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Hamburg, ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und Gemeinschaftsunfähigen.
Text von Karl Heinz Roth aus dem Buch:
"Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg"
Titolo originale
Hamburg, ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und Gemeinschaftsunfähigen
Hamburg, ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und Gemeinschaftsunfähigen.
Text von Karl Heinz Roth aus dem Buch:
"Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg"
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Hamburg, ein Mustergau gegen die Armen, Leistungsschwachen und Gemeinschaftsunfähigen.
Text von Karl Heinz Roth aus dem Buch:
"Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg"
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sind ein Produkt solcher Neugierde. Sie handeln von einer
Kar! Heinz Roth politischen Elite, die ihre Region zum nazistischen Muster- Ein Mustergau gegen die Armen, gau aufpolierte, indem sie große Teile der Bevölkerung ver- folgte und vernichtete. leistungsschwachen Während des Nationalsozialismus begnügte sich die Ham- und »Gemeinschaftsunfähigen« burger Verwaltung keineswegs damit, die Bevölkerung »kommunisten-«, »zigeuner-« und »judenfrei« zu machen und von einigen »Erbkranken« zu »säubern«. Die Behörden Hamburg - liberales und offenes Tor nach Übersee: so der Hansestadt strebten nach mehr: nach einem besonderen hallt es noch immer in vielen Sonntags reden wider, wenn Re- Weg zur Beseitigung der Armut und der in sie verstrickten präsentanten sich bemühen, die Zuhörer von der Attraktivi- »gemeinschaftsunfähigen« und leistungsschwachen Schich- tät ihrer Weltstadt zu überzeugen. Bei solchen Anlässen ten. Sie wollten 300.000 Menschen, die seit der Welt wirt- üben sie sich oft in Geschichtsbewußtsein. Sie kommen dann schaftskrise unter dem Existenzminimum lebten, von einer nicht umhin, die »dunkle Schicksalszeit« des Nationalsozia- sozialen »Krankheit« heilen, für deren Behandlung sie keine lismus zu streifen: eine Episode am Rand und sozusagen au- ausreichenden Mittel zur Verfügung hatten - und auch gar ßerhalb der Geschichte, die sich durch wechselseitige Unver- nicht haben wollten. Die Überwindung der Armut wurde träglichkeit auszeichnete. Mit Hamburg konnten die Nazis durch Zwangsarbeit für alle Einkommenslosen angestrebt wenig anfangen, und den Nazis waren die Hamburger Be- und mit abschreckenden Techniken der Aussonderung ver- hörden gram. Hamburg schottete sich ab, so '5ut es ging, und bunden. Das war möglich, weil die herrschenden Eliten es unternahm manches, um die verbrecherischen Ambitio- Hamburgs vor und nach 1933 Anhänger der »Sozialhygie- nen, die da von Berlin ausgingen, im Zaum zu halten. Nein, ne« waren: es verarme nur dauerhaft, wer zuvor moralisch für Hamburg war der Nationalsozialismus kein Thema. Die und sozial »entartet« sei. Die sozialen Begleiterscheinungen hanseatischen Tugenden behaupteten sich standhaft, es wur- des wirtschaftlichen Zusammenbruchs seit 1928 wurden aus- de vornehm Distanz gewahrt. Es wäre zu schön gewesen, um drücklich als reinigendes Gewitter begrüßt, da sie die »unter- wahr zu sein. wertigen Schichten der Volksgemeinschaft« deutlich sicht- Es ist bekannt, daß Sonntagsredner mit Wahrheiten gern bar machten und damit den gesellschaftssanitären Konzep- hinter dem Berg halten. Was aber, wenn nicht nur beschö- ten der Gesundheits-, Innen- und Sozialbehörde sowie der nigt, geschwindelt und geglättet, sondern eine historische Justiz auslieferten. Tatsache auf den Kopf gestellt wird? Dann könnte es sich Zwischen 1933 und 1945 sind in der Hansestadt 24.000 lohnen, neugierig zu werden. Die Beiträge in diesem Buch Menschen zwangssterilisiert, über 500 Männer kastriert, und bei etwa 800 Frauen - meist polnische und russische burg-Gesetz« in Kraft trat, genoß die Hamburger Verwal- Zwangsarbeiterinnen - sind Zwangsabtreibungen vorge- tung längst das Wohlwollen der höchsten NS-Spitzen. Denn nommen worden. 14.000 »gemeinschaftsunfähige« Jugend- sie hatte sich mit der Wiederentdeckung und Modernisie- liche und Erwachsene sind, oft zusätzlich zu diesen körperli- rung hanseatischer Tradition in der Armenbekämpfung als chen Verstümmelungen, entmündigt und zwangsasyliert sozialtechnische Elite des Nazismus hochgedient und profi- worden. Wieviele von ihnen die Zwangsarbeitsanstalt Farm- liert. Auf die »Ausmerze« der verarmten städtischen Unter- sen und seit 1940 auch das KZ Neuengamme überlebt haben, schichten sollte der Triumph folgen, der Ausbau zur »Kolo- wissen wir nicht. Die sechste Kammer des Landgerichts - nialhafenstadt« mit einer monumentalen Skyline. Hamburg eine ganz normale Strafkammer - verhängte die härtesten galt als künftige »Führerstadt« mit amerikanischem Zu- uns bekannt gebliebenen »Rassenschande«-Urteile im schnitt, als Manhattan an der EIbe für ein »tausendjähriges« Reichsgebiet. Das Hamburger »Sondergericht«, dessen Ur- Reich. teile ein interner Zirkel um den Justizsenator Curt Rothen- Warum hat gerade Hamburg eine derart fatale wie für den berger »vor-« und »nachschaute« und oftmals in Todesur- Nationalsozialismus beispielhafte Entwicklung zum Muster- teile umwandelte, war bei den NS-Spitzen besonders beliebt. gau durchgemacht? Das ist eine Frage, die weit über zeitge- In drei Schüben wurden bis zum Winter 1941/42 fast alle schichtliche Dimensionen hinausreicht. noch ansässigen 7.500 Juden deportiert und bis auf 600 ver- nichtet. In ebenfalls drei Deportationswellen teilten 1.130 Zigeuner ihr Schicksal. Aus den städtischen Altenheimen, Wachsende Bedrohung von unten den Zwangsarbeits- und Irrenanstalten wurden - mit zwei Schwerpunkten 1941 und 1943 - zusammen etwa 6.000 In- Während der Weltwirtschaftskrise »hatten sich in den sassen abtransportiert und wahrscheinlich ein Drittel von ih- dumpfen Terrassen und Höhlen des Gängeviertels die Men- nen in Tötungsanstalten umgebracht; die Tötung von 70 schen wie nach der Novemberrevolte zusammengerottet«.1 Kindern in den »Kinderfachabteilungen« Rothenburgsort Dieses Zitat wirft ein Schlaglicht. In Hamburg wurden seit und Langenhorn war vorausgega!1gen. In den Jahren 1942 Mitte der zwanziger Jahre wie kaum sonstwo die Übergänge bis 1945 ermordete die Hamburger Gestapo etwa 70 polni- zwischen den arbeitenden und den »gefährlichen« Klassen, sche