben Toll-like-Rezeptoren, Fcγ-Rezeptoren und Komplement-
Mastzellen. Im Gegensatz zu Mastzellen findet man basophile rezeptoren, sog. scavenger-Rezeptoren (engl. scavenger: Straßen-
Granulocyten nur selten in normalen Geweben. Sie reichern sich kehrer). Bestimmte scavenger-Rezeptoren (CD36, SRAI/II) bin-
allerdings bei entzündlichen und allergischen Reaktionen im Ge- den und sorgen für die Endocytose gealterter Lipoproteinpartikel
webe an. Dort produzieren sie im Unterschied zu Mastzellen (oxidiertes LDL). Makrophagen, die übermäßig viele LDL-Parti-
Interleukin-4 (IL-4) und unterstützen somit die humorale Im- kel aufgenommen haben, verändern sich zu sog. Schaumzellen,
munantwort (7 Kap. 70.9). die in den Gefäßwänden entzündliche Prozesse einleiten, die
schließlich zur Atherosklerose führen.
Monocyten differenzieren im Gewebe Das molekulare Arsenal der Makrophagen zum Abtöten auf-
zu Makrophagen oder Dendritischen Zellen genommener Keime ähnelt dem der neutrophilen Granulocyten,
Die Monocyten sind mit einem Durchmesser von 12–20 µm die ist aber nicht identisch. So unterscheidet man z. B. zwischen der
größten Leukocyten des Blutes. Sie tragen zu 2–6 % der Leu- neutrophilen Elastase (MMP-9) und der Makrophagen Elastase
kocytenpopulation bei. Macrophage colony-stimulating factor (MMP-12). Sie gehören beide zur Familie der Matrixmetallo-
69 (M-CSF) stimuliert die Differenzierung der Monocyten im Kno- proteasen (MMP) und werden von unterschiedlichen Genen
chenmark. Die Monocyten können als ein systemisches Reser- codiert.
voir von Vorläuferzellen angesehen werden, die im Gewebe zu
Makrophagen oder bestimmten Subpopulationen von Dendri- Zur Bekämpfung von Keimen werden reaktive
tischen Zellen differenzieren. Beide Zelltypen sind phagocytie- Sauerstoffspezies (ROS) erzeugt
rende und antigenpräsentierende Zellen. Die rezeptorvermittelte Aufnahme von Keimen oder größeren
Nach den Granulocyten stellen die Makrophagen die zweite Partikeln (>1 μm) wird als Phagocytose bezeichnet. Dabei bildet
zelluläre Verteidigungslinie dar. Im Unterschied zu den neutro- sich ein membranumhülltes, flüssigkeitsgefülltes Organell, das
philen Granulocyten sterben die Makrophagen nach Phago- Phagosom. In phagocytierenden Immunzellen wie neutrophilen
69.2 · Leukocyten
889 69

. Abb. 69.10 Aufbau und Aktivierung der NADPH-Oxidase. In ruhenden Zellen liegt der p67phox/p47phox/p40phox-Komplex cytosolisch vor. Nach
Aktivierung des Phagocyten erfolgt die Phosphorylierung der cytoplasmatischen Untereinheiten p67phox und p47phox mit nachfolgender Bindung des
p67phox/p47phox/p40phox-Komplexes an die membranständigen p91phox- und p22phox-Untereinheiten. Die Phosphorylierung wird hauptsächlich durch die
Proteinkinase C (PKC) katalysiert. Rekrutierung von GTP-beladenem rac2 an die Membran vervollständigt die Aktivierung der NADPH-Oxidase

Granulocyten oder Makrophagen fusionieren die Phagosomen Das Superoxidanion kann in weitere ROS überführt werden.
mit Granula und Lysosomen, die dabei ihre Hydrolasen und wei- Die Superoxiddismutase katalysiert die Disproportionierung zu
tere antimikrobielle Substanzen in das Lumen der Phagosomen Wasserstoffperoxid und Sauerstoff:
ausschütten. Protonenpumpen in der Phagosomenmembran
senken den pH-Wert im Lumen, sodass die Hydrolasen bei ih- O2–t + O2–t + 2H+ H2O2 + O2
rem pH-Optimum wirken können.
Die phagocytierenden Immunzellen verfügen über einen Wasserstoffperoxid kann mit Superoxidanionen unter Bildung
weiteren Mechanismus, um aufgenommene Keime abzutöten, hochreaktiver Hydroxylradikale reagieren:
den sog. oxidative burst (Synonym: respiratory burst). Bei diesem
Vorgang werden in großen Mengen reaktive Sauerstoffspezies H2O2 + O2–t OHt + OH– + O2
(reactive oxygen species, ROS) erzeugt. Die NADPH-Oxidase ist
das Schlüsselenzym, welches molekularen Sauerstoff unter Die Myeloperoxidase, ein weiteres Häm-Protein und charakte-
NADPH-Verbrauch zum Superoxidanion reduziert: ristisches Enzym der neutrophilen Granulocyten, erzeugt
schließlich im Lumen des Phagosoms aus Wasserstoffperoxid
NADPH + 2O2 NADP+ + H+ + 2O2ot Hypochloritionen:

Das Superoxidanion ist ein Radikal, da es ein ungepaartes H2O2 + Cl– OCl– + H2O
Elektron enthält, und somit äußerst reaktiv.
Die NADPH-Oxidase ist ein komplexes Enzymsystem beste- Die so erzeugten ROS sind mikrobizid und tragen wesentlich
hend aus: zum Abtöten von Keimen bei. Überschüssiges Wasserstoffper-
4 den membranständigen Untereinheiten p91phox oxid, welches die Membran des Phagosoms passieren kann, wird
und p22phox durch die Katalase in Wasser und Sauerstoff umgewandelt und
4 den cytoplasmatischen Untereinheiten p67phox, p47phox so unschädlich gemacht.
und p40phox
4 einem assoziierten kleinen G-Protein, rac2 B- und T-Lymphocyten sind Zellen des adaptiven
Immunsystems
p91phox (phox = phagocyte oxidase) ist die essenzielle katalyti- Im Stammbaum der Hämatopoese (7 Kap. 68.1.1) spaltet sich die
sche Untereinheit der NADPH-Oxidase. Sie enthält die zum Linie der lymphatischen Stammzelle, aus der die Lymphocyten
Elektronentransport notwendigen Bestandteile, nämlich ein hervorgehen, schon früh von der myeloischen Stammzelle ab,
Flavin-Adenin-Dinucleotid und zwei Häm-Komponenten. Die aus der die übrigen Blutzellen gebildet werden. Zunächst entsteht
zweite membranständige Komponente p22phox assoziiert mit eine lymphocytäre Vorläuferzelle, die im Knochenmark zum B-
p91phox unter Ausbildung eines heterodimeren Proteins, welches Lymphocyten reift oder über den Blutweg in den Thymus gelangt
auch als Cytochrom b558 bezeichnet wird. Die cytoplasmatische und dort zum T-Lymphocyten ausdifferenziert. Knochenmark
Domäne von p22phox stellt die Verbindung zu den cytoplasma- und Thymus werden auch als primäre lymphatische Organe
tischen Untereinheiten her, die für die signalabhängige bezeichnet.
Assemblierung des funktionsfähigen Holoenzyms notwendig Reife T-Lymphocyten und B-Lymphocyten sind auf die Erken-
sind. NADPH wird auf der cytoplasmatischen Seite verbraucht, nung potenzieller Fremdantigene ausgerichtet. Weitere Differen-
Superoxidanionen werden auf der extrazellulären, bzw. auf der zierungsprozesse finden in den sekundären lymphatischen
dem Lumen des Phagosoms zugewandten Seite der Membran er- Organen (Lymphknoten, Milz) nach Kontakt mit einem Antigen
zeugt (. Abb. 69.10). statt (7 Kap. 70.3). Auch natürliche Killerzellen gehen aus der
890 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

. Abb. 69.11 Die einzelnen Phasen der Diapedese von neutrophilen Granulocyten. Einige wichtige Interaktionen von Membranproteinen sind darge-
stellt. Einzelheiten s. Text. ICAM1: intercellular adhesion molecule 1; JAM: junctional adhesion molecules; LFA1: lymphocyte function-associated antigen 1; PECAM1:
platelet/endothelial cell adhesion molecule 1; PSGL1: P-selectin glycoprotein ligand 1; VCAM1: vascular cell adhesion molecule 1; VLA4: very late antigen 4

lymphatischen Stammzelle hervor. Sie werden allerdings eher dem bezeichnet (. Abb. 69.11). Der komplexe Vorgang kann in
angeborenen Immunsystem zugerechnet. Eine ihrer Aufgaben ist mehrere Schritte unterteilt werden:
die Abtötung von Zellen, die kein MHC I auf der Oberfläche ex- 4 eine erste Kontaktaufnahme, bei der sich Leukocyten an das
primieren und somit potenziell fremd oder virusinfiziert sind. Endothel anheften (tethering) und dann an ihm entlang-
Die Lymphocyten im Blut sind kleiner als die zuvor beschrie- rollen (rolling)
benen Leukocyten. Neben einem relativ großen und runden 4 Aktivierung der Leukocyten gefolgt von einer stabileren
Zellkern ist oft nur ein dünner Saum an Cytoplasma zu erken- Verbindung mit den Endothelzellen (activation und arrest)
nen. Lymphocyten können sich aber nach Antigenkontakt funk- 4 Durchtritt der Leukocyten durch die Endothelzellschicht
tionell und morphologisch dramatisch verändern. So geht aus (Transmigration)
dem B-Lymphocyten die antikörperproduzierende Plasmazelle
hervor, die durch ein ausgedehntes rauhes endoplasmatisches Selectine auf der Oberfläche von Endothelzellen
Retikulum gekennzeichnet ist, an dem die Proteinbiosynthese sorgen für das Anheften und Rollen der Leukocyten
der zu sezernierenden Antikörper abläuft. Die Lymphocyten ma- Eine erste Reaktion der Endothelzellen auf einen Entzündungs-
chen 25–33 % der Leukocyten des Blutes aus. Man nimmt an, reiz erfolgt innerhalb weniger Minuten und kommt ohne die
dass im Blut nur 1 % der gesamten Lymphocyten zirkuliert. Die Neusynthese von Proteinen aus. Sie wird durch die Bindung von
weitaus größere Zahl befindet sich im extravasalen Raum und Entzündungsmediatoren an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
insbesondere in den lymphatischen Organen. B- und T-Ge- (GPCR) ausgelöst. Die nachfolgende G-Protein-vermittelte Ak-
dächtniszellen sind die langlebigsten Leukocyten mit einer tivierung der β-Isoform der Phospholipase C (PLCβ) führt durch
Lebensdauer von mehreren Jahren. Spaltung des Membranlipids Phosphatidylinositol-4,5-Bisphos-
phat (PIP2) zur Generierung von Inositol-1,4,5-Trisphosphat
(IP3) und somit zur Erhöhung der cytoplasmatischen Konzen-
69.2.2 Diapedese tration an Calciumionen (Ca2+) (7 Kap. 35.3.3). Die erhöhte
Ca2+-Konzentration bewirkt eine Kontraktion der Actinfila-
Das Gefäßendothel stellt die natürliche Barriere zwischen den im mente, die mit den tight junctions und adherens junctions ver-
Blut zirkulierenden Leukocyten und dem extravasalen Gewebe knüpft sind. Dadurch entstehen Lücken zwischen den
dar. Auch die Plasmaproteine können das Endothel nicht ohne Endothelzellen, sodass nun Plasma in das Gewebe eindringen
weiteres passieren, da die Zell-Zell-Kontakte durch tight junc- kann. Dies führt zur Schwellung der entzündeten Stelle. Die mit
tions und adherens junctions (7 Kap. 12.1.1) abgedichtet sind. dem Plasma eingeschwemmten Plasmaproteine bilden eine
Ruhendes Endothel tritt nicht in Kontakt mit Leukocyten. Die Matrix für weitere Entzündungsvorgänge.
69 Situation ändert sich schlagartig, sobald Krankheitserreger in das Endothelzellen besitzen sekretorische Granula, die als
Gewebe eingedrungen sind. Im Rahmen der Entzündungsreak- Weibel-Palade-Körperchen bezeichnet werden. Die erhöhte
tion ausgeschüttete Mediatoren erhöhen die Durchlässigkeit Ca2+-Konzentration bewirkt nun auch die Mobilisierung der
(Permeabilität) des Endothels und bewirken, dass bestimmte Granula durch Exocytose. Dies führt zur Freisetzung des
Populationen der Leukocyten das Endothel passieren können. In Chemokins Interleukin-8 (neuere Bezeichnung: CXCL8) und zur
der frühen Entzündungsphase sind dies v. a. neutrophile Granu- Exposition von P-Selectin auf der blutzugewandten, luminalen
locyten, später folgen Monocyten und Lymphocyten. Oberfläche der Endothelzellen.
Der Durchtritt von Leukocyten durch die Endothelzellschicht Selectine gehören zu den Zelladhäsionsmolekülen. Man
und die darunter liegende Basalmembran wird als Diapedese unterscheidet:
69.2 · Leukocyten
891 69
4 E-Selectin (E = Endothel) Leukocyten passieren die Endothelzellschicht
4 L-Selectin (L = Leukocyten) und die Basalmembran
4 P-Selectin (P = engl. platelet, Blutplättchen) Die Passage der aktivierten Leukocyten durch die Endothel-
zellschicht (Diapedese) dauert nur wenige Minuten. Sie wird
Die Selectine sind alle ähnlich aufgebaut: sie bestehen aus einem durch eine Vielzahl von Zelladhäsionsmolekülen vermittelt,
extrazellulären Teil, einer einzelnen Transmembrandomäne und deren Signale an das Cytoskelett der Zellen weitergegeben wer-
einem kurzen cytoplasmatischen Teil. Von besonderer Be- den. Neben den bereits beschriebenen Membranproteinen sind
deutung ist die N-terminale lectinähnliche Domäne. Sie bindet hier die junctional adhesion molecules (JAM-A, -B und -C) und
spezifisch an Kohlenhydratstrukturen von Glycoproteinen, die das platelet/endothelial cell adhesion molecule 1 (PECAM1) von
Sialinsäuren enthalten. besonderer Bedeutung, die homophile oder heterophile
Die initiale Bindung von Leukocyten an das aktivierte Interaktionen mit Integrinen eingehen (. Abb. 69.11). Daraus
Endothel wird v. a. durch endotheliales P-Selectin vermittelt, resultiert eine gerichtete Bewegung des Leukocyten zwischen
welches auch auf aktivierten Thrombocyten exprimiert wird benachbarten Endothelzellen (parazellulär) oder sogar durch
(. Abb. 69.11). Später erscheint auch E-Selectin auf der Endo- eine Endothelzelle hindurch (transzellulär).
theloberfläche. Der Bindungspartner auf der Oberfläche der Die das Endothel umgebende Basalmembran und eine
Leukocyten ist ein Glycoprotein namens P-selectin glycoprotein im Vergleich zum Endothel löchrige Schicht von Pericyten sind
ligand 1 (PSGL1). Um als P-Selectinligand zu dienen, ist neben die letzten Hürden für den Durchtritt der Leukocyten in das
der Ausstattung der Kohlenhydratkette mit Sialinsäure (Sialylie- Gewebe. Leukocyten exprimieren Integrine, welche Laminine
rung) und Fucose (Fucosylierung) eine ungewöhnliche weitere und Kollagen IV, die Hauptkomponenten der Basalmembran,
posttranslationale Modifikation notwendig: bestimmte N-termi- erkennen. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass
nale Tyrosinreste des PSGL1 müssen sulfatiert sein. Neben die Basalmembranen Bereiche von geringer Proteindichte
PSGL1 gibt es weitere Zelloberflächenproteine wie CD24 und aufweisen, die gleichzeitig an Pericyten verarmt sind. Dort
CD44, die an P-Selectin binden (nicht in . Abb. 69.11 dargestellt). erfolgt der erleichterte Durchtritt der Leukocyten unter proteo-
lytischem Umbau der Basalmembran durch Proteasen wie z. B.
Chemokinrezeptoren und Integrine vermitteln die Elastase der neutrophilen Granulocyten. Verschiedene
die Aktivierung der Leukocyten Chemokine weisen den Leukocyten den Weg zum Einsatzort im
Das Anheften und Rollen der Leukocyten wird v. a. durch Selec- Gewebe.
tine vermittelt (Selectinphase). Darauf folgt die Aktivierung der
Leukocyten mit der Konsequenz der integrinvermittelten feste-
ren Anbindung an das Endothel (Integrinphase). Diese Reaktio- 69.2.3 Pathobiochemie
nen werden v. a. durch proinflammatorische Cytokine wie
Tumornekrosefaktor (TNF-α) und Interleukin-1 (IL-1) ausgelöst, Mutationen in den Genen der NADPH-Oxidase
welche das Endothel zur Synthese von weiteren Zelladhäsions- schwächen die Abwehr gegenüber Bakterien
molekülen wie intercellular adhesion molecule 1 (ICAM1) und Die chronische oder septische Granulomatose macht deutlich,
vascular cell adhesion molecule 1 (VCAM1) sowie von Chemoki- wie wichtig der oxidative burst für eine wirksame Abwehr von
nen anregen. Die Diffusion der löslichen Chemokine wird durch Krankheitserregern ist. Diese seltene Erbkrankheit wird durch
Bindung an Heparansulfatproteoglycane auf der luminalen Mutationen in Genen für die Untereinheiten der NADPH-
Seite der Endothelzellen verhindert. Oxidase verursacht. Es sind über 400 verschiedene Mutationen
Die so immobilisierten Chemokine binden an Chemokin- beschrieben, von denen die Mehrzahl im gp91phox-Gen auftritt,
rezeptoren auf der Oberfläche der Leukocyten, welche zur welches auf dem X-Chromosom lokalisiert ist. Die übrigen
Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehören. Die Mutationen treten in den gp22phox-, gp47phox- oder gp67phox-
aktivierten Chemokinrezeptoren leiten das Signal über eine Er- Genen auf, deren Vererbung autosomal-rezessiv verläuft. Die
höhung der Konzentration an Calciumionen rasch weiter an die Mutationen führen meist zu einem Verlust der Expression der
cytoplasmatischen Domänen von Integrinen wie lymphocyte betroffenen Untereinheit, was mit einem vollständigen Funk-
function-associated antigen 1 (LFA1) und very late antigen 4 tionsverlust der NADPH-Oxidase einhergeht. Betroffene Phago-
(VLA4) (. Abb. 69.11). Daraufhin erfolgt eine Konformations- cyten wie z. B. neutrophile Granulocyten sind zwar noch in der
änderung der extrazellulären Domänen der Integrine (inside-out Lage, Krankheitserreger durch Phagocytose aufzunehmen,
signalling). Durch diesen Vorgang erhöht sich sofort die Affinität können diese aber nicht mehr abtöten. Die Erkrankung führt zu
der Integrine der Leukocyten zu den Zelladhäsionsmolekülen chronisch-rezidivierenden bakteriellen Infektionen, die schlecht
des Endothels und bewirkt den Arrest (feste Adhäsion) der auf Antibiotika ansprechen, da die Erreger in den Zellen ge-
Leukocyten auf der Oberfläche des Endothels. Umgekehrt führt schützt sind.
die Bindung der Zelladhäsionsmoleküle an die aktivierten
Integrine zu einem Signal in den Leukocyten (outside-in signal-
ling), welches zu deren Aktivierung beiträgt. Integrine sind also
vielseitige Rezeptoren, deren Affinität zum Liganden modulier-
bar ist und die Informationen über die Plasmamembran in beide
Richtungen weitergeben können.
892 Kapitel 69 · Blut – Thrombocyten und Leukocyten

Zusammenfassung
Die Population der Leukocyten besteht aus Monocyten,
neutrophilen, eosinophilen und basophilen Granulocyten
sowie B- und T- Lymphocyten. Leukocyten sind Zellen des
Immunsystems mit Aufgaben in der Bekämpfung von Krank-
heitserregern, aber auch der Entsorgung abgestorbener
körpereigener Zellen oder gealterter Biomoleküle.
Die NADPH-Oxidase der phagocytierenden Leukocyten
erzeugt unter Sauerstoff- und NADPH-Verbrauch große
Mengen des Superoxidanions O2–t. Dieses Radikal kann
enzymatisch und nicht-enzymatisch in andere reaktive
Sauerstoffspezies überführt werden. Die reaktiven Sauer-
stoffspezies wirken als Mikrobizide.
Entzündungsmediatoren im entzündeten Gewebe bewirken
eine erhöhte Permeabilität des Gefäßendothels für Blut-
plasma und Leukocyten. Der Durchtritt von Leukocyten
durch das Endothel (Diapedese) ist ein koordinierter,
komplexer Vorgang, der durch die regulierte Abfolge der
Expression von Zelladhäsionsmolekülen, Chemokinen und
Chemokinrezeptoren gesteuert wird.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com

69
893 70

70 Immunologie
Siegfried Ansorge, Michael Täger

Einleitung löslicher Faktoren (u. a. Cytokine, Hormone, Immunglobuline).


Das Immunsystem ist über den gesamten Organismus verteilt.
Ziel dieses Kapitels ist es, die Bedeutung des Immunsystems und seiner Eine zentrale Rolle spielen die primären lymphatischen Organe
biochemisch kontrollierten Prozesse für die Medizin zu vermitteln. Das Thymusdrüse und Knochenmark sowie die sekundären lympha-
gilt sowohl für die Schutzfunktion des Immunsystems im Rahmen der tischen Organe Lymphknoten, Schleimhäute, Milz und Tonsil-
Abwehr von Fremderregern als auch für den Bruch der immunologi- len. Die wichtigsten an einer Immunantwort beteiligten Zellen
schen Toleranz. Letzteres bezeichnet die nahezu allen chronischen sind: antigenpräsentierende Zellen (Makrophagen und dendriti-
Erkrankungen zugrunde liegenden Entgleisungen der Immunantwort sche Zellen), Thymus-geprägte T-Lymphocyten (T-Zellen) und
durch den partiellen Verlust der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Knochenmark-geprägte B-Lymphocyten (B-Zellen). Letztere
Selbst und Nicht-Selbst. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Immun- differenzieren zu antikörperproduzierenden Plasmazellen. Die
system nicht nur ein extrem gut funktionierendes Sicherheitssystem zelluläre Kommunikation erfolgt sowohl direkt über Zell-Zell-
repräsentiert, sondern selbst auch die Ursache vieler Erkrankungen sein Kontakte als auch über Cytokine. Alle Zellen des Immunsystems
kann und dass eine Überfunktion des Immunsystems in der Medizin viel- können über das Blut- und Lymphgefäßsystem den Ort einer
leicht häufiger anzutreffen ist als ein Immunmangel. Zum Verständnis lokalen Entzündung oder Verletzung erreichen. Diese gezielten
dieser Vorgänge gehören die Kenntnis der wichtigsten zellulären und Wanderungen von Zellen werden über gefäßaktive Eicosanoide
stofflichen Instrumente und ihrer molekularen Wirkungsmechanismen. (Prostaglandine und Prostacycline), Adhäsionsmoleküle, Kom-
Ein besonderes Ziel ist es, die Dimension der Leistung des Immunsys- plementfaktoren und Chemokine reguliert.
tems zur Erhaltung der Integrität des Organismus zu verstehen. Schwer- Alle Bereiche der Antwort des Immunsystems auf Fremd-
punkte werden auf die biochemischen Mechanismen der Antigenerken- stoffe oder zelluläre Veränderungen (Immunantwort) sowie die
nung sowie die molekulargenetischen Grundlagen der Immunantwort Reaktion von Produkten dieser Immunantwort (sensibilisierte
gelegt, die das System in die Lage versetzen, gegenüber einer fast un- Zellen oder Antikörper) mit fremden Strukturen oder Zellen
begrenzten Zahl möglicher Antigene zu unterscheiden. Die hier genutz- (Immunreaktion) gründen sich auf biochemische Vorgänge. Das
ten biochemischen Vorgänge sind einzigartig und in keinem anderen Immunsystem nutzt zwei unterschiedliche funktionelle Systeme,
Organsystem zu finden. die miteinander eng vernetzt sind:
4 ein angeborenes, unspezifisch wirkendes Arsenal an Zel-
Schwerpunkte len und Molekülen, das die erste, frühe Phase der Abwehr
von Krankheitserregern bestimmt (primäre Immunant-
4 Formen der Immunantwort
wort) und
4 Molekulare und zelluläre Mechanismen des Immunsystems
4 ein selektiv wirkendes System, das die antigenspezifische
4 Immunpathologie
(erworbene bzw. adaptive) Immunantwort steuert und
einige Tage verzögert nach Infektion zur Wirkung gelangt
(. Abb. 70.1). Diese im Laufe des Lebens erworbene Fähig-
keit vermag gegen jedwede fremdartige Substanz eine spezi-
70.1 Rolle des Immunsystems fische Immunantwort aufzubauen und toleriert im Idealfall
dabei aber jede körpereigene Struktur.
Das Immunsystem – ein fast perfektes System
der Überwachung und Abwehr Die Fähigkeit zwischen Selbst und Nicht-Selbst hochspezifisch
Grundlage aller Lebensvorgänge eines Organismus ist die per- zu unterscheiden, liegt in der genomischen Organisation von
manente Kontrolle und Erhaltung seiner Integrität. Das betrifft T- und B-Lymphocyten begründet. Für jede denkbare Struktur
insbesondere die Wahrnehmung von physikalischen oder che- entwickelt der Organismus beim Aufbau der antigenspezifi-
mischen Schädigungen von Organen und Geweben, den Befall schen, adaptiven Immunantwort mindestens einen spezifischen
mit pathogenen Parasiten, Bakterien, Pilzen und Viren sowie das Lymphocyten-Klon sowie einen Antikörper.
Auftreten von mutierten Genprodukten im Rahmen einer Neo- An jeder Immunantwort auf ein fremdes Antigen sind im-
plasie. munaktivierende, aber auch immunsupprimierende Vorgänge,
Diese Kontrolle erfolgt über ein vielschichtiges System von die über spezielle Zellen und Faktoren gesteuert sind, beteiligt.
über die Blut- und Lymphbahnen bewegten Zellen des Immun- Im gesunden Organismus sind diese Prozesse aufeinander abge-
systems (Lymphocyten, Makrophagen u. a.) und eine große Zahl stimmt und ausbalanciert. Störungen dieser Balance führen zu
humoraler, z. B. im Blut, Lymphe und Liquor vorkommender, pathogenen Zuständen, wie einer überschießenden Immun-

P. C. HeinricheUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_70, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
894 Kapitel 70 · Immunologie

lation, die Schwellung und Temperaturerhöhung. Später


wird die spezifische Immunantwort mit T- und B-Zellen so-
wie Antikörpern integriert, wobei natürlicherweise jede Ent-
zündung ihr spezifisches zelluläres und molekulares Muster
aufweist. Oft sind es die immunologischen Abwehrvorgänge
selbst, die zur eigentlichen Schädigung und Zerstörung der
Zellen und Organe führen.
Hervorzuhebende entzündliche Erkrankungen sind:
4 Autoimmunerkrankungen wie die Arteriosklerose, Multi-
ple Sklerose, Schuppenflechte und Rheuma
4 Allergien wie Asthma bronchiale und Heuschnupfen
4 Transplantatabstoßungsreaktionen
4 Alzheimer-Erkrankung
4 Morbus Parkinson und
4 Diabetes mellitus

Die Erkenntnis der letzten Jahre, dass vielen Tumorerkran-


kungen chronisch-entzündliche Prozesse an den betroffe-
nen Organen vorausgehen, unterstreicht die Bedeutung der
Entzündungen in der Medizin.
. Abb. 70.1 Ebenen der Immunantwort. Für jede Ebene gibt es aktivie-
rende ( ) und supprimierende (!– ) Mechanismen. T: T-Lymphocyten,
B: B-Lymphocyten, PC: Plasmazellen. (Einzelheiten s. Text)

70.2 Unspezifische, angeborene Immunantwort


antwort bei Autoimmunerkrankungen (z. B. Multiple Sklerose)
und Allergien (z. B. Asthma bronchiale) oder einer Unterfunk- Die unspezifische Immunantwort, die unmittelbar oder wenige
tion wie bei AIDS, aber auch z. T. bei Tumorerkrankungen. Stunden nach Schädigung oder Fremdkontakt erfolgt, bezeich-
net man als angeborene oder natürliche Immunantwort (. Abb.
70.2). Zu ihr gehören physikalische Barrieren, wie das Epithel der
Übrigens Haut und Schleimhaut, Fettsubstanzen, Schleim und Zilien so-
Entzündung – Inflammation wie unterschiedliche Zellen und Faktoren, deren Wirkung und
Viele Funktionen des Immunsystems spiegeln die Vorgänge Konzentration aktivierungsabhängig erhöht oder erniedrigt wer-
der Entzündung wider. Entzündungen können ausgelöst den. Diese Vorgänge sind unspezifisch und haben nichts mit der
werden durch: spezifischen Diskriminierung des Immunsystems zwischen
4 physikalische Einflüsse wie ultraviolette oder ionisie- Selbst und Fremd zu tun. Die wesentlichen Charakteristika der
rende Strahlung, Hitze oder Kälte, angeborenen Immunantwort sind die schnelle Erkennung einer
4 mechanische Einflüsse wie Schnitt- und Schürfver- Schädigung oder eines Fremdkontaktes, die Versorgung des
letzungen, Ortes des Geschehens mit Zellen der primären, unspezifischen
4 Chemikalien und Immunantwort und die Vorbereitung einer spezifischen Immun-
4 Infektionen mit Viren, Bakterien und Parasiten. antwort.

Das makroskopische Erscheinungsbild aller Entzündungen


ist schon vor 2000 Jahren sehr treffend durch Celsus be- 70.2.1 Zelluläre Komponenten der angeborenen
schrieben worden. Dazu gehören die Rötung, die Schwel- Immunantwort
lung, die Temperaturerhöhung und der Schmerz (ruber et
tumor cum calore et dolore). 200 Jahre später ist durch den Zu den zellulären Komponenten der unspezifischen Immunant-
Mediziner Galen ein fünftes Charakteristikum hinzugefügt wort zählen Epithelzellen, Monocyten, Makrophagen, dendriti-
worden, der Funktionsverlust des betroffenen Gewebes sche Zellen, neutrophile Granulocyten und NK-Zellen sowie
(functio laesa). In der modernen Medizin wird der Begriff andere in (. Tab. 70.1) aufgeführte Zellen mit selektiver Wirkung.
Sie können auch an der Überleitung der unspezifischen in die
70 Entzündung sehr weit gefasst und spielt streng genommen
bei allen krankhaften Veränderungen eine zentrale Rolle. Bei spezifische oder adaptive Immunantwort direkt oder indirekt
allen Entzündungen ist zunächst die unspezifische, angebo- beteiligt sein.
rene Immunantwort mit all ihren Zellen und Faktoren betei-
ligt. Sie bewirken auch die Veränderungen in der Mikrozirku-
6

Immunantwort primäre adaptive


70.2 · Unspezifische, angeborene Immunantwort
895 70

. Abb. 70.2 Synopsis der primären, unspezifischen Immunantwort auf Mikroorganismen. C3a/b: Komplementfaktor C3a/b; IFN-γ: Interferon-γ; IL: Inter-
leukin; NK-Zellen: Natürliche Killerzellen; PGE2: Prostaglandin E2; TLR: Toll-like Rezeptoren; TNF-α: Tumornekrosefaktor-α. (Einzelheiten s. Text)

Protein, das heute in der Diagnostik von Entzündungen einen


Übrigens festen Platz hat. CRP wurde ursprünglich als ein Protein identi-
Erste Hinweise auf Zellen in der immunologischen fiziert, welches mit dem C-Polysaccharid aus der Zellwand von
Abwehr Pneumokokken reagiert. CRP bindet an Phosphatidylcholinreste
Der russische Zoologe Elie Metschnikoff hat dazu schon auf Bakterienoberflächen. Es ermöglicht dabei als Opsonin die
1883 einen berühmt gewordenen experimentellen Beleg für die Bakterienabwehr wichtige Komplementaktivierung über
erbracht. Er applizierte Seesternlarven einen Rosendorn
unter die Haut und fand am nächsten Tag um diesen Dorn
herum eine starke Ansammlung von Makrophagen. Damit . Tab. 70.1 Zellen der unspezifischen Immunantwort und ihre
konnte erstmalig gezeigt werden, dass neben löslichen Lokalisation
Molekülen, also humoralen Faktoren, auch Zellen eine
wichtige Rolle bei der Abwehr spielen. Zellen Lokalisation

Epithelzellen Haut, Schleimhaut, Gefäße

Monocyten Blut, Gewebe

70.2.2 Humorale Faktoren Makrophagen Gewebe

Neutrophile Granulocyten Blut, Gewebe


Neben den Zellen gibt es eine wachsende Zahl löslicher Faktoren
Natürliche Killerzellen (NK) Blut , Lymphknoten, Milz, Peritoneum
wie Cytokine, Chemokine und Hormone (7 Kap. 34), die direkt
oder regulierend in die primäre Immunantwort eingreifen Dendritische Zellen (DC) Blut, Lymphknoten, Milz
(. Tab. 70.2). Früh wirksame Faktoren sind das in Sekreten vor- Langerhans-Zellen Haut
kommende Lysozym, Komplementfaktoren sowie die Cytokine,
Mastzellen Haut, Schleimhaut, Lymphknoten, Milz
z. B. Tumornekrosefaktor-α (TNF-α), bzw. Interleukine (IL):
IL-1β, IL-6, IL-12, IL-18 und Chemokine, die die Heranführung Mikroglia CNS
von Immunzellen an den Ort der Entzündung fördern. IL-6 z. B. Basophile Granulocyten Blut, Gewebe, Haut
aus Makrophagen induziert in den Hepatocyten der Leber die
Eosinophile Granulocyten Blut, Gewebe, Bronchialschleimhaut
Freisetzung von C-reaktivem Protein (CRP), einem Akutphase-

Immunantwort angeborene Chemokine Granulocyten NK-Zellen Makrophagen TNF-α IL-1α IL-12


TLR IFN-γ IL-6 C3b PGE2 C3a
896 Kapitel 70 · Immunologie

PGH2, PGI2). Darüber hinaus sind die Komplementfaktoren


. Tab. 70.2 Humorale Faktoren der angeborenen Immunantwort C3a, C3b und C5a beteiligt, die neben der Förderung der Entzün-
dung eine Opsonierung (bessere Verdaubarkeit), d.h. eine Mar-
Faktoren Beispiele
kierung der Mikroorganismen für phagocytierende Zellen er-
Proinflammatorische IL-1α, TNF-α, IL-6, IL-12, IL-18, IFN-γ möglichen. Für unterschiedliche Zellen sind teilweise verschie-
Cytokine dene Faktoren verantwortlich, was seine Erklärung in der selek-
Chemokine IL-8 (CXCL8), SDF-1 (CXCL12), tiven Ausstattung der Zellen mit entsprechenden Rezeptoren für
diese Faktoren hat. An der Frühphase der Immunantwort gegen
Akutphase-Proteine CRP, Alpha-1-Antitrypsin
Viren sind besonders natürliche Killerzellen (NK-Zellen, natu-
Toll-like-Rezeptoren TLR2, TLR 4 ral killer cells) beteiligt. NK-Zellen sind größere Granula-enthal-
Eicosanoide Prostaglandine, Prostacycline, tende Lymphocyten, die sich von T- oder B-Lymphocyten un-
Leukotriene terscheiden. Sie werden durch Interferone, IL-1, IL-12 und IL-18
Defensine hBD1, hBD2 aktiviert und sind an der Zerstörung von virusinfizierten Zellen
oder Tumorzellen beteiligt. Defensine sind kationische Peptide
Sauerstoffspezies H2O2, Hypochloritanionen, Super-
oxidanionen (29–35 Aminosäuren) Lysosomen-ähnlicher Granula von
Makrophagen, Granulocyten und Epithelzellen der Darm-
Stickstoffmonoxid NO
schleimhaut mit direkter mikrobizider Wirkung. Von den mehr
Komplementfaktoren C3a, C3b als 20 verschiedenen Defensinen spielen einige eine wichtige
Proteasen Granulocytenelastase, Proteinase 3 Rolle in der Kontrolle und Abwehr von Darmbakterien in der
Darmschleimhaut.
Myeloperoxidase MPO

hBD1/2: human-beta-defensin-1/2; SDF-1: stromal-derived-factor-1.

70.2.3 Das Komplementsystem

Das Komplementsystem besteht aus mehr als 25 verschiedenen


die Bindung an den Komplementfaktor C1q. Opsonine werden Proteinen, die frei im Blut zirkulieren oder teilweise als Mem-
Stoffe genannt, die die Aufnahme und Verdauung von Mikro- branstrukturen auf Zellen lokalisiert sind. Ein Teil dieser Pro-
organismen durch Makrophagen erleichtern. teine sind Serinproteasen. Das Komplementsystem dient vor
Proinflammatorische Cytokine wie IL-6, TNF-α und IL-1 allem der Abwehr von Mikroorganismen. Es besitzt für sich
(7 Kap. 34.2) haben neben ihrer aktivierenden Wirkung auf Im- nicht die Fähigkeit der spezifischen Abwehr und wird von daher
munzellen und Endothelzellen auch eine pyrogene, d. h. fieber- der unspezifischen, angeborenen Immunantwort zugerechnet.
induzierende Wirkung im Hypothalamus. Zu den Instrumenten Unter Einbeziehung von spezifischen Antikörpern wird es
der frühen Abwehr aus Makrophagen und Granulocyten gegen allerdings zu einem Instrument der spezifischen, adaptiven
Viren, Bakterien und Parasiten zählen Toll-like Rezeptoren, Immunantwort und ordnet sich damit zwischen den beiden
Stickstoffmonoxid (NO), reaktive Sauerstoffmetabolite sowie Ebenen der Immunantwort ein.
proteolytische Enzyme (z. B. Proteinase 3, Granulocyten-Elasta- Das Komplementsystem kann auf drei Wegen aktiviert wer-
se, Cathepsine). Die Phagocytose von Mikroorganismen wird den (. Abb. 70.3). Der limitierende Schritt ist immer die Um-
von Mannose- und scavenger-Rezeptoren unterstützt, während wandlung von C3 in C3b und C3a, die sog. C3-Konvertierung.
die Freisetzung von proinflammatorischen Cytokinen haupt- Bei der klassischen Komplementaktivierung leiten spezifi-
sächlich auf der Aktivierung von Toll-like-Rezeptoren (TLR, sche Antikörper, die an die Oberfläche von Mikroorganismen
benannt nach dem Drosophila-Protein Toll) beruht. Beim Men- gebunden sind, durch Aktivierung von C1 die Bildung der
schen kennt man 10 verschiedene TLR, die unterschiedliche C3-Konvertase ein.
Mikroorganismenstrukturen erkennen. Dazu gehören Lipopoly- Beim Lektinweg bindet ein mannosebindendes Protein des
saccharid von Gram-negativen oder Lipoteichonsäure von Gram- Blutes an terminale Mannosereste von Glykoproteinen an der
positiven Bakterien, bakterielles Flagellin, nicht-methylierte Oberfläche von Bakterien und übernimmt die C3-Konvertase-
CpG-Motive bakterieller DNA oder virale doppelsträngige RNA. funktion.
Darüber hinaus vermitteln TLR die Signaltransduktion in die Bei der alternativen Komplementaktivierung wird dieser
Zelle. Lipopolysaccharid (LPS oder Endotoxin) wird von dem Vorgang spontan durch Mikroorganismen ausgelöst und durch
Oberflächenmolekül CD14 gebunden (7 Kap. 35.5.4), das zu- Bindung von C3b an deren Oberfläche weitergeführt.
sammen mit TLR-4 ein Signal zur Produktion proinflammatori- C3b initiiert alle weiteren Schritte der Komplementaktivie-
scher Cytokine und reaktiver Sauerstoffmetabolite vermittelt. rung, die final in der Bildung eines Multiproteinkomplexes
70 Ein limitierender Schritt der Abwehr ist die schnelle Heranfüh- (cytolytischer Komplex), der eine Porenbildung in der Membran
rung von Zellen der unspezifischen Immunantwort an den Ort der Mikroorganismen ermöglicht, mündet.
der Entzündung. Dies erfolgt unter der Mithilfe von Chemo- Die Bildung des cytolytischen Komplexes (C5b678(9)n), auch
kinen (7 Kap. 34.2.4) und den unter dem Begriff Eicosanoide als MAC (membrane attack complex) bezeichnet, auf der Ober-
(7 Kap. 22.3.2) zusammengefassten Prostaglandinen, Prosta- fläche führt zur Abtötung von Mikroorganismen und allogenen
cyclinen, Leukotrienen und Thromboxanen (z. B. PGE2 und Zellen (genetisch differenten Zellen einer Spezies).
70.2 · Unspezifische, angeborene Immunantwort
897 70

. Abb. 70.3 Wege und Mechanismen der Aktivierung des Komplementsystems. (Einzelheiten s. Text)

Wichtigste Funktionen des Komplementsystems: falls eine Protease und wird als C3-Konvertase bezeichnet. Sie
4 Markierung (Opsonierung) von Mikroorganismen katalysiert die Schlüsselreaktion der Komplementaktivierung,
zur Aufnahme und Abtötung in phagocytierenden Zellen die Konversion von C3 in C3a, das eine lokale Entzündungsre-
(C3b). aktion auslöst, und C3b, das an die Bakterienoberfläche bindet.
4 Aktivierung und Beeinflussung der Leukotaxis (zielgerich- C3b aber auch C4b werden kovalent über Thioesterbindungen
tete Bewegung) von Leukocyten (C5a, Ba). an die Oberflächenproteine der Mikroorganismen fixiert, was
4 Aktivierung von Mastzellen und Granulocyten zur Freiset- die Komplementreaktionen lokal eingrenzt.
zung von Mediatoren, die auf die Blutgefäße wirken (Ana- C3b kann in großer Menge an Bakterien binden und wird in
phylatoxine, C3a, C4a, C5a). dieser Form über den C3b-Rezeptor (CR1, CD35) von phagocy-
4 Mitwirkung bei der Entsorgung von Antigen-Antikörper- tierenden Zellen wie Granulocyten, Makrophagen, B-Zellen,
Immunkomplexen. aber auch T-Zellen erkannt. Damit wird die Aufnahme so mar-
kierter Mikroorganismen und deren Verdauung (Opsonierung)
Klassische Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 oben) Spezifi- durch Phagocyten erleichtert.
sche Antikörper gegen Mikroorganismen (IgG, IgM) binden an Nach Anlagerung eines C3b-Moleküls an den C4b2a-Kom-
deren Oberfläche und werden über den Fc-Teil für die Wechsel- plex (C3-Konvertase) entsteht der C4b2a3b-Komplex, der als
wirkung mit C1-Komponenten (ein Molekül C1q, zwei Molekü- C5-Konvertase die Umwandlung von C5 in C5a und C5b kata-
le C1r und C1s) zugänglich. Für die weitere Komplementaktivie- lysiert. Damit wird die Voraussetzung für die Ausbildung des
rung sind 2 Moleküle IgG oder 1 Molekül IgM notwendig; IgA-, cytolytischen Komplexes MAC geschaffen. Das durch die C5-
IgE- oder IgD-Antikörper bewirken keine Aktivierung (7 Kap. Konvertase gebildete C5b wird konsekutiv mit C6, C7 und C8
70.9.3). C1q besteht aus drei Polypeptidketten, die über die Bin- sowie mehreren (bis zu 18) C9-Molekülen in einen MAC (mem-
dung an ein IgM-Molekül bzw. zwei oder mehr IgG-Moleküle so brane attack complex) (C5b678(9)n) umgewandelt. Er ermöglicht
verändert werden, dass C1r aktiviert und autoproteolytisch in die durch die Wechselwirkung des hydrophoben Teils von C9 mit
aktivierte Serinprotease C1r umgewandelt wird (proteolytisch der Zellmembran die Bildung einer Pore, durch die Ionen und
aktive Faktoren werden durch einen horizontalen Balken mar- Wasser in die Zelle eindringen und eine Zerstörung des Bakteri-
kiert . Abb. 70.3). Durch sie wird die Serinprotease C1s im ums bewirkt wird.
C1-Komplex aktiviert.
Die aktive C1s-Serinprotease katalysiert die Spaltung des Lektinabhängige Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 Mitte)
Plasmaproteins C4 in C4a und C4b sowie von C2 in C2a und Mikroorganismen können in Abwesenheit von Antikörpern
C2b, nach Bindung von C2 an das, an die Bakterienmembran auch über das mannosebindende Lektin (MBL) eine Komple-
fixierte, C4b. Der gebildete Komplex aus C4b und C2a ist eben- mentaktivierung auslösen. MBL ähnelt in seiner Struktur C1
898 Kapitel 70 · Immunologie

und bewirkt, zusammen mit der MBL-assoziierten Serinprote- Nach Assoziation von aktivierten C3b- und C4b-Molekülen
ase (MASP-2) eine C4/C2-Aktivierung und über die C3-Kon- an diese Immunkomplexe erfolgt über CR1 die Bindung an die
vertase die Bildung der C5-Konvertase (in . Abb. 70.3 nicht Erythrocytenoberfläche. Über den Blutkreislauf gelangen diese
dargestellt). in Leber und Milz, wo die Immunkomplexe durch Makrophagen
von der Oberfläche eliminiert werden. Werden Immunkomplexe
Alternative Komplementaktivierung (. Abb. 70.3 unten) Die hier nicht vollständig entfernt, kann durch Anlagerung an kapil-
alternative Komplementaktivierung ist, im Gegensatz zur klassi- läre Basalmembranen z. B. im Nieren-Glomerulum eine Funk-
schen Komplementaktivierung, nicht antigenspezifisch. Sie kann tionsbeeinträchtigung der Nieren (Immunkomplex-Glomerulo-
auf der Oberfläche von fremden Mikroorganismen, nicht aber nephritis) resultieren.
autogenen Zellen oder in Lösung durch spontan oder über den Die Komplementfragmente C3a, C4a und C5a verursachen
klassischen Weg gebildetes C3b ausgelöst werden. Bei der alter- durch Kontraktionen der glatten Muskulatur sowie Erhöhung
nativen Komplementaktivierung wird der Faktor B durch C3b der Gefäßpermeabilität eine lokale inflammatorische Reaktion.
an die Oberfläche des Bakteriums gebunden. Der Faktor B ent- C5a lockt polymorphkernige Granulocyten und Monocyten che-
spricht strukturell C2. Nach Bindung an C3b wird Faktor B motaktisch an Gefäßwände. Dies ist die Voraussetzung für die
durch die Plasmaprotease Faktor D in Bb und Ba überführt. Da- Migration in das Entzündungsgebiet. C3a, C4a und C5a wirken
bei entsteht der Komplex C3bBb, der der C3-Konvertase des darüber hinaus als Auslöser einer anaphylaktischen Reaktion
klassischen Wegs entspricht. Durch weitere Anlagerung von C3b (Anaphylatoxine).
entsteht, wie beim klassischen Weg, die alternative C5-Konver-
tase, die durch Properdin, ein 220 kDa Protein, stabilisiert wird. Regulation der Komplementaktivierung Säugerzellen exprimie-
Die weiteren Reaktionen entsprechen denen der terminalen ren auch Proteine, die die Komplementaktivierung kontrollieren.
Schritte der klassischen Komplementaktivierung. Der C1-Inhibitor stoppt die Komplementaktivierung auf einer
frühen Stufe der C1-Aktivierung, indem er C1r/C1s selektiv bin-
det und somit die weitere Aktivierung der Komplementkaskade
Übrigens hemmt. Sein Fehlen bewirkt eine Erkrankung, die als hereditä-
Der Cobra-Giftfaktor C3 ähnelt C3b res angioneurotisches Ödem bezeichnet wird. CD59, ein Mem-
Eine der alternativen Komplementaktivierung ähnliche branprotein, unterbindet die Bildung von MAC (membrane
Wirkung kann mit dem Gift der Cobraschlange erreicht attack complex) durch Hemmung der Bindung von C9 an den
werden. Der Cobra-Giftfaktor C3 ähnelt C3b und induziert C5b678-Komplex. Das Fehlen von CD59 führt zur paroxysma-
in vitro im Plasma eine starke Komplementaktivierung. len nächtlichen Hämoglobinurie, einer Komplement-mediier-
Wie später beschrieben wird, ist die endogene Komplement- ten Lyse von Erythrocyten.
aktivierung unter der Kontrolle von speziellen Plasma-
proteinen, die aber keine Wirkung auf den Cobra-Giftfaktor
haben. Zusammenfassung
Die natürliche, angeborene Immunantwort ist nicht sub-
stanzspezifisch.
Interessanterweise sind nicht nur Antikörper die Auslöser der Die wichtigsten Zellen der natürlichen Immunantwort
klassischen Komplementaktivierung. Auch andere Strukturen sind neutrophile Granulocyten, Makrophagen und
wie denaturierte DNA, Heparin, bakterielle Endotoxine und NK-Zellen.
Harnsäurekristalle sind dazu in der Lage. Vielleicht erklärt letz- Die daran beteiligten Faktoren sind u. a.:
teres die Entzündung und Schmerzinduktion bei Gicht, die 4 Toll-like Rezeptoren
durch vermehrte Harnsäureablagerung charakterisiert ist. 4 proinflammatorische Cytokine wie IL-1, IL-6, TNF-α, IL-12
und IL-18
Komplementrezeptoren An der Oberfläche verschiedener Im- 4 Chemokine wie IL-8
munzellpopulationen (Monocyten, Makrophagen, B-Lympho- 4 Eicosanoide wie Prostaglandine, Prostacycline,
cyten, polymorphkernige Granulocyten) aber auch auf Erythro- Thromboxane und Leukotriene
cyten werden Komplementrezeptoren exprimiert. Die Komple-
mentrezeptoren CR1 (CD35) und CR3 (CD11b/CD18) sind Direkt in die Abwehr eingebundene Faktoren der ange-
insbesondere für die Initiierung der Phagocytose von Bakterien borenen Immunität sind:
bedeutend. Der Komplementrezeptor CR2 (CD21) ist haupt- 4 Sauerstoffmetabolite, z. B. Wasserstoffsuperoxid
sächlich auf B-Lymphocyten lokalisiert. Als Bestandteil des 4 Akutphase-Proteine, z. B. CRP
B-Zell-Rezeptor-Komplexes ist er in die B-Zell-Aktivierung
70 durch Antigene eingebunden (7 Kap. 70.8.2). Er fungiert darüber
4 Komplementfaktoren
4 Myeloperoxidase
hinaus als Rezeptormolekül für das Epstein-Barr-Virus. Lösliche 4 Defensine
Antigen-Antikörper-Komplexe werden durch Komplement- 4 proteolytische Enzyme wie Granulocytenelastase
rezeptoren auf Erythrocyten aus dem Blutkreislauf eliminiert. 4 toxische Granulabestandteile
Diverse lösliche Antigene bilden Antigen-Antikörper-Immun- 6
komplexe, durch die Komplement direkt aktiviert werden kann.
70.3 · Das spezifische, adaptive Immunsystem
899 70
4 Bildung von memory-(Gedächtnis-)Zellen und
Komplementsystem: 4 Terminierung der Immunantwort.
4 Das Komplementsystem umfasst Plasmaproteine, die
mittels einer proteolytischen Kaskade in spezielle Kom- Die Kapazität der spezifischen Immunantwort, zwischen diffe-
ponenten umgewandelt werden. Diese sind an der renten Antigenen zu unterscheiden, wird für T-Zellen auf 1015
Opsonierung von Mikroorganismen, osmotischen Lyse und für B-Zellen auf 1011 unterschiedliche Antigene geschätzt.
von Zellen, Chemokinese von Phagocyten und als Diese fast unbegrenzte Fähigkeit zur Erkennung und Unterschei-
Anaphylatoxine an der Freisetzung von Mediatoren aus dung von unterschiedlichen Strukturen ist in der genomischen
Mastzellen und Granulocyten beteiligt. Organisation der Immunzellen begründet. Spezielle Genumlage-
4 Komplement kann durch den klassischen Weg über Anti- rungen (gene rearrangements) und im Fall der Antikörper auch
körper (IgG, IgM), den alternativen Weg (Bakterien-ge- somatische Mutationen sind die zugrunde liegenden Mechanis-
bundenes C3b), oder den Lektinweg aktiviert werden. men (7 Kap. 70.9.4). Eine weitere Besonderheit der spezifischen
4 Wichtige Reaktionen sind die proteolytische Umwand- Immunantwort ist neben der Spezifität die Fähigkeit zur Unter-
lung von C3 in C3a und C3b sowie C5 in C5a und C5b scheidung zwischen körpereigen (Selbst) und körperfremd
und die Bildung des cytolytischen Komplexes MAC. (Nicht-Selbst). Diese Fähigkeiten werden während der Entwick-
4 C3a, C4a und C5a wirken als Anaphylatoxine, C5a wirkt lung im Kindesalter in den ersten Auseinandersetzungen mit den
darüber hinaus aktivierend und chemotaktisch auf neu- unterschiedlichen Antigenen erworben und als immunologi-
trophile Granulocyten; C3b und C5b sind Opsonine. sches Gedächtnis gespeichert, um bei späteren Kontakten mit
4 Die Zell-Lyse erfolgt durch den Poren-bildenden cytoly- den gleichen Antigenen, z. B. eines Erregers, noch effizienter zu
tischen Komplex, MAC, C5b678(9)n. reagieren.
4 Die Komplementrezeptoren CR1 (CD35) und CR3
(CD11b/CD18) koppeln C3b an Phagocyten.
4 Überschießende Komplementaktivierungen werden 70.3.3 Immunologische Toleranz
durch Antagonisten wie den C1-Inhibitor kontrolliert.
Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Selbst und
Nicht-Selbst ist eine fehlende Immunantwort, eine Immuntole-
ranz gegenüber körpereigenen Substanzen. Sie wird während
70.3 Das spezifische, adaptive Immunsystem der Entwicklung post partal erworben. Ein Verlust dieser Tole-
ranz ist die Grundlage der sog. Autoimmunerkrankungen
70.3.1 Was erkennt das Immunsystem? (7  Kap. 70.13.3) wie Schuppenflechte, rheumatoide Arthritis
oder Schilddrüsenerkrankungen. Die Fähigkeit zur Differenzie-
Die vom Immunsystem spezifisch erkannten körpereigenen rung zwischen körpereigenen und fremden Strukturen ist im
und fremden Stoffe werden Antigene genannt. Dies können MHC (major histocompatibility complex)- bzw. HLA (Humanes
lösliche aber auch auf Zellen und Mikroorganismen vorkom- Leukocytenantigen)-System und dessen Expression auf antigen-
mende Strukturen sein. Die stärksten Antigene sind Proteine. präsentierenden Zellen begründet. T-Zellen erfahren ihre Prä-
Niedermolekulare Stoffe wie Medikamente (z. B. Penicillin), gung während der Passage durch die Thymusdrüse. Auch die
Ionen (z. B. Zn2+) oder Haushaltschemikalien können für sich Eigenschaft der Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-
nicht als Antigene wirken. Sie erhalten erst nach Bindung an Selbst wird in der Thymusdrüse »erlernt«. Diese dort erworbene
ein körpereigenes Protein eine Antigenfunktion und werden Eigenschaft wird als zentrale Toleranz bezeichnet. Neben der
Haptene genannt. Eine Immunantwort richtet sich gegen spe- HLA-vermittelten (zentralen) Toleranz spielen regulatorische
zielle Bereiche eines Proteins, die Determinanten oder Epitope T-Zellen (früher Suppressorzellen genannt) als Instrumente der
genannt werden. Man unterscheidet Sequenz- und Konforma- Toleranz eine wichtige Rolle. Diese Form der Toleranz wird als
tionsdeterminanten. T-Lymphocyten erkennen Antigene bzw. periphere Toleranz bezeichnet. Bei vielen immunologisch be-
Antigendeterminanten nur im Kontext mit Zelloberflächen- dingten, chronischen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankun-
strukturen, B-Lymphocyten und Antikörper erkennen Antigene gen und Allergien ist diese Form der Toleranz gestört oder ver-
direkt ohne zelluläre Hilfe. loren gegangen.

70.3.2 Schritte der spezifischen Immunantwort Zusammenfassung


Strukturen, die Lymphocyten spezifisch zu aktivieren vermö-
Die spezifische, erworbene Immunantwort baut auf der angebo- gen, werden Antigene genannt:
renen Immunantwort auf und erfolgt in mehreren Schritten. 4 Nur Vollantigene oder Immunogene können allein
Nach der Erkennung des Antigens durch spezifische T- und eine Immunantwort auslösen. Haptene benötigen
B-Lymphocyten, schließen sich folgende Vorgänge an: zusätzliche Protein-Carrier, welche mit T-Helferzellen
4 Aktivierung dieser Lymphocyten (Bildung von Effektor- interagieren.
zellen), 6
4 Eliminierung der Antigene,
900 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.4 Organisation des HLA-Systems auf Chromosom 6. (Einzelheiten s. Text)

der unterschiedlichen Species haben gesonderte Namen. Das


4 Epitope oder antigene Determinanten bezeichnen MHC-System des Menschen wurde erstmals auf Leukocyten
molekulare Regionen der Antigene, an denen die spezi- charakterisiert und als Humanes Leukocyten-Antigen-System
fische Wechselwirkung mit Antikörpern, T- und B-Zell- (HLA) definiert. Das MHC-System der Maus wird z. B. als H-2
Rezeptoren stattfindet. (histocompatibility-2), das des Schweines als SLA (swine leuko-
4 Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Selbst cyte antigen) bezeichnet. Leukocyten exprimieren MHC-Protei-
und Nicht-Selbst, d. h. zwischen körpereigenen und kör- ne besonders stark. MHC-Strukturen übernehmen die nach Pro-
perfremden Strukturen ist eine fehlende Immunantwort, zessierung von Antigenen im Zellinneren entstehenden Peptide
somit die Toleranz des Immunsystems in Bezug auf und präsentieren diese in nicht-kovalent gebundener Form den
körpereigene Strukturen. Sie wird nach der Geburt er- T-Lymphocyten. T-Lymphocyten sind nur auf diesem Wege in
worben und impliziert, dass körpereigene Lymphocyten der Lage, Antigenepitope zu erkennen. Dabei können von einem
durch eigene Strukturen nicht aktiviert werden. Proteinantigen unterschiedliche Epitope präsentiert werden, was
die Entstehung von unterschiedlichen Lymphocytenklonen nach
Immunisierung mit einem Protein erklärt.

70.4 Instrumente und Mechanismen Nicht-MHC-Präsentation Im Unterschied zur klassischen Anti-


der Antigenerkennung generkennung von Eiweißen oder Peptiden über MHC-/HLA-
Strukturen erfolgt die Präsentation von Kohlenhydrat- und
70.4.1 Antigenerkennung durch Lipidantigenen nicht über MHC-Moleküle. Bei der Blutgrup-
B- und T-Lymphocyten penerkennung AB0 erfolgt die Antigenpräsentation über das
dem MHC-I-ähnliche Membranmolekül CD1.
Antikörper und B-Lymphocyten erkennen Antigene in ihrer ur-
sprünglichen, nativen Form direkt über spezifische Rezeptoren
auf ihren Oberflächen. Im Gegensatz dazu sind T-Zellen nicht in 70.4.3 Genomische Organisation des HLA-Systems
der Lage, die komplexe, native Struktur eines Proteins zu identi-
fizieren. Für die Erkennung von Antigenen durch T-Zellen be- Peptidrezeptoren des HLA-Komplexes umfassen
darf es immer einer proteolytischen Prozessierung des Proteins zwei Klassen
zu Oligopeptiden. Diese werden dem antigenspezifischen Die Gene des HLA-Komplexes Das HLA-System als für den
T-Zell-Rezeptor auf membrangebundenen MHC/HLA-Molekü- Menschen spezifisches MHC-System repräsentiert einen poly-
len an der Oberfläche von antigenpräsentierenden Zellen morphen Genkomplex, eine Vielzahl von Genen, die bei Einzel-
(APC) dargeboten. Zu den antigenpräsentierenden Zellen gehö- individuen unterschiedlich exprimiert werden. Dieser codiert
ren dendritische Zellen, B-Lymphocyten und Makrophagen. Die für Membranproteine, die die Grundlage der Unterscheidung
Behandlung intrazellulär lokalisierter Antigene, wie auch solche von Selbst und Fremd durch T-Lymphocyten bilden. Entspre-
von Tumoren, Viren und sich intrazellulär vermehrenden Bakte- chend der MHC-Klassifikation gibt es auch beim HLA-System
rien (Listerien), unterscheidet sich von der extrazellulärer Anti- zwei HLA-Klassen, HLA-I und HLA-II. Die polymorphen Gene
gene, erfolgt aber auch über eine Prozessierung und eine Präsen- beider HLA-Klassen liegen, zusammen mit den Genen für die
tation durch das MHC-System der betroffenen Zellen. Komplementfaktoren C2 und C4 sowie TNF-α (HLA-III), auf
dem kurzen Arm von Chromosom 6 (. Abb. 70.4). Das Gen des
β2-Mikroglobulins, das immer im HLA-I-Komplex exprimiert
70.4.2 Das MHC-/HLA-System als Instrument wird, liegt auf Chromosom 15.
der Antigenpräsentation Es gibt 3 Hauptgene der Klasse I, die als HLA-B, HLA-C und
70 HLA-A bezeichnet werden. Für die Klasse-II-Moleküle gibt es
MHC-Präsentation Der Haupthistokompatibilitätskomplex 6 Paare von unterschiedlichen α- und β-Ketten-Genen (1-
(MHC, major histocompatibility complex) ist eine Gruppe ver- mal HLA-DP, 1-mal HLA-DM, 2-mal HLA-DQ und 2-mal HLA-
bundener Gene, die für Proteine codieren, welche eine selektive DR). Jeder HLA-Locus codiert eine unterschiedliche Anzahl an
Erkennung von Antigenen ermöglichen (. Abb. 70.4). Der Be- Allelen. Für HLA-A wurden beispielsweise mehr als 50 Allele
griff MHC wird speziesunabhängig genutzt. Die MHC-Systeme und für HLA-B mehr als 75 Allele identifiziert.
70.5 · Prozessierung und Präsentation von Protein-Antigenen
901 70

Das HLA-System umfasst 2 Hauptklassen:


4 Der HLA-Klasse-I-Komplex wird aus den Hauptgenen
HLA-B, HLA-C und HLA-A gebildet. Ein heterozygotes In-
dividuum besitzt davon jeweils 6 Allele. HLA-Klasse-I
wird gemeinsam mit β2-Mikroglobulin in der Plasma-
membran aller kernhaltigen Zellen exprimiert.
4 Der HLA-Klasse-II-Komplex wird aus den Hauptgenen
HLA-DP, HLA-DM, HLA-DQ und HLA-DR gebildet. Ein he-
terozygotes Individuum besitzt jeweils 12 Allele. HLA-
Klasse-II kommt hauptsächlich auf antigenpräsentieren-
. Abb. 70.5 MHC-I- und MHC-II-Expression. β2m: β2-Mikroglobulin.
den Zellen wie dendritischen Zellen, Makrophagen und
(Einzelheiten s. Text)
B-Zellen sowie auf aktivierten T-Zellen vor. HLA-Klasse-II-
Gene codieren jeweils für eine α- und eine β-Kette.
Insgesamt sind unter Berücksichtigung des mütterlichen und
väterlichen Chromosoms bei einem Menschen 6 HLA-Klasse-I-
Allele (2 HLA-A, 2 HLA-B, 2 HLA-C,) und 12 HLA-Klasse-II-
Allele (2 HLA-DP, 2 HLA-DM, 4 HLA-DQ, 4 HLA-DR) expri- 70.5 Prozessierung und Präsentation
miert. Mit Ausnahme von HLA-DRα und HLA-DPα sind die von Protein-Antigenen
Gene polymorph. In den verschiedenen ethnischen Gruppen oder
Rassen ist die Zahl der differenten HLA-Allele unterschiedlich. Die Assoziation von Antigenpeptiden mit MHC-I- oder MHC-
Die Wahrscheinlichkeit einer völligen Identität der Allele von II-Molekülen erfolgt nach proteolytischer Antigenprozessierung
2 Personen ist, außer bei eineiigen Zwillingen, extrem gering. und hängt von der zellulären Lokalisation des Antigens ab.
Hierdurch erklären sich die Probleme der Auffindung passender
Spender bzw. Empfänger bei Zell- und Organtransplantationen.
70.5.1 Prozessierung und Präsentation frei im
Zelluläre MHC-Expression MHC-I-Moleküle werden auf allen Cytosol vorkommender Proteinantigene
kernhaltigen Zellen exprimiert, d. h. Erythrocyten, die keinen
Zellkern besitzen, exprimieren auch keine MHC-Komplexe. Die in antigenpräsentierenden Zellen intrazellulär synthetisierten,
Tumorzellen können diese Expression verringern und sich auch autogenen oder viralen Proteine, Tumorantigene sowie Antigene
auf diesem Weg der Immunantwort entziehen. MHC-II-Molekü- von sich intrazellulär vermehrenden Bakterien werden im Cytosol
le kommen vor allem auf Immunzellen wie aktivierten T-Lym- durch Immunproteasomen in Oligopeptide gespalten. Der Trans-
phocyten sowie insbesondere auf antigenpräsentierenden Zellen, port dieser Fragmente in das ER, die Bindung an MHC-I und die
den Makrophagen, B-Lymphocyten und dendritischen Zellen weitere Beförderung zur Plasmamembran wird durch TAP1/TAP2
vor. Die Expression kann auf diesen Zellen nach Aktivierung unter Mithilfe von Tapasin, Calreticulin, Erp57 und Calnexin
stark erhöht werden. erleichtert (. Abb. 70.6A). TAP (transporter associated with antigen
MHC-I und MHC-II unterscheiden sich in ihrer Protein- processing)-Transporter sind in der ER-Membran lokalisiert und
struktur (. Abb. 70.5). MHC-I-Moleküle sind Heterodimere, besitzen eine hydrophobe, in das ER-Lumen ragende Transmem-
bestehend aus einer hoch-polymorphen α-Kette (44 kDa) und brandomäne sowie einen hydrophilen, ins Cytosol reichenden
einem monomorphen β2-Mikroglobulin (12 kDa). MHC-II- ATP-bindenden Teil. TAP1 ist über einen Tapasin-/Calreticulin-
Moleküle sind ebenfalls Heterodimere, bestehend aus einer Komplex an das MHC-Molekül gebunden (in . Abb. 70.6, nicht
α-Kette (34 kDa) und einer β-Kette (29 kDa). Beide MHC-Struk- dargestellt). Diese Wechselwirkung wird nach der Bindung von
turen weisen jeweils am N-Terminus Bindungsstellen auf, an MHC-I an ein Antigenpeptid, das eine Kettenlänge von 9 bis
denen lineare Antigenpeptide dem antigenspezifischen T-Zell- 11 Aminosäuren aufweist, wieder aufgehoben. Der MHC-I-Pep-
Rezeptor präsentiert werden (. Abb. 70.5). Das Antigen wird tidkomplex wird anschließend vesikulär an die Plasmamembran
vom T-Zell-Rezeptor immer im Kontext mit der autogenen transportiert. MHC-Klasse-I-Moleküle werden von jeder Zelle
MHC-Struktur erkannt. Dies ist die Grundlage der Fähigkeit zur exprimiert, auch von den autogenen, körpereigenen Zellen. Sie
Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst. sind mit Oligopeptiden aus eigenen Proteinen beladen und
ermöglichen dadurch die Differenzierung zwischen Selbst und
Nicht-Selbst. Viren benutzen nach Infektion die gleiche
Zusammenfassung Maschinerie der Proteinbiosynthese und der Antigenpräsentation.
Das MHC- bzw. beim Menschen HLA-System repräsentiert Sie können auf diese Weise durch Abgleich mit Selbst als fremd
einen polymorphen Genkomplex auf Chromosom 6, welcher erkannt werden. Ähnliches gilt für Tumorantigene. Antigen-
für Membranproteine codiert, die die Antigenerkennung MHC-I-Komplexe werden von CD8-T-Zellen (7 Kap. 70.6.2) er-
von T-Zellen ermöglichen. kannt. Dabei kommt es zu einer direkten Wechselwirkung von
6 MHC-I und CD8-T-Lymphocyten.
902 Kapitel 70 · Immunologie

A B

. Abb. 70.6 Prozessierung und Präsentation von Protein-Antigenen. (Einzelheiten s. Text)

70.5.2 Prozessierung und Präsentation


extrazellulärer Protein-Antigene nen MHC/HLA-Molekülen an der Oberfläche von antigen-
präsentierenden Zellen (APC) dargeboten.
Extrazellulär auftretende Antigene wie Bakterien- oder Allergie- MHC-Klasse I
auslösende Antigene (Allergene) werden von antigenpräsentie- 4 bindet im ER solche Peptide, die aus intrazellulär gebil-
renden Zellen (z. B. dendritische Zellen, Makrophagen) durch deten Proteinen (körpereigene Proteine, Virus-, Tumor-
Endocytose aufgenommen. Nach Fusion der Endosomen mit Proteine) stammen und durch proteasomale Hydrolyse
Lysosomen spalten Cathepsine (Cathepsin B, D, L) die Protein- generiert worden sind.
antigene in Peptide (. Abb. 70.6B). Die aus dem endoplasmati- 4 MHC-I präsentiert Antigenpeptide (9–11 Aminosäuren),
schen Retikulum stammenden MHC-II-Strukturen sind durch die von T-Zell-Rezeptoren auf CD8-T-Zellen (cytotoxische
trimer auftretende invariante Ketten (Li) abgeschirmt. Durch T-Zellen, CD8) erkannt werden.
eine proteolytische Umwandlung dieser invarianten Ketten zu
CLIP (class II-associated invariant chain peptide) unter Beteili- MHC-Klasse II
gung von Cathepsinen, lysosomalen Cysteinproteinasen, wird 4 MHC-II wird in endolysosomalen Organellen mit solchen
ein Austausch von CLIP gegen Antigenpeptide mit einer Ketten- Oligopeptiden beladen, die von extrazellulär auftreten-
länge von 10 bis 30 Aminosäuren möglich. Die entstandenen den Proteinen stammen und nach Endocytose durch Pro-
MHC-II-Peptidkomplexe werden schließlich an die Zelloberflä- teolyse mit Hilfe von Cathepsinen gebildet worden sind.
che transportiert. Genprodukte des HLA-DM wirken dabei als 4 HLA-DM-Genprodukte helfen beim Austausch der
Helferstrukturen mit. Antigen-MHC-II-Komplexe werden von invarianten Kette gegen Peptide.
CD4-T-Zellen erkannt. Dabei kommt es zu einer direkten Wech- 4 MHC-II präsentiert Antigenpeptide (10–30 Aminosäu-
selwirkung von MHC-II und CD4-T-Lymphocyten. ren), die von T-Zell-Rezeptoren auf CD4-T-Zellen (Helfer-
T-Zellen, CD4) erkannt werden.