und sowjetische Zwangsarbeiter, und im »Russenlager« dem Subproletariat immer fließender. Nach der dritten Wietzendorf selektierte sie Hunderte russischer Kriegsgefan- Kahlschlag-Sanierung in den alten Stadtteilen (Flächenabriß gener für die Massenexekution in Sachsenhausen und südlich der Steinstraße) verschärften sich Wohnungsnot und Auschwitz. Mit der SS, die seit 1940 auf dem Gebiet der Obdachlosigkeit. Für die Arbeitslosen, die die Rationalisie- Hansestadt das Konzentrationslager Neuengamme mit sei- rungswelle ab Mitte der zwanziger Jahre auf die Straße ge- nen bald 105.000 Insassen, von denen 50.000 umgebracht worfen hatte, stellte sich nach dem Verlust ihrer Wohnungen wurden, unterhielt, hatte die Hamburger Verwaltung einen die Frage des nackten Überlebens. So war in Hamburg der Vertrag geschlossen. Sie wollte im Interesse der monumenta- Übergang zur großen Depression fließend. Die Auswirkun- len Neubauten in der Hansestadt an der dortigen» Vernich- gen der Weltwirtschafts krise trafen die Hafenstadt 1931 zu- tung durch Arbeit« teilhaben. Der »Sonderaktion geistes- sätzlich wie ein Keulenhieb. Bis Ende 1932 stieg die Arbeits- kranke Ostarbeiter und Polen« ist in Hamburg eine noch losigkeit auf 30 Prozent der lohnabhängigen Bevölkerung, unbekannte Zahl osteuropäischer Zwangsarbeiter zum Op- und Hamburg sollte auch lange Jahre nach der Machtüber- fer gefallen. Aus dem Zuchthaus Fuhlsbüttel wurden von nahme »Notstandsgebiet« bleiben. Aufgrund der restrikti- der Kripoleitstelle Hamburg über 100 »asoziale Justizgefan- ven Bestimmungen der Notverordnungen, die die Arbeitslo- gene« zur »Vernichtung durch Arbeit« in die Konzentra- sen-, Kranken- und Rentenversicherung gleichermaßen ab- tionslager Neuengamme und Mauthausen deportiert. In bauten, waren bald über 150.000 Menschen (Arbeiter und mehreren Zentren (Reservelazarett Wandsbek, Heil- und ihre Familienangehörigen) aus den reichszentralen Einrich- Pflegeanstalt Langenhorn, KZ Neuengamme) wurde mit tungen der sozialen Sicherung ausgesteuert. An 85 Prozent russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, jüdi- der knapp 170.000 Arbeitssuchenden mit ihren Familien schen Kindern und deutschen Anstaltsinsassen medizinisch wurde schließlich kommunale Wohlfahrtsunterstützung ge- experimen tiert. zahlt, zuletzt 30 Prozent des Hamburger Staatshaushalts. Selbst in den Bombenwochen des J ulil August 1943 haben Wenn sie nicht verhungern wollten, blieb den Verarmten die Behörden aus Furcht vor Revolten Deutsche insgeheim nichts anderes übrig, als ein Stück weit die mit den Unter- und ausländische Zwangsarbeiter offen demonstrativ besei- stützungszahlungen (sie wurden mehrfach gesenkt) verbun- tigt. In den meisten der geschilderten Fälle war neben Justiz, denen Demütigungen der Sozial- und Gesundheitsverwal- Kripo und Gestapo die Gesundheits- und Sozialverwaltung tung über sich ergehen zu lassen. Für den Bereich der Sozial- führend beteiligt. versicherung und Fürsorge hatte keine der damaligen Strö- Eine nicht unwesentliche Folge all dieser Vernichtungs- mungen der Arbeiterbewegung politische Alternativen ent- maßnahmen war, daß die Fürsorgeausgaben halbiert werden wickelt. Die verarmten Arbeits- und Einkommenslosen blie- konnten und die Aufwendungen für die Gesundheitsversor- ben weitgehend allein, wo sie in ihrer Existenz von der Wirt- gung der Armen kontinuierlich zurückgingen. Die durch schaft und der behördlichen Sozialverwaltung angegriffen Zwangsarbeit abgepreßten Werte lassen sich bis heute noch wurden. nicht einmal annähernd schätzen. Das war die eine Seite. Die andere wird durch eine Reihe Die Statistik behördlicher Verstümmelungs- und Vernich- von Revolten markiert, die 1930 mit »Hungerunruhen« in tungsaktionen liegt in den meisten Fällen weit über dem ver- der Neustadt-Nord (Gängeviertel) begannen und im Juli gleichbaren Reichsdurchschnitt, oft an der Spitze. Der Feld- 1932 im »Abruzzenviertel« Altonas ihren Höhepunkt er- zug der Justiz, der Innen-, Gesundheits- und Sozialverwal- reichten. In vielen Wohnvierteln des inneren Stadtgebiets tung gegen die Armen und die Selektion sozialer und natio- entstand aus der Verarmung eine neue soziale Annäherung naler Minderheiten funktionierte geräuschlos, effizient, mit und Vermischung zwischen den städtischen proletariSchen minimalem Kostenaufwand. Es wurden Methoden ent- Schichten. Viele von ihnen mußten sich mit Gelegenheitsar- wickelt und angewandt, die in vielen Fällen reichsweit Schule beit, Schatten wirtschaft und kleiner Delinquenz durchschla- machten. Hamburg, bis 1936/37 offiziell Notstandsgebiet, gen. Die Armutsviertel schotteten sich mehr und mehr gegen wandelte sich zum Mustergau. Als 1938 das »Groß-Ham- die Herrschaftsstrukturen und Krisenstrategien des bürgerli- chen Staats ab. Für die Behörden kam dieses Nebenprodukt sen der Alten-, Siechen- und Irrenanstalten zur ärztlichen ihrer Verarmungspolitik keineswegs überraschend. Früh Tötung freigegeben, die sich als »nicht mehr fähig zur pro- machten sie sich Gedanken darüber, wie es möglich sei, die duktiven Arbeitsleistung« erwiesen. neuerstandenen »Schlupfwinkel für Verbrechen, Prostitu- An die »Arbeitsfürsorge« wurden im Verlauf der Welt- tion und lichtscheues Gesindel und damit eine Brutstätte des wirtschaftskrise weitere Techniken der sozialen Sortierung Kommunismus« wieder zu beseitigen. 2 Diese Frage schien und Ausgrenzung angekoppelt. Georg SteigerthaI, der Di- ihnen besonders akut, als die bisherigen Unterdrückungs- rektor des »Amts für Wohlfahrtsanstalten« in der Sozialver- mittel immer häufiger versagten: »Die wirkliche Beherr- waltung, verband die ihm unterstehenden Alten-, Siechen- schung des Gängeviertels durch die Polizei verlangt einen so und Zwangsarbeiteranstalten mit der »offenen Arbeitsfür- großen Einsatz von Kräften, wie er auf die Dauer nicht ge- sorge« Struves. Seit 1929 gab es eine stetige Ausweitung der stellt werden kann.«3 Anstalts- und Bettenkapazität im Tätigkeitsbereich der »ge- schlossenen Fürsorge«. In ihr wurden Alte, Behinderte und Sieche mit extrem niedrigen Tagessätzen »bewahrt«, was für Behördliche Krisenstrategien vor 1933 diese Menschen chronischen Hunger, gesundheitliche Nicht- versorgung, qualvolle Enge und eine Verringerung ihrer Le- Die behördeninternen Auseinandersetzungen um neue benserwartung bedeutete. Um die Kosten weiter zu senken Wege zur »Lösung der sozialen Frage« wurden von der So- (sie erreichten 1931 den Tagessatz von 1,75 RM - die Tages- zialverwaltung eingeleitet. Oskar Martini, ihrem damaligen sätze in der überbelegten und berüchtigten Irrenanstalt Lan- stellvertretenden Präses, kam im Herbst 1929 eine zündende genhorn beliefen sich zum Vergleich immerhin noch auf Idee, die er sogleich in einer Denkschrift ausführte. Die Ver- über 3 RM), ließ Steigerthai einerseits in den »Versorgungs- armung immer breiterer Schichten der Bevölkerung konnte heimen« die Pflegetätigkeit immer mehr durch arbeitsfähige zusehends weniger durch Fürsorgegelder und Sachzuwen- Entmündigte ausführen, andererseits baute er den Staatsbe- dungen materiell abgewendet werden. Darüber hinaus wur- trieb Farmsen der Wohlfahrts behörde zu einer Zwangsar- den alle Versuche zur Fortsetzung der bisherigen Armutsre- beitsanstalt aus. Die mit bis zu 2000 »Asozialen« belegte gulierung im Massenbetrieb der Wohlfahrtsämter hinfällig. Zwangsarbeitsanstalt Farmsen bleibt bis heute unerwähnt, Deshalb mußte eine neue Strategie entwickelt werden, mit wenn über die Konzentrationslager in Hamburg (Fuhlsbüttel der man die Hilfsbedürftigen erfassen, sortieren und ausein- und später Neuengamme) berichtet wird. Sie war genauso anderdividieren konnte: die Zwangsarbeit. Nur wer körper- wie Fuhlsbüttel eine rein städtische Einrichtung, ist aber lich arbeitsfähig war und sich den grotesken Bedingungen schon 1930/31 aus dem Staatsgut Farmsen hervorgegangen. fast unbezahlter wie häufig auch sinnloser Arbeitsleistungen Schon 1930/31 fehlte nur noch eine geringfügige Auswei- unterwarf, sollte weiter unterstützt werden. Im Vorgriff galt tung der bürokratischen Zwangsmaßnahmen, um die in der es also, die bedingungslos Anpassungsbereiten von den Wi- »Arbeitsfürsorge« auffällig Gewordenen in die »geschlosse- derspenstigen zu scheiden, jener angeblich »nicht unbe- nen« Zwangsarbeits- und Absterbehäuser einzuschleusen. trächtlichen Zahl von Arbeitsscheuen, Unwirtschaftlichen Auch dieses »Problem« wurde lange vor der Machtübernah- und haltlos gewordenen ... , die die Unterstützung als eine me »gelöst«. Ein paar Paragraphen des bürgerlichen Gesetz- Art von fester Rentenleistung als Unterlage ihrer Lebenshal- buchs, des Hamburger Polizeigesetzes und einige fürsorge- tung« ansahen. 4 Deshalb schlug Martini vor, das gesamte rechtliche Bestimmungen reichten völlig aus, um Slums, System der Wohlfahrtsunterstützung mit behördlich regu- Straßen und U-Bahnen von diesen »Asozialen« zu »säu- lierter Zwangsarbeit, einer sogenannten Arbeitsfürsorge, zu bern<<: »Ein Polizeiparagraph genügte, um unter Einschal- koppeln. Zudem würde die »Arbeits fürsorge« Ansätze für tung eines Psychiaters gemeinlästige Personen ... nach Farm- eine Reihe zusätzlicher Sortier- und Aussonderungsverfah- sen zu bringen. In vielen Fällen wiederum trat der Entmün- ren bieten. So sollte einem sich politisch vereinheitlichenden digungsrichter in Aktion, der Vormund bestimmte Farmsen Pauperismus entgegengewirkt werden, um die durch ihn be- als Aufenthalt. Solche Regelungen waren nur möglich, weil fürchteten Ansätze zum sozialen Umsturz vorbeugend zu Hamburg zugleich als Staat, Provinz, Kreis und Stadt han- zersetzen. Wie kein anderer brachte Martini die Furcht vor delte.«6 dem Aufkommen einer neuen »up..tersten Volksschicht« auf Seit 1931 griff das Aussonderungssystem der Sozialver- den Begriff, »die, weil in ihr das Verbrecherturn, alle Aso- waltung auf das Gesundheitswesen über. Martini und Stei- zialen und Antisozialen, aber auch politische Dunkelmänner gerthai begannen einen wahren Feldzug zur Kostensenkung untertauchen, wühlen und hetzen werden, eine außerordent- im klinischen Anstalts- und Krankenhausbereich. Die Fol- lich ernste Gefahr für Staat und Gesellschaft und sozialer gen dieses, von Martini, Ofterdinger, Steigerthai und Struve Seuchenherd von verhängnisvoller Ansteckungsfähigkeit erarbeiteten »Friedrichsberg-Langenhorner Plans« waren werden kann«.5 für die psychiatrischen Patienten verheerend (vgl. den Bei- Martinis Vorschlag wurde sofort in behördliche Praxis trag von Ebbinghaus). übersetzt. 1930 wurde die zentrale Sortierstelle »Arbeitsfür- sorge« eröffnet. Zum Leiter wurde ein junger Verwaltungs- jurist namens Kurt Struve ernannt, der mit seiner Karriere Flächensanierung Anfang und Ende des eingeschlagenen Wegs markiert. Von der »Arbeitsfürsorge« Martinis stieg Struve zur rechten und nazistische »Sozialhygiene« Hand Friedrich Ofterdingers, des Präses der Gesundheitsbe- hörde, auf. Die Gesundheitsbehörde operierte seit 1940 mit Auf den vor der Machtübernahme entwickelten Struktu- besonders kostengünstigen Techniken der behördlichen Ver- ren kostensenkender und zugleich sozial vernichtender nichtung von siechen und »geisteskranken« Anstaltspatien- Wohlfahrts- und Gesundheitspolitik brauchten die Behör- ten. denspitzen nach 1933 nur aufzubauen. Sie taten es gründ- Seit 1930 führte die Unfähigkeit zur, beziehungswiese die lich, denn sogar in ihrem Selbstverständnis gab es keine effi- Verweigerung von Zwangsarbeit zum Entzug der Unterstüt- zientere Umsetzung der »ausmerzenden« NS-Ideologie in zungsgelder , was nichts anderes als soziale Existenzvernich- behördliche Praxis. Die Planungs gruppe um Martini und tung bedeutete und meist mit Asylierung der Betreffenden Ofterdinger brauchte ihre Richtlinien nur noch zu verschär- einherging. Genau zehn Jahre später wurden all jene Insas- fen. Offen wurden die Einkommenslosen jetzt nach drei Ka- Der erste NS-Senat vom 8. März 1933
Aus dem »Asozialen«-Kataster Walthers KZ-Zwangsarbeit für die »Pührerstadt«