Zusammenfassung
B-Lymphocyten und Antikörper erkennen Antigene in ihrer
ursprünglichen, nativen Form direkt. Im Gegensatz dazu Übrigens
sind T-Zellen nicht in der Lage, die komplexe, native Struktur HLA/MHC, Toleranz, Transplantation
70 eines Proteins zu identifizieren. Für die Erkennung von Anti-
genen durch T-Zellen bedarf es immer einer proteolytischen
Die immunologische Beherrschung der Transplantation ist seit
Langem eine medizinische Herausforderung. Ihre praktische
Prozessierung des Proteins zu Oligopeptiden. Diese werden Bedeutung wurde in der Vergangenheit besonders deutlich
dem T-Zell-Rezeptor (7 Kap. 70.7.1) auf membrangebunde- durch die dramatischen Probleme und Misserfolge bei Haut-
Transplantationen nach Verletzungen und Verbrennungen.
6 6

MHC-I-exprimierende Zellen MHC-II-exprimierende Zellen


70.6 · Zellen der spezifischen Immunantwort
903 70

. Tab. 70.3 Wichtige CD-Antigene von Leukocyten

CD-Antigen Zelltyp

CD3 T-Lymphocyt

CD4 T-Helferzelle (TH)

CD4/CD25 (hochexprimierend) Regulatorische T-Zelle (Treg)

CD8 Cytotoxische T-Zelle (Tc)

CD19, CD20 B-Lymphocyt

CD56 NK-Zelle

CD14 Monocyt

CD15 Granulocyt

CD34 Hämatopoetische Stammzelle

. Abb. 70.7 Klonale Proliferation von Lymphocyten. (Einzelheiten s. Text)

komitee mit einer CD (cluster of differentiation)-Nummer verse-


Bemühungen zum Verständnis der Abstoßungen von Trans- hen. Zurzeit sind etwa 350 CD-Antigene bekannt, die jeweils
plantaten wurden seit den vierziger Jahren des vorigen Jahr- durch monoklonale Antikörper(7 Kap. 70.9.5) mit sehr ähnlicher
hunderts intensiv verfolgt. Meilensteine sind die Entdeckung Spezifität charakterisiert wurden.
der erworbenen Toleranz, für die der brasilianische, in England Zur Identifizierung benutzt man z. B. Fluorophor-markierte
tätige Biologe Sir Peter Brian Medawar und der australische Antikörper und die Verfahren der Fluoreszenzmikroskopie und
Mediziner Frank Mcfarlane Burnet 1960 gemeinsam den Durchflusszytometrie. Einige CD-Antigene der wichtigsten Im-
Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielten. Später konn- munzellen sind in . Tab. 70.3 zusammengestellt. CD-Antigene
te, insbesondere durch den venezolanischen, in den USA erlauben es nicht nur zwischen verschiedenen Phänotypen von
lebenden Mediziner Baruj Benaceraff, den französischen Zellen sondern auch zwischen deren Differenzierungs- und
Mediziner Jean Dausset und den amerikanischen Biologen Aktivierungszuständen zu unterscheiden. CD-Antigene spielen
George Davis Snell, die Natur der Schlüsselmoleküle des MHC/ eine besondere Rolle bei der zellulären Immundiagnostik (AIDS)
HLA-Systems aufgeklärt werden. Dabei kam ihnen entgegen, sowie der Differentialdiagnose von Leukämien und Lympho-
dass auf Leukocyten die gleichen Moleküle vorkommen wie auf men, den Neoplasien des Immunsystems.
anderen Zellen und damit Kompatibilitätsuntersuchungen zur
Verträglichkeit von Zellen und Geweben mit Blutzellen unter-
schiedlicher Individuen möglich sind. Heute steht dafür der 70.6.2 Antigenerkennung durch Lymphocyten
Begriff HLA-Typisierung. Für die Entdeckung der determinieren-
den MHC/HLA-Strukturen auf der Oberfläche von Zellen, die die T- und B-Lymphocyten exprimieren auf ihren Oberflächen
Immunreaktion regulieren, erhielten die drei erwähnten Wissen- Rezeptoren, die Antigene spezifisch erkennen.
schaftler 1980 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
MHC-Restriktion der Antigenerkennung
von T-Zellen
Die wichtigsten Lymphocytenpopulationen mit der Fähigkeit der
70.6 Zellen der spezifischen Immunantwort spezifischen Erkennung von Antigenen sind die T- und B-Lym-
phocyten auch als T- und B-Zellen bezeichnet. Beide Arten von
Die Zellen des Immunsystems werden heute vorzugsweise durch Lymphocyten exprimieren auf ihren Zelloberflächen Rezepto-
zellmembranständige Proteine charakterisiert, die als CD-Anti- ren, die hochspezifisch Antigene oder Teilstrukturen der Antige-
gene bezeichnet werden. ne erkennen können: B-Lymphocyten erkennen Antigene in der
nativen Form durch den B-Zell-Rezeptor-Komplex (BCR,
7 Kap. 70.8.2), in den ein membrangebundenes Immunglo-
70.6.1 CD-Nomenklatur bulin integriert ist. Im Gegensatz dazu können T-Lymphocyten
freie, native Antigene nicht erkennen. Über den T-Zell-Rezeptor-
Zellen des Immunsystems exprimieren auf ihren Plasmamem- Komplex (TCR, 7 Kap. 70.7.1) erkennen sie nur Peptidfrag-
branen unterschiedliche phenotypische Protein-Marker, die in mente  (prozessierte Protein-Antigene), die auf MHC-Mole-
der modernen Cytologie zu deren Charakterisierung genutzt külen  antigenpräsentierender Zellen exprimiert werden sowie
werden. Diese Proteine werden durch spezifische Antikörper fremde MHC-Moleküle auf körperfremden Zellen. Antigene
identifiziert und von einem internationalen Standardisierungs- werden danach nur von solchen T- und B-Zellen erkannt, die
904 Kapitel 70 · Immunologie

einen für dieses Antigen spezifischen T-Zell-Rezeptor (TCR)


oder B-Zell-Rezeptor (BCR) exprimieren (in . Abb. 70.7 mit R6
bezeichnet). Daraus folgt, dass die biologische Hauptfunktion
des MHC-Systems in der Einschränkung (Restriktion) der
Erkennung von Antigenen durch T-Lymphocyten und damit der
Unterscheidung von körpereigen und körperfremd durch das
Immunsystem liegt. Funktionell werden T-Zellen in Helfer-
T-Zellen (TH) und cytotoxische T-Zellen (TC) unterteilt (7 Kap.
70.6.1). Sie nutzen unterschiedliche MHC/HLA-Klassen-Mole-
küle. Helfer-T-Zellen benötigen für die Antigenerkennung
Moleküle der MHC-Klasse-II, cytotoxische T-Zellen Moleküle
der MHC-Klasse-I.
Eine besondere Rolle spielen MHC/HLA-Moleküle bei Ab-
stoßungsreaktionen nach Transplantation (7 Kap. 70.13.4). Hier Treg
werden fremde MHC-Moleküle des Transplantatspenders durch
Immunzellen des Empfängers direkt ohne Prozessierung der
MHC-Moleküle als nicht körpereigen erkannt. Alternativ erfolgt
die Erkennung indirekt nach Antigenspaltung und Präsentation
der daraus resultierenden Antigenpeptide durch Empfänger-
MHC-Moleküle. Im Falle von Spendern/Empfängern genetisch IL-10
differenter Individuen einer Spezies (Mensch zu Mensch) spricht IL-13
man von einer allogenen Situation bzw. einer immunologischen . Abb. 70.8 Subpopulationen der T-Helferzelle. (Einzelheiten s. Text)
Allo-Erkennung und Allo-Reaktivität. Bei Individuen unter-
schiedlicher Spezies (Mensch-Schwein) bezeichnet man das
Spender/Empfänger-Verhältnis als xenogen. T-Lymphocyten ausgewählt, die über ihre T-Zell-Rezeptoren
Nach Identifikation eines Antigens durch T-Zellen oder (TCR) solche MHC-Moleküle zu binden vermögen, die körper-
B-Zellen werden unterschiedliche Signalkaskaden ausgelöst, die eigen (Selbst) sind. T-Zellen, die dazu nicht befähigt sind, werden
mit einer Aktivierung der Zellen, einer verstärkten DNA-Synthe- durch Apoptose (7 Kap. 51) eliminiert.
se und einer klonalen Zellvermehrung der Lymphocyten verbun- Die Negativselektion in der Medulla der Thymusdrüse be-
den sind (. Abb. 70.7). Für die Proliferation selbst sind spezielle trifft T-Zellen, die mit hoher Affinität körpereigene Peptidstruk-
Cytokine (7 Kap. 34.2) notwendig, für Lymphocyten u. a. das turen (Autoantigene) auf MHC-Molekülen der Stromazellen der
Cytokin Interleukin-2 (IL-2). Insgesamt wird damit ein expan- Thymusdrüse (Epithelzellen, Makrophagen, dendritische Zel-
dierender antigenspezifischer Lymphocyten-Klon generiert, der len) erfassen. Diese nicht-toleranten T-Zellen werden ebenfalls
die Voraussetzung dafür ist, dass eine ausreichend starke Immun- durch Apoptose beseitigt. Insgesamt werden mehr als 95 % der
antwort erzielt werden kann. Thymocyten bei diesen Prozessen eliminiert.
Parallel dazu entstehen antigenspezifische Gedächtnis-Lym-
> Mit der Positiv-Negativ-Selektion ist sichergestellt, dass
phocyten, die bei nachfolgenden Antigen-Kontakten schneller
T-Lymphocyten nach Verlassen der Thymusdrüse
und wirkungsvoller zu reagieren vermögen. Diese Vorgänge wer-
befähigt sind, die für die Antigenpräsentation wichtigen
den als Primär- und Sekundär-Immunantwort bezeichnet. Dies
eigenen MHC-Strukturen zu erkennen, gleichzeitig
bedeutet, dass für jedes Antigen, das dem Immunsystem je be-
aber auch ausgeschlossen, dass eine T-Zell-vermittelte
gegnet ist, ein Klon von memory-Zellen des B- und T-Lympho-
Immunantwort gegen körpereigene (autogene) Struktu-
cytentyps existiert, der sehr effizient auf einen Zweitkontakt mit
ren erfolgt.
einem gegebenen Antigen klonal reagieren kann.
Man bezeichnet die so erzielte immunologische Toleranz als
T-Lymphocyten nehmen bei der Immunantwort zentrale Toleranz der T-Zellen.
eine zentrale Rolle ein. Sie wirken als T-Helferzellen, Die Mehrzahl der die Thymusdrüse verlassenden T-Zellen,
cytotoxische T-Zellen oder regulatorische T-Zellen sind TCR-α/β tragende CD4- oder CD8-positive Zellen, die über
Die Thymusdrüse als prägendes Organ den Blut- oder Lymphweg in sekundäre lymphatische Organe
für T-Lymphocyten wie Lymphknoten, Milz und Schleimhaut emigrieren. Daneben
Thymusfunktion Die wichtigsten Schritte in der Prägung von entstehen CD4- und CD8-negative T-Zellen, die anstelle von
T-Lymphocyten während der Passage durch die Thymusdrüse α/β-Ketten γ- und δ-Ketten exprimieren. Diese, etwa 5–10 % der
70 sind die Positiv- und Negativselektion. Lymphocyten, die aus T-Zellen repräsentierende Zellen werden als γ/δ-T-Lymphocyten
dem Knochenmark in die Thymusdrüse einwandern, exprimie- bezeichnet. Neben der spezifischen Erkennung von Antigenen
ren weder für T-Lymphocyten spezifische Antigene (wie CD3) sind γ/δ-T-Zellen auch befähigt, als antigenpräsentierende Zel-
noch antigenspezifische Rezeptoren (TCR). Nach Expression len zu wirken. Über die Liganden dieser T-Zellen weiß man bis-
solcher Strukturen erfahren die T-Lymphocyten in der cortika- her noch wenig. γ/δ-T-Zellen haben eine besondere Funktion in
len Zone des Thymus eine Positivselektion. Dabei werden epidermalen Bereichen der Schleimhaut und Haut.
70.6 · Zellen der spezifischen Immunantwort
905 70
CD4-T-Lymphocyten werden in T-Helferzellen (TH) und Die Bildung von TH1-Lymphocyten aus naiven T-Zellen wird
regulatorische T-Zellen (Treg) unterteilt. CD8-T-Zellen sind besonders durch IL-12 und IL-18 (aus Makrophagen) induziert;
durch ihre cytotoxischen Wirkungen charakterisiert und werden die von TH2-Zellen dagegen durch IL-4 und IL-10 (. Abb. 70.8).
als cytotoxische T-Zellen (TC) bezeichnet. Das von TH1-Zellen produzierte IFN-γ hemmt die Differenzie-
rung zu TH2. Durch das von TH2- Zellen produzierte IL-4 wird
Populationen der T-Zellen die Differenzierung zu TH1 gehemmt. Ähnliche TH1- bzw. TH2-
Helfer-T-Zellen und regulatorische T-Zellen CD4-positive T-Lym- Cytokinmuster wurden auch an CD8-Zellen beobachtet. Die
phocyten können zu Helfer-T-Effektorzellen (TH) und regulato- Differenzierung naiver T-Zellen zu TH17-Zellen erfolgt unter
rischen T-Lymphocyten (Treg) differenzieren. Diese Populationen Mitwirkung von IL-6, IL-21 bzw. IL-23, TGF-β1 und IL-1ß, die
unterscheiden sich durch ihre Rolle in der Immunantwort und zu Treg-Zellen unter Mitwirkung von IL-2 und TGF-β1.
ihre Fähigkeit, unterschiedliche Cytokine zu produzieren. TH1-Lymphocyten und die von diesen Zellen produzierten
Naive CD4-T-Lymphocyten produzieren nach Kontakt mit Cytokine sind besonders für eine zelluläre Immunantwort ver-
den für sie spezifischen Antigenen IL-2, das eine Vermehrung von antwortlich, TH2-Zellen mehr für eine antikörperabhängige, be-
Lymphocyten bewirkt. In unterschiedlichen Cytokinmilieus ent- sonders IgE-vermittelte, allergische Immunantwort. Bei der
stehen aus der naiven Vorläuferzelle unterschiedliche T-Helfer- Lepra bewirken die beiden Helferzelltypen unterschiedliche For-
zell-Populationen (Effektorzellen), die wiederum unterschiedli- men dieser Erkrankung. Der Verlauf der tuberkulösen Form der
che Cytokine produzieren und für spezielle Bereiche der Immun- Lepra ist vorwiegend durch TH1-Zellen, der der lepromatösen
antwort verantwortlich sind. Für die wichtigsten T-Helferzell- Form vor allem durch TH2-Zellen bestimmt. TH17-Zellen sind
Populationen ist dies in . Abb. 70.8 exemplarisch dargestellt. wichtig für die Abwehr extrazellulärer Bakterien. Sie spielen auch
TH1-Zellen sind T-Lymphocyten, die besonders IL-2, bei Autoimmunerkrankungen eine zentrale Rolle.
Interferon-γ (IFN-γ) und Tumornekrosefaktor-β (Lymphotoxin,
TNF-β) produzieren. TH2-Zellen sind charakterisiert durch ihre
Fähigkeit IL-3, IL-4, IL-5, IL-9, IL-10 und IL-13 zu bilden. In Zusammenfassung
jüngster Zeit wurden weitere Populationen identifiziert. Zu ih- Die wichtigsten Zellen der spezifischen Immunantwort sind
nen gehören die TH17-Zellen mit der Fähigkeit der Produktion T-(CD3) und B-Lymphocyten (CD19).
der inflammatorischen Cytokine Interleukin-17 (IL-17A, IL- Sie werden, wie andere Zellen, durch spezielle Ober-
17F), IL-21, IL-22 und die sog. regulatorischen T-Zellen (Treg) flächenantigene charakterisiert, die über die CD (cluster of
mit immunsuppressiver Wirkung. Die bekannteste Form dieser differentiation)-Nomenklatur definiert sind.
Treg-Zellen exprimiert CD4, CD25 und den auch für andere Treg- T-Zellen spielen bei der adaptiven Immunantwort die ent-
Zellen charakteristischen Transkriptionsfaktor FoxP3 (forkhead scheidende Rolle:
box P3). Man unterscheidet natürliche Treg-Zellen (. Abb. 70.8), 4 T-Zellen identifizieren Antigene nur in Kombination mit
die aus naiven TH-Zellen in Gegenwart von TGF-β1und IL-2 MHC-Molekülen; CD4-Zellen über MHC-II-Strukturen,
entstehen und induzierbare Treg-Zellen. Letztere entstehen aus CD8-Zellen über MHC-I-Strukturen.
peripheren, reifen TH-Zellen ebenfalls in Gegenwart von TGF-β. 4 Reife T-Zellen entstehen in der Thymusdrüse nach
Natürliche und induzierbare Treg-Zellen wirken über direkten positiver und negativer Selektion. Dabei wird die Fähig-
Zellkontakt und sind zur Synthese der immunsuppressiven keit erworben, zwischen körpereigenen und körper-
Cytokine transforming growth factor β1 (TGF-β1), IL-35 und fremden Strukturen über das MHC-System zu unter-
IL-10 befähigt. Daneben ist eine weitere Population regulatori- scheiden (zentrale Toleranz).
scher T-Zellen beschrieben worden, TR1-Zellen, die kein FoxP3
Die wichtigsten, die Thymusdrüse verlassenden T-Zell-Popu-
oder CD25 exprimieren und durch eine starke IL-10-Produktion
lationen sind:
ausgezeichnet sind.
4 CD4-T-Lymphocyten mit α/β-T-Zell-Rezeptoren (T-Helfer-
zellen, TH) ,
Übrigens 4 CD8-T-Lymphocyten mit α/β-T-Zell-Rezeptoren (cyto-
toxische T-Zellen, TC),
Regulatorische T-Zellen verhindern auch
4 CD4/CD8-negative T-Lymphocyten mit
Überreaktionen nach Bienenstichen
γ/δ-T-Zell-Rezeptoren.
Regulatorische T-Zellen vom Typ TR1 spielen u. a. eine beson-
dere Rolle bei der mit der Jahreszeit schwankenden Toleranz CD4-T-Lymphocyten können während der Immunantwort in
von Imkern gegenüber Bienengift. Bei häufig erfolgenden Gegenwart unterschiedlicher Cytokine zu funktionell ver-
Bienenstichen im Sommer ist die Zahl und Aktivität der schiedenen T-Zell-Populationen differenzieren. Die Haupt-
TR1-Zellen bei Imkern höher und Schwellungen nach Stichen populationen sind TH1-, TH2-, TH17-Lymphocyten und Treg-
geringer als in der Zeit der ersten Bienenstiche im Frühjahr Lymphocyten, die unterschiedliche Cytokine produzieren.
nach der Winterpause. Dieses Phänomen belegt eine direkte TH1-Zellen bilden sich in Gegenwart von IL-12 sowie IL-18
Abhängigkeit der Funktion der TR1-Zellen von der Präsenz und produzieren vor allem IL-2, IFN-γ sowie TNF-β.
des Bienengift-Allergens im Organismus. Möglicherweise TH2-Lymphocyten entstehen in Gegenwart von IL-4 sowie
spielen sie auch bei anderen Allergien eine zentrale Rolle. 6
906 Kapitel 70 · Immunologie

70.7 Mechanismen der T-Zell-Aktivierung

70.7.1 Molekulare Grundlagen der Antigen-


erkennung durch T-Zellen

Der antigenspezifische T-Zell-Rezeptor (TCR) ist


strukturell und funktionell mit dem CD3-Komplex
verbunden
T-Zell-Antigen-Rezeptor-Komplex
Die MHC-assoziierten Antigenpeptide werden vom T-Lympho-
cyten über den T-Zell-Rezeptor-Komplex selektiv identifiziert.
Der T-Zell-Rezeptor ist ein in der Plasmamembran lokalisiertes
α/β-Heterodimer, dessen Ketten über eine Cystinbrücke verbun-
den sind. Zum TCR-Komplex gehören darüber hinaus unter-
. Abb. 70.9 Der α/β-T-Zell-Rezeptor (TCR). (Einzelheiten s. Text) schiedliche signaltransduzierende Proteine, die zusammenge-
nommen als CD3-Komplex bezeichnet werden (. Abb. 70.9).
Für die Signalweiterleitung nach Antigenbindung sind die
Heterodimeren εγ und δε sowie das ζζ-Homodimer verantwort-
IL-10 und produzieren die Cytokine IL-3, IL-4, IL-5, IL-9, IL-10 lich. Diese Strukturen weisen in ihren cytoplasmatischen Teilen
sowie IL-13, die an der humoralen und allergischen Immun- ITAMs (immunoreceptor tyrosine-based activation motif)-Peptid-
antwort mitwirken. sequenzen auf.
TH17-Zellen synthetisieren die inflammatorischen Cytokine
IL-17A, IL-17F, IL-21 und IL-22. Umlagerungen der Gene des TCR
Natürliche regulatorische T-Zellen (Treg-Zellen, Suppressor- 90–95 % der T-Lymphocyten tragen einen aus einer α- und einer
zellen) entstehen aus CD4-Vorläuferzellen in Gegenwart von β-Kette zusammengesetzten TCR. Etwa 5–10 % der T-Zellen
IL-2 und TGF-β1, haben eine immunsupprimierende Wirkung exprimieren eine γ- und eine δ-Kette. Beide TCR-Arten werden
und bilden die immunsuppressiven Cytokine TGF-β1, IL-10 durch eine Folge von somatischen Genrekombinationen, Trans-
und IL-35. kription, Spleißen und Translation gebildet. Diese Prozesse
ähneln denen der Synthese von Immunglobulin-Genen (7 Kap.
70.9.4). Sie liefern eine Erklärung für die fast unbegrenzte Zahl
möglicher antigenspezifischer T-Zell-Rezeptoren, die für α/β-
T-Zell-Rezeptoren auf etwa 1015 geschätzt wird. Innerhalb der

70

. Abb. 70.10 Rearrangement des humanen α/β-T-Zell-Rezeptors. (Einzelheiten s. Text)


70.7 · Mechanismen der T-Zell-Aktivierung
907 70

. Abb. 70.11 Die Regulation der TH-Zell-Aktivierung. (Einzelheiten s. Text)

Keimbahn-DNA des Menschen gibt es eine unterschiedliche An- 70.7.2 T-Zell-Aktivierung


zahl von konstanten (C), variablen (V), verbindenden (J) und
diversifizierenden (D) Genabschnitten, die nach Antigenkontakt Die Aktivierung von T-Zellen wird durch
von der T-Zelle gezielt zusammengeführt werden (rearragement, Zellstrukturen und Cytokine reguliert
. Abb. 70.10). Im Falle der β-Kette werden diskontinuierliche Teilschritte der T-Lymphocyten-Aktivierung
Gensegmente der V-, D-, J- und C-Regionen umgelagert. Bei der Das Start-Signal der T-Zell-Aktivierung Die Aktivierung von
α-Kette fehlen die D-Regionen. Die hochpolymorphe variable, T-Zellen erfolgt über mehrere Stufen, unabhängig davon, ob das
aminoterminale Domäne (VDJ oder VJ) charakterisiert die Anti- Antigen über MHC-II von antigenpräsentierenden Zellen (APC)
genspezifität. Sie ist im Protein in der N-terminalen Position oder über MHC-I von Zielzellen (Tumor-, virusinfizierte Zellen)
lokalisiert. Die C-Domäne ist monomorph. Der α/β-TCR oder präsentiert wird. Im Falle der primären Aktivierung von T-Lym-
γ/δ-TCR assoziiert in der Plasmamembran mit den Komponen- phocyten, z. B. in der paracorticalen Zone des Lymphknotens,
ten des CD3-Komplexes zu einer signaltransduzierenden Ein- erfolgt im ersten Schritt eine antigenunspezifische Interaktion zwi-
heit, die als TCR-CD3-Komplex bezeichnet wird. schen T-Lymphocyten und APC über sog. Adhäsionsmoleküle (in
Im Falle der α-Kette rekombiniert im ersten Schritt eines der . Abb. 70.11 nicht gezeigt). Adhäsionsmoleküle wie LFA-3 (lym-
etwa 70 Exons der die variable Region (V) codierenden Gen- phocyte function-associated antigen), ICAM-1 und -2 (intracellular
sequenz mit einem der Exons der 61 J (joining)-Regionen zu adhesion molecule) und Integrine wie LFA-1, werden z. B. auf pro-
einem funktionellen Exon der Vα-Kette. Im Falle der β-Kette fessionellen APC wie Makrophagen und dendritischen Zellen
rekombiniert eines der 52 Exons der variablen Region mit einem exprimiert. Sie interagieren mit entsprechenden Liganden auf der
der zwei D (diversity)-Regionen und einem der 13 J-Regionen zu Oberfläche von T-Zellen, wie LFA-1, ICAM- 3 und CD2. Dadurch
einem funktionellen Vβ-Exon. Die Transkription der V-Exons werden die Ausgangsbedingungen für die spezifische Aggregation
und das Spleißen zu den jeweiligen C (constant)-Regionen führt von T-Zell-Rezeptoren (TCR) und MHC-Molekülen, die mit Pep-
zu einer mRNA, die in die entsprechenden α und β-Ketten des tidantigen beladen sind, geschaffen und eine Stabilisierung der
TCR translatiert wird. Die D-Sequenz vor jeder V-Region ist in Wechselwirkung der Zellen erreicht. Essentiell für die Aktivierung
. Abb. 70.10 nicht berücksichtigt. Sie wird posttranslational ent- sind darüber hinaus die Interaktionen von CD4 bzw. CD8 auf T-
fernt. Die α- und β-Kette assoziieren unmittelbar nach der Trans- Lymphocyten mit MHC-II-Molekülen auf APC bzw. MHC-I-
lation zum Heterodimer des TCR. Eine somatische Hypermuta- Molekülen auf endogene Peptide exprimierenden Zellen wie auch
tion wie bei den Immunglobulinen (7 Kap. 70.9.4) findet bei den Tumorzellen und virusinfizierten Zellen. Die Regulation der T-
TCR-Genen nicht statt. Zell-Aktivierung ist exemplarisch für CD4 T-Helferzellen in
. Abb. 70.11 dargestellt.
CD4 ist ein aus einer Kette bestehendes Membranprotein mit
4 immunglobulinähnlichen Domänen. CD8 besteht aus einer
α- und einer β-Kette, die durch eine S-S-Brücke verbunden sind.
Beide, CD4 und CD8, sind in der Lage, mit ihren cytoplasma-
tischen Domänen die Tyrosinkinase Lck (. Abb. 70.12 nur für
CD4 gezeigt) zu binden. Dieses Phosphat-übertragende Enzym
908 Kapitel 70 · Immunologie

spielt eine Schlüsselrolle bei der Signaltransduktion im Prozess Schritt der Signaltransduktion erfolgt durch CD45 1 , ein Mem-
der T-Zell-Aktivierung. branprotein mit einer cytoplasmatischen Tyrosinphosphatasedo-
Mit den molekularen Wechselwirkungen zwischen Adhä- mäne, eine Dephosphorylierung der inaktiven Tyrosinkinasen Lck
sionsmolekülen, MHC, Antigenpeptid, TCR und CD4 oder CD8 und Fyn 2 . Lck ist an der cytoplasmatischen Domäne von CD4
ist das 1. Signal für die antigenspezifische Aktivierung von oder CD8 angelagert, Fyn am cytoplasmatischen Teil des CD3-
T-Lymphocyten geschaffen. Ohne weitere molekulare Wechsel- Komplexes (. Abb. 70.9). Durch die Dephosphorylierung werden
wirkungen verbleibt die T-Zelle allerdings im Zustand der beide Kinasen aktiviert und katalysieren in der Folge eine Phos-
Anergie (. Abb. 70.11A). Dieser Status wird als periphere phorylierung der cytoplasmatischen Domänen von CD3ε und
Immuntoleranz bezeichnet und ist neben der zentralen Immun- CD3ζ 3 (in der Abbildung nicht durch Pfeile dargestellt). Die so
toleranz wesentlich mit dafür verantwortlich, gesundes phosphorylierten Strukturen sind Bindungsmotive für ZAP-70
Gewebe vor einer Zerstörung durch Immunzellen zu bewahren. (ζ-assoziiertes Protein 70) 4 . Derartige Tyrosin-phosphorylierte
Treg-Zellen und immunsuppressive Cytokine haben hierbei eine Proteinsequenzen werden als ITAMs (immunoreceptor tyrosine-
besondere Schutzfunktion. based activation motif) bezeichnet. ZAP-70 wird schließlich durch
die Kinasen Fyn und Lck phosphoryliert und damit aktiviert 5 .
Weitere Signale der T-Lymphocyten-Aktivierung Das co-stimu- Die Aktivierung von ZAP-70 ist die Initialreaktion für den
latorische, 2. Signal erfolgt über CD80 (B7.1) oder CD86 (B7.2), Ras/MAPK-Weg und die PLCγ1/Inositoltrisphosphat (IP3) Kas-
Glykoproteine der Ig-Superfamilie, die auf APC exprimiert wer- kade:
den und mit konstitutiv auf T-Zellen exprimiertem CD28 inter- Der Ras/MAPK/Fos/Jun (AP1)-Weg wird durch Phospho-
agieren. Ein weiteres Aktivierungssignal wird durch die Wechsel- rylierung von Adapterproteinen eingeleitet, die an Ras einen
wirkung von ICOS (inducible costimulator) auf T-Zellen und Austausch von GDP durch GTP bewirken. Dadurch kommt
B7RP-1 (ICOS-Ligand, ICOSL) auf antigenpräsentierenden Zel- es über MAP-Kinasen (mitogen activated protein kinases) zu
len (APC) bereitgestellt (in . Abb. 70.11 nicht dargestellt). einer Aktivierung von Fos und Jun, die als Heterodimer
Durch diese co-stimulatorischen Signale erreichen die den Transkriptionsfaktor AP-1 (activator protein-1) bilden.
T-Lymphocyten die G1-Phase des Zellzyklus. Die Wechselwir- Darüber hinaus wird die Aktivierung der Phospholipase-Cγ 1
kung inflammatorischer Cytokine wie IL-2 mit spezifischen (PLC-γ1) initiiert, die Phosphatidylinositolbisphosphat (PIP2)
Cytokinrezeptoren auf den T-Zellen führt zur Überwindung des in Inositoltrisphosphat (IP3) und Diacylglycerol (DAG) spaltet
Restriktionspunktes G1/S des Zellzyklus (7 Kap. 43.1). Aktivierte (7 Kap. 35.4.3).
T-Lymphocyten produzieren sowohl verstärkt IL-2 als auch des- 4 IP3 bewirkt eine Ca2+-Freisetzung aus dem endoplasmati-
sen Rezeptoren, womit das 3. Signal für die klonale Proliferation schen Retikulum. In der Folge wird die Proteinphosphatase
eingeleitet wird (. Abb. 70.11B). Calcineurin aktiviert, die die Dephosphorylierung von
NFAT-1 (nuclear factor of activated T cells) katalysiert und
Die Wechselwirkung von CTLA-4 dessen Translokation in den Zellkern bewirkt.
(cytotoxic T lymphocyte antigen) mit CD80/86 4 Diacylglycerol wirkt als Aktivator der Proteinkinase C,
führt zur Terminierung der T-Zell-Aktivierung und welche eine Schlüsselfunktion bei der Aktivierung des
somit zur Suppression der Immunantwort Transkriptionsfaktors NFκB spielt.
Terminierung der T-Lymphocytenaktivierung Im Verlauf des
Prozesses der Aktivierung von T-Zellen wird auf diesen ein wei- Die drei aktivierten Transkriptionsfaktoren AP-1, NFAT und
teres Oberflächenprotein, CTLA-4, exprimiert. CTLA-4 (CD152) NFκB sind für die Synthese von Cytokinen und/oder die Aktivie-
ähnelt strukturell CD28, weist allerdings eine wesentlich höhere rung von Effektorzellen (CD8-Zellen) bedeutsam. IL-2 als T-Zell-
Bindungsstärke zu CD80/86 auf. Im Gegensatz zu CD28 bewirkt Wachstumsfaktor spielt hier eine besondere Rolle. Allerdings ist
die Wechselwirkung von CTLA-4 mit CD80/86 eine Hemmung für die Produktion von IL-2 die Co-Stimulation über CD28 essen-
der Aktivierung von T-Zellen. Anstelle inflammatorischer Cyto- tiell. Therapeutisch genutzte Hemmstoffe der Immunantwort wie
kine werden immunsuppressive Cytokine und deren Rezeptoren Tacrolimus (FK506) oder Cyclosporin A wirken durch Hem-
gebildet und die Immunantwort unterdrückt (. Abb. 70.11C). mung von Calcineurin und supprimieren die IL-2-Bildung.
Die Rolle von CTLA-4 im Rahmen der Terminierung der
T-Lymphocytenaktivierung wird auch dadurch deutlich, dass Superantigene
CTLA-4-Gen-Knockout-Mäuse eine Hyperproliferation der Superantigene bewirken eine pathologische,
Lymphocyten zeigen. Inzwischen gibt es Bemühungen zum Ein- polyklonale Aktivierung des Immunsystems
satz von CTLA-4 bei der Therapie von Autoimmunkrankheiten Superantigene sind vor allem bakterielle und retrovirale Stoffe,
und Transplantatabstoßungen. die in ihrer unveränderten Form ohne proteolytische Spaltung
direkt an wenig variable Bereiche der TCR β-Kette und des
70 Signaltransduktion in T-Lymphocyten MHC-II-Komplexes antigenpräsentierender Zellen, abseits der
Molekulare Prozesse der Signaltransduktion in T-Lymphocyten üblichen Antigenbindungsstelle, binden (. Abb. 70.13). Sie akti-
Die ersten Schritte der Aktivierung von T-Lymphocyten (. Abb. vieren naive, aber auch memory-T-Lymphocyten.
70.12) nach Antigenerkennung sind charakterisiert durch eine Die häufigsten Superantigene stammen aus Staphylokokken
Wechselwirkung unterschiedlicher Strukturen des TCR-CD3- und Streptokokken, deren Toxine das toxische Schock-Syndrom
Komplexes, CD4 (oder CD8) sowie MHC-Komplexen. Im ersten z. B. bei Gebrauch infizierter Tampons oder Lebensmittelvergif-
70.7 · Mechanismen der T-Zell-Aktivierung
909 70

. Abb. 70.12 Signaltransduktion


nach TH-Zell-Aktivierung.
(Einzelheiten s. Text)

. Abb. 70.13 Superantigen-Bindung.


(Einzelheiten s. Text)
910 Kapitel 70 · Immunologie

tungen verursachen können. Die polyklonale Aktivierung des TC-Zellen können neben ihrem cytolytischen Effekt auf
Immunsystems durch Superantigene kann eine extrem erhöhte Virus-, Tumor- oder Autoantigen- bzw. Fas-exprimierende Zel-
Cytokinproduktion auslösen, die Ursache der Schockzustände len auch an der selektiven Bakterien-Abwehr beteiligt sein.
bei Superantigen-Infektionen ist. Im Unterschied zur normalen Bakterien werden dabei entweder indirekt durch IFNγ-induzierte
Antwort des Immunsystems auf Erreger, bei der 0,01–0,0001 % intrazelluläre Abwehrmechanismen (z. B. NO) unter Erhaltung
der T-Zellen aktiviert werden, sind es bei Superantigen-Infektio- der Zellstruktur eliminiert, alternativ durch Perforin-mediierte
nen 5–30 %. Cytolyse unter Mitwirkung von antimikrobiell wirkendem Gra-
nulysin (7 Kap. 70.12).
Intrazellulär auftretende Bakterien können aber auch durch
70.7.3 Cytotoxische T-Zellen in der Cytolyse freigesetzt und anschließend durch aktivierte Makro-
adaptiven Immunantwort phagen endocytiert und abgetötet werden.