tegorien sortiert: NS-Anhänger, die jede Arbeitsbeschaf- 1934 auch auf nationale Minderheiten ausgedehnt, insbe- fungsmaßnahme akzeptierten, waren bevorzugt zu fördern. sondere auf die Zigeuner und seit 1933 auf die am Groß neu- Die breite Masse der »Durchschnittlichen« und »Unauffälli- markt, in St. Pauli und im Schanzenviertel ansässige prole- gen« sollte im Rahmen einer jetzt erweiterten »Arbeitsfür- tarische Schicht der jüdischen Gemeinde. sorge« an das Arbeitsethos der neuen »Leistungsgemein- Seit 1939/40 machte das Hamburger Sanierungs- und Sor- schaft« gewöhnt werden. Die »Fürsorge für sozialschwierige tierungsmodell auch im besetzten Polen Schule. Der Ham- und unterwertige Personen« wurde hingegen auf Existenz- burger Gestapochef Bruno Strecken bach wurde nach der vernichtung ausgerichtet: »Insbesondere wird den Gemein- Okkupation Polens zum »Befehlshaber der Sicherheitspoli- schaftsunfähigen gegenüber mit festen, auch harten Maß- zei im Generalgouvernement« ernannt. Er nutzte seine örtli- nahmen durchgegriffen, unter denen der Arbeitszwang, die chen Erfahrungen zu einer bürokratisch perfekten Kopplung Entmündigung oder die Bewahrung in geeigneten Anstalten, von Zwangsgettoisierung und anschließender Vernichtung, in erster Linie der Farmsener Anstalt besonders zu nennen der alle Juden, Zigeuner, »Asozialen« und die nicht in die sind.« 7 »Deutsche Volksliste« aufgenommenen Polen ausgeliefert Was noch fehlte, war der soziale Angriff auf die subprole- waren. tarischen Wohngebiete. Eine neue Welle der Kahlschlag- Dieses neue regional konzipierte Erfassungssystem arbei- Sanierung bewirkte, daß die Quote der Entmündigten, tete mit einem umfangreichen individuellen Melde- und Er- Zwangsuntergebrachten anstieg und ab 1934 zusätzlich auch fassungswesen Hand in Hand. Seit 1929 gab es in Hamburg die Quote der Zwangssterilisierten. Die Zerstörung ganzer einen Ausweiszwang für alle Einwohner, der mit dem Melde- »gemeinschädlicher« Viertel war in Hamburg an sich nichts wesen verbunden war. Der Ausweiszwang wurde 1934 weiter Neues. Auf jede wirkliche Revolte hatten die Behörden verschärft. Als die Nazis sich seit 1934/35 Gedanken über mehrfach mit dem Abriß solcher Stadtteile geantwortet, die die Einführung eines reichsweiten Melderegisters machten, im Brennpunkt sozialer Konflikte gestanden hatten (1896 setzte sich Hamburgs Innensenator Alfred Richter mit Hafenarbeiterstreik, 1906 Hungerunruhen im Zusammen- Nachdruck für die Übernahme des Hamburger Ausweis- hang mit dem Wahlrechtsstreik, dritte Etappe 1919 geplant zwangs ein. Die dann 1938 durchgesetzte »ReichsrneIdeord- - erst 1925/26 durchgeführt). Im Herbst 1933 begann der nung« und die auf ihr basierende» Volkskartei« entsprachen Abriß von Neustadt-Nord, dem Gängeviertel. Diesmal wa- tatsächlich weitgehend den Hamburger Vorstellungen und ren die Maßnahmen umfassender. Die Sozial hygiene ver- Erfahrungen. band sich jetzt unmittelbar mit der Spitzhacke. Die Techni- Zusätzlich wurden die polizeilichen und regional arbeiten- ker des Selektionssystems in der Sozialverwaltung warteten den Erfassungssysteme noch mit einem »sozialhygienischen nur darauf, Tausende verarmter und verzweifelter Men- Kataster« der Gesundheitsverwaltung vernetzt. Auch dieses schen in ihren Absterbe- und Zwangsarbeitsanstalten zu Kataster stand später für die reichsweiten Bemühungen um »verarbeiten« . die gesundheitliche Erfassung und Sortierung der Bevölke- Entscheidend war jetzt, daß noch die »soziale Diagno- rung Pate (vgl. den Beitrag von Pfäfflin: Zentrales Gesund- stik« eines »Sozialbiologen« hinzukam. Seit längerem schon heitspaßarchi v). arbeitete der Universitäts-Soziologe Andreas Walther an ei- Damit war die Flächensanierung im nationalsozialisti- nem regionalen »Asozialen«-Kataster, denn »in den gemein- schen Hamburg zu Ende, sie ließ sich aus wirtschaftlichen schädigenden Regionen der Großstädte gibt es gehäuft hoff- Gründen vorerst nicht fortsetzen. Das Vorhaben, die gesam- nungslose Fälle, die wie ein Geschwür am Volkskörper wei- te Elbtangente vom Hafen bis zur Höhe des Altonaer Bahn- terwuchern, wenn sie nicht herausgesucht und am Weiterge- hofs abzureißen, kam über das Modellstadium nicht hinaus. ben ihrer Krankheitskeime und Defekte verhindert wer- Wären die Naziarmeen nicht im Winter 1941 vor Moskau ge- den«.8 stoppt worden, dann wären wohl die Unterkünfte von weite- Neben dem Gängeviertel machte Walther sieben beson- ren 40.000 vorwiegend proletarischen Familien den Spitz- ders »gemeinschädliche Viertel« aus: St. Georg-Nord, hacken des »Architekten des Elbufers« zum Opfer gefallen. Uhlenhorst-Barmbek, Hoheluft, St. Pauli, Sternschanze, Mit der Zunahme all der »sozialhygienisch« begründeten Rothenburgsort und Hammerbrook. Nur das Gängeviertel Verfolgungsmaßnahmen bis zum Ende der Blitzkriege wur- wurde abgerissen - immerhin eine einmalige Aktion im de Walthers »Asozialen«-Geographie allmählich Realität. »Dritten Reich« - , der Abriß der übrigen Quartiere war für Seit 1934 bildeten sich fünf Schwerpunkte der Verfolgung die Zeit nach dem »Endsieg« geplant. Am Gängeviertel heraus, über die in diesem Buch berichtet wird: führte Walther exemplarisch die Verbindung von Flächensa- 1. Entmündigung, Zwangsasylierung und Zwangsarbeit in nierung und Sozialhygiene vor, indem er die 12.000 Men- den Hamburger »Bewahranstalten«. schen dieses Viertels in vier Gruppen einteilte: in »gesund 2. Zwangssterilisierung, Zwangsabtreibung und Eheverbote Gebliebene«, in »nur Angesteckte«, in »nicht Besserungsfä- für das städtische Subproletariat. hige« und in »biologisch hoffnungslos Defekte«. Die »Ge- 3. Abbau der Gesundheitsversorgung für die breite Mehrheit sunden« wurden als Siedlerbewerber »erbbiologisch« ge- der Bevölkerung bei gleichzeitigem Ausbau der »Kolonial- siebt und kamen - etwa 10 Prozent - in einer Stadtrand- medizin« und Naturheilklinik für die high society in Fried- siedlung von Horn unter. Die »nur Angesteckten« wurden in richsberg. »gesunde« Stadtviertel umgesiedelt. Über das Schicksal der 4. Weiterentwicklung der sozialen Existenzvernichtung von dritten und vierten Gruppe wissen wir fast nichts. Die mei- chronisch Arbeitsunfähigen und psychisch Kranken zur be- sten von ihnen wurden jedoch nach dem Grad ihrer angebli- hördlich organisierten Massentötung unter Ausnutzung der chen »sozialen Unterwertigkeit« zwangssterilisiert, entmün- besonderen Bedingungen von Krieg und Bombenkrieg. digt und in die Zwangsarbeitsanstalten der Sozialverwaltung 5. Fortschreitende Aussonderung der »fremdvölkischen« gesteckt, während die körperlich und geistig Behinderten in Bürger, die mit Beginn des »totalen Kriegs« von bevölke- den Siechenheimen beziehungsweise in der Heil- und Pflege- rungspolitischen und sozialtechnischen Zwangsmaßnahmen anstalt Langenhorn verschwanden. gegenüber den Kriegsgefangenen und den osteuropäischen Danach folgten Sonderaktionen gegen besonders stigma- Zwangsarbeiter(inne)n abgelöst wird. tisierte Gruppen, die Prostituierten, Homosexuellen und die Dieses flexible System des »sozialhygienischen« Terrors, »asozialen Jugendlichen«. Die exemplarische Erfassung und das sich in Hamburg von Anfang an der »Erbbiologie«, Psy- Sortierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe wurde seit chiatrie und Justiz bediente, hat das Regime nachhaltig sta- bilisiert und vorhandene Ansätze zum Widerstand rasch er- tig politisch polarisierte, wie wir heute anzunehmen geneigt stickt. Es handelte sich um einen vielfach gestuften körperli- sind. Sozial gesehen traf der rigorose Sparkurs der Präsidial- chen und sozialen Zugriff auf alle Menschen, die den »ge- Kabinette Brüning und Papen die »Marine-SA« nicht weni- seIlschaftssanitären« Utopien der regionalen Machtelite im ger nachhaltig als den »Roten Frontkämpferbund«, und es Wege standen. Die ihm innewohnende bürokratische Ge- war nicht unbegrenzt möglich, die Arbeitslosenbewegung nauigkeit brachte am Ende ein abgrundtiefes Grauen her- politisch zu spalten, gegeneinander auszuspielen und danach vor, das weit über die angegriffenen proletarischen Schich- zum Angriff gegen die gesamte lohnabhängige Bevölkerung ten hinaus Angst machte. Politische Abweichung gab es zu- zu benutzen. letzt nur noch vereinzelt und hatte, wie die Geschichte der In der zweiten Hälfte des Jahres 1932 trieben die traditio- Hamburger Jugendopposition (vgl. den Beitrag von Pohl nellen Führungsgruppen aus Wirtschaft und Verwaltung ih- und die Dokumentation zur Verfolgung der proletarischen ren schon lange gepflegten Dialog mit den Hamburger Chefs Jugendlichen) belegt, in der Auseinandersetzung mit den der NS-Bewegung in sein Entscheidungsstadium. Es kam zu Hamburger Behörden keine Chance. einem sozialpolitischen Arrangement, bei dem vereinbart wurde, die Massenbasis der Nazis in die sozialpolitischen Stabilisierungs pläne zu integrieren und sie gleichzeitig für Die Hamburger Machtelite und die geplanten Selektionen zu benutzen. Ihre Bevorzugung ihr Einfluß auf die Sozialpolitik des bei der Arbeitsbeschaffung und bei der Aufspaltung der Un- terstützungszahlungen war freilich ein Wechsel auf die Zu- »Dritten Reichs« kunft, der nur recht beschränkt eingelöst wurde. Auch im re- gionalen Kontext konnten sich die Nazis unmittelbar nach Die infolge der großen Wirtschaftsdepression wachsende 1933 nur stabilisieren, weil die Wirtschafts- und Verwal- politische Bedrohung von unten, aber auch die ersten Resul- tungseliten sie zur Fortsetzung ihrer sozialpolitischen Kri- tate der behördlichen Krisenstrategien vor 1933 hatten die senstrategien brauchten. traditionellen Pfeiler der Hamburger Machtelite rasch mit Sobald der aufgrund seiner Konzeptionslosigkeit organi- der nazistischen Führungsgruppe verschweißt. Mühelos war satorisch schwache, aber sozial sehr wohl verankerte kom- der bisherige politische Überbau der »Systemzeit« zugun- munistische Widerstand gegen die Krisenpolitik vernichtet sten der NS-Organisationen ausgetauscht. In weiten Teilen war, diente die behördliche Verfolgung der Massenarmut der Hamburger Verwaltung und Staatsbürokratie war die mittels Zwangsarbeit und Sozialhygiene nicht zuletzt auch »Gleichschaltung« längst absolviert, noch bevor die reichs- dazu, die kleinbürgerlich-völkische Basis des nazistischen zentralen Erlasse dazu herauskamen. Dieser reibungslose Juniorpartners wieder zu zähmen. Wirtschaft und Verwal- Fassadenwechsel, der sich 1945 erneut - diesmal freilich tung haben in Hamburg die Nazis als zusätzliche Machtpfei- mit umgekehrten Vorzeichen - vollziehen sollte, fordert zu ler integriert, um ihre sozialtechnische Krisenstrategie poli- grundsätzlichen Fragestellungen heraus. tisch tragfähig zu machen. Die Nazis waren und blieben in Hamburg Juniorpartner der traditionellen Eliten. Diese generelle Einschätzung der Machtverhältnisse wird Neue Machtverteilung in der Hansestadt durch die Analyse der gesundheits- und sozialpolitischen Entwicklung bestätigt. In den sozialtechnischen Konzepten Zuerst muß diskutiert werden, wer hier wen geschluckt für die Aussondierung der städtischen Armut gab es nichts, hat: ordneten sich die Behördenspitzen dem Nazismus unter, was das Jahr 1933 als einen wesentlichen Einschnitt markier- oder haben sie die nazistische Massenbewegung zu einer Ra- te. Die gesundheits- und sozialpolitischen Grundsatzent- dikalisierung und Systematisierung ihrer sozialpolitischen scheidungen waren schon 1931 gefallen, und erst im Jahr Ziele genutzt? Das ist eine Frage, die nur quellenkundlich 1934 können wir von einer neuen Phase sprechen, die freilich und politisch zugleich beantwortet werden kann. bruchlos auf den Weichenstellungen von 1930/31 aufbaute. Fassen wir zunächst den archivalischen Befund zusam- Alles, was 1934 an echten »Neuerungen« hinzukam - men. Danach ist es so, daß seit etwa 1928/29 die großen beispielsweise Zwangssterilisationen und Sicherungsverwah- Wirtschaftsunternehmen der Region und alle wichtigen Be- rung - , wurde flexibel in die laufende behördliche Ausson- hördenzweige darauf drängten, gegen die neuerlich herauf- derungspraxis eingebaut. In Hamburg wurde von Anfang an ziehende soziale Unrast mit eisernem Besen zu kehren. Da- eine »soziale Entartungsdiagnostik« angewandt, die auf für gab es zwei Beweggründe: erstens die sich häufenden Un- klassische städtesoziologische und sozial-eugenische Theo- ruhen in den proletarischen Wohnvierteln und zweitens die rien setzte. Dieser Ansatz wurde darüber hinaus mit hoch- Einschätzung, daß es der sozialdemokratischen Gewerk- entwickelten sozialen Erfassungssystemen verbunden. Von schafts- und Parteibewegung, die ganz auf der Seite des bür- Anfang an zielte er auf eine lückenlose Sortierung und Spal- gerlichen Krisenkabinetts stand, diesmal nicht mehr gelin- tung der gesamten lohnabhängigen Bevölkerung. Die Ham- gen würde, die Gärungen der »untersten Volksschicht« wie burger Behörden sahen keinen Grund, auf die von Berlin aus noch 1918/19 zu spalten und sich totlaufen zu lassen. Die zunächst praktizierte soziale Demagogie von Zuckerbrot Furcht vor einer weitaus gefährlicheren Neuauflage der So- und Peitsche Rücksicht zu nehmen. Die von dort verordne- zialrevolte von 1918/19 ist überall in den Behördenakten ten Aussonderungsaktionen gegen besonders stigmatisierte dieser Krisenjahre zu spüren . Mit ihr verbunden war die Ge- Gruppen und seit detJ. Nürnberger Rassegesetzen von 1935 wißheit, daß