Cytotoxische T-Lymphocyten eliminieren Zellen Antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität (ADCC, antibody


mit extrazellulären, aber auch intrazellulären dependent cellular cytotoxicity) Antikörper können den spezifi-
Fremdstrukturen wie Tumor-, Virus- oder Bakterien- schen TCR bei speziellen Cytolysemechanismen ersetzen. Über
antigenen Rezeptoren für den Fc-Teil von Immunglobulinen (7 Kap. 70.8)
Cytotoxische T-Zellen CD8-positive T-Lymphocyten wirken in werden Antikörper an T- oder B-Zellen und Makrophagen fixiert.
der adaptiven Immunantwort vorwiegend als cytotoxische Diese mit Antikörpern beladenen Immunzellen lösen an Zielzel-
Immunzellen (TC-Zellen, cytotoxic T cells). Im Vergleich dazu len, die Antigene exprimieren, welche von den gebundenen An-
sind CD4-positive TH-Zellen (T-Helfer-Zellen, 7 Kap. 70.6.2) in tikörpern erkannt werden, ein cytolytisches Signal aus. Dieser
ihrer Hauptfunktion Helferzellen und Produzenten von Cytoki- Vorgang wird als antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität
nen. Eine ähnliche Wirkung wie TC-Zellen haben natürliche (ADCC) bezeichnet und repräsentiert ein Bindeglied zwischen
Killer-Zellen (NK-Zellen) als zelluläre Bestandteile der angebo- der unspezifischen und spezifischen Immunantwort.
renen Immunantwort.
Der wichtigste Mechanismus der cytotoxischen Wirkung ist
die antigenspezifische Cytolyse von Zielzellen durch TC- oder Zusammenfassung
NK-Zellen über die Apoptose (7 Kap. 51). Dabei kann es nach Charakteristika des T-Zell-Antigen-Rezeptor-Komplexes
Kontakt der cytotoxischen Zelle mit der Zielzelle zu einer durch (TCR) sind:
Perforin vermittelten endocytotischen Aufnahme eines Kom- 4 Der TCR besteht aus einem Zellmembran-ständigen
plexes aus Perforin, Granzym und Granulysin der cytotoxischen α/β-Ketten-Heterodimer (95 %) oder einem γ/δ-Ketten-
Granula kommen. Das porenbildende Perforin erlaubt den Aus- Heterodimer (5 %), das Antigene selektiv identifiziert,
tritt von Granzymen aus den Endosomen der cytotoxischen 4 Der TCR ist strukturell und funktionell eng mit dem
Zellen und vermittelt über die Aktivierung der Caspasen die CD3-Komplex assoziiert, der aus α/β-, εγ- und ε/δ- Hete-
Apoptose. Granulysin ist ein saponinähnliches Polypeptid rodimeren sowie einem ζ/ζ-Homodimer zusammen-
(9 kDa, Vorläufer 15 kDa) mit direkter antimikrobieller Aktivi- gesetzt ist. Die wesentliche Funktion des CD3-Kom-
tät. Dieses kann an Lipidbestandteile der Bakterienmembranen plexes nach Antigenkontakt ist die Signalweiterleitung
binden und die Glucosylceramidase sowie die Sphingomyeli- in die Zelle.
nase aktivieren. Dabei wird proapoptotisch wirkendes Ceramid 4 Die Ausprägung der antigenspezifischen α- und
gebildet. β-Ketten des TCR erfolgt durch Umlagerungen (Gen
Die Induktion der Apoptose kann auch durch die nicht- rearrangement) von Genregionen des TCR (V, D, J, C),
konstitutive Expression des Fas-Rezeptors (CD95, Apo-1) auf Spleißen und Translation.
aktivierten Zellen des Organismus und dessen Wechselwir-
kung  mit dem Fas-Liganden (CD95L) bewirkt werden (7 Kap. Die antigenspezifische Stimulierung von T-Zellen führt zur
51.1). klonalen Proliferation. Wichtige Teilschritte sind die:
Der Apoptoserezeptor Fas (CD95, Apo-1) ist ein 45-kDa- 4 Interaktion zwischen antigenpräsentierenden Zellen
Protein. Es wird konstitutiv auf Immunzellen und Zellen unter- und T-Lymphocyten, vermittelt durch Adhäsionsmoleküle,
schiedlicher Gewebe exprimiert. Unter Bedingungen einer Ent- CD4 und MHC-II bzw. CD8 und MHC-I,
zündung kann die CD95-Expression induziert oder verstärkt 4 spezifische Interaktion von MHC-I- oder MHC-II-gebun-
werden. Der Fas-Ligand (Fas-L, CD95L) ist ein 40-kDa-Memb- denen Antigenpeptiden mit dem jeweiligen spezifischen
ranprotein der TNF-α-Familie. CD95L wird auf aktivierten TCR,
T-Zellen exprimiert. Fas und Fas-L spielen eine bedeutende Rol-
70 le bei der Homöostase des Immunsystems. Bei pathogenetischen
4 Interaktion von CD28 auf T-Lymphocyten und CD80/86
auf APC,
Mechanismen organspezifischer Autoimmunerkrankungen wie 4 Überwindung des Restriktionspunktes G1/S sowie Einlei-
Diabetes mellitus Typ I oder Multipler Sklerose, aber auch bei tung der DNA-Synthese und klonalen Proliferation von
anderen entzündlichen Erkrankungen (z. B. Insulitis) spielt die T-Zellen mit Hilfe von Cytokinen, z. B. IL-2.
nicht-konstitutive Expression von Fas auf Zellen der betroffenen 6
Organe eine wichtige Rolle.
70.8 · B-Lymphocyten
911 70
70.8 B-Lymphocyten
Die Signaltransduktion in T-Lymphocyten erfolgt über den
membranständigen TCR-CD3-Komplex. Wichtige Schritte B-Lymphocyten stammen von pluripotenten hämatopoetischen
sind die: Zellen im Knochenmark ab (bone marrow dependend lympho-
4 Dephosphorylierung der Tyrosinkinasen Lck und Fyn cytes). Die ursprüngliche Namensgebung geht auf die Bursa
durch die Tyrosinphosphatase CD45, fabricii bei Vögeln als Bildungs- und Reifungsort zurück.
4 Phosphorylierung von cytoplasmatischen Teilen der
CD3-Ketten (γ, δ, ε, ), Generierung von ITAMs und B-Lymphocyten (auch als B-Zellen bezeichnet)
Rekrutierung von ZAP-70, können nach Aktivierung zu Plasmazellen differen-
4 Phosphorylierung und Aktivierung von ZAP-70 durch zieren und stellen als solche die alleinigen Produ-
die Kinasen Fyn und Lck, zenten von Antikörpern (Immunglobulinen) dar
4 Aktivierung der Ras/MAPK/Fos/Jun-Signalkaskade, Der Anteil von B-Lymphocyten an den Gesamtlymphocyten im
4 Aktivierung der Phospholipase-γ1, Bildung von peripheren Blut des Menschen nimmt mit dem Alter ab. Bei
Inositoltrisphosphat und Diacylglycerol, Säuglingen und Kleinkindern findet man 22–29 %, beim Er-
4 Ca2+-Mobilisierung durch Inositoltrisphosphat, wachsenen stellen die B-Zellen nur noch einen Anteil von 11–
4 Aktivierung von PKC durch DAG, 16 % der Lymphocyten dar.
4 Aktivierung der Transkriptionsfaktoren AP-1, NFAT, NFκB,
4 Synthese von Cytokinen (IL-2) und Cytokinrezeptoren.
70.8.1 Entwicklung von B-Lymphocyten
Die Signalkaskaden werden durch die Wechselwirkung von
CD80/86 mit CTLA-4 sowie die Wirkung von Treg-Zellen und Die Reifung und Differenzierung von Stammzellen zu B-Lympho-
immunsuppressiven Cytokinen, wie TGF-β1 abgeschaltet. cyten im Knochenmark ist in der Frühphase abhängig von Signa-
len der Stromazellen, die über verschiedene Adhäsionsmoleküle
Superantigene sind mikrobielle oder endogene Substanzen,
einen direkten Kontakt zu den B-Zellen herstellen und Cytokine
die ohne proteolytische Prozessierung direkt mit Bereichen der
(wie z. B. stem cell factor (SCF) und IL-7) für diese bereitstellen.
β -Kette des TCR und HLA-II-Komplexen interagieren und zur
Die Entwicklung verläuft über Pro-B-Zellen (Progenitor-B-
starken T-Zell-Vermehrung und überschießenden Cytokinpro-
Lymphocyten), die neben den typischen Stammzellanti-
duktion, verbunden mit toxischen Schockzuständen, führen.
genen CD34 und CD117 bereits das nur für B-Zellen charakte-
Cytotoxische T-Lymphocyten (TC) greifen Zellen mit extra-
ristische CD19-Molekül auf der Zelloberfläche exprimieren. Bei
zellulär und intrazellulär exprimierten Fremdstrukturen an.
Übergang in das Prä-B-Zell-Stadium beginnt mit dem erstmali-
TC-Zellen wirken über:
gen Auftreten von cytoplasmatischen µ-Ketten (schwere Ketten
4 eine antigenabhängige, selektive Zellzerstörung z. B.
des IgM-Immunglobulins) die Immunglobulinsynthese. Naive
virusinfizierter Zellen,
B-Zellen (oder virgin B cells, da sie noch keinen Antigenkontakt
4 eine antigenspezifische Lyse von bakterienhaltigen
hatten) schließlich sind durch die Expression des gesamten IgM-
Makrophagen,
Moleküls auf der Oberfläche gekennzeichnet. Der weitere
4 eine direkte oder indirekte Abtötung von intrazellulären
Reifungsprozess ist streng antigenabhängig. Binden die IgM-
Bakterien und Viren.
Moleküle körpereigene Antigene, werden diese autoreaktiven
Die Apoptose ist der wichtigste Mechanismus der Cytolyse. B-Zellen durch Apoptose eliminiert. Man spricht hier von einer
Die Apoptose wird induziert durch: zentralen B-Zell-Toleranz. Die B-Zellen, die diese erste Selektion
4 Granula-Inhaltsstoffe von T-Zellen z. B. Granzymen, Per- überlebt haben, wandern aus dem Knochenmark in die sekun-
forin und Granulysin oder durch Fas (CD95)-/Fas-Ligand dären lymphatischen Organe, wo eine weitere, nun T-Zell-ab-
(CD95L)-Wechselwirkung hängige Selektion stattfindet (periphere B-Zell-Toleranz).
4 Die Vernichtung der Mikroorganismen erfolgt mit Hilfe Positiv selektionierte B-Zellen wandern in die Lymphfollikel. In
von: diesem Stadium exprimieren die nun reifen B-Lymphocyten
4 Stickstoffmonoxid (NO) neben dem IgM-Molekül auch das IgD-Immunglobulin an ihrer
4 Granulysin sowie Oberfläche. In der Folge patrouillieren sie als zirkulierende folli-
4 cytolytischer Freisetzung der Mikroorganismen aus infi- kuläre B-Zellen zwischen Knochenmark und sekundären lym-
zierten Zellen und anschließender Phagocytose durch phatischen Organen. Findet ein Antigenkontakt statt, differen-
aktivierte Makrophagen. zieren die B-Zellen zu IgM-produzierenden Plasmazellen. Die
Affinität (Bindungsstärke) dieser Antikörper ist noch relativ ge-
Die antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität (ADCC, ring. Zur Affinitätssteigerung trägt die Keimzentrumsreaktion
antibody dependent cellular cytotoxicity) ist unabhängig vom bei, in deren Folge die B-Zellen befähigt werden, auch andere
TCR und nutzt zur spezifischen Antigenerkennung Antikör- Immunglobulin-Klassen zu bilden (Immunglobulin-switch).
per, die über ihren Fc-Teil an spezielle Rezeptoren der Zelle Für die verschiedenen Reifungsstadien sind die unterschied-
gebunden sind. Die Cytolysemechanismen sind die gleichen lichen Stadien der Genrekombinationen (rearrangements) und
wie oben beschrieben. der Immunoglobulin-Genexpression charakteristisch (7 Kap.
70.9.4).
912 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.14 B-Zell-Rezeptorkomplex (BCR). (Einzelheiten s. Text)

Im Prozess der Reifung werden stadienabhängig B-Zell-


charakteristische CD-Oberflächenstrukturen exprimiert. CD19
. Abb. 70.15 Ablauf der B-Zell-Aktivierung. (Einzelheiten s. Text)
ist als frühestes Molekül bereits ab der Pro-B-Zelle nachweisbar.
Es folgt im späten Prä-B-Stadium CD20. Das Auftreten von CD21
und CD23 charakterisiert dann die reife, ausdifferenzierte
B-Zelle. Der Nachweis der reifungsabhängigen CD-Strukturen motifs)-Sequenzmotive, an die nach Phosphorylierung die Tyro-
hat eine wichtige differentialdiagnostische Bedeutung bei Leukä- sinkinase Syk binden kann. Die Modulation der Signalübertra-
mien und Lymphomen. gung am BCR wird durch einen Komplex von Corezeptoren
Am Ende der aktivierungsabhängigen Reifung der B-Lym- (CD19, CD21, CD81) gesteuert (. Abb. 70.14).
phocyten steht die im Knochenmark oder im Mucosa-assoziier- Das am BCR gebundene Antigen wird internalisiert, proteo-
ten lymphatischen Gewebe ausdifferenzierte Plasmazelle, wel- lytisch gespalten und in Form eines Peptidfragmentes über
che jeweils einen Antikörper-Isotyp (z. B. IgG1) für ein defi- MHC-II-Moleküle auf der B-Zell-Oberfläche einer T-Helferzelle
niertes Antigen produziert. (meist TH2-Zellen) mit identischer Antigenspezifität präsentiert
(. Abb. 70.15A). Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind,
kommt es zu einer starken Proliferation (Vermehrung, klonale
70.8.2 Aktivierung von B-Lymphocyten Expansion) der B-Zelle und nachfolgend zur Differenzierung in
antikörperproduzierende Plasmazellen. Diese Peptidantigene
Der B-Zell-Rezeptor werden auch T-Zell-abhängige Antigene genannt und sind cha-
Der initiale Anstoß zur Aktivierung von B-Lymphocyten erfolgt rakteristisch für die T-Zell-abhängige B-Zell-Aktivierung, die
durch die Kopplung eines nativen Antigens am B-Zell-Rezeptor die überwiegende Aktivierungsart darstellt.
(BCR) (. Abb. 70.14). Dieser besteht aus einem antigenbinden- Kohlenhydratantigene wie z. B. bakterielle Polysaccharide
den Immunglobulinmolekül, welches über einen Membran-An- sind in der Lage, aufgrund wiederkehrender Kohlenhydrat-
ker auf der Oberfläche fixiert ist und zwei signaltransduzieren- sequenzen eine Quervernetzung der BCR vorzunehmen, die dann
den heterodimeren Transmembranproteinen, den Immunglo- ohne Mitwirkung von T-Zellen zu einer Aktivierung von B-Zellen
bulinketten Ig-α (CD79a) und Ig-β (CD79b). führt. Dieser Prozess wird als T-Zell-unabhängige Aktivierung be-
Dieser Multiproteinkomplex weist den signaltransduzieren- zeichnet. Die so aktivierten B-Zellen differenzieren zu Plasmazel-
70 den Komponenten des TCR-CD3-Komplexes vergleichbare len und bilden jedoch hier nur IgM-Antikörper mit geringer Affi-
Funktionen auf. Darüber hinaus vermittelt er die rezeptorgebun- nität, d. h. sie sind nicht zu einer Affinitätsreifung oder zum Im-
dene Endocytose der Antigene mit nachfolgender Prozessierung munglobulinklassenwechsel (Isotyp-switch) befähigt.
und Präsentation der Antigenpeptide über MHC-II.
Ig-α und Ig-β besitzen im Bereich ihrer cytoplasmatischen
Domänen ITAM (immunoreceptor tyrosine-based activation
70.8 · B-Lymphocyten
913 70
Die Signaltransduktion Nach Bindung des Antigens an den BCR
Übrigens wird eine intrazelluläre Signalkaskade ausgelöst, die der in
Möglicher Paradigmenwechsel zur Funktion T-Zellen sehr ähnlich ist (7 Kap. 70.7.2). Zuerst erfolgt die Akti-
des B-Zell-Rezeptors vierung der Tyrosinkinasen Fyn, Blk und Lyn durch Dephospho-
Die klassische Lehrmeinung der primären Kreuzvernetzung rylierung mit Hilfe der membranständigen Phosphatase CD45.
und Assemblierung von mehreren BCR durch ein Antigen als Nach Aktivierung phosphorylieren diese die cytoplasmatischen
Voraussetzung für den Start der Aktivierungskaskade, die Domänen des Igα/Igβ-Komplexes des BCR. An die nun phos-
gleichfalls für die T-Zell-abhängige Aktivierung angenom- phorylierten Peptidsequenzen der Igα/Igβ-Ketten (ITAMs) kann
men wurde, ist durch jüngste Ergebnisse in Frage gestellt. die Tyrosinkinase Syk binden und die Ras/MAPK/Fos/Jun-Kas-
Mit Methoden der synthetischen Biologie wurde zumindest kade aktivieren. Dieser Signalweg steht unter der Kontrolle eines
für den Maus-BCR gezeigt, dass dieser in Ruhe in Form von membranständigen Corezeptorkomplexes aus CD19, dem
Oligomeren vorliegt, bei denen die für die Signalweiter- Komplementrezeptor CR2 (CD21) und TAPA-1 (target of antipro-
leitung wichtigen Sequenzen verdeckt sind. Bindet ein Anti- liferative antibody-1, CD81).
gen am BCR, zerfallen die Oligomere und die transduzieren-
den Elemente können aktiv werden. Diese Betrachtungswei-
se stellt also genau das Gegenteil der klassischen Auffassung 70.8.3 Differenzierung von B-Zellen zu
dar. Es wird spannend sein, die weiteren Arbeiten auf diesem Plasmazellen oder Gedächtniszellen
Gebiet zu verfolgen.
Die zahlenmäßig größte Anhäufung von B-Zellen findet man in
den lymphatischen Organen wie Lymphknoten oder submuco-
B-Zell-T-Zell-Interaktion salem lymphatischen Gewebe (primäre Follikel). Hier sowie in
Co-stimulatorische Signale Für eine vollständige Aktivierung der Peripherie findet die initiale Antigenerkennung statt. In der
benötigt die B-Zelle, ebenso wie die T-Zelle, zwei Signale. Das T-Zell-reichen Zone des Lymphknotens (Paracortex) erfolgt die
erste Signal wird durch die Bindung des TCR am MHC-II Kom- Aktivierung der B-Lymphocyten. Die aktivierten B-Zellen wan-
plex der B-Zelle ausgelöst (. Abb. 70.15A). Das zweite, co-stimu- dern anschließend in einen benachbarten Follikel, wo sie stark
latorische Signal macht erst den Weg für die Aktivierung frei. Es proliferieren. Diese Proliferation hat den Charakter einer klona-
wird durch die Induktion der Expression von CD80/86 auf der len Expansion, bei der durch wiederholte Teilungen aus einer
B-Zelle, die von CD28 auf der T-Zelle gebunden werden, einge- B-Zelle sehr schnell eine Vielzahl identischer Tochterzellen (Klo-
leitet (. Abb. 70.15B). Diese Bindung führt zur Induktion des ne) entsteht. Als histomorphologisches Korrelat werden dabei
CD40-Liganden (CD40L, CD154) auf der T-Helfer-Zelle und sog. Keimzentren sichtbar, in denen sich die aktivierten B-Zellen
damit zu dem eigentlichen, zweiten co-stimulatorischen Signal. als Centroblasten im sekundären Follikel sammeln.
CD40 gehört zur TNF-Rezeptor-Familie und wird von B-Zellen Im Laufe dieser Teilungen erfolgen Genmutationen der
und anderen Zellen (dendritische Zellen, Epithelzellen, hämato- variablen Ig-Ketten. Im Resultat entstehen Nachkommen, die
poetischen Stammzellen) konstitutiv exprimiert. Der T-Zell- durch eine unterschiedliche Affinität gegenüber dem Antigen
seitige Ligand CD40L gehört zur TNF-Familie und wird nur nach gekennzeichnet sind und als Centrocyten bezeichnet werden.
Aktivierung der T-Zelle von dieser exprimiert. Das bedeutet, Das Überleben dieser Centrocyten hängt davon ab, ob ihre Im-
dass nur aktivierte T-Helferzellen B-Zellen ein Ȇberlebens- munglobulinrezeptoren ein Antigen binden. Findet keine Anti-
signal« geben können. genbindung statt, werden sie durch Apoptose eliminiert. Vermit-
Die Ligation von CD40 durch CD40L lässt ruhende B-Lym- telt wird dieser Selektionsprozess der Affinitätsreifung von Cen-
phocyten in den Zellzyklus eintreten. Der Start der Proliferation, trocyten durch follikuläre dendritische Zellen (FDC). FDC
der Immunglobulin-Klassen-Wechsel und die Plasmazelldiffe- exprimieren Komplement- und Fc-Rezeptoren auf ihrer Oberflä-
renzierung wird durch Cytokine der T-Helfer-Zellen wie IL-4, che, welche Antigen-Antikörper- bzw. Antigen-Komplement-
IL-5, IL-6, IL-10 und IL-13 vermittelt. Nur auf aktivierten T- Zel- Komplexe binden können. An diesen Strukturen findet die Affi-
len wird ein weiterer Corezeptor ICOS (inducible co-stimulator) nitätsreifung der B-Lymphocyten statt. FDC sind somit keine
exprimiert. Er interagiert mit seinem Liganden ICOSL (auch klassischen antigenpräsentierenden Zellen.
B7RP-1, B7h) auf B-Lymphocyten, dendritischen Zellen, Makro- Die Bindungsstärke (Affinität) der Ig-Rezeptoren auf den
phagen und Endothelzellen (. Abb. 70.15B). Die Bindung von Centrocyten an die Immunkomplexe der FDC korreliert mit der
ICOS und ICOSL veranlasst die T-Zelle zur Synthese von IL-4 und Induktion des bcl-2-Gens und dessen antiapoptotischer Produk-
IL-13. Diese Cytokine wiederum lenken in den B-Zellen den te, die ein Überleben der Zelle ermöglichen. Durch diesen Pro-
Ig-Klassenwechsel in Richtung IgE und induzieren so eine zess der Affinitätsreifung wird gewährleistet, dass nur B-Zellen
vermehrte IgE-Bildung durch die nachfolgend entstehenden mit hochaffinen Immunglobulinrezeptoren gegen ein Antigen
Plasmazellen. Dies ist für allergische Reaktionen vom Typ I, wie selektioniert werden.
Asthma bronchiale und Heuschnupfen, von zentraler Bedeu- Terminal differenzieren die Centrocyten entweder zu Plas-
tung. IL-4 fördert die Bildung von IgG1 und IgE, IL-5 die von mazellen oder zu B-Gedächtniszellen. Die Plasmazellen verlas-
IgA, IFN-γ die von IgG2 und IgG3 und TGF-β die von IgG2b sen das Keimzentrum und wandern ins Knochenmark und in das
und IgA. Mukosa-assoziierte lymphatische Gewebe (hauptsächlich in
Schleimhautepithelien des Darms).
914 Kapitel 70 · Immunologie

B-Gedächtniszellen finden sich in der follikulären Mantelzo- 70.9 Antikörper


ne und in der Peripherie. Sie zeichnen sich durch eine besonders
niedrige Aktivierungsschwelle aus und können bei wiederholtem 70.9.1 Struktur und Vorkommen
Antigenkontakt sehr schnell mit der Antikörperproduktion be- von Antikörpern
ginnen.
Antikörper (auch als Immunglobuline, Ig bezeichnet) kommen
sowohl über einen Membran-Anker fixiert auf reifen B-Zellen
Zusammenfassung als auch frei (ohne Membran-Anker) im Blut und Gewebsflüs-
Entwicklung von B-Lymphocyten sigkeiten vor. Erstere repräsentieren den B-Zell-Rezeptor (BCR),
4 B-Zellen durchlaufen während ihrer Reifung im Letztere die sezernierten Produkte von Plasmazellen, wobei diese
Knochenmark unterschiedliche Stadien, wobei Selek- Antikörper die identische Spezifität des BCR der B-Zelle haben,
tionsprozesse die Auswanderung autoreaktiver B-Zellen aus der die Plasmazelle hervorgegangen ist. Plasmazellen sind
verhindern. hochaktive Bioreaktoren: eine Plasmazelle produziert ca. 2.000
4 Die Reifungsstadien sind durch Umlagerungen der Antikörpermoleküle pro Sekunde.
Immunglobulin-Gene gekennzeichnet. Die Antikörper des Menschen werden in 5 verschiedene
4 Reife B-Zellen exprimieren den B-Zell-Rezeptor (BCR, Klassen (Isotypen) unterteilt. Man unterscheidet IgG, IgA, IgM,
membrangebundene Immunglobuline), CD19, CD20, IgD und IgE. In der Serumelektrophorese findet man die Im-
CD21 und CD23. munglobuline in der Gamma-Globulinfraktion.
4 Jede einzelne reife B-Zelle ist spezifisch für nur ein Die Grundstruktur eines Antikörpermoleküls ist immer
Antigen (eine Zelle – ein Antigen). gleich. Sie besteht aus jeweils zwei identischen schweren Ketten
(heavy chains, H-Ketten, 50kDa) und zwei identischen leichten
Aktivierung von B-Lymphocyten Ketten (light chains, L-Ketten, 25kDa), die über Disulfidbrücken
4 Die B-Zell-Aktivierung setzt die Bindung eines Antigens kovalent verbunden sind und ein ypsilonförmiges, achsensym-
am BCR voraus. metrisches Heterotetramer bilden (. Abb. 70.16).
4 Der BCR-Antigenkomplex wird endocytotisch internali- Prototypisch für Antikörpermoleküle ist das Immunglobu-
siert, das Antigen proteolytisch gespalten und als lin G. Es besteht aus zwei Teilen, die die beiden unterschiedlichen
Peptidstruktur über MHC-II-Moleküle an der B-Zell-Ober- Funktionsbereiche von Antikörpern ausbilden. Man unterschei-
fläche einer T-Helferzelle präsentiert. det einen Fc-Teil (fragment crystallizable, heute auch: fragment
4 Co-stimulatorische Signale sind notwendig für eine voll- constant) der für die Effektorfunktionen (z. B. Opsonierung, Pla-
ständige Aktivierung der B-Zelle. Sie bestehen aus der zentapassage, . Tab. 70.4) verantwortlich ist und zwei Fab-Frag-
Bindung von CD80/86 (B-Zelle) und CD28 (T-Zelle), nach- mente (fragment antigen binding) die hochspezifisch »ihr« Anti-
folgend zwischen CD40 (B-Zelle) und CD40L (T-Zelle) gen erkennen und binden. Die Unterscheidung beider Fragmen-
sowie zwischen ICOSL (B-Zelle) und ICOS (T-Zelle). te erfolgte aufgrund der Produkte, die mittels proteolytischer
4 Der Start der Proliferation, der Immunglobulin-Klassen- Spaltung durch z. B. Papain erhalten werden. Namensgebend für
switch und die Differenzierung zu Plasmazellen wird die leichten und schweren Ketten sind deren unterschiedliche
durch Cytokine der T-Helfer-Zellen, wie IL-4, IL-5, IL-6, Molekularmassen nach Reduktion der Disulfidbrücken.
IL-10 und IL-13 vermittelt. Das Fc-Fragment determiniert die Immunglobulinklasse
4 Die Signaltransduktion ist unter Beteiligung von CD45, (Isotyp) sowie die funktionellen Eigenschaften des Antikörpers
den Tyrosinkinasen Blk, Fyn, Lyn, Syk und der Phospho-
rylierung von ITAMs mit nachfolgender Aktivierung der
Kaskaden Ras/MAPK/Fos/Jun- und PLCγ ähnlich der in
T-Zellen.

Differenzierung von B-Lymphocyten


4 Aktivierte B-Zellen bilden in sekundären lymphatischen
Organen Keimzentren aus.
4 Follikuläre dendritische Zellen vermitteln hier den Selek-
tionsprozess der Affinitätsreifung.
4 Terminal differenzieren aktivierte B-Zellen zu antikörper-
produzierenden Plasmazellen oder B-Gedächtniszellen.

70

. Abb. 70.16 Struktur eines Antikörpers der IgG-Klasse. (Einzelheiten


s. Text)
70.9 · Antikörper
915 70

. Tab. 70.4 Eigenschaften der Immunglobuline des Menschen

IgG IgA IgM IgE IgD

Struktur

Schwere Ketten γ α μ ε δ

Anzahl CH Domänen in der monomeren schweren Kette 3 3 4 4 3

hinge-Region + + +

Molekularmasse (kDa) 150 160 970 190 184

Serumgehalt (g/l) 8–18 0,9–4,5 0,6–2,8 0,0001–0,0014 0,003–0,4

Halbwertszeit (d) 21 6 10 3 2

Neutralisierung (Toxine, Erreger u. a.) ++ ++ +

Komplementaktivierung ++ +++

Opsonierung ++++ + +++

Fc-Rezeptor-Bindung + + +

Mastzellen-Bindung +++

Plazentatransport +++

Transepithelialer Transport +++

bei der Aktivierung von Effektormechanismen. Es ist ein Glyko- Antikörper sind keinesfalls starre Gebilde sondern außeror-
protein, bei dem isotypabhängig mindestens jeweils zwei ver- dentlich flexibel. Fab-Fragmente und Fc-Teil sind über eine sog.
zweigte Ketten aus etwa neun Hexoseresten (Sechsecke in . Abb. hinge-Region (Gelenkregion, Scharnierregion) zwischen der
70.16) ausgeprägt sind. Mit Ausnahme des IgG, welches nur eine ersten und zweiten konstanten Domäne der H-Kette miteinander
N-gebundene Kohlenhydratkette an der schweren Kette trägt, verbunden. Hinzu kommen weitere Übergangsregionen (switch-
weisen alle anderen Isotypen mindestens fünf, über alle konstan- Regionen) zwischen den übrigen Domänen, sodass das Gesamt-
ten Domänen verteilte, Kohlenhydratketten auf. molekül diverse räumliche Konfigurationen annehmen und
Die schweren und leichten Ketten der Immunglobuline damit funktionelle Effekte, wie die Kreuzvernetzung von Anti-
bestehen aus verschiedenen Domänen, die sich unabhängig gen und Rezeptoren, optimal realisieren kann.
voneinander falten (Ig-Domänen). Globuläre Domänen dieser Funktionell bestimmen die variablen Regionen die Antigen-
Art sind charakteristisch für eine Anzahl weiterer Immunmole- bindung und Spezifität während die konstanten Domänen die
küle, der sog. Immunglobulin-Superfamilie, zu der u. a. der weiteren Effektorfunktionen des Antikörpers vermitteln.
T-Zell-Rezeptor, MHC-I und MHC-II, CD4, CD8 und CD19 Antikörper und Antigen müssen an den Bindungsstellen
gehören. komplementär zueinander sein. Die Bindung selbst erfolgt über
Die Ig-Domänen ordnen sich in zwei Ebenen antiparalleler nicht-kovalente Wechselwirkungen (Wasserstoffbrückenbin-
Faltblattstrukturen an, die durch eine intrapeptidische Disul- dungen, hydrophobe Wechselwirkungen) an speziellen Berei-
fidbrücke verbunden sind und einen hydrophoben Kern ab- chen der variablen Domänen der leichten und schweren Ket-
schirmen. Jede Domäne hat eine molekulare Masse von ca. ten (VH, VL). Diese werden als hypervariable Regionen oder
12,5 kDa. complementary determining regions (CDR) bezeichnet, da hier
Die L-Ketten sind aus je einer variablen (VL) und einer kon- die Unterschiede in den Aminosäuresequenzen zwischen den
stanten (CL) Domäne zusammengesetzt. Die variable Domäne VL Antikörpern besonders stark ausgeprägt sind. Maßgeblich sind
wird aus 110 der insgesamt 211–221 Aminosäuren gebildet. Die dabei jeweils nur 6–8 Aminosäuren im Umfeld der Positionen
H-Ketten bestehen aus einer variablen (VH) und drei, bei IgM 30, 50 und 93 der L-Ketten sowie 32, 55 und 98 der H-Ketten.
vier, konstanten Domänen (CH1, CH2, CH3, CH4). Der variable Diese drei CDR-Regionen (CDR1-, CDR2- und CDR3-Region) der
Anteil macht hier 110 von 440 Aminosäuren aus. leichten und schweren Kette werden während der Faltung des
Die Domänen stellen Homologieregionen dar, wobei die Immunglobulins in enger räumlicher Nähe an die Oberfläche des
konstanten Regionen der leichten (CL) und schweren Ketten Moleküls gebracht und bilden hier die Antigenbindungsstelle
(CH1) einander und untereinander homolog sind. in Form einer Vertiefung aus.
916 Kapitel 70 · Immunologie

70.9.2 Antikörperfunktionen ten (γ, α, μ, ε, δ-Ketten). Die konstanten Domänen der schweren
Ketten definieren die Immunglobulinklasse, also IgG, IgA, IgM,
Folgende Grundfunktionen können Antikörpern hauptsächlich IgE und IgD, die im Falle des IgG und IgA jeweils weitere Sub-
zugeordnet werden, wobei die verschiedenen Immunglobulin- klassen bilden (IgG1, IgG2, IgG3 und IgG4 bzw. IgA1 und IgA2).
Klassen unterschiedliche Funktionen ausüben: Einige Eigenschaften sowie der schematische Aufbau der Im-
munglobuline sind in . Tab. 70.4 zusammengefasst.
Immunkomplexbildung Die Anzahl der Antigenbindungsstellen
pro Antikörper, also die mögliche Antigenbindungskapazität, Immunglobulin G (IgG) IgG repräsentiert mit einer Serumkon-
wird als Valenz bezeichnet. Ein IgG-Antikörper ist somit biva- zentration von bis zu 18 g/l, entsprechend ca. 80 % mengen-
lent, da er über zwei Bindungsstellen verfügt. Diese Eigenschaft mäßig den größten, sowie mit einer Halbwertszeit von drei
ermöglicht es Antikörpern größere Komplexe aus mehreren ge- Wochen gleichzeitig den stabilsten Anteil der Immunglobuline
bundenen Antigenen, die wiederum über Antikörperbrücken an im Blut. Der Gehalt in der Extrazellulärflüssigkeit ist in etwa
weitere Antigene gebunden sind, zu erzeugen. Diese Aggregate, analog. Die Hauptfunktion des IgG liegt in der Neutralisierung
auch als Präzipitate oder, bei Beteiligung von Zellen, als Aggluti- von Toxinen und Mikroorganismen, indem es die Bindung an
nate bezeichnet, werden von Granulocyten und Makrophagen die zellulären Zielstrukturen durch »Wegfangen« verhindert. IgG
z. B. deutlich besser phagocytiert. ist als einzige Immunglobulinklasse in der Lage, die Plazenta zu
passieren und vom mütterlichen in den kindlichen Kreislauf
Neutralisierung Antikörper (IgG, IgA) binden Toxine oder überzugehen. Man findet beim Neugeborenen im Vergleich zum
Krankheitserreger und verhindern dadurch deren Eintritt in Erwachsenen nur unwesentlich geringere Serumkonzentrationen
Gewebe und Zellen. (bis zu 16 g/l), die als Leihimmunität das noch unterentwickelte,
untrainierte Immunsystem des Kindes in den ersten Lebenswo-
Opsonierung Antikörper (IgG, IgM) markieren die Oberfläche chen ersetzt. IgG kommt in vier Subklassen, IgG1–IgG4, vor. Die
eines Erregers durch Bindung über den Fab-Teil und ermögli- Subklassen werden durch die γ-Ketten (γ1-γ4) definiert und un-
chen Phagocyten über deren Fc-Rezeptor und/oder Komple- terscheiden sich in der hinge-Region. Mengenmäßig überwiegt
mentrezeptoren den direkten Kontakt. Die Phagocytose wird IgG1 (65 %) vor IgG2 (23%), IgG3 (8%) und IgG4 (4%). Die Effek-
dadurch erheblich beschleunigt. torfunktionen werden über Fcγ-Rezeptoren vermittelt, wobei
unterschiedliche Phagocyten und Killerzellen verschiedene
Komplementvermittelte Cytotoxizität Der Antikörper (IgM, Fc-Rezeptoren exprimieren. Der Fcγ-Rezeptor-I (FcγRI, CD64)
IgG) bindet an Oberflächenantigene von Zellen. In Folge der hat die höchste Affinität und bindet IgG1 oder IgG3 an Monocy-
Antigenbindung setzt eine Konformationsänderung im Antikör- ten. FcγRII (CD32) weist eine mittlere Affinität auf und wird von
permolekül ein, die dazu führt, dass zwei benachbarte Antikör- Phagocyten, B-Zellen und Thrombocyten exprimiert. Der
per an den CH2-Domänen die Bindungsstelle für den Komple- niedrigaffine FcγRIII (CD16) ist auf Monocyten, Makrophagen,
mentfaktor C1q präsentieren und somit die Komplementkaska- NK-Zellen und neutrophilen Granulocyten (hier über einen GPI-
de aktiviert wird. Anker in der Membran fixiert) zu finden. IgG1 und IgG3 binden
deutlich stärker an Fcγ-Rezeptoren als IgG2 und IgG4.
Antikörperabhängige zelluläre Cytotoxizität (antibody dependent
cellular cytotoxiciy, ADCC) Der Antikörper (IgG) bindet an Ober- Immunglobulin A (IgA) IgA ist mit einer Serumkonzentration
flächenantigene der Zielzelle. Über den freien Fc-Teil binden von bis zu 4 g/l nur die zweithäufigste Immunglobulinklasse
Fcγ-Rezeptor (CD16)-tragende NK-Zellen. Nach Kreuzvernet- im Blut. Allerdings ist es mengenmäßig das am stärksten pro-
zung der Rezeptoren werden cytotoxische Mediatoren (Perforin, duzierte Immunglobulin und die einzige Ig-Klasse, die auf den
Granzyme) ausgeschüttet und das cytolytische Programm zur Grenzflächen des Organismus, den Schleimhautoberflächen des
Zerstörung der Antikörper-markierten Zielzellen aktiviert. Verdauungs-, Atem- und Genitaltraktes im Speichel, Tränen-
flüssigkeit, Galle, Schweiß und in der Muttermilch vorkommt.
Mastzellsensibilisierung Antikörper (nur IgE) binden an Fc- Es sind zwei Subklassen, IgA1 und IgA2 bekannt, die sich in den
Rezeptoren auf Mastzellen ohne (!) vorherige Antigenbindung. Disulfidbrücken der hinge-Region unterscheiden. IgA kommt in
Die Mastzelle reagiert auf diese Bindung noch nicht mit einer drei Formen vor. Im Blut liegen die meisten IgA-Moleküle (85 %)
Aktivierung. Erst nachdem das Antigen eine Kreuzvernetzung als Monomere vor, der übrige Anteil ist ein über eine J-Kette
zwischen mindestens zwei rezeptorgebundenen IgE-Molekülen (joining) verbundenes IgA-Dimer. Nicht im Blut sondern auf den
ausgelöst hat, wird die Mastzelle aktiviert und degranuliert. oben beschriebenen Schleimhäuten und Körperflüssigkeiten
findet man das sekretorische IgA (sIgA), als die quantitativ
häufigste IgA-Form. Sekretorische IgA-Moleküle liegen als
70 70.9.3 Immunglobulinklassen Dimere mit einer zusätzlichen sekretorischen Komponente
vor. Diese sekretorische Komponente ist Teil des Poly-Ig-Re-
Antikörper werden in strukturell und funktionell unterschied- zeptors, eines Membranrezeptors auf Schleimhautepithelzel-
liche Klassen (Isotypen, Ig-Klassen) unterteilt. Beim Menschen len,  der auf der extraluminalen Seite exprimiert wird und
findet man zwei Arten von leichten Ketten (κ-Ketten und IgA bindet. Der Komplex aus IgA-Dimer und Poly-Ig-Rezeptor
λ-Ketten) sowie fünf verschiedene Formen der schweren Ket- wird internalisert, der extrazelluläre Teil des Rezeptors abge-
70.9 · Antikörper
917 70
spalten und mit dem IgA-Dimer luminal freigesetzt. Durch der klonalen Selektion auf. Diese besagt, dass die Diversität
diesen rezeptorvermittelten Transcytoseprozess gelangt sIgA des Immunsystems bereits vor jedem Antigenkontakt ausge-
auf alle Schleimhäute, wo es vermischt mit Mucin die vorderste prägt ist. Das Antigen selektioniert danach aus einer gewaltigen
Immunbarriere durch Neutralisation von Mikroorganismen Menge B-Zellen diejenigen mit der passenden Spezifität der
darstellt (7 Kap. 70.12). Antikörper. Das setzt voraus, so die allgemeine Schätzung, dass
Cave nomenclatura: sIgA (sekretorisches IgA) hat keinerlei das Immunsystem des Menschen ohne vorherige Kenntnis der
Beziehung zu sIgM (surface IgM). Ersteres bezeichnet die lösliche Antigenstruktur etwa 1011 verschiedene Antikörperspezifitäten
Form des IgA auf Schleimhäuten, Letzteres die membrangebun- generieren muss.
dene Form des IgM auf B-Zellen! Der Prozess, der diese einzigartige Leistung realisiert, besteht
aus zwei nacheinander ablaufenden Ereignissen, der somati-
Immunglobulin M (IgM) IgM-Moleküle treten im Blut als Penta- schen Rekombination (rearrangement) während der B-Zell-
mere mit einer molekularen Masse von ca. 970 kDa auf. IgM Reifung im Knochenmark und der somatischen Hypermuta-
weist in der schweren Kette 4 konstante Domänen und keine tion der Gene nach Antigenkontakt. Das Prinzip der somati-
hinge-Region auf. Die ein Pentamer bildenden Monomere wer- schen Rekombination wurde bereits bei der Generation der
den wie beim IgA durch ein joining-Protein (J-Kette) verbunden. unterschiedlichen T-Zell-Rezeptoren beschrieben (7 Kap. 70.7.1).
IgM wird als Teil des B-Zell-Rezeptor-Komplexes auf allen Während des rearrangements werden die verschiedenen Immun-
B-Zellen exprimiert (sIgM, surface IgM), die noch keinen Antigen- globulinklassen durch Genumlagerungen ausgebildet; die
kontakt hatten und wird nach Kontakt und Aktivierung als erste Hypermutation moduliert durch Punktmutationen die hyper-
Immunglobulinklasse gebildet und sezerniert. Lösliches IgM variablen Regionen (CDR) der H- und L-Ketten im Rahmen der
agglutiniert sehr stark und bindet bevorzugt polymere Antigene, Keimzentrumsreaktion.
also solche, die eine Vielzahl gleichartiger Epitope aufweisen wie
z. B. Polysaccharide. IgM ist das effektivste Immunglobulin im Somatische Rekombination Das rearrangement der Gene für die
Rahmen der Aktivierung des Komplementsystems (7 Kap. 70.2.3) schweren und leichten Ig-Ketten erfolgt in unterschiedlichen
Chromosomen. Die H-Ketten werden im Chromosom 14, die
Immunglobulin E (IgE) Dieses Immunglobulin verfügt ebenfalls Lambda-Leichtketten im Chromosom 22 und die Kappa-Leicht-
in der schweren Kette über 4 konstante Domänen und hat keine ketten im Chromosom 2 rearrangiert. Die Genloci codieren da-
hinge-Region. Es kommt nur in sehr geringen Mengen frei im bei nicht für die fertigen Immunglobulin-Ketten sondern für
Blut vor. Der überwiegende Anteil wird durch hochaffine Igε- einzelne Baugruppen, die nach dem Zufallsprinzip miteinander
Rezeptoren auf Mastzellen und aktivierten eosinophilen Granulo- verknüpft und dazwischenliegende Abschnitte durch spezielle
cyten über den Fc-Teil gebunden. IgE verleiht damit der Mast- Enzyme (u. a. RAG1, RAG2, recombination activating gene) her-
zelle  eine Antigenspezifität. Es spielt eine zentrale Rolle bei der ausgeschnitten werden. Die Vielzahl der möglichen Kombinati-
Abwehr von Parasiten, insbesondere Würmern. Pathophysi- onen der einzelnen Baugruppen (Gensegmente) begründet die
ologisch ist IgE verantwortlich für die allergische Reaktion vom hohe Diversität. Man unterscheidet für die Codierung der
Soforttyp (Typ-I-Allergie) wie Asthma bronchiale und Pollinosen H-Ketten V(variable)-, D (diversity)-, J (joining)- und C
(7 Kap. 70.13.2). Nach Bindung der Antigene an mastzellgebun- (constant)-Gensegmente. Leichte Ketten werden nur von V-,
dene IgE-Moleküle degranulieren die Mastzellen und setzen vaso- J- und C-Segmenten codiert.
aktive Substanzen, hauptsächlich Leukotriene und Prostaglandine
frei. Eine starke Mastzelldegranulierung kann einen anaphylak- Rearrangement der H-Ketten (. Abb. 70.17) In der Keimbahn-
tischen Schock auslösen. konfiguration (also der ererbten Zusammensetzung) des Men-
schen codieren ca. 50 V-Gensegmente für die Aminosäuren 1 bis
Immunglobulin D (IgD) IgD ist gemeinsam mit IgM das häufigste 95, ca. 25 D-Segmente für die Aminosäuren 96 bis 101, 6 J-Gene
membranständige Immunglobulin auf B-Zellen. Im Serum für die Aminosäuren 102 bis110 sowie 9 C-Gensegmente. Die
kommt es nur in sehr geringen Konzentrationen vor. Über seine Gensequenzen für die konstanten Abschnitte der acht verschie-
Funktion ist bislang wenig bekannt. Neueste Arbeiten vermuten denen Typen der schweren Ketten (μ, δ, die beiden Kopien von α
eine Funktion bei der Erkennung und Beseitigung von bakteriel- – α1 und α2 für IgA1 und IgA2 – sowie γ1–γ4 für IgG1‒IgG4) befin-
len Erregern in den Atemwegen und im Rahmen der Aktivierung den sich in einem zusammenhängenden Bereich von etwa
basophiler Granulocyten. 100.000 Basenpaaren. Jedem V-Gen ist eine L-Sequenz (leader)
vorangestellt. In dieser sind Informationen für hydrophobe Ami-
nosäuren enthalten, die für ein Signalpeptid codieren, das wäh-
70.9.4 Entstehung der Antikörper-Vielfalt rend der späteren Proteinketten-Biosynthese abgespalten wird.
Der Prozess startet mit dem D-J-rearrangement. Dabei wird
Antikörper sind neben den T-Zellen die wichtigsten Waffen des durch Deletion der dazwischenliegenden DNA ein beliebiges D-
adaptiven Immunsystems. Lange Zeit war man davon aus- Gen mit einem beliebigen J-Gen verknüpft. In der weiteren Rei-
gegangen, dass der Antigenkontakt Voraussetzung für die fung wird nun ein V-Gen mit der L-Sequenz neben das DJ-Seg-
Spezifität des Antikörpers ist – praktisch der Antikörper am ment umgelagert (V-D-J-Rearrangement). Dieses wird in eine
Antigen formiert wird. Dass dem nicht so ist, postulierte als VDJ-Cμ Prä-mRNA transkribiert und nach Spleißen zur VDJ-
erster Frank Macfarlane Burnet 1955. Er stellte die Theorie Cμ-mRNA in das VDJ-Cμ-Precursorprotein translatiert. Nach
918 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.17 Rearrangement der schweren Ketten der Immunglobuline. Im abgebildeten Beispiel werden zuerst das D2 (gelb) und J4 Gen (grün) durch
Deletion des dazwischenliegenden Abschnittes (grau) verknüpft (D-J-rearrangement). Es folgt die Umlagerung des VH3 Gens (dunkelblau) mit vorgelagerter
(leader) L-Sequenz (hellblau) an das D2J4-Konjugat (V-DJ-rearrangement). Hiervon wird ein primäres Transkript VDJ-Cµ-Cδ und nachfolgend die finale B-Zell-
mRNA synthetisiert. Nach Translation und Abspaltung der L-Sequenz entsteht die µ-Kette eines IgM-Moleküls. (Einzelheiten s. Text)