in einem solchen Fall die traditionelle Machteli- auch gegen nationale Minderheiten wurden in Hamburg in te nicht mehr wie seinerzeit ungeschoren davonkommen eine viel breiter und letztlich rigoroser angelegte »sozialhy- würde. Mit anderen Worten: die Kontinuität der regionalen gienische« Armutsbekämpfung eingebaut. Herrschaftsstruktur stand im Verlauf der Weltwirtschafts- Schlagend ist auch die Kompromißlosigkeit, mit der die krise ernsthaft in Frage. Hamburger Machtelite an ihrem Anspruch festhielt, die Ver- Dennoch verhielten sich die Behördenspitzen zunächst ab- folgung der sozialen und politischen Dissidenz in eigener Re- wartend. Sie befanden sich in einer Zwickmühle. Die Not- gie zu betreiben. Gerade in dieser Frage konnte sie auf die verordnungspolitik der Berliner Präsidialkabinette veran- rückhaltlose Unterstützung ihres regionalen nazistischen laßte sie zu einem immer schärferen Verarmungskurs, wäh- Partners zählen. Reichsstatthalter Kaufmann, Innensenator rend sich die soziale Protestbewegung keineswegs so eindeu- Richter, Justizsenator Rothenberger und Gestapochef Streckenbach legten großen Wert darauf, mit dem kommu- Im gleichen historischen Bewußtsein argumentierte auch nistischen Widerstand auf eigene Faust und folglich unter SteigerthaI. Er griff immer wieder auf das 1622 gegründete Ausschluß der SS abzurechnen - was im übrigen keines- »Werk- und Zuchthaus« zurück, um dessen wechselvolle wegs bedeutete, daß es den Insassen des Hamburger Konzen- Geschichte als Kronzeugen für die von ihm favorisierte »ge- trationslagers Fuhlsbüttel dadurch besser ergangen wäre, schlossene« Konzeption von Zwangsarbeit zu bemühen. Für eher im Gegenteil. Diese Linie hatte ihre Entsprechung im Steigerthai war die Vorgehensweise der »Aufklärer« des 18. sozialen Bereich. Sozial senator Martini und Anstaltschef Jahrhunderts maßgebend, die im 19. Jahrhundert erfolgte Steigerthai wollten die Arbeitskraft der »Gemeinschaftsun- Ausdifferenzierung der »Bewahrungsformen« der ärmsten fähigen« ausschließlich zugunsten des Budgets der Sozial- Schichten der Bevölkerung in Irrenanstalten, Siechen- und verwaltung verwerten. Sie hielten an ihrem Farmsener Mo- Altenheimen sowie Strafvollzug wurde von ihm verworfen. dell fest, weil sie die großen Konzentrationslager der SS für Die angeblich fortschreitende Überalterung der Bevölke- unprofitabel hielten. Erst 1940 bekam die SS ihr großes rung, aber auch »die große Zahl sozial-schwieriger und aso- norddeutsches Konzentrationslager, und auch da wurde die zialer Menschen, die bis 1933 durch verfehlte sozialpoliti- Zusammensetzung der Häftlinge zunächst auf polnische sche Maßnahmen noch künstlich gesteigert wurde und nur Kriegsgefangene und »Fremdvölkische« beschränkt. allmählich sinkt«,11 machten es aus Kosten- und Überwa- chungsgründen notwendig, die Differenzierung des An- staltswesens zurückzunehmen. In einem Memorandum Nationalsozialismus und »über die Behandlung der Asozialen« pries Steigerthai 1936 die Rückkehr zur »Sammelanstalt« des 18. Jahrhunderts bürgerliche Aufklärung folgendermaßen: »Die zukünftige Entwicklung des An- staltswesens ... wird eine zweckvolle Einspannung und Ver- Die Hamburger Verwaltung profilierte sich im Machtdrei- wendung der asozialen Menschen gebieterisch verlangen. eck NSDAP, Wirtschaft und Staat als derjenige Pfeiler, der Die Sammelanstalt (Abteilungen für Zwangsarbeit mit Sie- den gesellschaftssanitären »Auslese«- und »Ausmerzuto- chenasylen usw. zusammen) ist sicherlich die Anstaltsform pien« der Nazis erst zur Effizienz verhalf. Zumindest auf der Zukunft... Anstalten mit überlieferter sparsamer dem Gebiet der Gesundheits- und Sozialpolitik erwiesen sich Grundhaltung verdienen besondere Beachtung.«12 die Hamburger Behördenspitzen, die allein den Ton anga- In einer 1939 verbreiteten Propagandaschrift der Sozial- ben, als die effizienteren Nazis. Waren sie es auch in ihrem verwaltung wiederholte er, »Anstalten, in denen« die Irren, eigenen Selbstverständnis? Auch diese Frage muß bejaht Behinderten, Alten und »Asozialen« »billig versorgt, über- werden. Vor allem Martini und Steigerthai legten entschie- wacht und zu beträchtlicher Arbeitsleistung herangezogen denen Wert darauf, das Elitebewußtsein des Hamburger Be- werden, werden ... auch in Zukunft unentbehrlich sein«. 13 amtenkorps historisch zu legitimieren. Zwei Jahre später folgte dann die letzte Konsequenz dieser Ich halte es für bedeutsam, daß sich gerade die beiden füh- systematischen Aussonderungspolitik. Auf der Viehrampe renden Köpfe der Sozialverwaltung ihre Konzepte zur Kri- des Altonaer Bahnhofs wurden die ersten Männer und Frau- senbewältigung aus einer jahrhundertealten Tradition hansi- en aus Steigerthals Anstalten zur Vernichtung in Meseritz- scher Armenbekämpfung geholt haben. Immer wieder grif- Obrawalde verladen. fen sie auf die Leistungen jener Pioniere der modernen So- Die konzeptionell festgelegte Hamburger Sozialbürokra- zialpolitik zurück, die mit ihren Vorschlägen zur Kopplung tie verstand es, sich im Verein mit ihren regionalen J unior- von Armenfürsorge und Zwangsarbeit im 18. Jahrhundert partnern gegen die eher punktuell ausgerichtete »Ausmer- die Fundamente des bürgerlichen Staats und der nachfolgen- ze«-Strategie der Reichsregierung zu behaupten. Die Mas- den Industrialisierung gelegt haben. In den Memoranden senarmut, die als Folge der Weltwirtschaftskrise entstand, und Publikationen der Sozialverwaltung wimmelte es seit wurde mit Methoden bekämpft, die aus der Tradition der 1929/30 von Hinweisen auf Johann Georg Büsch und Cas- bürgerlichen Aufklärung stammten. Den Hamburger So- par von Voght, deren »Armenordnung« von 1788 »auch zialtechnikern erschien es unangebracht, zwischen der vorin- noch nach eineinhalb Jahrhunderten mit höchster Dankbar- dustriellen Massenarmut des 18. Jahrhunderts und der Mas- keit und Anerkennung besonders gedacht werden« müsse. senverarmung in einem hochkapitalistischen Krisenzyklus So schrieb Martini im Jahr 1939 rückblickend: »man führte (1928 bis 1933) grundsätzlich zu unterscheiden. Gleichzeitig hier erstmalig in der offenen Fürsorge die Arbeitspflicht für war dieses Hamburger Konzept mit den modernsten Verfah- alle arbeitsunfähigen Unterstützten ... ein. 'Es darf kein Ar- ren der Erfassung, Sortierung und Übrwachung verbunden, mer als Unterstützung erhalten, was er irgend noch zu ver- das industrielle Tötungstechniken einschloß. Der Kern und dienen in der Lage ist', lautet der erste von neun Leitsätzen, die Kompromißlosigkeit dieses Konzepts aber stammte aus in denen damals die Grundsätze der Arbeitsfürsorge nieder- einem Traditionsbewußtsein des Klassenkampfs von oben, gelegt sind, und zwar in so treffender Form, daß als vor etwa das heute aus gutem Grund totgeschwiegen wird. zehn Jahren die Zahl der von der damaligen Wohlfahrtsbe- Die Hintergründe, die Hamburg zum Mustergau werden hörde zu unterstützenden Arbeitslosen bedenklich anwuchs, ließen, machen es notwendig, das Diktum Horkheimers, wo- ich diese Leitsätze in einer Denkschrift an den Senat zur Be- nach über den Nazismus nicht geredet werden könne, ohne gründung der Forderung auf Wiedereinführung der Arbeits- den Kapitalismus zu benennen, zu erweitern. Der Fall Ham- fürsorge als eine im wesentlichen auch damals noch zutref- burg wirft ein Schlaglicht auf die Zusammenhänge von Na- fende Lösung des Problems bezeichnen konnte.«9 zismus und bürgerlich-staatlicher Verwaltung, die weit vor Erst die nationalsozialistische Machtübernahme habe es den industriellen Kapitalismus zurückreichen. Damit entfal- freilich ermöglicht, wieder uneingeschränkt an dieser Tradi- len auch die bisherigen historischen Zäsuren 1933 und 1945, tion anzuknüpfen: »Woran Voght vor 100 Jahren ... noch mit denen noch immer versucht wird, den Nazismus aus sei- unbeirrt geglaubt hatte ... , das erfüllte sich jetzt von neuern. ner historischen Kontinuität herauszunehmen, weil er sonst Die Arbeitsfürsorge stand wieder im Vordergrund alles für- zu viel über deren sozialgeschichtliche Abgründe offenbaren sorgerischen Bemühens und wurde für die Fürsorgebehörde würde. Der Nazismus war der bürgerlichen Gesellschaft im- zum wirksamsten Werkzeug ... Jetzt. .. gaben die natürlichen mer immanent, und solange es einkommenslose Schichten Gesetze ewiger völkischer Verbundenheit aus der Gemein- als Kernproblem der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft samkeit von Blut und Boden der Arbeit Ziel und Sinn.«lo gibt, wird er es auch bleiben. Mustergau fürs »Dritte Reich« beitsanstalten erwähnen, die für die seit 1938 begonnenen Versuche von SS und Groß konzernen Vorbild waren, um die Arbeitsproduktivität in den großen Konzentrationslagern zu In den Jahren 1936 bis 1938 setzte sich die Reichsregierung erhöhen. Diesem gewachsenen Interesse begegneten die zunehmend mit der Hamburger Linie auseinander. Im Zei- Hamburger Spezialisten mit gemischten Gefühlen, weil sie chen des Vierjahresplans wurde - abgesehen von den »Not- um ihren eigenen Bestand an Zwangsarbeitern fürchteten. standsgebieten«, zu denen auch Hamburg gehörte - gerade Einerseits erschien es Steigerthai »höchst fraglich«, »ob die wieder Vollbeschäftigung erreicht. Diese neue arbeitsmarkt- Arbeitskraft dieser Leute ... in den Instituten der SS gleich politische Lage wurde von immer mehr Lohnabhängigen ge- nutzbringend verwandt werden kann, da sie dort sehr viel nutzt. Eine Welle der Wanderungen von Ost nach West und mehr Aufsichtspersonal gebrauchen und als 'Volksschädlin- in die neuentstandenen industriellen Zentren, die Hochlohn- ge' reichlich ernst genommen werden«. Andererseits war er gebiete waren, machte den seit den Präsidialkabinetten an- aber auch stolz auf den Vorbildcharakter seiner Farmsener dauernden Lohnstopp zunichte. Neue Formen des Auswei- Anstalt: »Der frühere Landwirtschaftsrat in Farmsen sagte chens und der Flucht machten sich breit, die sich nur schwer oft: 'Die asozialen Menschen sind so dämlich, daß sie ohne unter Kontrolle bringen ließen, weil sie diesmal von der Bewachung und ohne Tariflöhne für den Staat arbeiten. ' Ich Kernarbeiterklasse ausgingen. habe die Erfahrung gemacht, daß er mit dieser Feststellung Damit war die bisherige Politik von Zuckerbrot und Peit- durchaus recht hatte, sofern die Insassen geschickt behan- sche in Frage gestellt. Es war unmöglich, die bisherigen delt und sachgemäß eingesetzt wurden. Ein Vertreter der »erb-« und »kriminal biologischen« Aussonderungsverfah- Reichsführung SS, der unsere Organisation im Hamburger ren auf die Flucht- und Vermeidungsreaktionen vor allem Amt für Wohlfahrtsanstalten sich einmal ansah, erkannte bei den Jugendlichen und den Frauen anzuwenden, weil sie die Lage auch schnell, wodurch allerdings bei ihm der zu weit verbreitet waren. Es war unumgänglich geworden, Wunsch lebendig wurde, auf ähnlich einfache Art in seinen die bisherigen Methoden der Sozialtechnik der veränderten Anstalten die Arbeiten bewältigt zu sehen.«16 Realität anzupassen. Es ist bestürzend nachzuvollziehen, wie die verschiedenen zentralen NS-Institutionen auf die bis dahin eher unbekann- Kontinuität nach 1945 ten Praktiken der Verwalter des Hamburger Depressionsge- biets zurückgriffen. Viefältig sind die Bemühungen der Unter der britischen Besatzungsmacht blieb die Hambur- Hamburger Verwaltung, die Kriterien zur »Beurteilung der ger Machtelite weitgehend unbehelligt. Es erscheint ange- Erbgesundheit« zu relativieren und durch die viel breiter an- bracht, statt von einer Entnazifizierung von einer Sozialde- gelegte und auch präzisere Beurteilung des sozialen und Lei- mokratisierung der nazistischen Verwaltungsexperten zu stungsverhaltens zu ersetzen. Als schließlich Ende 1940 neue sprechen, kam es doch wie 1933 nur zu einem oberflächli- »Richtlinien zur Beurteilung der Erbgesundheit« herauska- chen Schilderwechsel. In einer Zeit, wo die Briten die men, die eine Erfassung und Sortierung der gesamten lohn- »Wehrmachtgruppe Nord« am Leben erhielten, weil sie abhängigen Bevölkerung in »asozial«, »tragbar«, »durch- planten, das US-amerikanische Atombomben-Containment schnittlich« und »hochwertig« verfügten, konnten sich die von Hiroshima und Nagasaki gegen die Sowjetunion durch Amtsleiter der Sozialverwaltung wohlgefällig die Hände rei- eine militärische Offensive von den Westzonen aus zu ergän- ben: so hatten sie's schon immer praktiziert - »im allgemei- zen, hatten die nazistischen Schreibtischtäter nichts ernst- nen bringen die Richtlinien nichts wesentlich Neues«.14 haftes zu befürchten. Ein paar subalterne Folterer und Mör- Die Initiativen zur Einführung eines allgemeinen Ausweis- der wurden abgeurteilt, und damit hatte es schon sein Be- zwangs habe ich schon