Abspaltung der L-Sequenz entsteht eine fertige schwere μ-Kette. Immunglobulin-Klassen-switch Aktivierte B-Zellen produzieren
Zur Bildung der γ-, ε- oder α-Ketten wird die V-D-J-Sequenz zuerst immer IgM-Immunglobuline. Im Laufe der weiteren Rei-
jeweils in die Nähe des Gens für die betreffende Kette verlagert. fung werden die rearrangierten VDJ-Sequenzen in der Nachbar-
Die dazwischenliegenden DNA-Regionen werden wiederum de- schaft von anderen C-Genen (γ1–4, α1–2 und ε1–2) angeordnet.
letiert. Ig μ- und δ-Ketten werden generell gemeinsam expri- Jedem C-Segment ist eine switch-Sequenz (S-Sequenz) vorgela-
miert. Um sicherzustellen, dass entweder eine µ- oder δ-Kette her- gert. Diese rekombiniert entsprechend des Homologiegrades mit
gestellt wird, bricht im Falle der μ-Kette die Transkription nach Er- anderen S-Sequenzen, wobei die zwischen der VDJ-Sequenz und
reichen des 3’-Endes des μ-Gens ab. Bei der Umschreibung der dem neuen C-Gensegment liegende Cμ-Sequenz deletiert wird.
δ-Kette wird ein vorläufiges μ- und δ-Ketten-Transkript gebildet, aus S-Sequenzen steuern so den Umlagerungsprozess.
dem das μ-Segment durch Spleißen entfernt wird. Hierdurch wird
das V-D-J-Segment unmittelbar mit dem δ-Segment verbunden. Determinierung des Membran-Ankers Immunglobuline kom-
men sowohl membranständig als B-Zell-Rezeptoren auf der Zell-
Rearrangement der leichten Ketten Die Gene für die oberfläche als auch von Plasmazellen sezerniert vor. Beide For-
κ-Leichtketten befinden sich auf Chromosom 2, die der λ-Ketten men unterscheiden sich ausschließlich durch den Membran-
auf Chromosom 22 (. Abb. 70.18). Die Codierung einer Leicht- Anker, dessen Vorhandensein auf Transkriptionsebene determi-
kette erfordert eine Rekombination, bei der sich eine der ca. 40 niert wird. Dies geschieht durch die Nutzung unterschiedlicher
(κ-Kette) bzw. 50 (λ-Kette) V-Gensegmente, die die Information Stopp-Codons am 3’-Ende des C-Gensegments. Das membran-
für die Aminosäuren 1–95 enthalten, mit einer der fünf aktiven ständige Immunoglobulin wird unter Nutzung eines weiter ent-
J-Segmente für die Aminosäuren 96–108, verbindet. Den V- fernt gelegenen Stopp-Codons umgeschrieben, wobei eine länge-
Segmenten sind wiederum L-Sequenzen vorgeschaltet. Beim re mRNA entsteht, die ein hydrophobes Membranprotein codiert.
rearrangement der Leichtketten wird ein V-Gen neben ein J-Gen Lösliche Immunglobuline entstehen, wenn ein dem C-Genseg-
transponiert und diese VJ-Sequenz dann gemeinsam mit der ment näher liegendes Stopp-Codon genutzt wird (7 Kap. 47.2.3).
Sequenz des einen konstanten Leichtkettenteils der κ-Kette oder
70 einer der 5 aktiven C-Sequenzen der λ-Kette in eine Prä-mRNA
umgeschrieben. Nach Spleißen, Translation und Abspaltung der
L-Sequenz liegt die jeweilige Leichtkette vor.
70.9 · Antikörper
919 70

. Abb. 70.18 Organisation der Gene für die κ- und λ-Leichtketten der Immunglobuline. Die Gene der κ-Leichtkette sind auf Chromosom 2 lokalisiert,
die der λ-Leichtkette auf Chromosom 22. Die λ-Leichtketten-Gene Jλ4-5 und Cλ4-5 sind inaktiv. (Einzelheiten s. Text)

70.9.5 Antikörper in der Medizin renen und erworbenen Immundefekten, die mit einem Antikör-
permangel einhergehen sowie als Postexpositionsprophylaxe bei
Antikörper stellen nicht nur überaus wichtige Hepatitis B und Tollwutinfektionen nicht oder nicht vollständig
Waffen des Immunsystems dar, sondern sind heute geimpfter Patienten. Hierzu wird das Serum möglichst vieler
gleichzeitig als hochspezifische Werkzeuge in Spender zusammengefasst (gepoolt) um eine möglichst breite
Forschung, Diagnostik und Therapie nicht mehr Antikörpervielfalt zu gewährleisten und nach aufwendigen Rei-
wegzudenken nigungs- und Kontrollschritten (Cave: Virusinfektionen mit
Polyklonale Antikörper Die Aktivierung einer B-Zelle durch ein HIV, Hepatitis B) intravenös verabreicht.
Antigen führt zu deren klonaler Expansion, wobei eine B-Zelle
für ein Antigen spezifisch ist und einen spezifischen B-Zell- Monoklonale Antikörper Die naturbedingten Nachteile polyklo-
Klon durch wiederholte Teilung erzeugt. In der Regel sind Anti- naler Antikörper, begrenzte Verfügbarkeit und Chargendiffe-
gene komplexer Natur (z. B. Mikroorganismen oder Proteine) renz, wurden durch ein Verfahren beseitigt, das George Köhler
und besitzen somit eine Vielzahl unterschiedlicher Epitope. Es und Cesar Milstein 1975 publizierten und wofür sie 1984 einen
werden also gegen jede Fremdstruktur mehrere verschiedene Nobelpreis bekamen: die Herstellung monoklonaler Antikörper.
Antikörper von verschiedenen B-Zell-Klonen gebildet und als Diese Technologie revolutionierte vielfältigste Forschungs-,
polyklonales Antikörpergemisch im Serum (»Antiserum«) ver- Diagnose- und Therapiebereiche, da es hierdurch möglich wur-
fügbar. de, Antikörper mit eindeutig definierter Spezifität in praktisch
Man nutzt die relativ einfache Art der Gewinnung spezifi- unbegrenzter Menge und konstanter Qualität herzustellen.
scher Antiseren durch Immunisierung von Tieren (Pferd, Esel, Das Grundprinzip des Verfahrens ist ebenso einfach wie ge-
Kaninchen, Huhn, Ziege, Ratte) hauptsächlich für Forschungs- nial (. Abb. 70.19): Eine Maus wird mit dem gewünschten Anti-
zwecke und in der Diagnostik. Limitiert wird die Verwendung gen (dieses kann, muss aber nicht aufgereinigt sein, es eignen sich
tierischer polyklonaler Antikörper durch die zwingend resultie- auch ganze Zellen, z. B. aus Tumoren) und einem Adjuvans zur
renden Unterschiede der verschiedenen Chargen, die man bei Verstärkung der Immunantwort immunisiert. Über regelmäßige
der Immunsierung verschiedener Tiere hat, sowie durch die Blutentnahmen wird kontrolliert, ob und wann die Maus spezifi-
mengenmäßige Begrenzung einzelner Chargen. Die therapeu- sche Antikörper im Serum aufweist. Ist dies der Fall, wird die
tische Anwendung tierischer Antiseren beim Menschen ist nur Milz entnommen. Die B-Zellen aus der Milz werden nun mit
sehr eingeschränkt möglich, da sie als Fremdproteine hervor- Myelomzellen chemisch in Gegenwart von Polyethylenglycol
ragende Antigene darstellen und sehr schnell durch Anti-Anti- (PEG) oder durch Elektrofusion fusioniert. Ziel ist es, die Eigen-
körper neutralisiert werden können. Zudem haben in die Blut- schaft der Antikörperproduktion der B-Zelle mit der Eigenschaft
bahn gebrachte tierische Eiweiße ein hohes Allergiepotential, der Unsterblichkeit der Myelom(Tumor)-Zelle zu vereinen. Hier-
das häufig allergische Reaktionen bis hin zum anaphylaktischen zu müssen sämtliche, bei der Fusion entstandenen B-Zell-B-Zell-
Schock mit sich bringt. Daher verwendet man heute tierische Paare und Myelom-Myelom-Paare entfernt werden, damit aus-
Antiseren nur noch in Ausnahmefällen sowie möglichst kurz- schließlich die Hybridome (B-Zelle-Myelom-Zelle) übrig blei-
zeitig bzw. einmalig. Beispiele sind die Neutralisation von ben. Dies geschieht durch eine sog. HAT-Selektion. HAT steht für
Schlangen- und Insektengiften, das Botulinus-Antitoxin vom Hypoxanthin, Aminopterin und Thymidin als Bestandteile eines
Pferd sowie die Verwendung von Thymoglobulin (polyklonale speziellen Selektionsmediums. Die Myelomzelllinie ist durch ei-
Antikörper aus Kaninchen gegen humane Thymocyten) in der nen Enzymdefekt der Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-
Transplantationsmedizin. Hochdosierte Immunglobulin- transferase (HGPRT) charakterisiert (7 Kap. 29.2). HGPRT er-
gaben erfolgen auch bei verschiedenen Autoimmunerkrankun- möglicht eine alternative DNA-Synthese über Hypoxanthin,
gen, z. B. idiopathisch thrombocytopenischer Purpura (Im- wenn die de novo-Purinsynthese durch Aminopterin blockiert ist.
munthrombocytopenie) und Multipler Sklerose. Aufgereinigte Dadurch können in HAT-Medium nur HGPRT-positive Zellen
humane Antiseren haben dagegen einen hohen therapeuti- überleben. In der Konsequenz sterben die HGPRT-negativen
schen Wert im Rahmen der Substitutionstherapie von angebo- Myelomzellen und Myelom-Myelom-Fusionsprodukte ab. Es
920 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.19 Gewinnung monoklonaler Antikörper mittels Hybridomtechnik. PEG: Polyethylenglycol; HAT: Hypoxanthin, Aminopterin, Thymidin.
(Einzelheiten s. Text)

überleben die B-Zellen und die Hybridome, die durch die Fusion 4 Isolierung und Sortierung von Zellen (FACS, fluorescence
mit B-Zellen HGPRT-positiv sind. B-Zellen haben in der Zell- activated cell sorting; MACS, magnetic cell sorting)
kultur jedoch nur eine geringe Lebenszeit und sterben nach we- 4 Anreicherung von Antigenen (Immunpräzipitation) oder
nigen Tagen ab. Übrig bleiben somit nur die Hybridome, die nun Zellen (panning)
durch mehrfache Verdünnung (limiting dilution) in Mikrotiter- 4 Aufreinigung von Antigenen (Affinitätschromatographie)
platten so vereinzelt werden, dass am Ende jeweils nur eine ein-
zelne Zelle als Ursprung für den jeweiligen Klon vorliegt. Der Seit der erstmaligen therapeutischen Anwendung von Muro-
Klon expandiert und die Antikörper im Überstand werden hin- monab (anti-CD3, Orthoclone OKT3™) zur Verhinderung der
sichtlich ihrer Spezifität getestet. Der oder die gewünschten Klone Transplantatabstoßung 1986 wurden umfangreiche Entwick-
(es entstehen pro Antigen verschiedene spezifische monoklonale lungsarbeiten mit dem Ziel durchgeführt, Mausantikörper zu
Antikörper) stehen nun zur weiteren Verwendung in der zellkul- »humanisieren« und so das Speziesproblem der Fremdeiweiß-
turtechnischen Massenproduktion in Bioreaktoren zur Verfü- erkennung und Neutralisation durch HAMAs (human anti-mouse
gung und werden parallel im Tiefkühllager (idealerweise der Gas- antibodies) zu lösen und gleichzeitig eine Verbesserung der Ef-
phase über flüssigem Stickstoff) bei unter –140 °C konserviert. fektor-Funktionen sowie der Halbwertzeit zu erreichen.
Monoklonale Antikörper finden breiteste Anwendung in der Aktuell (Januar 2014) sind in Deutschland 28 monoklonale
Forschung und Labordiagnostik sowie bei der in vivo-Diagnos- Antikörper für die therapeutische Anwendung am Menschen
tik und der Therapie von Patienten. Es gelangen fast ausschließ- zugelassen. Die Hauptindikationsgebiete umfassen die Onkologie,
lich IgG-Antikörper zur Anwendung. Immunologie und die akute Transplantatabstoßungsreaktion.
Antikörper können mit Fluorochromen, Enzymen, radioak- Daneben erfolgt der Einsatz bei RSV (respiratory syncytial virus)-
tiven Isotopen oder Partikeln (Gold, Eisen) markiert und somit Infektionen, zur Gerinnungshemmung sowie bei altersbedingter
mittels verschiedenster Methoden qualitativ und quantitativ Makuladegeneration (. Tab. 70.5).
detektiert werden. Häufige ex situ-Anwendungen beziehen sich Die gentechnologischen Veränderungen am humanisierten
auf die: Antikörpermolekül haben in der Nomenklatur (Endung auf –
70 4 Quantifizierung von Antigenen in Gemischen (ELISA mab für monoclonal antibody) der heute verwendeten Therapeu-
(enzyme-linked immuno-sorbent assay), RIA (radioimmuno tika Niederschlag gefunden. Der erste Ansatz wurde über den
assay), Elispot (enzyme-linked immunospot technique)) Austausch des Fc-Fragments des Mausantikörpers gegen ent-
4 Identifizierung von Antigenen in Geweben (Immunhisto- sprechende humane IgG-Sequenzen realisiert. Die Fab-Frag-
chemie), auf Zellen (Durchflusszytometrie) und nach mente blieben murin. Man bezeichnet sie als chimäre Antikör-
elektrophoretischer Auftrennung (Western-Blot) per und erkennt sie an der Endung –ximab im Freinamen. Die
70.9 · Antikörper
921 70

. Tab. 70.5 Therapeutische monoklonale Antikörper

Freiname Handelsname Antigen Indikationsgebiet Indikation(en) Zulassung

Pertuzumab Perjeta HER-2 Onkologie Mamma-Ca 2013

Brentuximab Adcetris CD30 Onkologie Hodgkin Lymphom 2012


vedotin

Ipilimumab Yervoy CTLA-4 Onkologie Melanom 2011

Ofatumumab Arzerra CD20 Onkologie CLL 2010

Catumaxomab Removab EpCAM/CD3 Onkologie Maligner Aszites 2010

Panitumumab Vectibix EGFR Onkologie ColoRectal-Ca 2007

Bevacizumab Avastin VEGF Onkologie Colon-, Rectum-, Mamma-, Bronchial-, 2005


Nieren-Ca

Ibritumomab Zevalin CD20 Onkologie NHL 2004

Cetuximab Erbitux EGFR Onkologie ColoRectal-Ca, Plattenepithel-Ca Kopf/Hals 2004

Trastuzumab Herceptin HER-2 Onkologie Mamma-Ca 2000

Alemtuzumab Lemtrada CD52 Immunologie Multiple Sklerose 2013

Belimumab Benlysta BLys Immunologie SLE 2011

Canakinumab Ilaris IL-1β Immunologie CAPS 2009

Tocilizumab RoActemra IL-6R Immunologie RA 2009

Golimumab Simponi TNFα Immunologie RA, Psoriasis-Arthritis, Spondylitis ankylosans 2009

Certolizumab Cimiza TNFα Immunologie RA 2009

Ustekinumab Stelara IL-12/IL-23 Immunologie Psoriasis 2009

Eculizumab Soliris C5 Immunologie PNH 2007

Natalizumab Tysabri α4-Integrin Immunologie Multiple Sklerose 2006

Adalimumab Humira TNFα Immunologie RA, Psoriasis, Morbus Crohn, Spondylitis 2003
ankylosans

Infliximab Remicade TNFα Immunologie RA, CED, Psoriasis, Spondylitis ankylosans 1999

Palivizumab Synagis RSV Immunologie RSV-Infektion 1999

Rituximab Mabthera CD20 Onkologie/Immunologie NHL, CLL, RA 1998

Basiliximab Simulect CD25 Transplantation Akute Abstoßungsreaktion 1998

Denosumab Prolia RANKL Orthopädie Osteoporose 2010

Abciximab ReoPro GPIIb/IIIa Kardiologie Gerinnungshemmung 2005

Omalizumab Xolair IgE Immunologie Asthma bronchiale 2005

Ranibizumab Lucentis VEGF Ophtalmologie Maculadegeneration 2007

BLys: B-Lymphocyten-Stimulator; Ca: Karzinom; CAPS: cryopyrin-associated periodic syndroms; CED: Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen;
CLL: Chronisch-lymphatische Leukämie; EGFR: Epidermal growth factor receptor; EpCAM: Epithelial cell adhesion molecule; HER-2: Human epidermal
growth factor 2; NHL: Non-Hodgkin Lymphom; PNH: Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie; RA: Rheumatoide Arthritis; RSV: Respiratory syncytial
virus; RANKL: Receptor activator of nuclear factor kappa-B ligand; SLE: Systemischer Lupus erythematosus; VEGF: Vascular endothelial growth factor.

nächste Antikörper-Klasse weist nur noch die Antigenbindungs- stellt und entstammen nicht mehr der Hybridomtechnik nach
stellen, weitestgehend nur die CDR-Bereiche (7 Kap. 70.9.1) der Köhler und Milstein. Diese Antikörper werden unter Nutzung
hypervariablen Region der H- und L-Kette der Maus auf, welche umfangreicher Genbanken und Phagen-Display-Technologien
gentechnisch in ein humanes IgG integriert werden. Diese Kon- (7 Kap. 50.3) in Säugerzellen (CHO) sowie in transgenen Tieren
strukte werden humanisierte Antikörper genannt und tragen (7 Kap. 55.1) hergestellt. Man erkennt sie an der Freinamenen-
die Endung -zumab. dung -umab.
Vollhumane, rekombinante Antikörper ohne jeglichen mu-
rinen Anteil werden durch gentechnologische Verfahren herge-
922 Kapitel 70 · Immunologie

Zusammenfassung 4 Polyklonale Antikörper werden therapeutisch zur Neu-


Antikörper tralisation von Toxinen, zur Substitution von Ig-Mangel-
4 Antikörper oder Immunglobuline kommen membran- zuständen und bei bestimmten Autoimmunerkrankun-
gebunden auf reifen B-Zellen als Teil des BCR sowie gen genutzt.
gelöst im Blut als Produkt der Plasmazellen vor. 4 Monoklonale Antikörper werden mittels Hybridomtech-
4 Die Grundstruktur bilden zwei schwere (H-) und zwei leich- nologie oder neuerdings mit Hilfe der Phagendisplay-
te (L)-Ketten (κ, λ), die die Form eines Y haben und durch Technologie hergestellt. Sie sind spezifisch für ein Epitop
Disulfidbrücken verbunden sind. Man unterscheidet zwei eines bestimmten Antigens.
N-terminale Fab-Fragmente über die die Antigenbindung 4 Therapeutische Verwendung finden monoklonale Anti-
an hypervariable Regionen (CDR1-3) erfolgt und ein C-ter- körper hauptsächlich im Bereich der Onkologie, chro-
minales Fc-Fragment, welches die unterschiedlichen Effek- nisch-entzündlicher Erkrankungen und Transplantatab-
torfunktionen des Antikörpers vermittelt. stoßungsreaktion.
4 Es existieren 5 Immunglobulinklassen bzw. Isotypen,
teils mit Subgruppen (IgM, IgD, IgG1–4, IgA1-2, IgE), die
durch die jeweiligen schweren Ketten definiert werden.
Das IgM-Molekül ist ein Pentamer; IgA kann als Mono- 70.10 Zirkulation von Lymphocyten
mer, Dimer und sekretorisches sIgA auftreten.
4 Die Immunglobulinklassen haben unterschiedliche 70.10.1 Lymphocyten im Blut
Funktionen. IgM wird als erstes Ig gebildet. IgM und IgG
aktivieren das Komplementsystem. sIgA (sekretorisches Etwa 1–2 % aller Lymphocyten des Menschen zirkulieren als
IgA) realisiert die Schleimhautimmunität, IgG die Leih- überwiegend nicht-aktivierte, naive T- und B-Lymphocyten im
immunität. IgE wirkt bei der Parasitenabwehr und ist bei peripheren Blut. T-Lymphocyten stellen beim Erwachsenen
Allergien vom Typ I essentiell. einen relativen Anteil von etwa 73 % (CD4-Zellen: 42 %) und
B-Lymphocyten etwa 13 % der Blutlymphocyten dar. Die übri-
Entstehung der Antikörpervielfalt gen 14 % sind natürliche Killerzellen (NK, CD16, CD56), die we-
4 Die Variabilität der Antikörper und des B-Zell-Rezeptors der T-Zell- noch B-Zell-Rezeptoren aufweisen. Eine Subpopula-
entsteht durch zufällige somatische Rekombination tion der T-Zellen (weniger als 1 %) exprimiert einen α/β-TCR und
(rearrangement) vor Antigenkontakt sowie somatische Marker der NK-Zellen. Diese Zellen werden natürliche Killer-
Hypermutation nach Antigenkontakt. T-Zellen (NKT) genannt und erkennen Glykolipide sowie andere
4 H-Ketten entstehen aus den auf Chromosom 14 rearran- Nicht-Peptid-Antigene. IFN-α/β, TNF-α, IL-1, IL-12 und IL-18
gierten Genabschnitten V, D, J und C. aktivieren NK-T Zellen, die ihrerseits IFN-γ und IL-4 bilden.
4 L-Ketten entstehen aus den auf Chromosom 22 (λ-Kette) Der Anteil regulatorischer T-Zellen (Treg, Suppressorzellen)
und Chromosom 2 (κ-Kette) rearrangierten Genabschnit- liegt unter 5 % der Gesamt-T-Zellen. Neugeborene und Kinder
ten V, J und C. haben einen um etwa 10 % geringeren T-Lymphocytenanteil im
4 Das H-Ketten-rearrangement erfolgt durch die Verknüp- Blut; der B-Zell-Anteil ist höher.
fung von DJ- und VDJ- bzw. VDJC-Gensegmenten der
H-Kette wobei die jeweils dazwischenliegenden Genab-
schnitte herausgeschnitten werden. 70.10.2 Rezirkulation
4 Das rearrangement von L-Ketten wird durch die Verknüp-
fung von VJ- bzw. VJC-Gensegmenten realisiert. Die an der Immunantwort beteiligten Zellen sind in unterschied-
4 Der Isotypwechsel (class switch) wird durch switch- licher Dichte über den gesamten Körper verteilt. Voraussetzung
Sequenzen, die jedem C-Segment vorgelagert sind, für eine effektive Immunüberwachung und Immunantwort ist
reguliert. die koordinierte Bewegung von Immunzellen über das Blut-
4 Die somatische Hypermutation erfolgt nach Antigen- gefäß- und Lymphsystem.
kontakt. Die adaptive Immunantwort gegen Mikroorganismen erfolgt
überwiegend in den sekundären lymphatischen Organen, wie
Antikörper in der Medizin Lymphknoten, Milz, dem Mukosa- und Bronchus-assoziierten
4 Antikörper haben eine zentrale Bedeutung als hochspe- Immunsystem sowie der Haut aber auch im Knochenmark.
zifische Werkzeuge in der Forschung, Diagnostik und Diese lymphatischen Gewebe sind so organisiert, dass eine op-
timale Wechselwirkung von Antigenen und Immunzellen er-
70 Therapie.
4 Bei jeder B-Zell-Aktivierung in vivo werden mehrere möglicht wird. Dabei wandern noch nicht-aktivierte, antigen-
verschiedene Antikörper von verschiedenen B-Zell-Klo- spezifische Lymphocyten (naive Lymphocyten) in Bereiche, in
nen gebildet und als polyklonales Antikörpergemisch im denen das Antigen konzentriert ist. Dies gilt sowohl für T-Lym-
Serum (»Antiserum«) verfügbar. phocyten als auch für B-Lymphocyten, die über postkapilläre
6 Venolen mit hohem Endothel (HEV, high endothelial venule) z. B.
in die Lymphknoten, Peyersche Platten oder Tonsillen gelangen.
70.11 · Interaktionen der unspezifischen, angeborenen und spezifischen, adaptiven Immunantwort
923 70
In den sekundären lymphatischen Organen erfolgen die spezi-
fische Aktivierung, die klonale Expansion und die Ausbildung Naive T-Lymphocyten unterliegen im Sinne einer Überwa-
spezifischer Effektor- und Gedächtniszellen. Diese wandern an chung einer kontinuierlichen Zirkulation. Bei B-Lympho-
den Ort der Infektion oder rezirkulieren zwischen Blut- sowie cyten übernehmen diese Funktion die Antikörper.
Lymphgefäßen und den lymphatischen Organen. Die Zirkula- In sekundäre lymphatische Gewebe wie Lymphknoten ge-
tion ist besonders relevant für T-Zellen. B-Lymphocyten müssen langen T- und B-Lymphocyten über postkapilläre Venolen
nicht in einem solchen Umfang rezirkulieren, da die nach B-Zell- mit hohem Endothel (HEV) unter Mithilfe von Chemokinen
Aktivierung und Ausdifferenzierung zu Plasmazellen sezernier- und spezifischen Adhäsionsmolekülen auf Lymphocyten
ten Immunglobuline als Effektormoleküle über den Blutweg an und Endothelzellen, sog. homing-Rezeptoren. Die wichtigs-
den Infektionsherd gelangen. ten Adhäsionsmoleküle sind Selektine und Integrine sowie
ihre Rezeptoren.

70.10.3 Transendothelialer Transport

Chemokinese Am Ort der Entzündung ausgeschüttete und am ho- 70.11 Interaktionen der unspezifischen,
hen Endothel konzentrierte Chemokine, Chemokinrezeptoren angeborenen und spezifischen,
sowie das Anaphylatoxin C3a steuern die gerichtete Wanderung adaptiven Immunantwort
von Immunzellen.
In die Entzündungsbereiche und die sekundären lymphati- Proinflammation Die Interaktion zwischen angeborener und
schen Organe gelangen Lymphocyten mit Hilfe von Zelladhä- adaptiver Immunantwort wird durch humorale Faktoren (Kom-
sionsmolekülen, sog. homing-Rezeptoren. Diese interagieren plementsystem, Cytokine, Chemokine, Akutphase-Proteine, Ei-
mit Adhäsionsmolekülen auf dem aktivierten Endothel am Ent- cosanoide und Glucocorticoide) realisiert (. Abb. 70.20). In un-
zündungsherd sowie auf dem hohen Endothel der postkapillaren mittelbarer Folge auf den initialen Kontakt von Zellen des unspe-
Venolen, z. B. im Lymphknoten. Wichtige Adhäsionsmoleküle zifischen Immunsystems, insbesondere von Makrophagen, den-
sind die Selektine und Integrine sowie deren Liganden. Beide dritischen Zellen und neutrophilen Granulocyten mit dem
Gruppen sind Transmembranproteine vom Typ der Glykopro- Antigen werden proinflammatorische Cytokine wie TNF-α, IL-1,
teine. Selektine treten als Monomere, Integrine als Heterodimere IL-6, IL-12 und IL-18 sowie Chemokine, wie IL-8 und Eicosa-
auf. Die leichte Kette der Integrine besitzt ein RGD-bindendes noide freigesetzt 1 . An der Freisetzung von proinflammatori-
Motiv zur Bindung von z. B. Fibronektin (7 Kap. 71.1.6). schen Cytokinen sind Toll-like-Rezeptoren und ihre Liganden
Naive T-Zellen exprimieren L-Selektine, aktivierte T-Zellen beteiligt (7 Kap. 35.5.2). Zum Beispiel werden bei der Abwehr von
E- und P-Selektinliganden sowie die Integrine LFA-1 und Viren früh, innerhalb von 48 h TNF-α, IL-12 sowie IFN-α und
VLA-4. IFN-β sezerniert. In der Folge werden NK-Zellen aktiviert. Wei-
Endothelzellen sind ihrerseits nach Aktivierung durch IL-1, tere, für die Basisabwehr wesentliche Zellen sind neben Makro-
TNF-α sowie über TLR in der Lage, für naive T-Zellen L-Selek- phagen und Granulocyten die dendritischen Zellen, sowie
tinliganden und für aktivierte T-Zellen E- oder P-Selektine bzw. NK-Zellen und NK-T-Zellen.
die Integrinliganden ICAM-1 oder VCAM-1 zu exprimieren.
Der erste Schritt der Leukocytenadhäsion im Verlauf der Leukocytenrekrutierung/Chemotaxis 2 Etwa 45 derzeit bekann-
T-Zell-Wanderung erfolgt durch Bindung von L- Selektin an te Chemokine (7 Kap. 34.2.4) wirken chemotaktisch auf Leuko-
Kohlenhydrat-Resten von Selektin-Liganden (Addressine) am cyten. Dabei benutzen die unterschiedlichen Chemokine z. T.
Endothel. Der zweite Schritt, die Diapedese (7 Kap. 69.2.2), d. h. verschiedene Rezeptoren, die sämtlich durch eine heptahelicale
der Transport der Leukocyten durch das Endothel, wird durch Struktur charakterisiert sind (7 Kap. 35.3.4). Gemeinsam mit
Integrine vermittelt, die mit ICAM-1 oder VCAM-1 des Endo- Adhäsionsmolekülen und Eicosanoiden (7 Kap. 22.3.2) steuern
thels interagieren. die Chemokine die Rekrutierung von aktivierten Leukocyten an
Antikörper gegen Integrine werden heute zur Therapie chro- den Ort der Entzündung. Eicosanoide werden aus Membran-
nisch-entzündlicher Erkrankungen genutzt (7 Kap. 70.9.5). lipiden gebildet. Sie unterstützen die Chemokinese indem sie va-
sodilatorisch bzw. -konstriktorisch sowie die Gefäßpermeabilität
steigernd wirken und Makrophagen sowie Granulocyten aktivie-
Zusammenfassung ren. Arachidonsäure (ω-6-Fettsäure, proinflammatorisch) oder
Die Lymphocyten des peripheren Bluts sind überwiegend Eicosapentaensäure (ω-3-Fettsäure, antiinflammatorisch) wer-
naive, nicht aktivierte Zellen und repräsentieren nur 1–2 % den unter Beteiligung der Phospholipase A2 freigesetzt. Die
des gesamten Lymphocyten-pools. T-Lymphocyten machen Umwandlung in die entsprechenden Leukotriene, Thromboxane
etwa 75 % aller Lymphocyten des Blutes aus. bzw. Prostaglandine erfolgt über die Cyclooxygenase bzw.
Die adaptive Immunantwort erfolgt überwiegend in sekun- die Lipoxygenase (7 Kap. 22.3.2). Proinflammatorisch wirken
dären lymphatischen Geweben und für B-Zellen auch im Leukotrien B4 aus Granulocyten und Prostaglandin E2 sowie
Knochenmark. Thromboxan A2 aus Makrophagen. Antiinflammatorische Wir-
6 kung entfaltet u. a. das aus Eicosapentaensäure entstehende Leu-
kotrien B5.
924 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.20 Wechselwirkung zwischen spezifischer und unspezifischer Immunantwort. Nicht dargestellt ist die Rolle von B-Lymphocyten und Immun-
globulinen. (Einzelheiten s. Text)

Die gezielte Rekrutierung der Leukocyten am Ort der Ent- auffallenden Tag-Nacht-Schwankungen der Blutleukocyten)
zündung initiiert eine Verstärkung der unspezifischen Immun- wird beeinflusst. Im Blut bewirken am Tage hohe Glucocorti-
antwort und leitet parallel die spezifische Immunantwort z. B. coidspiegel eine Verringerung der Lymphocyten- und eine
über IL-12 und IL-18 sowie die weiteren in . Abb. 70.20 aufge- Erhöhung der Granulocytenanteile. Weitere immunsuppressive
führten Cytokine ein 3 . IL-6 reguliert die Immunantwort auch endokrine Faktoren sind das aus dem Proopiomelanocortin ge-
systemisch, indem es an den spezifischen IL-6 Rezeptor u. a. in bildete MSH-α, das Neuropeptid Y (NPY) und das vasoactive
der Leber bindet und die Freisetzung von Akutphase-Proteinen, intestinal peptide (VIP) 5 . Diese Beispiele dokumentieren die
wie C-reaktives Protein (CRP), Fibrinogen oder Haptoglobin enge Wechselwirkung zwischen immunologischen und neurona-
bewirkt 4 . len Prozessen.