erwähnt. Ähnlich setzten sich die wenden\ Hamburger »Bewahrungs«-Experten auch bei den Beratun- Als dann nach dem Sieg der Labour Party in England über gen eines »Gemeinschaftsfremdengesetzes« durch, über das Churchill eine etwas härtere Gangart versucht wurde, stell- seit 1940 verhandelt wurde, um im Fall des »Endsiegs« die ten sich die aus dem westlichen Exil zurückgekehrten Sozial- »soziale Endlösung« auch gegenüber den »deutschstämmi- demokraten vor ihre behördlichen Schützlinge. Das taten sie gen Asozialen« durchzusetzen. Anfänglich ging es bei den nicht aus Opportunismus, sondern weil sie gegen die stattge- um dieses Gesetz geführten und vom Reichssicherheits- habten Repressalien gegenüber den Kommunisten und der hauptamt gesteuerten Auseinandersetzungen darum, mit städtischen Massenarmut keine prinzipiellen Einwände zu Hilfe einer Ausweitung des »Schwachsinn«-Begriffs die bis- erheben hatten. Hinzu kamen Nachkriegschaos und Tages- herige Praxis der Sterilisationsjustiz auf eine noch breitere probleme. Die Sozial- und Gesundheitsverwaltung mußte Grundlage zu stellen. Die Hamburger Experten hielten die- bis 1947 für 30.000 Obdachlose - Flüchtlinge, Rückkehrer sen Ansatz nicht für tragfähig, weil er die angestrebte sozial aus der Gefangenschaft und heimatlos gewordene Auslän- umfassende Selektionspolitik ihrer Meinung nach noch im- der (displaced persons) - aufkommen. All diese Menschen mer zu sehr medizinisch einengte. Hinzu kamen Sorgen um wurden schon wieder genauso »verarbeitet« wie die »Aso- die Popularität der geplanten »Sonderaktion« bei der Bevöl- zialen« in den Jahren zuvor. Aus außen- und sozialpoliti- kerung, da von ihr, wie Reichsstatthalter Kaufmann noch im schen Gründen waren die alten Experten unentbehrlich. Dezember 1942 an das Reichsinnenministerium schrieb, der Schon vor der Gründung der Bundesrepublik wurde von den »Gemeinschaftsfremde als sittlich minderwertig, aber nicht Besatzern und den alten-neuen Verwaltern gemeinsam daran als schwachsinnig empfunden« werde. 15 Das Gesetz wurde gestrickt, den Hamburger Mustergau zu einer besonders na- nie erlassen, aber insgeheim in Teilbereichen angewandt, zifeindlichen Region zu erklären. und zwar weitgehend nach den von Hamburg aus entwickel- Zeichnen wir kurz das Nachkriegsschicksal der drei wich- ten Vorstellungen: Curt Rothenberger war im Herbst 1942, tigsten Spitzenfunktionäre der Sozial- und Gesundheitsver- inzwischen zum Staatssekretär im Reichsjustizministerium waltung nach: sie haben mit Ausnahme Ofterdingers genau- aufgestiegen, zusammen mit Streckenbach an den Weichen- so wie die führenden Männer von Justiz und Polizeiapparat stellungen zur »Abgabe asozialer Justizgefangener an die überlebt. Oskar Martini blieb bis Oktober 1946 Senator, Polizei« und am Erlaß der berüchtigten »Polenstrafrechts- wurde dann abgesetzt, im anschließenden Entnazifizierungs- verordnung« führend beteiligt. verfahren aber als »harmloser Mitläufer« (Kategorie IV, Als viertes Beispiel möchte ich die Hamburger Zwangsar- später V) eingestuft. Ansonsten wurde er nie behelligt, bis 1974 überhäuften Bürgermeister und Senat den betagten Ju- ab Februar 1963 Senatsdirektor , Vorsitzender der Hambur- bilar mit Ehren. ger Kommission für Bodenordnung, Mitglied des Landes- Der zweiten, wesentlich jüngeren Garnitur der Verwal- planungsrats für Hamburg und Schleswig-Holstein. Im Jahr tung winkten Nachkriegskarrieren. Die Absetzung von Ge- 1964 kam er als Vertreter der Finanzbehörde in den Pla- arg Steigerthai wurde im Juni 1945 vom Sozialdemokraten nungsstab der Senatskanzlei, ab 1967 koordinierte er leitend Nevermann verhindert. Der Leiter des Amts für W ohlfahrts- den Aufbau des Einkaufszentrums Hamburger Straße. Ende anstalten deutete die Geste seines Beschützers richtig, ver- 1968 trat er in den Ruhestand, leitete aber das Projekt Ham- hinderte die Freilassung der Insassen der Zwangsarbeitsan- burger Straße bis 1970 weiter. Im April 1973 wurde er wegen stalt Farmsen, reaktivierte sein Erfassungs- und Sortierge- Beihilfe zum Mord angeklagt. Das Hauptverfahren, das schäft gegenüber den »Asozialen« und belebte zusammen erstmals etwas Licht in die Abgründe Hamburger mit dem Juristen Sieverts und dem Psychiater Bürger-Prinz Gesundheits- und Sozialpolitik hätte bringen können, wurde eine »Forensisch-Biologische Arbeitsgemeinschaft« seligen im Januar 1975 nach wenigen Verhandlungstagen wegen Angedenkens, um das »Gemeinschaftsfremdengesetz« als dauernder Verhandlungsunfähigkeit Struves eingestellt (vgl. »Bewahrungsgesetz« in die gerade entstehende Bundesrepu- den Beitrag von Kuhlbrodt). blik einzubringen. Im Jahr 1950 trat der inzwischen ergraute Für viele von uns, die für dieses Buch geforscht, geschrie- Fürsprecher einer besonders produktiven Verwertung von ben und Dokumente gesammelt haben, ist es gespenstisch »asozialer« Arheitskraft in den verdienten Ruhestand. geworden, in einer Stadt zu leben, die die Spuren ihrer sozia- Senatsdirektor Struve, die rechte Hand des behördlichen len Massaker so perfekt zu verwischen verstand. Es ist Tötungsspezialisten Ofterdinger, mußte zunächst wieder schmerzhaft, sie aufzudecken. Aber es ist notwendig. Ihre von vorn anfangen. Am 20. Oktober 1945 wurde er als Leiter entscheidenden Einbrüche hat die Kontinuität des Muster- der Allgemeinen Abteilung der Gesundheitsverwaltung ent- gaus erst seit der studentischen und sozialen Protestbewe- lassen. Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte er als Ange- gung von 1967/ 68 erfahren. Grundlegend geändert hat sich stellter von Architektenbüros und Grundbesitzerverbänden. noch nichts. Erst wenn wir die Abgründe der Hamburger Im Oktober 1950 wurde er von Finanzsenator Dudek als Lei- Gesundheits- und Sozialpolitik sichtbar machen, haben wir ter der Finanzabteilung für den Wiederaufbau Hammer- eine Chance, im heutigen Sozialabbau Weichen stellungen zu brooks eingestellt. Vom Juli 1951 an war er wieder Berufsbe- erkennen, die, wenn wir sie nicht erfolgreich bekämpfen, amter , und zwar zunächst Oberregierungsrat. Danach ging den Weg zu einer neuerlichen sozialen Vernichtungsspirale es wieder steil aufwärts: ab April 1953 Regierungsdirektor, bahnen.
Thomas Kühn, Jessé Souza (Auth.), Thomas Kühn, Jessé Souza (Eds.) - Das Moderne Brasilien - Gesellschaft, Politik Und Kultur in Der Peripherie Des Westens-VS Verlag Fu