Terminierung der Entzündung 5 Immunsuppressive Mechanis-


men terminieren die Entzündung. Dabei spielen regulatorische Zusammenfassung
T-Zellen (Treg, Suppressorzellen), die über direkten Zellkontakt Interaktionen der unspezifischen, angeborenen (7 Kap. 70.2)
oder über die immunsuppressiv agierenden Cytokine TGF-β1, und spezifischen, adaptiven (7 Kap. 70.3) Immunantwort:
IL-35 und IL-10 wirken, eine wichtige Rolle. Bei der T-Zelle ter- 4 Die Wechselwirkung zwischen früher unspezifischer
miniert CTLA-4 (cytotoxic T-lymphocyte antigen) auf direktem und verzögerter adaptiver Immunantwort wird durch
Wege den Aktivierungsprozess (7 Kap. 70.7.2). Darüber hinaus humorale, von Makrophagen, dendritischen Zellen,
spielen ACTH und Glucocorticoide aus der Nebennierenrinde
70 (7 Kap. 40.2) sowie andere Peptidhormone (. Abb. 70.20, oben 5 )
Granulocyten, NK- und NKT-Zellen gebildete Faktoren
vermittelt.
eine wichtige Rolle. Glucocorticoide werden über die hypothala- 4 Wesentliche Faktoren sind Toll-like-Rezeptoren und pro-
misch/hypophysär-adrenale Achse (HAA) reguliert und haben inflammatorische Cytokine wie IL-1, IL-6, IL-12 und IL-18,
unterschiedliche Angriffspunkte in der Immunantwort. Zum TNF-α, Interferone sowie Chemokine und Eicosanoide.
Beispiel hemmen sie die IL-2- und Cyclooxygenase-2-Gen- 6
expression. Auch die Organverteilung von Leukocyten (wie die
70.12 · Immunabwehr von Mikroorganismen
925 70

4 Chemokine und Eicosanoide bewirken chemotaktisch . Tab. 70.6 Zellen und Faktoren der antimikrobiellen Immun-
die Ansammlung von Leukocyten am Ort der Entzün- abwehr

dung.
Mikro- Immunantwort bzw. Immunreaktion
4 Terminiert werden die spezifische und unspezifische organismus
Immunantwort über Oberflächenstrukturen von Zellen Unspezifisch Spezifisch
(CTLA-4), regulatorische T-Zellen (Treg) und immunsup-
Bakterien, Komplement Antikörper
pressive Cytokine (IL-10, IL-35, TGF-β1). Darüber hinaus
extrazellulär Neutrophile Granulocyten
wirken ACTH, Glucocorticoide sowie andere neuroendo- Makrophagen
krine Faktoren (MSH-α, NPY, VIP) immunsuppressiv.
Bakterien, NK-Zellen (IFN-γ) TH1-und TH17-Zellen
intrazellulär Makrophagen Makrophagen
Cytotoxische T-Zellen

Viren Interferone Cytotoxische T-Zellen


70.12 Immunabwehr von Mikroorganismen NK-Zellen (IFN-γ)
Antikörper
70.12.1 Elimination von Bakterien

Unabhängig vom Erreger benutzt die antimikrobielle Abwehr


immer sowohl Mechanismen der angeborenen wie erworbenen aktivierte Makrophagen proinflammatorische Cytokine (IL-1,
Immunantwort (. Tab. 70.6). Prinzipiell unterscheiden sich IL-6, TNF-α), wodurch weitere Makrophagen und andere Zellen
die immunologischen Abwehrmechanismen gegen Erreger, die aktiviert werden.
sich extrazellulär vermehren (z. B. Bakterien) von denen, die
sich intrazellulär vermehren (z. B. Viren und bestimmte Bak- Spezifische Abwehr extrazellulärer Bakterien Die wichtigsten
terien). Instrumente der Abwehr extrazellulärer Bakterien sind spezifi-
sche Immunglobuline. IgG-Moleküle wirken als Opsonine in-
Extrazelluläre Bakterien werden durch dem sie die Aufnahme von Bakterien durch phagocytierende
komplementabhängige Lyse und Abtötung Zellen erleichtern. IgG und IgM spielen darüber hinaus eine Rol-
nach Aufnahme in die Zelle eliminiert le im Rahmen der Komplementaktivierung und Neutralisierung
Die unspezifische Abwehr extrazellulärer Bakterien Häufige Ver- von Bakterientoxinen. Extrazelluläre Bakterien, insbesondere
treter der sich extrazellulär vermehrenden, eiterbildenden (pyo- Staphylokokken- und Streptokokken, können bei massiver
genen) Erreger sind Staphylokokken und Streptokokken sowie Infektion als Superantigene agieren und ein toxisches Schock-
Gram-negative Kokken und coliforme Stäbchen (E. coli). Cha- syndrom verursachen (7 Kap. 70.7.2).
rakteristisch ist die Bildung von Endotoxinen (Lipopolysaccha-
rid) bzw. Exotoxinen (z. B. Choleratoxin). Die extrazellulären NK-Zellen und cytotoxische T-Zellen (TC-Zellen)
Keime werden unspezifisch durch alternative Komplementakti- sind für die Immunabwehr gegen intrazelluläre
vierung, verbunden mit C3b-Opsonierung und Cytolyse, nach Bakterien wichtig
Phagocytose der Keime durch neutrophile Granulocyten oder Man unterscheidet bei intrazellulären Bakterien fakultativ in
Makrophagen intrazellulär abgetötet. infizierten Makrophagen auftretende von obligat die Wirtszelle
Neutrophile Granulocyten können Bakterien nach Bindung zur Vermehrung benutzenden Bakterien. Salmonellen, Myko-
über unterschiedliche Membranrezeptoren (z. B. den Mannose- bakterien und Listerien werden der ersten Gruppe zugeordnet.
rezeptor, die LPS-Rezeptor-Komponente CD14, Komplement- Obligat intrazellulär auftretende Erreger sind Chlamydien und
rezeptoren CR1 und CR3 sowie spezielle Toll-like-Rezeptoren) Rickettsien, welche zusätzlich zu Makrophagen auch Epithel-
phagocytieren. Das Phagosom fusioniert mit granulären lysoso- und Endothelzellen infizieren. Charakteristisch für beide Grup-
malen Strukturen zum Phagolysosom, worin die Zerstörung der pen ist eine fehlende oder nur sehr gering ausgeprägte Toxizität
Bakterien erfolgt. Dabei werden u. a. Cathepsin G, Elastase, Lyso- für die Wirtszelle. Durch intrazelluläre Erreger verursachte Er-
zym, Myeloperoxidase, Proteinase 3 und Defensine als Effektor- krankungen zeigen meist einen chronischen Verlauf, bei dem die
moleküle der primären, azurophilen Granula neutrophiler Gra- Keime über längere Zeiträume symptomlos persistieren können.
nulocyten wirksam. Man unterscheidet diese von sekundären
Granula, die z. B. Kollagenasen enthalten. Gleichzeitig mit der Unspezifische Abwehr intrazellulärer Bakterien Im Gegensatz
Phagocytose wird die Bildung cytotoxischer reaktiver Sauerstoff- zur Eliminierung extrazellulärer Erreger sind Antikörper hier
metabolite durch respiratory burst sowie die Generierung von nicht von entscheidender Bedeutung. Vielmehr produzieren
toxischem Stickstoffmonoxid (NO) induziert. aktivierte NK-Zellen IFN-γ, welches wiederum Makrophagen
Makrophagen binden extrazelluläre Erreger über Toll-like- aktiviert, die dann die Keime abtöten.
Rezeptoren, den Mannoserezeptor oder die Komplementrezep-
toren CR3 (CD11b/CD18) und CR4 (CD11c/CD18). Wie bei Antigenspezifische Abwehrmechanismen Sie folgen den Vorgän-
den Granulocyten werden in Folge der Endocytose reaktive gen der unspezifischen Immunantwort. Eine zentrale Rolle spielen
Sauerstoffspezies und NO gebildet. Darüber hinaus produzieren T-Zellen, speziell TH1-Zellen, welche IFN-γ bilden und dadurch
926 Kapitel 70 · Immunologie

wiederum Makrophagen aktivieren (cytotoxisches NO, Sauer- Infektion realisieren spezifische Antikörper gemeinsam mit spezi-
stoffmetabolite). Parallel werden cytotoxische T-Zellen mobili- fischen TH-Zellen und cytotoxischen T-Zellen.
siert. Diese bewirken über NO-Induktion und Granulysin bzw.
auch durch Freisetzung der Erreger aus den Zellen indirekt deren
spezifische Abtötung. Bei ungenügender Eliminierung der Bakte- Zusammenfassung
rien kommt es durch die dauerhafte Präsenz des Antigens zu einer Mikroorganismen werden generell unter Nutzung angebo-
permanenten T-Zell- und Makrophagenaktivierung. Hierbei kön- rener und adaptiver Abwehrmechanismen eliminiert:
nen sich Granulome bilden. Granulome sind Zellansammlungen 4 Extrazelluläre Bakterien werden nach Phagocytose
aus bakterienhaltigen Makrophagen, Riesenzellen (fusionierte durch Makrophagen und Granulocyten oder durch
Makrophagen), Epitheloidzellen (differenzierte Monocyten) und komplementabhängige Lyse sowie Opsonierung abge-
Lymphocyten. Durch die Granulombildung wird die Ausbreitung tötet. Als Effektormoleküle wirken Cathepsin G, Elastase,
der Bakterien eingegrenzt; dies jedoch auf Kosten einer Gewebe- Lysozym, Myeloperoxidase, Proteinase 3, Kollagenasen,
schädigung. Typische granulomatöse Reaktionen findet man in Defensine, reaktive Sauerstoffspezies sowie NO.
der Lunge bei chronisch verlaufender Tuberkulose. 4 Die spezifische Abwehr extrazellulärer Bakterien erfolgt
mittels Immunglobulinen, besonders IgG und IgM sowie
IgA.
70.12.2 Virusabwehr 4 Intrazelluläre Bakterien werden entweder unspezifisch
durch IFN-γ aus NK-Zellen oder spezifisch über TH1-Zel-
NK-Zellen, TC-Zellen und Interferone sind die wich- len nach Aktivierung von Makrophagen (IFN-γ) bzw.
tigsten Instrumente der Immunabwehr gegen Viren durch cytotoxische T-Zellen (toxische Granulysine)
Viren vermehren sich ausschließlich intrazellulär. Regelmäßig abgetötet.
erfolgen Virusinfektionen über die Schleimhäute oder den Blut- 4 Ungenügende Elimination intrazellulärer Bakterien
weg, wobei körpereigene zelluläre Oberflächenmoleküle als Re- resultiert in Granulomen (Zellaggregaten aus Bakterien
zeptoren dienen. Beispielsweise nutzen Epstein-Barr-Viren den enthaltenden Epitheloidzellen, Makrophagen, fusionier-
Komplementrezeptor 2 (CD21), HI-Viren die CD4- und CD8- ten Makrophagen und Lymphocyten).
Moleküle sowie bspw. die Chemokinrezeptoren CCR5 und 4 Die Virusvermehrung ist obligat intrazellulär. Die initiale
CXCR4 als Corezeptoren (7 Kap. 12.3). unspezifische Virusabwehr wird durch IFN-α, IFN-β und
aktivierte NK-Zellen ausgelöst.
Unspezifische Immunantwort Initial wird von den infizierten 4 Die spezifische Virusabwehr wird im Lymphknoten
Zellen (meist Epithelzellen) virostatisch wirkendes Interferon-α durch spezifische Effektoren (cytotoxische T-Zellen
(IFN-α) und Interferon-β (IFN-β) gebildet. Hierdurch wird für (CD8), IFN-γ (T-Zellen) und spezifische Antikörper (IgM,
einen Zeitraum von ca. 48 h die virale Replikation und Ausbrei- IgG, IgA)) vermittelt.
tung eingeschränkt. Durch die Interferone wird die Expression
von HLA-Molekülen verstärkt und im Zusammenspiel mit IL-12
aus Makrophagen eine Aktivierung von NK-Zellen induziert.
Infizierte Zellen werden von NK-Zellen durch einen bislang Übrigens
noch nicht vollständig aufgeklärten, MHC-I-expressionsabhän- Immunisierung, Vaccination, Variolation
gigen Mechanismus erkannt und anschließend zerstört. Parallel Die Fähigkeit des menschlichen Organismus, auf fremde
wird vermehrt IFN-γ gebildet und so die Virusvermehrung wei- Stoffe mit einer Immunantwort zu reagieren, ist seit mehr als
ter eingeschränkt. NK-Zellen entfalten etwa 72 h post infectio- 500 Jahren bekannt. Berühmt geworden sind die Versuche
nem ihr Wirkungsmaximum. von Edward Jenner 1798 zur Vaccination, d. h. die Übertra-
gung von Kuhpocken (vacca, Kuh) auf Gesunde, oder die
Virusspezifische Immunantwort Sie findet im Lymphknoten statt. Inokulation von Pockenvirus-infizierten Pusteln (Variolation)
Infizierte Zellen (z. B. dendritische Zellen) oder Viruspartikel kom- durch Mary Wortley Montague im Jahr 1721 (Variola, Pocken)
men in den drainierenden Lymphknoten (d. h. den ersten Lymph- zum Schutz vor Pockenerkrankungen. 1885 hat Louis Pasteur
knoten, die nach Infektion befallen werden) mit spezifischen T- aktive Immunisierungen gegen Tollwut sowie den tierischen
und B-Zellen in Kontakt. Daraufhin expandieren die Lymphocyten Milzbrand vorgenommen. Diese Versuche bauten offenbar
klonal. Makroskopisch wird dies durch eine Vergrößerung des auf den bis in das 15. Jahrhundert zurückreichende Erfahrun-
Lymphknotens deutlich. Zwischen Tag 7 und 9 post infectionem gen in China auf, bei denen getrockneter Pockenschorf
wandern spezifische Effektor-TC-Zellen in das Gewebe aus. Virus- geschnupft wurde, um dieser Erkrankung vorzubeugen.
spezifisches IgM, gefolgt von IgG und IgA wird zeitgleich dazu
70 durch Plasmazellen produziert und sezerniert. Somit sind cyto-
Praktisch sind dies die ersten experimentellen Versuche am
Menschen, die ohne Kenntnis des Immunsystems gezielt
toxische CD8-positive TC-Zellen, IFN-γ (aus cytotoxischen T- oder unternommen wurden, um eine Immunantwort zu induzie-
TH-Zellen) und spezifische Antikörper die wichtigsten spezi- ren und ein selektives Gedächtnis gegen Krankheitserreger
fischen Effektoren der Virusabwehr. Diese Instrumente eliminieren aufzubauen.
die Viren innerhalb der folgenden 72 h, also um den 10. bis 12. Tag 6
nach Infektion. Einen signifikanten primären Schutz vor einer Re-
70.13 · Pathobiochemie
927 70

. Tab. 70.7 Einteilung allergischer Reaktionen nach Gell und Coombs

Allergie Immunprodukt(e) Effektormechanismen Erkrankung (Beispiel)

Typ I IgE, Mastzelldegranulation Asthma bronchiale


TH2-Zelle Eosinophilendegranulation Heuschnupfen (z. B. durch Pollen oder Hausstaubmilben)

Typ II IgG Antikörperabhängige Cytolyse (Komplement, Arzneimittelallergie


ADCC, antibody dependent cellular cytotoxicity)

Typ III IgG Antikörper-Antigen-Komplex-abhängige Phago- Serumkrankheit


cytose und Cytolyse, Komplementaktivierung

Typ IV TH1-Zelle, TH1-abhängige Makrophagen-Aktivierung, Kontaktdermatitis


cytotoxische T-Zelle TC-abhängige Cytolyse

figste primäre Immundefekt. Charakteristisch sind das Fehlen


Diese Art der aktiven Immunisierung ist in der präventiven von IgA oder stark verringerte IgA-Spiegel (<0,3 g/l, vgl. . Tab.
Medizin heute fest etabliert, insbesondere als Schutzimp- 70.4) im Blut. Klinisch fallen gehäufte Erkrankungen des Respi-
fung gegen verschiedene Erkrankungen im Kindesalter. rationstrakts auf, wobei allerdings etwa 50 % der erkrankten Kin-
Im Gegensatz zur aktiven Immunisierung, bei der die Im- der symptomlos bleiben können. Die Bruton-Agammaglobuli-
munantwort des Körpers selbst ausgenutzt wird, benutzt nämie ist durch einen kompletten Antikörpermangel bei norma-
man bei der passiven Immunisierung ein bereits entwickel- ler T-Zell-Funktion gekennzeichnet. Ursächlich für diesen fami-
tes Immunprodukt und appliziert dieses zur Behandlung liären, X-chromosomal gekoppelten Antikörpermangel ist eine
einer bereits ausgeprägten Erkrankung. Das können z. B. Mutation auf dem Chromosom Xq 21.3-q 22, die zu einem Defekt
Antiseren oder Antikörper sein, die spezifisch gegen Toxine der Tyrosinkinase Blk führt. Dadurch können Vorläufer-B-Zellen
oder andere Antigene von Mikroorganismen oder Viren während der B-Zell-Reifung nicht zu Prä-B-Zellen differenzieren,
gerichtet sind. Die ersten passiven Immunisierungen hat wodurch der Anteil reifer B-Zellen stark vermindert wird bzw.
Emil von Behring 1890 zur Behandlung von Tetanus und diese komplett fehlen. Klinisch sind vital bedrohende, rezidivie-
Diphtherie vorgenommen. Er erhielt dafür 1901 den ersten rende respiratorische Infekte und septische Zustände auffallend,
Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. die eine lebenslange Substitution mit intravenös applizierten Im-
munglobulinen aus Spenderblut notwendig machen (7 Kap.
70.9.5). Weitere therapeutische Optionen bei anderen genetisch
bedingten Immundefekten sind Knochenmarktransplantationen
70.13 Pathobiochemie (Stammzelltransplantationen) oder Gentherapien. Sekundäre
Immundefekte sind deutlich häufiger. Ursächlich können
70.13.1 Immundefekte immunsuppressive oder cytostatische Therapien, Infektions-
erkrankungen oder metabolische bzw. ernährungsbedingte
Der Begriff Immundefekt beschreibt unterschiedliche angebo- Umstände sein. Die durch HI-Viren ausgelöste AIDS (acquired
rene oder erworbene Erkrankungen, deren Gemeinsamkeit eine immunodeficiency syndrome)-Erkrankung ist ein typisches Bei-
erhöhte Infektanfälligkeit ist. Defekte der humoralen Immunität, spiel für einen sekundären Immundefekt.
also einem Antikörpermangel, sind typischerweise mit rezidivie-
renden pyogenen (eitererzeugenden) Infektionen assoziiert,
während Defekte der zellvermittelten Immunität vor allem durch 70.13.2 Allergien
Virus- oder Pilzinfektionen charakterisiert sind. Häufig liegen
kombinierte Immundefekte vor, die durch opportunistische Allergien entstehen durch eine überschießende Reaktion des
Infektionen auffallen. Darunter versteht man Infekte durch Erre- Immunsystems auf definierte exogene Antigene, sog. Allergene.
ger, die ein funktionell intaktes Immunsystem normalerweise Die Allergie geht als immunologische Überempfindlichkeits-
eliminieren kann. Typische Erkrankungsbilder sind Pilzinfek- reaktion generell mit Entzündungsprozessen und Organfehl-
tionen durch Candida albicans oder parasitäre Pneumonien ver- funktionen einher. Die Klassifikation der Allergien erfolgt nach
ursacht durch Pneumocystis carinii. Gell und Coombs in 4 Gruppen, die sich an den grundlegenden
Primäre Immundefekte sind generell genetisch bedingt und Pathomechanismen orientieren (. Tab. 70.7). Die unterschied-
verhältnismäßig selten. Symptomatisch werden sie in der Regel lichen Formen der Allergien sind nur zum Teil antigen- bzw.
mit dem Abklingen der mütterlichen Leihimmunität wenige Mo- allergenabhängig. Primär resultieren sie aus verschiedenen
nate nach der Geburt. Durch die fortschreitenden molekular- Formen der Immunantwort und unterschiedlichen Effektor-
diagnostischen Techniken werden mehr und mehr Immundefek- mechanismen.
te charakterisiert. Heute sind über 30 bekannt. Der selektive
IgA-Mangel ist mit einer Inzidenz von 1:300 bis 1:800 der häu-
928 Kapitel 70 · Immunologie

. Abb. 70.21 Pathogenetische Mechanismen der akuten und chronischen allergischen Entzündung. APC: Antigen-präsentierende Zelle; EOS: eosino-
philer Granulocyt. (Einzelheiten s. Text)

Allergie vom Typ I Die Inzidenz dieser häufigsten Allergieform Zellen kontrolliert. Eosinophile Granulocyten produzieren zusätz-
(derzeit leiden mehr als 20 % der Menschen in industrialisierten lich zu abbauenden Enzymen (Proteasen, Lysophospholipasen,
Ländern darunter) ist ansteigend. Typische klinische Ausprägun- Peroxidasen), Eicosanoiden, Chemokinen und Cytokinen auch
gen sind z. B. Asthma bronchiale, Pollinosen (Heuschnupfen), toxische Granulaproteine, z. B. MBP (major basic protein).
Hausstauballergie, Bienenstichallergie und bestimmte Formen Bei der Allergie vom Typ I unterscheidet man demnach eine
der Nahrungsmittelallergie. Pathophysiologisch ist die Bildung schnelle, frühe allergische Reaktion, die durch eine Degranula-
von Allergen-spezifischem IgE bedeutsam. Nach Bindung des tion von Mastzellen bestimmt ist und eine verzögerte aller-
IgE an IgE-Fc-Rezeptoren auf Mastzellen und der Allergen-IgE- gische Reaktion, welche durch Chemokine, Eicosanoide und
Wechselwirkung degranulieren die Mastzellen. Die folgende eosinophile Granulocyten charakterisiert wird. Die verzögerte
Freisetzung vaso- und histoaktiver Mediatoren (Histamin, Plätt- Reaktion zeigt einen weniger dramatischen klinischen Verlauf,
chen aktivierender Faktor (PAF), slow reacting substance-A (SRS- stellt aber den für die Chronifizierung der Entzündung (z. B. bei
A) und Kallikrein) resultiert klinisch in Spasmen des Bronchial- Asthma bronchiale) wesentlichen pathogenetischen Prozess dar.
systems und des Darmes, Blutdruckabfall, Ödemen und Hyper-
bzw. Dyskrinien bis hin zu einer anaphylaktischen Schocksymp- Allergie vom Typ II Arzneimittel, z. B. Methyldopa oder Penicil-
tomatik. Immunpathogenetisch ausschlaggebend ist die durch lin, können als Haptene (7 Kap. 70.3.1) an Thrombocyten, Granu-
IL-10 aus antigenpräsentierenden Zellen vermittelte Aktivierung locyten oder Erythrocyten binden. Spezifische IgG-Antikörper
von TH2-Zellen (. Abb. 70.21). Diese resultiert in einer gesteiger- gegen diese Haptene lösen eine komplementabhängige Lyse oder
ten Synthese der für diese T-Zellen charakteristischen Cytoki- ADCC (antibody dependent cellular cytotoxicity) an den jeweili-
ne IL-4, IL-5, IL-9 und IL-13, die den Ig-Klassenwechsel (Klas- gen Zellen aus (7 Kap. 70.7.3). Die Symptome der Typ-II-Allergie
sen-switch) in Richtung zu IgE- bzw. IgG1-exprimierenden B- sind Thrombocytopenie, Granulocytopenie oder Anämie.
Zellen und produzierenden Plasmazellen lenken. IL-4 und IL-9
sind an der Regulation der allergenspezifischen IgE-Bildung und Allergie vom Typ III Diese ist ebenfalls immunglobulinabhängig.
damit der Degranulierung der Mastzellen beteiligt, die die akute Fc-Rezeptor-tragende Makrophagen bzw. Monocyten sowie das
Form der allergischen Reaktion vom Typ I wesentlich bestimmt. Komplementsystem im Blut werden von Allergen-Antikörper-
70 Eosinophile Granulocyten werden durch Chemokine wie Komplexen am Allergen-Eintrittsort oder systemisch aktiviert.
Eotaxin (CCL-11), IL-5 und IL-3 aktiviert und chemotaktisch an Bei Aufnahme eines Allergens, z. B. eines Fremdproteins aus
den Ort der Entzündung geführt. Damit einher geht eine gestei- tierischen Immunglobulinprodukten oder Taubenkot treten
gerte IL-4-Synthese, die diesen Circulus der allergenspezifischen dann febrile Erkrankungen sowie Entzündungen der Gelenke,
IgE-Bildung weiter fördert. IL-13 wirkt im Respirationstrakt reak- Gefäße oder der Nieren auf (Serumkrankheit, Taubenzüchter-
tivitätsteigernd. Die Mastzellentwicklung wird durch IL-3 aus TH2- lunge).
70.13 · Pathobiochemie
929 70
Allergie vom Typ IV Die Allergie vom Typ IV ist zellvermittelt und rente Anforderungen an das therapeutische Herangehen. Die
unterscheidet sich daher von den übrigen Formen. Hauptsächlich Hashimoto-Thyreoiditis ist eine, mit einer Schilddrüsenunter-
durch TH1-Zellen und die Cytokine IFN-γ, TNF-α sowie Lym- funktion einhergehende, autoimmune Schilddrüsenerkrankung.
photoxin (TNF-β) wird eine Entzündungsreaktion am Eintritts- Immunpathogenetisch sind hier antigenspezifische TH1-Zellen
ort des Allergens in die Haut oder in die Schleimhaut ausgelöst. von zentraler Bedeutung. Diese induzieren durch IFN-γ und
Cytotoxische T-Zellen und cytokinaktivierte Makrophagen be- IL-2 eine Aktivierung von cytotoxischen T-Zellen und anderen
wirken darüber hinaus eine Gewebezerstörung. Die Allergie vom Zellen. Eine Zerstörung der Thyreocyten ist die Folge, wobei
Typ IV tritt als verzögerte Reaktion nach 24–72 h auf und ent- teilweise auch Fas-FasL-Interaktionen zum Tragen kommen
spricht damit der Tuberkulinreaktion. Klinisch wird sie durch (7 Kap. 51.1). Zur Differentialdiagnostik von Schilddrüsener-
erythematöse Hautveränderungen charakterisiert. Praktisch krankungen werden, wie bei anderen Autoimmunerkrankungen,
elevante Beispiele sind Kontaktdermatitiden nach Kontakt mit pathogenetisch irrelevante, zufällig entstehende Autoantikörper
Nickel, Zink oder Haushaltschemikalien und Kosmetika. genutzt, die gegen freigesetzte zelluläre Autoantigene gebildet
wurden (apathogene Autoantikörper).

70.13.3 Autoimmunkrankheiten
70.13.4 Transplantatabstoßungen
Autoimmunität ist eine natürliche Eigenschaft des Immunsys-
tems und stellt für sich keinen pathologischen Zustand dar. Man Allogene Transplantation Die Möglichkeit des Ersetzens von
findet regelmäßig im gesunden Organismus autoreaktive, also Zellen und Organen hat viele therapeutische Grenzen relativiert
gegen körpereigene Strukturen gerichtete spezifische B- und T- und ist in den vergangenen 50 Jahren zu einem medizinischen
Zellen sowie Antikörper. Hier verhindern jedoch die Schutzme- Standardverfahren entwickelt worden. Cornea, Haut und Niere
chanismen der peripheren Toleranz, also z. B. Treg-Zellen oder sowie hämatopoetische CD34-positive Stammzellen aus dem
das Fehlen co-stimulatorischer Signale, eine autoimmun-be- Knochenmark oder Blut sind die häufigsten transplantierten
dingte Destruktion der Zellen und Gewebe. Erst der Bruch der Organe bzw. Zellen. Unterschiedliche Individuen einer Spezies
peripheren und/oder zentralen Toleranz (7 Kap. 70.3.3) löst mit unterschiedlichem Erbgut werden als allogen bezeichnet.
eine Autoimmunerkrankung aus. Man definiert Autoimmun- Somit stellt eine Transplantation von Zellen eines Individuums
krankheiten als nicht-infektiöse, chronische Entzündungen, die auf einen genetisch verschiedenen Empfänger eine allogene
sowohl zu einer organbezogenen Zerstörung, wie bei Multipler Transplantation dar. Da Fremdgewebe übertragen wird, resul-
Sklerose oder insulinabhängigem Diabetes mellitus als auch zu tiert bei dem Empfänger zwangsläufig eine Immunantwort. Im
systemischen Entzündungsreaktionen, wie Perniciöser Anämie, Falle eines Mitführens von Spender-Immunzellen im Trans-
Vaskulitiden oder Rheumatoider Arthritis führen. Labordiag- plantat kann auch eine Spender-gegen-Empfänger-Reaktion
nostisch sind vermehrt auftretende Autoantikörper hinweisend. (Graft-versus-Host, GvH) auftreten. Die Zielstrukturen der Im-
Die Inzidenz dieser bei Frauen häufiger als bei Männern auftre- munantwort sind immer die HLA-Moleküle der fremden, allo-
tenden Erkrankungen liegt bei etwa 3–4 %. Auffallend sind spe- genen Zellen, die dabei cytolytisch zerstört werden. Bei der Allo-
zielle HLA-Assoziationen. Im Falle des insulinabhängigen Dia- reaktivität werden hauptsächlich nicht-prozessierte HLA-
betes mellitus haben Träger der HLA-Allele DR3 und DR4 z. B. Strukturen von antigenpräsentierenden Zellen (APC) des Spen-
ein etwa 3fach höheres Erkrankungsrisiko während sich das ders erkannt. Dendritische Zellen stellen dabei bedeutende
Risiko bei HLA-DR2-Trägern verringert. Es ist also offenbar so, Zielzellen, insbesondere bei Nierentransplantationen dar. Pro-
dass differente HLA-Genprodukte eine unterschiedliche Befähi- zessierte HLA-Peptide des Spenders werden nur in limitiertem
gung zur Präsentation von Autoantigenen auf T-Zellen haben. Maß auf APC des Empfängers erkannt. Der Anteil der an der
Autoimmunerkrankungen weisen eine sehr heterogene Im- Alloreaktivität beteiligten T-Zellen kann 2 % der gesamten T-
munpathologie auf. Man unterscheidet primär antikörperver- Zell-Population umfassen. Immunpathologisch bei Transplan-
mittelte, T-Zell-vermittelte und immunkomplexvermittelte Au- tatabstoßungen wesentlich beteiligte humorale Faktoren sind
toimmunkrankheiten. Die dominierenden Helfer-T-Zellen sind Antikörper und proinflammatorische Cytokine. Zellulär sind
die TH1- und TH17-Zellen. Zu den häufigsten Autoimmuner- cytotoxische CD8-T-Zellen, z. T. cytotoxische CD4-T-Zellen
krankungen zählen die Schilddrüsenerkrankungen. Bei der Ba- und IFN-γ-aktivierte Makrophagen maßgeblich. Durch den
sedow-Erkrankung (graves disease, 7 Kap. 41.4.2) werden TH1- Einsatz HLA-kompatibler Transplantate wird das Risiko einer
vermittelt Autoantikörper gegen den TSH (Thyreocyten-stimu- Transplantatabstoßung reduziert. Von besonderer Bedeutung
lierendes Hormon)-Rezeptor auf Thyreocyten gebildet. Die bei ist dabei die Kompatibilität der HLA-Klasse-II-Strukturen. Da-
den verschiedenen Krankheitsformen relevanten Autoantikör- her wird in Vorbereitung einer allogenen Transplantation eine
per können einerseits agonistisch zum TSH auf den TSH-Rezep- Histokompatibilitätstestung unter Erfassung und Vergleich
tor agieren (Thyreocyten-stimulierendes Ig, TSI), andererseits der wichtigsten HLA-Allele von Spender und Empfänger mit
antagonistisch wirken (TSH-Rezeptor-blockierendes Ig, TBI) dem Ziel einer größtmöglichen Übereinstimmung durchge-
oder auch nur die Thyreocytenproliferation aktivieren (TGI, thy- führt. Weiterhin wird die prophylaktische Therapie mit Immun-
reoidea growth-stimulating immunoglobulin). Dementsprechend suppressiva genutzt, um eine Transplantatabstoßung zu verhin-
treten die Schilddrüsenhormone T3/T4 vermehrt, verringert dern. Immunsuppressiv wirkende Medikamente, die hierbei zum
oder unverändert auf. Hieraus ergeben sich zwangsläufig diffe- Einsatz kommen sind vor allem Glucocorticoide, Cyclosporin A,
930 Kapitel 70 · Immunologie

FK506 (Takrolimus), Rapamycin (Sirolimus), Azathioprin und


Mykophenolat. Man unterscheidet hyperakute, akute und chro-
nische Abstoßungsreaktionen. Die hyperakute Transplantatab-
stoßung erfolgt bei Vorhandensein von Antikörpern gegen das
Transplantat innerhalb weniger Stunden bis Tage nach der Trans-
plantation. Die akute Abstoßungsreaktion wird durch Tc-Zellen
vermittelt und droht in einem Zeitraum von 72 h bis zu 6 Mona-
ten nach Transplantation. Therapeutisch interveniert man im-
munsuppressiv mit hochpotenten Glucocorticoiden sowie Anti-
T-Zell-Antikörpern. Die chronische Abstoßungsreaktion be-
schreibt eine Rejektion nach dieser Zeit bzw. das Auftreten eines
Funktionsverlustes des Transplantates.

Zusammenfassung
Erkrankungen des Immunsystems sind u. a.:
4 Immundefekte. Man unterscheidet primäre und sekun-
däre Immundefekte. Primäre Immundefekte sind gene-
tisch bedingt, sehr selten und werden bereits wenige
Monate nach der Geburt symptomatisch. Primäre
Immundefekte treten häufig als Kombinationsformen
von T- und B-Zell-Defekten auf. Sekundäre Immun-
defekte werden durch virale und andere Infekte (AIDS),
Immunsuppressiva oder Cytostatika, Mangelernährung
sowie Stoffwechselerkrankungen verursacht.
4 Allergien. Die Einteilung erfolgt nach Gell und Coombs
in 4 Hauptgruppen. Die Allergie vom Typ I ist die häufigs-
te Form (z. B. Asthma bronchiale, Pollinosen). Immun-
pathogenetisch maßgeblich ist die durch TH2-Cytokine
(IL-4, IL-5, IL-10, IL-9, IL-13) induzierte vermehrte Bildung
von allergenspezifischem IgE, die Aktivierung eosinophi-
ler Granulocyten sowie die Degranulierung von Mastzel-
len nach IgE-Bindung an den Fcε-Rezeptor und Allergen-
IgE-Wechselwirkung. Die Allergie vom Typ IV wird durch
TH1-Zellen vermittelt, wobei TH1-Cytokine Makrophagen
aktivieren und diese eine Gewebeschädigung auslösen.
4 Autoimmunkrankheiten. Autoimmunität ist eine natür-
liche Eigenschaft des Immunsystems. Autoimmun-
erkrankungen entstehen erst durch Bruch der zentralen
und/oder peripheren Toleranz. Autoimmunkrankheiten
sind HLA-assoziiert und verursachen systemische
inflammatorische Erkrankungen (Rheumatoide Arthritis)
oder eine lokale Organzerstörung (Multiple Sklerose).
Autoantikörper, Immunkomplexe oder T-Zellen (TH1 und
TH17) sind primär pathogenetisch relevant.
4 Transplantatabstoßungen. Abstoßungsreaktionen sind
Resultate allogener Immunreaktionen. Die Alloreaktivität
basiert hauptsächlich auf einer direkten Erkennung nicht-
prozessierter HLA-Strukturen auf APC des Spenders. In li-
mitiertem Umfang werden auch prozessierte HLA-Struk-

70 turen des Spenders auf Empfänger-APC erkannt. Cytotoxi-


sche T-Zellen und Makrophagen agieren als Effektorzel-
len. Akute Abstoßungskrisen werden prophylaktisch oder
therapeutisch mit Immunsuppressiva behandelt.

7 Die Literaturliste finden Sie unter springer.com


931 71

71 Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion


Rainer Deutzmann, Peter Bruckner

Einleitung 71.1 Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)

Schon ab dem vierzelligen Entwicklungsstadium besitzen Vielzeller, Die verschiedenen Formen des Bindegewebes leiten sich vom em-
wie z. B. der Mensch, eine extrazelluläre Matrix (EZM), d. h. eine außerhalb bryonalen Bindegewebe, dem Mesenchym ab. Die Bindegewebs-
der Zellen angesiedelte und organisierte Substanz, die an der zellen im engeren Sinne sind die Fibroblasten/Fibrocyten. Ver-
Homöodynamik aller biologischen Vorgänge beteiligt ist. Zum Beispiel wandt damit sind die Chondroblasten/Chondrocyten des Knor-
ermöglicht die EZM auf makroskopischer Ebene eine stabile Form der pels und die Osteoblasten/Osteocyten des Knochens. Diese
Organe oder einen funktionellen Bewegungsapparat. Entwicklungsbio- Zelltypen synthetisieren den größten Teil der extrazellulären
logisch kontrolliert sie Gewebsfunktionen auf allen Ebenen und/oder Matrix in Form von Fasern, Fibrillen, Mikrofibrillen und Netz-
entscheidet über Vitalität oder programmierten Zelltod. Diese Wirkungen werken, jedoch produzieren auch Epithel- und Endothelzellen
erzielt die EZM über rezeptorvermittelte Zell-Matrix-Wechselwirkungen sowie glatte Muskelzellen und selbst Makrophagen eine Reihe von
im Konzert mit anderen, löslichen Signalen. Auch in adulten Organismen extrazellulären Matrix-Suprastrukturen, insbesondere die meis-
werden zelluläre Reaktionen auf Umwelteinflüsse im weitesten Sinne von ten Bestandteile der Basalmembran. Alle Matrix-Suprastrukturen
Zell-Matrix-Wechselwirkungen mitreguliert. Daraus folgt eine Bedeutung bestehen aus drei Gruppen von sezernierten Proteinen:
der EZM für fast alle pathogenetischen Mechanismen, zum Beispiel von 4 Faserproteine
angeborenen, entzündlichen. neoplastischen oder degenerativen Er- 5 Kollagene. Sie stellen die quantitativ bedeutendsten
krankungen, einschließlich der verbreiteten Volksleiden. Proteine des Organismus dar und sind die strukturge-
Der funktionellen Vielfalt und der ubiquitären Verteilung entsprechend benden Proteine von Haut, Sehnen, Bändern sowie der
ist die EZM auf molekularer und supramolekularer Ebene komplex organischen Grundsubstanz von Hartgeweben und der
organisiert und teilt vielzellige Organismen in Kompartimente auf, Basalmembranen.
zwischen welchen sie sowohl Barriere- als auch Vermittlerfunktion wahr- 5 Elastin verleiht Strukturen elastische Eigenschaften, z. B.
nimmt. Die Proteine der EZM sind in der Regel Glykoproteine mit hoher in der Aortenwand.
Molekularmasse. Sie bestehen aus einer linearen Abfolge von zahlrei- 5 Fibrillin ist für die Bildung von elastischen Fasern not-
chen, aber in begrenzter Auswahl vorliegenden Modulen. Zusätzlich wendig.
sind sie durch eine Vielzahl co-und posttranslationaler Modifikations- 4 Glykoproteine. Diese Gruppe umfasst eine Vielzahl von
reaktionen und durch die Fähigkeit zur streng kontrollierten Selbstas- Molekülen, die für die Zellfunktion essentiell sind. Die be-
semblierung gekennzeichnet. kanntesten Moleküle dieser Gruppe sind die Laminine und
das Fibronectin.
Schwerpunkte 4 Proteoglycane. Diese Proteinklasse ist wesentlich durch ih-
ren Kohlenhydratanteil definiert. Durch Anheften von sau-
4 Die überragende Bedeutung der extrazellulären Matrix (EZM)
ren repetitiven Disaccharideinheiten (7 Kap. 3.1, 16.2) stel-
4 Biosynthese von Kollagenen
len sie Polyanionen dar und sind sowohl für die Schaffung
4 Elastin und Fibrillin als Bausteine elastischer Fasern
von elastischen wassergefüllten Kompartimenten (z. B.
4 Proteoglycane, eine heterogene Gruppe von Proteinen mit
Knorpel) notwendig als auch für die Regulation der
sulfatierten Zuckerseitenketten mit biomechanischen Funk-
Kollagenfibrillenbildung. Proteoglycane sind als
tionen und als Regulatoren der Kollagenfibrillenbildung
zelloberflächenassoziierte Corezeptoren essentiell (z. B. Ko-
sowie als Corezeptoren für Wachstumsfaktoren
operation von Syndecanen mit Integrinen, Beteiligung ver-
4 Fibronectin und Laminin als Mediatoren von Zelladhäsion,
schiedener Heparansulfatproteoglycane an der Aktivierung
-migration, -differenzierung und Proliferation
der Signaltransduktion durch Wnt und Hedgehog, FGF,
4 Fibronectin in der Wundheilung
TGF-β).
4 Integrine als Rezeptoren für EZM – Proteine, Mediatoren des
Actincytoskeletts und Aktivatoren von Proteinkinasen und
Signaltransduktionswegen
4 Abbau der extrazellulären Matrix durch Metalloproteinasen
und Serinproteasen
4 Pathobiochemie: Schwere Erkrankungen aufgrund von
Defekten bzw. Mutationen in Kollagen-Genen

P. C. Heinrich eUBM (Hrsg.), Löffler/Petrides Biochemie und Pathobiochemie, DOI 10.1007/978-3-642-17972-3_71, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
932 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

71.1.1 Kollagene – Bildung fester Strukturen

Das Strukturmerkmal aller Kollagene ist mindestens


eine Domäne mit dem Motiv der Kollagen-Tripel-
helix (7 Kap. 5.2.2). Diese Konformation ist durch
monoton wiederholte Tripletsequenzen aus Gly-X-Y
bedingt, wobei X und Y häufig Prolin bzw. Hydroxy-
prolin sind. Ferner tritt in Y-Position bisweilen das
für kovalente Quervernetzungen und kollagentypi-
sche Glycosylierung wichtige Hydroxylysin auf
(s. u.). Durch Kombination tripelhelicaler und globu-
lärer Domänen entsteht eine Vielzahl von Matrix-
proteinen mit unterschiedlichen Eigenschaften
Zurzeit sind 40 verschiedene Kollagenketten bekannt, die zu 27
distinkten trimeren Kollagenmolekülen assemblieren können.
Daneben gibt es eine Reihe weiterer Proteine, welche das Struk-
turmotiv der Kollagen-Tripelhelix enthalten, jedoch nicht den
Kollagenen zugerechnet werden. Die einzelnen Kollagentypen
unterscheiden sich strukturell in der Länge der tripelhelicalen
Abschnitte, kurzen Unterbrechungen in der Tripelhelix und/
. Abb. 71.1 Elektronenmikroskopische Aufnahmen. Transmissionselek-
oder in der Existenz zusätzlicher globulärer Domänen. Durch die
tronenmikroskopie (A–C) und Rasterelektronenmikroskopie (D) der Supra-
Kombination dieser Module und Merkmale erhalten die Kolla- struktur von (A) Lamellenorganisation in der Cornea (Ke, Keratocyt;
gene ihre spezifischen biologischen Eigenschaften. Einige Ver- L, Lamellen). (B) Elastin und Kollagenfasern in der Haut (C) Gelenkknorpel-
treter der Familie sind in . Tab. 71.1 aufgelistet. matrix (P, Proteoglykanmatrix; K, Kollagenfibrille) (D) mineralisierter Kno-
chen (K, Kollagenfibrille; M, Mineralkristall). (A Mit freundlicher Genehmi-
gung von D. E. Birk; B Aus Keene DR, McDonald 1993 © SAGE Publications;
C Aus Hunziker et al. 1997, mit freundlicher Genehmigung von John Wiley &
71.1.2 Fibrilläre Kollagene Sons; D Mit freundlicher Genehmigung von J. Mahamid)

Fibrilläre Kollagene sind die Hauptkollagene der


Extrazellulärmatrix von Haut, Knochen, Knorpel, sern, die ein dreidimensionales Netzwerk ausbilden. Diese Un-
Sehnen und Bändern. Sie können miteinander zu terschiede in der Morphologie von Kollagenfibrillen beruhen auf
charakteristischen Faserstrukturen aggregieren unterschiedlicher, legierungsähnlicher Copolymerisation von
Die wichtigsten fibrillären Kollagene sind die Typen I, II, III, V verschiedenen Kollagentypen, Glykoproteinen und Proteoglyca-
und XI (. Tab. 71.1). Ihre Aufgabe ist die Bildung von festen, nen. Dadurch wird die Dicke, die Anordnung und der Abstand
zugbelastbaren Fasern. Diese lassen im Elektronenmikroskop der Fibrillen sowie deren Wechselwirkung mit anderen Matrix-
einen Aufbau aus quer gestreiften Fibrillen mit einer Gewebs- suprastrukturen kontrolliert (s. u.).
abhängigen Periodizität von 64–67 nm erkennen (. Abb. 71.1 Die Polypeptidketten der fibrillären Kollagene besitzen ho-
und . Abb. 71.4). Die Dicken und die 3-dimensionalen Anord- mologe Aminosäuresequenzen und nahezu identische Domä-
nungen sind in verschiedenen Geweben unterschiedlich (. Abb. nenstrukturen (. Abb. 71.2). Das charakteristische Struktur-
71.1) und den Anforderungen entsprechend optimiert. In Seh- merkmal ist eine große zentrale, tripelhelicale Domäne, welche
nen beispielsweise sind alle Fibrillen parallel angeordnet, sodass aus über 300 Gly-X-Y-repeats in ununterbrochener Reihenfolge
sie maximale Stabilität gegen Zugbelastung besitzen, während sie besteht. Diese wird von zwei etwa 20 Aminosäuren langen nicht-
in der Haut gebündelt kreuz und quer liegen, um eine Dehnung tripelhelicalen Telopeptiden flankiert, welche für die enzyma-
in alle Richtungen zu ermöglichen. Knorpel hingegen besitzt Fa- tisch induzierte und kovalente Quervernetzung von Kollagen-

71
. Abb. 71.2 Schematische Darstellung der Struktur der Polypeptidkette von fibrillären Kollagenen am Beispiel der α1(III)-Kette. »Tripelhelicale« Be-
reiche sind hellblau dargestellt, die Spaltstellen für die N- und C-Propeptidasen sind durch Pfeile gekennzeichnet. Die Zahlen geben die Anzahl der Amino-
säuren in den einzelnen Domänen an
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
933 71

. Tab. 71.1 Kollagentypen (Auswahl) und repräsentative Expressionsorte

Typ Typische Molekülzusammensetzung Typisches Vorkommen Charakteristische Merkmale

Fibrillenbildende Kollagene

I [α1(I)]2 α2(I)] Haut, Knochen, Sehnen, Bänder Häufigstes Kollagen, bildet besonders zugfeste
Fibrillen

II [α1(II)]3 Knorpel, Glaskörper Häufigstes Knorpelkollagen

III [α1(III)]3 Dehnbare Gewebe wie Haut, Gefäße Vorkommen zumeist zusammen mit Kollagen I

V [α1(V)]2α3(V) Haut, Cornea Nebenkomponente, zusammen mit Kollagen I


exprimiert

XI α1(XI) α2(XI)α2(XI), [α1(XI)]2α2(V) Knorpel, Knochen, Glaskörper Nebenkomponente, zusammen mit Kollagen I
und II exprimiert

Basalmembrankollagene

IV [α1(IV)]2α2(IV) Fast alle Basalmembranen Flächiges Netzwerk, Hauptstrukturprotein der


Basalmembran
α3(IV)α4(IV)α5(IV) Nierenglomeruli

[α5(IV)]2α6(IV) und [α1(IV)]2α2(IV) Bowmann-Kapsel

Multiplexine, basalmembranassoziierte Kollagene

XV [α1(XV)]3 Vor allem vaskuläre und epitheliale C-terminales Fragment hemmt Angiogenese
Basalmembranen

XVIII [α1(XVIII)]3 C-terminales Fragment (=Endostatin) hemmt


Angiogenese, Mutationen führen zur Erblindung

Fibrillenassoziierte (FACIT) Kollagene

IX α1(IX)α2(IX)α3(IX) Bestandteil von Knorpelfibrillen Knockout-Mäuse entwickeln Arthrose und milde


Wachstumsdefekte

XII [α1(XII)]3 Ubiquitäres Fibrillenprotein Bindung an EZM-Moleküle (Proteoglycane), Regu-


lation der Fibrillenbildung/Modifikation der
XIV [α1(XIV)]3
Interaktion zwischen Fibrillen

Netzwerk-bildende Kollagene

VIII [α1(VIII)2]α2(VIII) Endothel, Descemet Membran (Auge) Bildung hexagonaler Netzwerke

X [α1(X)]3 Hypertrophierender Knorpel

Transmembrankollagene

XIII [α1(XIII)]3 Breite Gewebsverteilung Zell-Zell- und Zell-Matrix-Verankerung

XVII [α1(XVII)]3 Hemidesmosomen der Haut Adhäsion von Keratinocyten an die Basalmemb-
ran, Mutationen führen zur Epidermolysis bullosa
junctionalis

XXV (CLAC-P) [α1(XXV)]3 Neurone Bindung von Amyloid-β-Peptiden, nicht aber des
β-Amyloid-Präkursorproteins

Sonstige

VI α1(VI)α2(VI)α3(VI) Ubiquitär Bildet Mikrofibrillen

VII [α1(VII)]3 Ankerfibrillen Exprimiert an der Dermis-Epidermis-Grenze,


Verankerung der Basalmembran im interstitiellen
Bindegewebe

molekülen essentiell sind. Neu synthetisierte Kollagenmoleküle Biosynthese der fibrillären Kollagene
enthalten noch zusätzliche Domänen an den Enden, das N-Pro- am Beispiel von Kollagen I
peptid bzw. C-Propeptid, die je nach Kollagentyp im reifen Mo- Intrazelluläre Biosyntheseschritte
lekül jedoch nicht mehr oder nur noch teilweise vorhanden sind. In der Zelle wird der Präkursor Prokollagen gebildet,
Zusätzlich besitzen die Ketten noch eine Präsequenz (auch der posttranslational intensiv modifiziert wird
Signalpeptid genannt) zur Translokation ins endoplasmatische Am rauhen endoplasmatischen Retikulum (RER) wird zunächst
Retikulum. der Präkursor Prä-Prokollagen gebildet und in dessen Lumen
934 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

A transloziert. Noch während der Vervollständigung der Polypep-


tidsynthese werden die Signalpeptide abgespalten, wodurch Pro-
kollagenketten entstehen. Noch im RER beginnt eine Reihe von
enzymkatalysierten, posttranslationalen Modifikationsreaktio-
nen am entstehenden Prokollagen. Diese müssen vor der Faltung
zum tripelhelicalen Prokollagen abgeschlossen sein, weil dieses
für die intrazellulären Modifikationsenzyme kein Substrat mehr
ist (. Abb. 71.3):

Die Hydroxylierung ist für die Strukturfunktion


des Kollagens essenziell
Nahezu alle in der Y-Position der Gly-X-Y-Triplets vorkommen-
den Prolinreste und einige der Y-Lysylreste werden durch Prolyl-
Hydroxylasen bzw. Lysyl-Hydroxylasen zu 4-Hydroxyprolin
(Hyp) bzw. 5-Hydroxylysin umgewandelt 1 (. Abb. 71.3A). Alle
Hydroxylasen benötigen α-Ketoglutarat und Sauerstoff als Co-
substrate und enthalten im aktiven Zentrum ein obligates Fe2+-
Ion. Dieses wird in einer Nebenreaktion zuweilen zu Fe3+ oxy-
diert. Vitamin C (7 Kap. 27.1.3) kann solche Fe3+-Ionen zu Fe2+
reduzieren und damit die Enzymaktivität wieder herstellen. Der
Verbrauch des Vitamins ist deshalb nicht stöchiometrisch mit
der Bildung von Hyp und Hyl. Skorbut ist die Folge eines Vita-
min C-Mangels und wird durch das Fehlen von neugebildetem
Kollagen verursacht.
Die Iminosäuren Pro und Hyp sind für die Stabilität der Kol-
lagen-Tripelhelix verantwortlich. Wegen ihrer jeweils korrekten,
stereoelektronisch induzierten Ringkonformation erhöhen Pro
in X bzw. Hyp in Y-Positionen der Gly-X-Y-Triplets die Denatu-
B rierungstemperaturen der Kollagene. Diese entsprechen wegen
des Einbaus geeigneter anderer Aminosäuren in die X- und Y-
Positionen ungefähr der mittleren Körpertemperatur. Kollagene
sind somit abbaubar, was einen homöodynamischen Gewebs-
umsatz ermöglicht. Kollagen mit weniger Prolin und Hydroxy-
prolin kommt bei Organismen vor, die in kaltem Wasser leben.
Dieses besitzt eine niedrige Denaturierungstemperatur, würde
sich also bei der Biosynthese im Menschen nicht falten und daher
abgebaut werden.
Zwei Glycosyltransferasen 2 (. Abb. 71.3A) katalysieren die
Bildung von O-glycosidischen Hyl-O-Gal bzw. Hyl-O-Gal-Glc.
Das Ausmass der Bildung von glycosyliertem Hyl ist vom Ge-
webe und Entwicklungsstadium abhängig.
Nach der Freisetzung der neu synthetisierten Prokollagen-
polypeptide bilden sich die Disulfidbrücken innerhalb der
C-Propeptide 3 (. Abb. 71.3A). Die Selektion und Assoziation
von drei Polypeptidketten erfolgt durch Wechselwirkung zwi-
schen den C-Propeptiden, deren Struktur die angemessene Ket-
C
9 . Abb. 71.3 Biosynthese und Sekretion der fibrillären Kollagene. A Intra-
zelluläre Schritte: 1 cotranslationale Hydroxylierung von Prolin- und Lysin-
resten; 2 Glycosylierung einzelner Hydoxylysinreste; 3 Freisetzung der
Polypeptidkette mit disulfidverbrückten und N-glycosylierten Propeptiden;
4 Zusammenlagerung dreier Polypeptidketten über die C-Propeptide und
Beginn der Tripelhelixbildung; 5 Bildung des fertigen tripelhelicalen Pro-

71 kollagenmoleküls. B Extrazelluläre Schritte. 1 Abspaltung der Propeptide;


2 Aggregation zu Mikrofibrillen; 3 covalente Quervernetzung. C Schema-
tische Darstellung der Assemblierung und Fusion von dünnen Kollagen-
fibrillen in extrazellulären Kompartimenten des Fibroblasten
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
935 71
A

. Abb. 71.4 Zustandekommen der Querstreifung von Kollagenfibrillen. A D-stagger, B Negativ-staining: Dunkelfärbung der Fibrillen, C Elektronen-
mikroskopische Aufnahme mit Negativkontrast

tenauswahl der Homo- bzw. Heterotrimere bestimmt 4 (. Abb. pungsbereichen von sehr dicht gepackten Fibrillen der Sehnen
71.3A) und die Faltung vom C-terminalen zum N-terminalen keine Hyl-O-Glc- oder Hyl-O-Glc-Gal-Reste, wohl aber in den
Ende einleitet 5 (. Abb. 71.3A). eher lose gepackten Fibrillen der Cornea.

Extrazelluläre Biosyntheseschritte An die intrazelluläre Assem- Die Kollagenfibrillen werden zur Stabilisierung
blierung der Prokollagenmoleküle schließt sich die Abspaltung miteinander quervernetzt
der C- und N-Propeptide durch entsprechende Prokollagen- Die Quervernetzungen bilden sich zwischen Lysin-/Hydroxyly-
Proteinasen an 1 (. Abb. 71.3B), wobei die fertigen Kollagen- sinresten im N-terminalen Telopeptid und dem benachbarten
moleküle (früher Tropokollagen genannt) entstehen. Diese Pro- Bereich der Tripelhelix mit entsprechenden Resten im C-termi-
zessierung erfolgt entweder in den letzten intrazellulären Kom- nalen Telopeptid und dem davor liegenden Teil der Tripelhelix.
partimenten oder in extrazellulären Einbuchtungen der Plasma- Voraussetzung für die Ausbildung der cross-links ist die oxydative
membran (. Abb. 71.3C) und ist eine Voraussetzung für die Deaminierung eines Teils der Lysin-/Hydroxylysinreste zu
Assemblierung von Kollagenfibrillen 2 (. Abb. 71.3B). Die Allysin (. Abb. 71.5A) durch das kupferabhängige Enzym Lysyl-
Fibrillen werden anschliessend kovalent quervernetzt 3 (. Abb. oxidase. Allysinreste benachbarter Polypeptidketten können
71.3B). Gewebsabhängig können Fibrillen in extrazellulären durch Aldolkondensation covalente Quervernetzungen der
Kompartimenten weiter zu Fasern fusionieren. Seitenketten ausbilden oder mit einem Lysinrest zu einer
Schiff ’schen-Base kondensieren (. Abb. 71.5B). Ist an der Kon-
Die axiale Versetzung (D-Periodizität) von densation Hydroxylysinaldehyd beteiligt, kann das Reaktions-
Kollagenmolekülen in Fibrillen wird durch die produkt durch die Amadori-Umlagerung (. Abb. 71.5C) zu ei-
charakteristische Verteilung von hydrophoben und nem nicht mehr säureempfindlichen Produkt umgelagert wer-
polaren geladenen Aminosäuren bestimmt den. In vivo reagieren die Halbacetale oder Schiff-Basen häufig
Die miteinander wechselwirkenden Aminosäuren der Kollagen- weiter zu trivalenten Quervernetzungen wie den Pyridinolinen
moleküle sind in vier homologen, je ca. 67 nm langen Regionen (nicht gezeigt). Ähnliche Reaktionen finden auch bei der Quer-
(D1–D4) angeordnet (. Abb. 71.4). Daher lagern sich die Mole- vernetzung von Elastin statt (s. u.). Die Bestimmung von Pyri-
küle jeweils um 67 nm versetzt (D-Periodizität = 67 nm) anei- dinolinen und anderen cross-links im Urin besitzt auch klinische
nander, um maximale hydrophobe und elektrostatische Wechsel- Bedeutung zur Erfassung des Kollagenstoffwechsels, z. B. bei
wirkungen mit den Nachbarmolekülen zu erreichen. Diese An- verstärktem Knochenabbau bei Osteoporose.
ordnung erklärt auch die elektronenmikroskopisch zu beobach-
tende Querstreifung. Da die Länge fibrillärer Kollagenmoleküle Kollagenmoleküle werden teilweise bereits in
(300 nm) kein ganzzahliges Vielfaches der D-Periode ist, treten extrazellulären Kompartimenten von Fibroblasten
in regulären Abständen von 67 nm entlang der Fibrillen Lücken zu fibrillären Strukturen aneinander gelagert
auf, in die fibrillenassoziierte Makromoleküle oder das Kontrast- Die intrazellulär synthetisierten Prokollagenmoleküle werden
mittel bei Negativ-staining eingelagert werden können. Durch nicht einfach in den Extrazellulärraum sezerniert, vielmehr be-
die Glycosylierung von Hyl-Resten wird der virtuelle Umfang ginnt die situationsabhängige Bildung von dünnen, prototypi-
der Kollagenmoleküle erhöht und die laterale Packung in den schen Fibrillen in extrazellulären Kompartimenten, welche bis
Fibrillen moduliert, besonders wenn glycosylierte Hyl-Reste au- tief in die Fibroblasten hinein reichen können (. Abb. 71.3C).
ßerhalb der Lücken vorkommen. Deshalb gibt es in den Überlap- Alternativ entstehen z. B. bei der Entwicklung embryonaler Seh-
936 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

. Abb. 71.5 Grundlegende Quervernetzungsreaktionen zwischen Lysin- und Allysinresten von Kollagenpolypeptidketten. A Bildung von Allysin
durch Oxidation von Lysinresten in der Peptidkette durch Lysyloxidase B Bildung von Schiff-Basen zwischen der ε-Aminogruppe und der Aldehydgruppe
eines Lysin- bzw. eines Allysinrestes. C Stabilisierung von Schiff’schen-Basen durch Amadori-Umlagerung im Falle einer Quervernetzung mit hydroxy-
liertem Allysin

nen prototypische Fibrillen – intra- und extrazelluläre Bereiche Wichtige Regulatoren der Matrixassemblierung
überspannend – an den Spitzen fingerartiger Ausstülpungen (Fib- sind Glykoproteine und Proteoglycane
ripositoren), um danach in extrazellulären Hohlräumen zwischen Zum Teil beruht die unterschiedliche Fibrillenstärke darauf, dass
zusammengelagerten Tenocyten zu dickeren Faserbündeln zu bei den Kollagenen III, V und XI die N-terminalen Propeptide
reifen. In beiden Situationen fusionieren kollagenhaltige, sekreto- nur zum Teil abgespalten werden. Daneben interagieren Fibril-
rische Kompartimente miteinander und mit der Zellmembran, len aber mit einer Vielzahl von Glykoproteinen und Proteoglyca-
sodass lange, enge Kanäle entstehen, in denen die ersten Schritte nen. Diese sind nicht nur wichtig für die Durchmesserkontrolle
der Fibrillenbildung ablaufen. Im Extrazellulärraum erfolgt dann der Fibrillen, sondern sie vermitteln auch deren Integration in
eine gewebsspezifische Aneinanderlagerung prototypischer Fib- Fasern, Fibrillennetzwerke oder von Proteoglycan- und Glyko-
rillen zu übergeordneten Suprastrukturen (. Abb. 71.1). proteinaggregaten außerhalb der Fibrillen (7 Kap. 71.1.5). Das
kleine Proteoglycan Decorin (7 Kap. 71.1.5) und weitere struktu-
Dicke, Zusammensetzung und Organisation rell verwandte Proteoglycane sind wichtige fibrillenassoziierte
von Kollagenfibrillen Regulatoren der Matrixassemblierung. Ferner modulieren meh-
Natürlich vorkommende Fibrillen sind »hetero- rere Dutzend nicht-kollagener Glykoproteine wie Thrombos-
typisch«: Sie enthalten mehr als einen Kollagentyp pondin-5 (= cartilage oligomeric matrix protein, COMP) und
Da die tripelhelicalen Abschnitte der fibrillären Kollagentypen Tenascin-X die gewebs- und entwicklungsstadiumabhängige
nahezu gleiche Länge besitzen, können sie in die gleiche Fibrille Aggregation zu Matrixsuprastrukturen (7 Kap. 71.1.6).
eingebaut werden. So enthalten heterotypische Fibrillen der Cor-
nea z. B. eine Mischung der Kollagene I und V. Sehnen enthalten Zellen sind Katalysatoren der Matrixassemblierung
Kollagen I mit geringeren Beimischungen der Typen III und V, Fibroblasten in Zellkultur kontrahieren Gele aus lockeren Netz-
während die Fibrillen der Haut Amalgamate der Kollagene I, III, werken von Kollagenfibrillen, in welche sie eingebettet wurden,
V und XII sind. Knorpel hingegen enthält heterotypische, dünne bis auf einen kleinen Bruchteil des Ausgangsvolumens. Dieses
Fibrillen der Typen II, IX und XI. Die Kollagene V und XI sind einfache Experiment suggeriert, dass Fibroblasten die Organisa-
unverzichtbare Starter der Bildung von amalgamierten Kollagen- tion von Kollagenfibrillen zu Bündeln beschleunigen können.
fibrillen. So führt der genetisch bedingte Verlust von Kollagen V Dafür sind Integrine (7 Kap. 71.1.7) in der Plasmamembran der
zu schweren Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-Syn- Fibroblasten erforderlich. Sehr wahrscheinlich werden an der
drom, 7 Kap. 73.5). Die homozygote Defizienz von α1(XI)-Ketten Oberfläche der Fibroblasten integrinabhängig zunächst Fibro-
des Kollagens XI ist wegen schwerster Skelettmissbildungen so- nectinfibrillen (7 Kap. 71.1.5) assembliert, an die dann Kollagen-
gar mit dem Leben unvereinbar. fibrillen fest gebunden werden. Über die Integrine können von
intrazellulären Actin-Myosin-Filamenten entwickelte Kräfte auf
71 extrazelluläre Matrixstrukturen übertragen werden (7 Kap.
71.1.7), die eine Verkürzung fibrillärer Strukturen ermöglichen.
Solche Prozesse dürften u. a. auch für die Kontraktion von
Wundrändern essentiell sein.

Hydroxy-Allysin Lysin Allysin Schiff ’sche Base β-Hydroxy-Aldimin Amadori-Umlagerung β-Ket-Amin


71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
937 71
71.1.3 Nicht-fibrilläre Kollagene A

Nicht-fibrilläre Kollagene bilden eine Vielzahl


von Strukturen mit unterschiedlichen Aufgaben
Im Gegensatz zu den fibrillären Kollagenen bilden die übrigen
Kollagene eine sehr heterogene Gruppe. Einige Strukturen sind
in . Abb. 71.6 dargestellt. Die für die fibrillären Kollagene typi-
sche Prozessierung von Propeptiden findet oft nicht statt. Die B
tripelhelicalen Segmente weisen unterschiedliche Längen auf
und sind z. T. durch längere nicht-tripelhelicale Segmente unter-
brochen, welche die Moleküle flexibler machen. Weitere Kenn-
zeichen sind zahlreiche nicht-kollagene Domänen. Beispielweise
enthält Kollagen VI zahlreiche Kopien von Domänen, die zu
Sequenzabschnitten des von Willebrand-Faktors homolog sind,
während Kollagen VII eine Anzahl von Fibronectin-Typ-III- C

Domänen enthält. Solche nicht-kollagenen Domänen verleihen


biologische Eigenschaften, die über Strukturfunktionen hinaus-
gehen, wie z. B. Regulation der Angiogenese (Kollagen XVIII,
s. u.). Wichtige nicht-fibrilläre Kollagene sind:
4 FACIT-Kollagene (fibril associated collagens with interrupted
triple helices). Diese Gruppe umfasst neben den in . Tab.
D
71.1 aufgeführten Kollagenen Typ IX, XII und XIV noch
eine Reihe weiterer, z. T. noch nicht näher charakterisierter
Kollagene (XVI, XIX bis XXIII). Für Kollagen IX wurde ge-
zeigt, dass es in regelmäßigen Abständen in einen Teil der
Kollagen-II/XI-Fibrillen integriert ist (. Abb. 71.6E). Zu-
sätzlich trägt Kollagen IX häufig eine Chondroitinsulfat-
Seitenkette, sodass die Oberfläche von Knorpelfibrillen
einen hydrophilen Charakter besitzt. Interessanterweise E
erkrankten Mäuse mit inaktiviertem Kollagen-IX-Gen im
Alter von einigen Monaten an Arthrose, was auf die Stabi-
lisierung der Knorpelfibrillen und damit der Knorpel-
matrix durch Kollagen IX hinweist.
Die beiden Kollagene XII und XIV hingegen sind überwie-
gend mit Kollagen-I-haltigen Fibrillen assoziiert. Sie besit- . Abb. 71.6 Schematische Darstellung der Struktur einiger ausgewähl-
zen eine ähnliche Struktur, bestehend aus einer C-termina- ter nicht-fibrillärer Kollagene. A Kollagen IV (NC1: C-terminale nicht-kolla-
len, kollagenbindenden Domäne und einer großen nicht- gene Domäne; 7 S: N-terminale Quervernetzungsdomäne); B Kollagen VI;
kollagenen N-terminalen Domäne mit der Fähigkeit an C Kollagen VII; D Kollagen X, E Kollagen IX
Glycosaminoglycane und andere EZM-Strukturen zu bin-
den. Man nimmt an, dass die Funktion der beiden Kollage- [α1(IV)]2α2(IV), in einigen Basalmembranen findet man
ne darin besteht, den Aufbau der EZM-Struktur zu modu- jedoch auch andere Kombinationen (. Tab. 71.1). So enthal-
lieren. ten die Basalmembranen der Glomeruli überwiegend Mole-
4 Kollagen IV (. Abb. 71.6A) kommt in Basalmembranen vor küle der Zusammensetzung α3(IV)α4(IV)α5(IV), die funk-
und ist für alle tierischen Vielzeller lebenswichtig. Es besitzt tionell nicht durch die α1- und α2-Ketten ersetzt werden
eine fast 400 nm lange tripelhelicale Domäne und zusätzlich können, wie die Analyse von Gen-Defekten zeigt (s. u.).
eine globuläre Domäne (NC1) am C-terminalen Ende. 4 Mit Basalmembranen assoziiert sind die beiden homologen
Durch zahlreiche, nur wenige Aminosäuren lange Unter- Kollagene XV und XVIII. Sie kommen in den epithelialen
brechungen der Tripelhelix ist das Molekül flexibler als die und endothelialen Basalmembranen einer Reihe von Gewe-
fibrillären Kollagene. Kollagen IV aggregiert zu dreidimen- ben vor. Ca. 20 kDa große Spaltprodukte der C-terminalen
sionalen Netzwerken: Durch covalente Verknüpfungen Domäne (Endostatin im Falle von Kollagen-XVIII) hem-
über die C-terminalen globulären Domänen werden Dime- men die Angiogenese. Mutationen im Gen für Kollagen-
re gebildet, die lateral miteinander aggregieren können. Zu- XVIII führen aus noch unbekannten Gründen zu okzipita-
sätzlich können Moleküle über N-terminale Abschnitte der ler Schädelmissbildung (Enzephalocel) sowie verschiedenen
Tripelhelix (sog. 7S-Domäne) aggregieren, sodass eine Augenerkrankungen (starke Kurzsichtigkeit, Katarakt, Lin-
Struktur entsteht, wie sie in . Abb. 71.6A dargestellt ist. sendislokationen, vitreoretinale Degeneration, Netzhautab-
Insgesamt existieren sechs verschiedene α-Ketten. In vielen lösung). Gefäßmissbildungen oder Erkrankungen scheinen
Basalmembranen hat Kollagen IV die Zusammensetzung nicht Bestandteil des Syndroms zu sein.

Kollagen Typ-IV Typ-VI Typ-VII Typ-X Typ-IX


938 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

4 Kollagen VI (. Abb. 71.6B) ist ein in den meisten intersti-


tiellen Bindegeweben vorkommendes Kollagen. Es ist der ketten lagern sich zu tripelhelicalen Prokollagenmolekülen
Hauptbestandteil von Mikrofibrillen mit einer 100-nm- zusammen, die nach Abspaltung der C-Propeptide zu fibril-
Periodizität. Diese Mikrofibrillen werden völlig anders als lären Strukturen assemblieren. Die Fibrillen werden durch
gebänderte Kollagenfibrillen gebildet. Zunächst lagern sich Quervernetzung zwischen Lysin- und Allysinresten stabili-
intrazellulär zwei monomere Moleküle antiparallel zu siert und durch Fibroblasten in einer organspezifischen
Dimeren zusammen, die weiter zu Tetrameren aggregieren. Architektur deponiert.
Diese Tetramere polymerisieren extrazellulär über die glo- Fibrillenassoziierte Kollagene modifizieren die Oberflächen
bulären Enden zu Mikrofibrillen. von Fibrillen. So verleiht das Kollagen IX den Typ-II-Fibrillen
4 Kollagen VII (. Abb. 71.6C) polymerisiert zu Verankerungs- des Knorpels den hydrophilen Charakter (wichtig für die
fibrillen der dermoepidermalen Junktionszone. Nach Ab- Gelenkfunktion).
spaltung einer C-terminalen, 30 kDa großen globulären Viele Kollagene bilden keine Fibrillen und sind nicht mit
Domäne bildet Kollagen VII antiparallele Dimere, die zu Fibrillen assoziiert. Ein besonders wichtiger Vertreter dieser
Verankerungsfibrillen aggregieren, welche sich ihrerseits Gruppe ist das Kollagen IV, ein essentieller Bestandteil aller
mit einem Ende in die Basalmembrankollagennetzwerke Basalmembranen.
und mit dem anderen in klassische Kollagenfibrillen der
papillären Dermis integrieren.
4 Kollagen X (. Abb. 71.6D) wird nur in hypertrophieren-
dem Knorpel exprimiert und stellt daher ein wichtiges 71.1.4 Elastin und Fibrillin –
Markerprotein dar. Das monomere Molekül besitzt die Bildung elastischer Fasern
Form einer Hantel und polymerisiert zu einem hexagonalen
Netzwerk. Ähnlich aufgebaut ist Kollagen VIII, das aber eine Aufgrund ihrer starren Tripelhelix sind die Kollagene nicht ge-
breitere Verteilung besitzt, und besonders reichlich in der eignet, Strukturen (z. B. Wände der großen Arterien, Lunge)
Descemet-Membran der Cornea und in der subendothelia- elastische Eigenschaften zu verleihen. Dafür haben die Vertebra-
len Matrix vorkommt. ten spezielle elastische Fasern entwickelt, die je nach Gewebetyp
4 Transmembrankollagene. Nicht alle Kollagene werden in morphologisch unterscheidbaren Netzwerken vorkommen.
sezerniert, einige besitzen Transmembrandomänen Der Kern der elastischen Fasern besteht aus Elastin. Weil im
(Typen XIII, XVII, XXIII, XXV, Gliomedine). Eine Funk- Elektronenmikroskop keine geordnete Struktur des Elastin-
tion der Transmembrankollagene ist die Stabilisierung von Kerns erkennbar ist, wird dieser als »amorph« bezeichnet. Er ist
Zell-Zell- und Zell-Matrix-Interaktionen. Kollagen XVII ist jedoch von perlenschnurartigen Mikrofibrillen mit einer Perio-
ein Bestandteil der Hemidesmosomen und bindet an Lami- dizität von 55 nm umgeben, deren mengenmäßige Hauptkom-
nin- und α6-Integrin-Aggregate. Mutationen führen zu Er- ponenten die Fibrilline 1 und/oder 2 sind. Während der Biosyn-
krankungen (Epidermolysis bullosa junctionalis, s. u.). Eine these der elastischen Fasern copolymerisieren die Fibrilline mit
interessante Eigenschaft von Kollagen XXV (CLAC = colla- einer Reihe weiterer Proteine, wie z. B. mikrofibrillenassoziierte
gen-like Alzheimer amyloid plaque component) ist die stabi- Glykoproteine (MAGPs), Emiline, Fibuline und Proteoglycane.
lisierende Copolymerisation mit Amyloid-β in Amyloid- Diese Proteinamalgamate gewährleisten die gewebsspezifisch
Plaques bei der Alzheimer-Erkrankung. korrekte Architektur der jeweiligen elastischen Fasern. Damit die
Elastizität der elastischen Fasern erhalten bleibt, wird unter Zug-
belastung die Periodizität der Mikrofibrillen unter Überwindung
Zusammenfassung einer Rückstellkraft reversibel bis auf einen nahezu dreifachen
Kollagene sind die wichtigsten Strukturproteine des Körpers, Wert gestreckt (s. u. und . Abb. 71.7).
inzwischen sind mindestens 27 verschiedene Typen
bekannt. Elastin verleiht den Geweben elastische
Alle Kollagenmoleküle bestehen aus drei Polypeptidketten. Eigenschaften
Gemeinsames Strukturmerkmal sind vielfach wiederholte Elastin ist ein unlösliches, quervernetztes Polymer aus monome-
Gly-X-Y-Sequenzen, wobei X und Y häufig Prolin und Hydro- rem Elastin, dem Tropoelastin. Dieses 70 kDa große Protein
xyprolin darstellen. Hydroyxprolin erhöht den Schmelzpunkt setzt sich zum großen Teil aus alternierenden hydrophoben Be-
der Tripelhelix auf über 40 °C. Die cotranslational erfolgende reichen und α-helicalen Quervernetzungsdomänen zusammen
Hydroxylierung von Prolin und Lysin ist Vitamin-C-abhängig. (. Abb. 71.8A).
Weitere für Kollagen typische modifizierte Aminosäuren Die hydrophoben Bereiche sind reich an Glycin, Alanin,
sind Hydroxylysin und Allysin. Valin und Prolin. Sie besitzen einen hohen Anteil an
Die häufigsten Kollagene sind die fibrillären Kollagene β-Faltblattstrukturen und β-turns. Diese Strukturen können in
(Typen I, II, III, V, und XI), die gebänderte Fibrillen bilden (z. B. mehreren, leicht ineinander überführbaren Konformationen
71 in Sehnen, Bändern, Haut und Knorpel). Sie kommen in Form vorliegen, besitzen also eine hohe Flexibilität. In dieser Hinsicht
von Mischfibrillen vor. Die einzelnen Kollagenpolypeptid- ist Tropoelastin ein atypisches Protein, denn normalerweise lie-
6 gen die hydrophoben Domänen im Inneren der Proteine verbor-
gen und besitzen eine weniger elastische Struktur. Eine zweite
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
939 71
A Die Quervernetzungen erfolgen intra- und intermolekular.
Dabei entsteht ein hochelastisches und u. a. gegen Proteinase-
Einwirkung äußerst resistentes Polymer, das bei einem gesunden
Menschen zeitlebens erhalten bleibt. Im Vergleich mit den Mik-
rofibrillen ist über die Anordnung des Tropoelastins im Polymer
weniger bekannt. Eine Strukturanalyse von monomerem Tropo-
elastin durch 2D-Kernresonanzspektroskopie oder Röntgenbeu-
gung war aufgrund seiner Flexibilität bisher nicht möglich.

Mikrofibrillen aus Fibrillin sind für die Funktion


der elastischen Fasern unentbehrlich
Fibrillin Während Elastin nur bei Vertebraten vorkommt, wer-
den Fibrilline auch von allen Invertebraten gebildet, sind also
evolutionär älter. Fibrillin besitzt eine Molekülmasse von etwa
350 kDa und existiert in drei Isoformen. Fibrillinmonomere po-
lymerisieren zu charakteristischen Filamenten (. Abb. 71.7B).
Die Assemblierung der Monomeren und Reifung der Filamente
B zu den Mikrofibrillen mit den typischen, periodischen Verdi-
ckungen wird durch transiente Bindung der Monomere an die
Zelloberfläche und Copolymerisation mit den anderen Kompo-
nenten gefördert. Zu den Fibrillinen rechnet man auch die struk-
turell sehr ähnlich aufgebauten LTBPs (latent TGF-β binding pro-
teins). Eine weitere wichtige Eigenschaft der LTBPs ist ihre Fä-
higkeit, latente TGF-β-Komplexe (LAP) zu binden und an den
Mikrofibrillen in einem inaktiven Zustand als Reservoir zu se-
questrieren. Die Dehnung der elastischen Fasern führt zu einer
Freisetzung der LAPs mit nachfolgender Aktivierung des in den
LAP gebundenen TGF-β. In der Tat zeigen Mäuse mit inaktivier-
tem Fibrillin-1-Gen erhöhte Aktivität an TFG-β. Darüber hinaus
. Abb. 71.7 Architektur und Biosynthese elastischer Fasern. A Fibrillin-
kann Fibrillin selbst mit BMPs (bone morphogenetic proteins),
moleküle (rot) lagern sich an der Zelloberfläche zusammen und reifen zu
Mikrofibrillen 1 , danach werden Tropoelastinmoleküle (grün) an die Mi- eine Familie von wachstumsregulierenden Proteinen (s. u.), in-
krofibrillen angelagert und durch Lysyloxidase quervernetzt 2 . Die Poly- teragieren.
mere aus Elastin wachsen später zusammen und drängen die Mikrofibrillen Mikrofibrillen aus Fibrillin besitzen bereits für sich alleine
zum Rand 3 . B Elektronenmikroskopische Aufnahme nach Rotations- elastische Eigenschaften und kommen auch als eigenständige
kegelbedampfung von Fibrillen aus Fibrillin (B Aus Ren 1991, mit freund-
Strukturen im Organismus vor, z. B. in den Zonulafasern des
licher Genehmigung von Elsevier)
Auges oder assoziiert mit Basalmembranen. In der Regel sind sie
aber mit Elastin assoziiert.
atypische Eigenschaft besteht darin, dass die hydrophoben Berei- Defekte im Gen für Fibrillin 1 sind die Ursache des Marfan-
che des Tropoelastins von einem Wassermantel umgeben sind. Syndroms (7 Kap. 73.5). Das Marfan-Syndrom ist durch Hoch-
Diese Hydratisierung wird als wesentlich für das elastische Ver- wuchs, Arachnodaktylie (= »Spinnenfingrigkeit«; lange und sehr
halten erachtet: Bei Dehnung der Peptidkette werden mehr hy- flexible Finger) und Luxation der Augenlinsen (Zonulafasern
drophobe Seitenketten der Aminosäuren dem Wasser ausgesetzt, sind fibrillinhaltige Mikrofibrillen) gekennzeichnet. Die charak-
sodass das Wasser eine geordnetere Struktur (= Entropieabnah- teristische Verlängerung der Gliedmaßen beruht vermutlich auf
me) einnehmen muss (wie bei der Grenzfläche zu einem Öltröpf- unangemessenen hohen Spiegeln von aktiven TGF-β und BMPs.
chen; 7 Kap. 1.1). Wenn die Zugbelastung nachlässt, können die Schwerwiegendste Konsequenz der Krankheit ist jedoch die Hy-
hydrophoben Seitenketten wieder stärker miteinander interagie- perelastizität von Gefäßwänden. Es kommt zur Bildung von An-
ren, die geordnete Hydrathülle kann sich wieder statistisch ori- eurysmen, typischerweise zur extremen Dilatation des Aorten-
entieren (= Entropiezunahme), sodass eine weitere Komponente stamms mit der häufigen Folge von fatalen Rupturen. Defekte im
der elastischen Rückstellkraft resultiert. Gen für Fibrillin 2 sind in analoger Weise Ursache der angebore-
Die Quervernetzungsdomänen enthalten 40 Lysinreste, nen Arachnodaktylie mit Gelenkkontrakturen, einer Variante
von denen etwa 35 durch Lysyloxidasen zu Allysin oxidiert wer- des Marfan-Syndroms. Andere Mutationen des Fibrillin-2-Gens
den, nach dem gleichen Mechanismus wie bei Kollagen (s. o). rufen das Weill-Marchesani-Syndrom hervor, welches – im Ge-
Die Mehrzahl der Allysinreste bildet cross-links mit verbliebenen gensatz zum Marfan-Syndrom – mit Zwergwuchs und Hypoelas-
Lysinresten. Dabei entstehen z. T. die gleichen Produkte wie tizität von Gelenken und Blutgefäßen einhergeht. In diesem Fall
beim Kollagen, zusätzlich werden aber auch elastinspezifische ist die Konsequenz der Fibrillin-2-Genmutation eine festere Bin-
ringförmige Moleküle wie Desmosin und Isodesmosin (. Abb. dung und verminderte Bioverfügbarkeit von Faktoren der TGF-
71.8B) aufgebaut. β-Familie (7 Kap. 73.5).
940 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

. Abb. 71.8 Tropoelastin. A Schematische Darstellung der Proteinstruktur, bestehend aus alternierenden hydrophoben Domänen und Quervernetzungs-
domänen. Jede Domäne wird von einem separaten Exon codiert. Die Nummerierung orientiert sich am Tropoelastin des Rindes, die Exons 34 und 35 fehlen
beim Protein des Menschen. B Struktur des durch Kondensation von vier Lysin-/Allysinresten entstehenden, elastinspezifischen Desmosins. Wird der Sub-
stituent in Position 4 des Pyridinrings nach Position 6 verschoben, erhält man Isodesmosin

Historische Persönlichkeiten, die vermutlich an Marfan-Syn-


drom litten, sind der amerikanische Präsident Abraham Lincoln Zusammenfassung
sowie der berühmte Violinist und Komponist Nicolo Paganini. Elastische Fasern erlauben eine reversible Dehnung und
Bei Letzterem wird spekuliert, dass seine überlangen und hyper- Kontraktion.
elastischen Finger seinem extrem virtuosen Geigenspiel entgegen Elastische Fasern enthalten mengenmäßig vorwiegend
kamen. Dasselbe Syndrom hat auch schon plötzliche Todesfälle Elastin in ihrem Kern und Fibrilline im die Fasern stabilisie-
von professionellen Basketball- oder Volleyballspielern verur- renden Mantel:
sacht, die wegen ihrer weit überdurchschnittlichen Körpergröße 4 Elastin ist ein Polymer, das durch Quervernetzung von
für diesen Sport besonders prädestiniert erschienen. monomeren Tropoelastineinheiten entsteht. Die Quer-
vernetzung erfolgt wie beim Kollagen über Lysin/Allysin,
Biosynthese der elastischen Fasern Zunächst entstehen Mikro- dabei entstehen u. a. die elastinspezifischen Produkte
fibrillen, die später mit Elastin zusammenwachsen, das die Desmosin und Isodesmosin.
Hauptkomponente in den ausgereiften elastischen Fasern dar- 4 Fibrillin bildet Mikrofibrillen, die für die Organisation des
stellt (. Abb. 71.7), der Elastinanteil ist allerdings von Gewebe zu Elastins notwendig sind, aber auch isoliert vorkommen.
Gewebe unterschiedlich. Man nimmt an, dass die Tropoelastin- Fibrillin kommt in drei Isoformen vor und interagiert mit
moleküle durch Bindung an Mikrofibrillen eine Konformation einer Reihe weiterer extrazellulärer Proteine, darunter
einnehmen, in der die durch Einwirkung der Lysyloxidase ent- das latente TGF-β-bindende LTBP, das ähnlich aufgebaut
stehenden Allysinreste in der richtigen Position für die Querver- ist wie Fibrillin.
netzung mit entsprechenden Lysinresten liegen. Für die Assem-
blierung des Elastins sind noch weitere Proteine wie die Emiline Defekte in den Genen für Fibrilline können zu Marfan-
und Fibuline erforderlich. Syndrom oder verwandten Bindegewebserkrankungen
Elastische Fasern werden hauptsächlich während der Wachs- führen.
tumsphase der Organe angelegt, später nur noch in begrenztem
Umfang. Dies erklärt, warum bei degenerativen oder entzündli-
chen Reaktionen, bei denen Elastin durch z. B. von Leukocyten
gebildete Elastasen degradiert wird, die elastischen Eigenschaf-
ten weitgehend verloren gehen.
71
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
941 71
71.1.5 Glycosaminoglycane und Proteoglycane keit, wo es eine reibungsarme Artikulation der Gelenke ermög-
licht. Hyaluronan unterliegt dem Abbau durch Hyaluronidasen
Glycosaminoglycane (GAG) sind stark poly- und hat einen funktionsabhängig erheblichen Gewebs-turnover.
anionische, lineare Kohlenhydrate unter- Eine wichtige Rolle spielt Hyaluronan ferner als wirksamer Sau-
schiedlichster Länge, die große Wassermengen erstoffradikalfänger, z. B. in entzündeten Geweben. Schließlich
in der extrazellulären Matrix binden findet Hyaluronan zunehmend technische Verwendung als Bio-
Glycosaminoglycane sind Polydisaccharide, die entweder frei im material in der Chirurgie, etwa bei Augenoperationen oder
extrazellulären Raum oder als N- oder O-glycosidische Glycan- durch arthroskopische Injektion in die Gelenkflüssigkeit zur Ab-
seitenketten an Glykoproteine gebunden vorkommen. Sie beste- milderung arthrotisch bedingter Schmerzzustände.
hen mit Ausnahme der Proteinanbindungsregionen aus einer
alternierenden Abfolge von negativ geladenen Uronsäuren und Heparin: Strukturformel (L-IdoUA α1 4 GlcNac
– daher der Name – Glycosaminderivaten. Während der Biosyn- α1 4)n, z. T. auch (-GlcUA β1 4 GlcNac α1 4)n,
these können bereits synthetisierte GAG-Polydisaccharide er- sowohl an L-IdoUa als auch an GlcN sehr stark
heblich weiter modifiziert werden. Der polyanionische Cha- sulfatiertes GAG
rakter wird durch fakultative Sulfatierung an beiden Mono- Heparin wird vorwiegend in Mastzellen gebildet und gespei-
sacchariduntereinheiten weiter verstärkt. Die daraus resultieren- chert. Es entsteht durch Prozessierung von Proteoglycanen
de Colloid-osmotische Immobilisierung von Wasser definiert (s. u.). Es wird bei Degranulation aktivierter Mastzellen in das
entscheidende biomechanische Gewebseigenschaften. Details Blutplasma freigesetzt, wo es seine Wirkung entfaltet. Das GAG
der Strukturformeln und der Biosynthese von GAGs finden sich besitzt im Plasma eine Halbwertszeit von nur wenigen Minuten,
in 7 Kap. 16.1.5, 3.1. weil es nach Freisetzung sofort in die Leber aufgenommen (daher
Als Uronsäuren kommen entweder D-Glucuronsäure der Name) und dort abgebaut wird. Seine blutgerinnungshem-
(GlcUA) oder L-Iduronsäure (IdoUA) vor. IdoUA kann wahlweise menden Eigenschaften erlangt Heparin dadurch, dass es die Bin-
in jeder Disacchariduntereinheit des bereits assemblierten GAGs dung der Gerinnungsaktivatoren Thrombin und Faktor X an
durch Epimerisierung von GlcUA entstehen. Als Glycosamine Antithrombin III stabilisiert und damit die Umwandlung von
kommen N-Acetyl-Glucosamin (GlcNAc) oder Galactosamin Fibrinogen zu Fibrin herabsetzt. Die antithrombotische Wir-
(GalNAc) vor, wobei GlcNAc deacetyliert und zu Glucosamin- kung von Heparin nach intravenöser Gabe wird klinisch intensiv
N-Sulfat (Glc-N-SO3–) sulfatiert werden kann, welches noch ein- genutzt, wobei oft synthetisch modifizierte Heparinderivate mit
mal die negative Gesamtladung steigert. Alle nicht an den glyco- kurzer Kettenlänge und verlängerter biologischer Lebensdauer
sidischen Bindungen beteiligten Hydroxylgruppen der GAGs zum Einsatz kommen. Ferner kann Heparin die Aktivität be-
sind prinzipiell durch spezifische Sulfotransferasen situationsab- stimmter Wachstumsfaktoren durch kompetitive Hemmung von
hängig in Form von Sulfatestern sulfatierbar. deren Heparansulfatbindung (s. u.) modulieren.
Die GAGs werden entsprechend der Funktion und der Struk-
tur der Grundbausteine unterteilt in: Proteingebundene GAGs
Eine Reihe von GAGs kommt in proteingebundener Form vor.
Freie, nicht-covalent Protein-gebundene GAGs Es handelt sich um:
Hyaluronan: (früher auch Hyaluronsäure genannt) 4 Heparansulfat (strukturell ähnlich aufgebaut wie Heparin):
Strukturformel (-GlcUA β1 3 GlcNac β1 4)n (-GlcUA β1 4 GlcNac α1 4)n
Hyaluronan ist das einzige nicht-sulfatierte GAG und kommt 4 Chondroitinsulfat: (-GlcUA β1 3 GalNac β1 4)n
ubiquitär als Hauptbestandteil (z. B. im Glaskörper des Auges) 4 aus Chondroitinsulfat entsteht durch Epimerisierung
oder als Glycocalix in zellnahen Bereichen der extrazellulären Dermatansulfat: (-IdoUA α1 3 GalNac β1 4)n. Durch
Matrix vor. Es wird – anders als alle anderen Polysaccharide, die Epimerisierung wird ein D-Zucker (D-GlucUA) in ei-
einschließlich der übrigen GAGs – nicht im endoplasmatischen nen L-Zucker (L-IdoUA) überführt.
Retikulum oder im Golgi-Apparat, sondern durch membrange- 4 Keratansulfat: (-Gal β1 4 GlcNac β1 3)n
bundene Hyaluronansynthasen an der Innenseite der Zellober-
fläche gebildet und wahrscheinlich über ABC-Transportmolekü- Proteoglycane sind eine heterogene Gruppe
le aus der Zelle exportiert. Nach Bindung an Hyaluronanrezep- von Proteinen, die durch Glycosaminoglycan(GAG)-
toren an der äußeren Zelloberfläche wird die Verlängerung der Seitenketten modifiziert sind
entstehenden Ketten gedrosselt und erst nach Dissoziation von Proteoglycane sind ubiquitäre Zelloberflächen- und extrazellulä-
den Rezeptoren wieder aufgenommen. Hyaluronan kann sehr re Matrix-Makromoleküle. Im Unterschied zu den meisten Pro-
hohe Molekularmassen von bis zu mehreren MDa besitzen und teinen, die aufgrund ihrer Aminosäuresequenz in verschiedene
bildet in wässriger Umgebung stark hydratisierte Gele, die u. a. Familien eingeteilt werden, sind die Proteoglycane durch covalent
die freie Diffusion von löslichen Stoffen limitieren. Es erleichtert mit dem Proteingerüst verknüpfte GAG-Seitenketten definiert.
die Zellwanderung und ist u. a. der Wundheilung, aber auch der Proteoglycane zeigen eine fast unüberschaubare Struktur-
Metastasierung von Tumorzellen förderlich. Erkrankungen mit vielfalt, die – neben alternativem Spleißen der mRNAs für die
intensiver Hyaluronansynthese durch die Tumorzellen sind da- core-Proteine – durch fakultative Modifikationen bedingt ist:
her meist mit einer schlechten Prognose verbunden. Daneben ist 4 Sulfatierung der GAG-Seitenketten
Hyaluronan ein wichtiges Schmiermittel in der Gelenkflüssig- 4 Epimerisierung von Glucuronsäure
942 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

A
B

. Abb. 71.9 Schematische Darstellung der Aggregate des Proteoglycans Aggrecan mit Hyaluronsäure. A Aggrecan bindet in vielen Kopien entlang
des Hyaluronsäurefadens und schafft so ein wässriges, elastisches Kompartiment. B Aggrecanmoleküle binden über ihre N-terminale globuläre Domäne an
Hyaluronsäure. Die Bindung wird durch ein sog. link-Protein verstärkt. KS: Keratansulfat; CS: Chondroitinsulfat

Durch beide Modifikationsreaktionen entstehen – analog der Pri- etwa 10 kDa bis über 400 kDa, sie besitzen daher eine große
märstruktur von Proteinen – Strukturmotive der GAG, welche die Strukturvielfalt. So bilden Proteoglycane typische Aggregate der
Bindung von Liganden, z. B. die Bindung und Sequestrierung von EZM außerhalb von Kollagenfibrillen oder Glykoproteinnetz-
Wachstumsfaktoren in der extrazellulären Matrix kontrollieren. werken. Einige Vertreter sind auch Komponenten dieser Supra-
Viele Funktionen der Proteoglycane lassen sich mit den biophy- strukturen, wo sie Interaktionen zu der Proteoglycanmatrix ver-
sikalischen Eigenschaften – dem polaren Charakter und den mitteln. Schließlich sind ein Teil der Proteoglycane membranas-
negativen Ladungen durch Uron- und Sulfonsäuren der Glycan- soziiert und wirken als Rezeptoren oder Corezeptoren für eine
ketten – erklären. Aufgrund der negativen Ladungen stellen Pro- Vielzahl von Liganden.
teoglycane eine Filtrationsbarriere in den Glomeruli der Niere
dar. Das Heparansulfatproteoglycan Perlecan hemmt den Durch- Aggrecan ist ein unentbehrlicher Knorpelbaustein.
tritt mehrheitlich anionischer Serumproteine in den Urin. Eine Es ist essentiell für die Funktion des Knorpels
weitere Funktion ist die Bildung wassergefüllter Kompartimente, als druckbelastbare Struktur
z. B. im Knorpel. Die GAG-Ketten besitzen je nach Typ eine bis Aggrecan ist das am häufigsten vorkommende Proteoglycan des
vier Sulfatgruppen pro Disaccharideinheit, was eine Ladungs- Knorpels. Das core-Protein hat eine Größe von etwa 250 kDa. Die
dichte von 1–5 Ladungen pro nm ergibt. Die Sulfatreste sind bei N- und C-terminalen Bereiche bilden globuläre Domänen, der
physiologischen pH-Werten voll ionisiert, die fixierten negativen Mittelteil hingegen besitzt eine gestreckte Struktur, die mit etwa
Ladungen ziehen Gegenionen an, vor allem Na+- und Ca2+-Ionen. 30 Keratansulfat- und ungefähr 100 (!) Chondroitinsulfatseiten-
Die hohe lokale Ionenkonzentration verursacht einen osmotisch ketten substituiert ist, sodass das komplette Protein eine Molekül-
bedingten Wassereinstrom aus den umliegenden Regionen und masse von etwa 3 MDa besitzt und eine hohe Zahl an negativen
ist die Ursache für den hohen Schwelldruck (Turgor) des Gelenk- Ladungen aufweist (. Abb. 71.9B). Aggrecan kommt im Knorpel
knorpels, der durch die zugbelastbaren Kollagenfibrillen balan- nicht isoliert vor, sondern bildet Aggregate mit hochmolekularem
ciert wird. Das Ausmaß hängt stark von der Konzentration ab, die Hyaluronan aus bis zu 25.000 Disaccharideinheiten (. Abb.
in verschiedenen Kompartimenten sehr unterschiedlich ist. Im 71.9A). Dabei bilden die N-terminale globuläre Domäne des Agg-
Knorpel etwa beträgt die extrazelluläre Na+-Konzentration 250– recans und das link-Protein, welches der hyaluronanbindenden
350 mM und die Osmolalität 350–450 mosm, verglichen mit etwa Domäne des Aggrecans strukturell ähnlich ist, ternäre Komplexe
290 mosm der normalen Extrazellulärflüssigkeit. mit Hyaluronan. Mutationen in Aggrecan und link-Protein, die zu
nicht-funktionellen Proteinen führen, sind letal. Embryonen von
71 Proteoglycane besitzen eine Vielzahl von Hühnchen und neugeborene Mäuse zeigen eine stark verminder-
Proteingerüsten te Knorpel- und Knochenbildung und sterben postnatal an Atem-
Die core-Proteine der Proteoglycane werden von mehr als versagen. Ein ähnlicher Phänotyp tritt bei Mangel an Sulfotrans-
100 Genen codiert. Die Größe der Polypeptidketten reicht von ferasen auf, weil durch Fehlen der sulfatierten Zucker die La-
71.1 · Aufbau der extrazellulären Matrix (EZM)
943 71
dungsdichte erniedrigt ist und so die Bildung eines hyperosmoti- rezeptors (7 Kap. 35.4) durch Autophosphorylierung aktiviert
schen (s. o.), reversibel deformierbaren Gels verhindert wird. Ein werden kann. Neben FGF sind eine Reihe anderer Wachstum
strukturell mit Aggrecan verwandtes großes Proteoglycan ist das und Differenzierung regulierender Faktoren (TGF-β, Wnt,
in vielen extrazellulären Matrices vorkommende Versican. hedgehog) auf zellgebundene Proteoglycane als Cofaktoren ange-
wiesen. Dies können entweder Membranproteine sein wie Beta-
Agrin ermöglicht effiziente Neurotransmission glycan und die Syndecane, oder über einen Lipidanker befestig-
in den neuromuskulären Synapsen te Moleküle wie Glypican. Betaglycan bildet über sein core-Pro-
Agrin ist ein Proteoheparansulfat der Basalmembran von neuro- tein mit TGF-β (7 Tab. 34.2) einen Komplex, der mit dem TGF-
muskulären Synapsen. Es kontrolliert die Clusterbildung des Rezeptor (7 Kap. 35.4.4) interagiert. Die Aktivierung von
Acetylcholinrezeptors, der dadurch effizient stimulierbar wird. Wachstumsfaktoren durch Syndecane und Glypicane hingegen
Deshalb führt das Fehlen dieses Proteoglycans zu einer Muskel- erfordert die Interaktion mit den Heparansulfatketten.
schwäche. Nicht nur Zelloberflächenproteine binden Wachstumsfakto-
ren, sondern auch einige sezernierte Proteoglycane der EZM.
Proteoglycane wie Decorin, Biglycan, Fibromodulin Wachstumsfaktoren werden auf diese Weise gespeichert und
und Lumican modulieren die Struktur von können bei Bedarf nach Abbau der Proteoglycane wieder freige-
Matrixaggregaten (Fibrillen, Netzwerke etc.) und setzt werden. Seit langem ist der wachstumshemmende Effekt
beeinflussen zelluläre Funktionen von Heparin (eine nicht-proteingebundene und stärker sulfatier-
Die kleinen Proteoglycane mit leucinreichen Domänen (engl. te Form von Heparansulfat) bekannt. Dieser beruht unter ande-
small leucine-rich proteoglycans: SLRPs) besitzen etwa 40 kDa rem auf der Konkurrenz von Heparin und heparansulfathaltigen
große core-Proteine mit einer N-terminalen, die Glycosamino- Proteoglycanen der extrazellulären Matrix bei der Bindung von
glycanseitenketten-tragenden Domäne, gefolgt von einer Domä- Wachstumsfaktoren, wodurch die Konzentration an freien Cyto-
ne, die aus leucinreichen repeats besteht. Eine wichtige Funktion kinen reguliert werden kann. Dies erinnert an die wachstumsre-
dieser Proteine ist die Organisation von Kollagenfibrillen. Das gulierende Funktion der kleinen leucinreichen Proteoglycane
core-Protein Decorin kann in die gap-Region (. Abb. 71.4) von (s. o.), die jedoch ihre Wirkung über ihre core-Proteine ausüben.
Kollagenfibrillen integriert werden, während die Glycosamino-
glycanseitenkette nach außen gerichtet ist. Dies moduliert die
weitere Anlagerung von Kollagenmolekülen und verhindert oder Zusammenfassung
fördert die laterale Fusion von Fibrillen. Entsprechend besitzen Glycosaminoglycane sind stark negativ geladene, lineare
Decorin-Knockout-Mäuse eine gestörte Kollagenfibrillenmor- Kohlehydratpolymere. Ihre alternierenden Protomere, Uron-
phologie in der Haut, die eine deutlich reduzierte mechanische säuren und Hexosamine, können in unterschiedlichem
Belastbarkeit zeigt. In der Cornea führt das Fehlen von Biglycan Ausmaß sulfatiert sein. Man unterscheidet 4 Klassen:
und Decorin zu Verdickung der Fibrillen durch unangemessene 4 Chondroitinsulfat
laterale Fusion, und damit zum Sehverlust durch Trübung der 4 Keratansulfat
Hornhaut. 4 Dermatansulfat
Weiterhin ist bekannt, dass ektopische Expression von z. B. 4 Heparansulfat/Heparin
Decorin das Wachstum von Tumorzellen inhibiert. Dies erfolgt
u. a. durch Bindung an EGF-(epidermal growth factor)-Rezepto- Proteoglycane sind eine heterogene Gruppe von Proteinen,
ren und Induktion von Inhibitoren des Zellzyklus (7 Kap. 43). die mit Glycosaminoglycanen substituiert sind.
Weiterhin bindet Decorin TGF-β (transforming growth factor Viele Funktionen der Proteoglycane ergeben sich aus den
beta) und kann so die Signaltransduktion dieses Wachstumsfak- biophysikalischen Eigenschaften der negativ geladenen
tors inhibieren, dient aber auch als Reservoir von TGF-β und Zuckerketten, z. B.:
kann so in bestimmten Situationen die TGF-β-Wirkung verstär- 4 Filtrationsbarriere in den Glomeruli (z. B. durch Perlecan)
ken. Biglycan moduliert als sog. Gefahrensignal die Aktivität von 4 druckbelastbare Hydrogele (z. B. durch Hyaluronan und
Rezeptoren des angeborenen Immunsystems (Toll-like receptors, Aggrecan im Knorpel)
Adenosinrezeptoren) (7 Kap. 70). 4 Proteoglycane (z. B. Decorin, Biglycan, Lumican) regulieren
– die Morphogenese von Suprastrukturen der extra-
Membrangebundene Proteoglycane: zellulären Matrix
Aktivatoren von Wachstumsfaktorkaskaden – die Wirkung von Wachstumsfaktoren und Entzün-
Zellkulturuntersuchungen aus den frühen 90er Jahren haben ge- dungsmediatoren.
zeigt, dass die Wirkung von FGF (fibroblast growth factor, Membrangebundene Proteoglycane (z. B. Syndecane) kön-
7 Kap. 34.2) in Abwesenheit von Heparansulfat drastisch redu- nen als Corezeptoren für Wachstumsfaktoren (FGF, TGF-β)
ziert ist. Röntgenstrukturanalysen haben inzwischen die mole- oder für die Zelladhäsion fungieren.
kulare Ursache geklärt. Eine Heparansulfatseitenkette, die für
eine hochaffine Bindung noch ein spezielles Sulfatierungsmuster
besitzt, bindet zwei Ligand-Rezeptor-Komplexe und hält sie so in
der richtigen Konformation, dass die intrazelluläre Tyrosinkina-
se-Aktivität des FGF-Rezeptors, eines typischen Tyrosinkinase-
944 Kapitel 71 · Extrazelluläre Matrix – Struktur und Funktion

71.1.6 Zelladhäsive Glykoproteine der Vielfalt an Faktoren (. Tab. 71.2) werden in den folgenden
der extrazellulären Matrix Unterkapiteln zwei wichtige Zelladhäsionsproteine, das Fib-
ronectin und die Laminine, vorgestellt. Im Anschluss werden die
Die extrazelluläre Matrix besitzt nicht nur Strukturfunktionen, Integrine, die wichtigste EZM-Rezeptorfamilie besprochen.
sondern sie reguliert auch zelluläre Funktionen.
Matrizelluläre Proteine sind Mediatoren
Die extrazelluläre Matrix (EZM) dient als Substrat der Zellfunktion
für Zelladhäsion und -wanderung Matrizelluläre Proteine stellen eine Gruppe strukturell nicht
Mit Ausnahme einiger hämatopoetischer Zellen sind alle Zellen verwandter Proteine der EZM dar, die nicht immer eine Struktur-
des Organismus ständig an Substrate wie Basalmembranen oder funktion besitzen und in vielen Situationen auch nicht zelladhäsiv
die interstitielle EZM gebunden. Die Bindung erfolgt über spe- sind (. Tab. 71.2). Vielmehr sind sie Mediatoren der Zellfunktion,
zifische Matrixrezeptoren, v. a. die Integrine (s. u.). Bei der die entweder direkt mit Zellen interagieren oder die Aktivität von
Gastrulation z. B. wandern die Mesodermzellen über eine Wachstumsfaktoren, Proteasen und anderen EZM-Proteinen re-
Schicht aus Fibronectin (s. u.), das gleichsam als Leitschiene für gulieren, also die Eigenschaft der extrazellulären Matrix den Er-
die Zellen dient. Zellwanderungen finden aber auch im adulten fordernissen entsprechend modifizieren. Sie sind in der Embryo-
Organismus statt, z. B. im Falle der Fibroblasten und in patholo- nalentwicklung stark exprimiert, während die Expression im
gischen Situationen wie Wundheilung oder Rekrutierungen von adulten Organismus besonders bei der Wundheilung und Ge-
Leukocyten zu Entzündungsherden. webserneuerung, allerdings auch beim Tumorwachstum hoch
reguliert wird. Beim Tumorwachstum ist die Wechselwirkung
Die extrazelluläre Matrix beeinflusst Zellfunktion, von malignen Zellen und dem umgebenden Stroma von großer
Zelldifferenzierung, Zellproliferation und Apoptose Bedeutung: Tumore modifizieren die extrazelluläre Matrix dahin-
Zellen müssen in der richtigen Umgebung angesiedelt sein und gehend, dass sie ihr Wachstum effizient unterstützt. Matrizellulä-
die richtige Polarität (apikal-basale Polarität bei Epithelzellen) re Proteine können beispielsweise die Zelladhäsion schwächen
besitzen, um ihre korrekten Funktionen ausüben zu können. und TGF-β aktivieren (→ Förderung der Metastasierung).
Dies erfordert die Ausbildung spezifischer Zell-Zell- und Zell-
Matrix-Kontakte. Die wichtigsten Rezeptoren für extrazelluläre Fibronectin, ein essenzielles zellbindendes Protein
Matrixmoleküle sind die Integrine, ihre Aktivierung ermöglicht der extrazellulären Matrix
in vielen Fällen erst, dass Wachstumsfaktoren/Hormone ihre Fibronectin ist ein Heterodimer aus zwei etwa 230 kDa großen
Wirkung entfalten (Synergismus). Darüber hinaus beeinflussen Polypeptidketten, die nahe am C-terminalen Ende durch Disul-
EZM-Moleküle über Rezeptoren, z. B. Integrine, aber auch direkt fidbrücken zusammen gehalten werden (. Abb. 71.10). Durch
die Genexpression. alternatives Spleißen der mRNA aus einem einzigen Gen entste-
Welche spezifische Antwort die Aktivierung der Integrine in hen Moleküle mit unterschiedlichen Eigenschaften:
der Zelle auslöst, hängt maßgeblich von der jeweiligen Isoform

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